Skript zu Vorlesung 5 PDF
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This document is a lecture script on the concept of truth. It explores various definitions and theories of truth, including the correspondence theory, the coherence theory, and the deflationary theory.
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Kap V. Wahrheit: Was ist das? Kapitel V. Wahrheit: Was ist das? Pontius Pilatus: Bist Du der König der Juden? Jesus: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wäre es von dieser Welt, würden meine Leute für mich kämp...
Kap V. Wahrheit: Was ist das? Kapitel V. Wahrheit: Was ist das? Pontius Pilatus: Bist Du der König der Juden? Jesus: Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wäre es von dieser Welt, würden meine Leute für mich kämpfen. Aber mein Königtum ist nicht von hier. Pontius Pilatus: So bist Du dennoch ein König? Jesus: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der auf Seiten der Wahrheit steht, hört auf meine Stimme. Pontius Pilatus: Wahrheit? Was ist Wahrheit? [Bibel, Johannes-Evangelium Kap. 18: 33–38; gekürzt und bedient aus verschiedenen Übersetzungen.] §1. Themenblitz: Wahrheit Der Begriff der Wahrheit regt seit jeher zu zahlreichen philosophischen Überlegungen an. Zu den gewichtigsten Fragen, die sich um ihn drehen, gehören sicherlich: ▪ Was ist Wahrheit eigentlich? ▪ Gibt es Wahrheit überhaupt? ▪ Und schließlich: Ist Wahrheit (manchmal oder immer) objektiv oder relativ? Und falls relativ: relativ zu was? Gibt es z.B. Wahrheiten, die nur für bestimmte Personen gelten? Oder Wahrheiten, die nur aus bestimmten Perspektiven gelten? Oder solche, die nur in Beziehung zu bestimmten Theorien gelten? Durch diese und ähnliche Fragen steht der Wahrheitsbegriff im Mittelpunkt einiger der ältesten Kontroversen der westlichen Philosophiegeschichte. Aber damit nicht genug: Der Wahrheitsbegriff ist nicht bloß Gegenstand philosophischer Debatten, er wird zudem in unzähligen Debatten über andere Themen verwendet. Beispielsweise spielt er eine zentrale Rolle in der Logik und kommt dort insbesondere auch in Definitionen anderer Begriffe zum Einsatz. Eine solche Definition haben wir bereits kennengelernt, nämlich die eines schlüssi- gen Arguments: Ein Argument ist genau dann schlüssig, wenn die Wahrheit der Prämissen die Wahrheit der Konklusion garantiert. Und auch in vielen weiteren Gebieten wird vom Wahrheits- begriff ausgiebig Gebrauch gemacht, wie etwa in ▪ der Erkenntnistheorie (z.B. in Explikationen so zentraler Begriffe wie denen des Wissens oder des Irrtums), ▪ der Sprachphilosophie (wo z.B. das Verhältnis zwischen der Bedeutung und der Wahrheit von Sätzen diskutiert wird), Seite 75 Kap V. Wahrheit: Was ist das? ▪ der Ethik (wo z.B. diskutiert wird, ob es normative Wahrheiten gibt), ▪ der Wissenschaftstheorie (wo z.B. mit dem Begriff der Wahrheitsnähe einer Theorie ge- arbeitet wird). Der Begriff der Wahrheit nimmt damit eine wirklich herausragende Stellung in der Philosophie ein. Das ist allemal ein guter Grund, sich ihm hier eingehend zu widmen. Alle drei oben genannten Fragen – Was ist Wahrheit? Gibt es sie? Ist sie relativ? – sollen in diesem und dem folgenden Kapitel zur Sprache kommen. Sinnvoll ist es dabei, die erstgenannte Frage an den Anfang unserer Untersuchung zu stellen; ihr ist daher das gegenwärtige Kapitel gewidmet. Denn um die Fragen zu klären, ob es Wahrheit gibt und ob sie relativ ist, ist es allemal nützlich (wenn nicht sogar unabdingbar), erstmal zu wissen, was Wahrheit eigentlich ist. Zwei Vorwarnungen: Das Thema Wahrheit ist recht abstrakt und bringt so einige Fallstricke mit sich. Zudem werde ich Ihnen gleich mehrere miteinander konkurrierende Positionen vorstellen, auch um Ihnen ein wenig einen Eindruck davon zu geben, dass es in der Philosophie durchaus komplex zugehen kann. Falls Sie die Diskussion also hier und da zunächst nicht ganz einfach zu verfolgen finden: Bitte nicht verzagen! Lesen Sie den entsprechenden Abschnitt im Zweifelsfall langsam und zweimal. Dann sollte das gehen. §2. Vorklärungen §2.a Alltäglicher Wahrheitsbegriff Wenden wir uns also der Frage zu: Was ist Wahrheit? Sie wird in der Philosophie übrigens oft als die Pilatus-Frage bezeichnet, da dieser sie Jesus gegenüber formuliert hat (laut Bibel).5 Zu Beginn sollten wir uns erst klarer machen, worum es bei dieser Frage geht. Wir versuchen zu verstehen, was Wahrheit ist. Bei dieser Angabe unseres Ziels verwende ich das Wort „Wahrheit“. Und ich verwende es nicht in irgendeinem besonderen Sinn, den z.B. irgendeine Philosophin ihm per Dekret zuweisen mag. Ich verwende es einfach als Wort des Deutschen. Nur deshalb darf ich überhaupt davon ausgehen, dass Sie mich ohne weiteres verstehen können. Der eben beschriebene Umstand hat eine wichtige Konsequenz für unsere Untersuchung. Ihren Ausgangspunkt sollte unser Sprachverständnis bilden, unsere alltägliche Kompetenz im Umgang mit den Wörtern „wahr“ und „Wahrheit“ – sowie auch den Wörtern „falsch“ und „Falschheit“, 5 Obgleich man in der Philosophie oft von der Pilatus-Frage spricht, hat Pilatus sie wohl in einem gewissen Sinn nur formuliert, aber nicht wirklich gestellt. Als er den Satz äußerte: „Was ist Wahrheit?“, hat er ihn kaum wortwörtlich gemeint. Denn hätte Jesus angesetzt, eine nüchterne Erklärung zu liefern: „Wahrheit ist …“, so hätte er die Pointe von Pilatus’ Entgegnung verfehlt. Pilatus will keine philosophische Abhandlung zu hören bekommen; vielmehr drückt er mit der schnippischen Bemerkung seine Skepsis gegenüber Jesus’ Behauptung aus, er spielt den Begriff der Wahrheit sozusagen herunter (in gleicher Stoßrichtung hätte er auch sagen können: „Was ist schon Wahrheit?“). Seite 76 Kap V. Wahrheit: Was ist das? da Falschheit ja das direkte Gegenteil der Wahrheit ist. Wir können uns anhand unserer Sprach- kenntnis überlegen, was die Bedeutung bzw. der Sinn dieser Wörter ist; und der Sinn des Worts „Wahrheit“ ist gerade der Begriff der Wahrheit, den wir ergründen wollen. Was wir hingegen fürs Erste ausklammern sollten, sind etwaige theoretische Überlegungen zum Be- griff der Wahrheit, die wir bereits angestellt haben. Wenn wir über die Wahrheit z.B. bereits selber philosophiert haben oder wenn wir philosophische Texte zu ihr gelesen haben, dann sollten wir versuchen, all dies gedanklich erstmal hintanzustellen. Denn wir wollen verstehen, was Wahrheit ist, und nicht, was Wahrheit zufolge der Theorie dieses oder jenes Philosophen ist (und eben auch nicht: zufolge unserer eigenen Theorie der Wahrheit, falls wir eine solche schon haben). Im Verlauf des Kapitels werden wir freilich einige in der Philosophie anzutreffende Wahrheitsthe- orien betrachten. Diese werden wir insbesondere daran messen, inwieweit sie unserem sprachlich verankerten Vorverständnis der Wahrheit gerecht werden. Die Theorien sollten ▪ in Übereinstimmung mit der Bedeutung der Wörter „wahr“ und „Wahrheit“ stehen, die sich in Verwendungsweisen dieser Wörter zeigt; ▪ und wenn sie hier oder dort von bestimmten Verwendungsweisen dieser Wörter abwei- chen, sollten die Theorien Gründe dafür parat halten. Was wären mögliche Gründe, aus denen man bestimmte Verwendungsweisen von „wahr“ berech- tigterweise außen vor lassen könnte? Zum Beispiel könnte sich herausstellen, dass wir im Alltag oft in bestimmter Weise sprachlich ungenau sind und bestimmte begriffliche Unterscheidungen verwischen, die man aber strenggenommen machen sollte. Als konkretes Beispiel kann das Be- griffspaar Falschheit und Lüge dienen; schnell dahingedacht könnte man vielleicht erstmal meinen, Falschheit und Lüge seien dasselbe. Doch wenn man genauer hinschaut, kann man durchaus Un- terschiede ausmachen: Wie wir bereits in Kapitel II gesehen haben, ist nicht jede falsche Behaup- tung eine Lüge. Wer sich irrt und seinen Irrtum kundgibt, der lügt dadurch noch nicht. §2.b Wahrheit wovon? Wahrheit ist eine Eigenschaft. Charakteristisch für Eigenschaften ist, dass bestimmte Dinge sie haben: Was wahr ist, hat die Eigenschaft Wahrheit; was falsch ist, hat sie nicht. Oft trägt es zum besseren Verständnis einer Eigenschaft bei, sich klarzumachen, welche Arten von Dingen sie ha- ben. Fragen wir uns daher einmal: Welche Art von Ding kann überhaupt wahr bzw. falsch sein? Klarerweise schreiben wir Aussagen wie „Der Schuhschnabel ist ein Vogel“ oder „Vögel bauen Dämme“ Wahrheit und Falschheit zu. Und gleichermaßen schreiben wir Überzeugungen oder men- talen Urteilen, die man mit Aussagen ausdrückt, Wahrheit und Falschheit zu. So habe ich z.B. die Überzeugung, dass Affen Säugetiere sind; und die ist wahr. Genau darum soll es hier gehen: Wahr- heit und Falschheit verstanden als Eigenschaften von Aussagen, Überzeugungen, Urteilen. Im Weiteren nenne ich das der Kürze halber manchmal Aussagenwahrheit. Seite 77 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Wieso kommt Wahrheit und Falschheit eigentlich gerade bei diesen drei Arten von Dingen – Aus- sagen, Überzeugungen und Urteilen – ins Spiel? Was diese Dinge gemein haben, ist ein beurteilbarer Inhalt: ein vollständiger Gedanke, zu dem man sinnvoll „Ja“ oder „Nein“ sagen kann. Und es ist der Besitz eines beurteilbaren Inhalts, der Aussagen, Überzeugungen und Urteile zu Trägern der Eigenschaften Wahrheit und Falschheit macht. Aber sind nicht noch andere Dinge wahr und falsch? Immerhin spricht man doch von einem wahren Freund, einem falschen Fuffziger oder auch falschem Alarm. Tatsächlich scheinen die Worte „wahr“ und „falsch“ hier eine leicht andere Bedeutung zu haben als im Fall der Aussagenwahrheit/-falschheit. Dafür spricht, dass man statt von einem wahren Freund auch von einem echten oder wirklichen Freund reden kann. Der Gegensatz dazu wäre ein bloß scheinbarer Freund oder jemand, den man bloß für einen Freund hält. Im Fall der Aussagen- wahrheit geht die gleiche Umformulierung nicht durch: Die Aussage, dass Affen Säugetiere sind, ist wahr; aber man würde sie nicht echt oder wirklich nennen. Falls die Rede von einer echten Aussage überhaupt Sinn macht, dann vielleicht in Abgrenzung zu Nonsens-Sätzen wie „Der Flügelflagel gaustert“. Also: Das Wort „wahr“ scheint in der Anwendung auf Gegenstände, Lebewesen etc. einen leicht anderen Sinn zu haben als in der Anwendung auf Aussagen und Überzeugungen. Jenen anderen Sinn klammern wir im Folgenden aus und konzentrieren uns auf Aussagenwahrheit. Dieser Abschnitt begann mit der Feststellung, Wahrheit sei eine Eigenschaft. Aber passt das zu Aussagen wie: In der New York Times stehen viele Wahrheiten? Hier meint man mit Wahrheiten nicht etwa viele Eigenschaften – welche sollten das auch sein? Vielmehr meint man viele wahre Aussagen. Das Wort „Wahrheit“ ist semantisch mehrdeutig: In einer Bedeutung bezeichnet es die Eigenschaft Wahrheit; in einer zweiten bezeichnet es Aussagen, die diese Eigenschaft haben. Ist diese Mehrdeutigkeit einmal verstanden, sollte keine Gefahr für Verwechslungen bestehen. §2.c Wahr und falsch Wie schon mehrfach angeklungen ist, sind Wahrheit und Falschheit zwei Seiten einer Medaille. Wer eine Theorie der Wahrheit aufstellt, sollte darin auch Raum für die Falschheit schaffen. Aber wie genau hängen Wahrheit und Falschheit zusammen? Zunächst mal kann man feststellen, dass die beiden Eigenschaften einander ausschließen: GEGENSÄTZLICHKEIT: UNVEREINBARKEIT Keine Aussage ist zugleich wahr und falsch. Zudem hängen Wahrheit und Falschheit wesentlich über die Verneinung von Aussagen zusammen: GEGENSÄTZLICHKEIT: VERNEINUNG Ist eine Aussage wahr, so ist ihre Verneinung falsch, und umgekehrt. Seite 78 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Beispielsweise ist die Aussage „Affen sind Säugetiere“ wahr. Ihre Verneinung lautet: „Affen sind keine Säugetiere“; und diese Aussage ist falsch. Die Aussage „Affen sind Vögel“ hingegen ist falsch. Ihre Verneinung lautet: „Affen sind keine Vögel“, und diese Aussage ist wahr. Viele Philosoph*innen sehen noch eine weitere wichtige Verbindung von Wahrheit und Falsch- heit. Sie vertreten folgendes Prinzip: SATZ VOM AUSGESCHLOSSENEN DRITTEN Jede Aussage ist wahr oder falsch. In philosophischem Jargon wird hierfür übrigens auch gesagt: Jede Aussage hat einen der Wahr- heitswerte W und F. Die Rede von Wahrheitswerten wird insbesondere im Bereich der Logik verwendet. Man kann sie wie folgt verstehen: ERKLÄRUNG: WAHRHEITSWERTE ▪ Ist eine Aussage wahr, dann hat sie den Wahrheitswert W. ▪ Ist eine Aussage falsch, dann hat sie den Wahrheitswert F. Daher nennt man den Satz vom ausgeschlossenen Dritten auch das Prinzip der Bivalenz, d.h. Zwei- wertigkeit.6 Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist in der Philosophie recht beliebt, aber es ist nicht un- umstritten, dass er tatsächlich gilt. Genauer gesagt: Dass er ausnahmslos gilt. Denn es besteht tat- sächlich weite Einigkeit, dass er in Bezug auf viele Klassen von Aussagen gilt. Aber es gibt bestimmte potentielle Ausnahmefälle. Ein Beispiel wären Aussagen über die Zukunft, wie etwa: Morgen früh trinke ich zwei Tassen Kaffee. Einige Philosoph*innen würden meinen: Was ich morgen früh mache, steht jetzt noch nicht fest. Wenn es aber noch nicht feststeht, dann ist die Aussage, dass ich morgen früh zwei Tassen Kaffee trinke, weder wahr noch falsch. Sie wird erst in der Zukunft wahr oder falsch – und zwar je nachdem, was ich zu trinken entscheide. Aussagen über zukünftige, noch nicht feststehende Ereignisse könnten daher eine Ausnahme für den Satz vom ausgeschlossenen Dritten darstellen. Ob sie es tun, ist eine vieldiskutierte Frage; und es gibt weitere umstrittene Fälle. Aber für unser Zwecke können wir solche Sonderfälle hier erst- mal ignorieren und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten bis auf Weiteres akzeptieren. §2.d. Die Pilatus-Frage Wir beschäftigen uns also mit der Wahrheit, wie sie in der alltäglichen Rede zum Ausdruck kommt, verstanden als Eigenschaft von Aussagen und Überzeugungen. Eine Definition der Wahrheit sollte 6 Philosoph*innen verwenden die Terminologie allerdings nicht ganz einheitlich und manche machen einen feinen Unterschied zwischen den Prinzipien der Bivalenz und des ausgeschlossenen Dritten. Der ist aber erst in fortgeschrittener Logik wichtig, sodass wir uns hier nicht um ihn kümmern müssen. Seite 79 Kap V. Wahrheit: Was ist das? daher die folgende Frage beantworten: Unter welchen Bedingungen ist eine Aussage bzw. Über- zeugung wahr? Gesucht sind dabei Bedingungen, die zugleich hinreichend und notwendig sind. Die Antwort auf die Frage sollte daher folgende Form aufweisen: Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn … (Der Kürze halber werde ich im Folgenden stets davon reden, dass Aussagen die Eigenschaften Wahrheit und Falschheit haben und nicht gesondert über Überzeugungen/Urteile reden.) Ich werde im Folgenden vier Wahrheitsdefinitionen vorstellen und besprechen. Während jede von ihnen gewisse Züge des Wahrheitsbegriffs aufnimmt, liefert nur eine ein rundum gutes Bild (so zumindest werde ich argumentieren). §3. Die Redundanz-Theorie Wo sagt man im Alltag, etwas sei wahr (oder auch falsch)? Oft scheint man das einfach zu tun, um einer Aussage zuzustimmen oder sie zu verneinen: Anna sagt: Es gibt zu wenige Frauen in der akademischen Philosophie. Ben sagt: Das ist wahr. Ebenso gut hätte Ben sagen können: Das stimmt. / So ist es. / Ja. / Das trifft zu. Oder er hätte Annas Aussage als Ganze wiederholen können und etwa sagen: Genau, es gibt zu wenige Frauen in der akademischen Philosophie. Allerdings ist es offenbar kürzer und prägnanter, einfach zu sagen: Das ist wahr. Es spart Atem und vermeidet die langwierige und langweilige Wiederholung so einiger Wörter. Manche Philosoph*innen gehen einen Schritt weiter und meinen, dass der Wahrheitsbegriff tat- sächlich abgesehen von dieser Wortsparfunktion nichts austrägt. Sie begründen das damit, dass sich an einer Aussage anscheinend nichts ändert, wenn man sie mit „es ist wahr, dass“ einleitet. So sagt man z.B. mit den folgenden beiden Sätzen anscheinend doch einfach dasselbe: Schnee ist weiß. Es ist wahr, dass Schnee weiß ist. Diese Beobachtungen können einen auf drei miteinander verwobene Ideen bringen: IDEE 1 Eine wesentliche Funktion der Rede von Wahrheit besteht in der Zustimmung zu Aussagen, ohne diese als Ganze wiederholen zu müssen. Seite 80 Kap V. Wahrheit: Was ist das? IDEE 2 Der Wahrheitsbegriff ist inhaltlich leer, da er gar nicht wirklich etwas zum Inhalt von Aussagen beiträgt. Denn mit den Sätzen „Es ist wahr, dass Schnee weiß ist“ und „Schnee ist weiß“ sagt man einfach genau dasselbe aus. IDEE 3 Der Wahrheitsbegriff ist daher weitgehend überflüssig. Er ist lediglich ein Werkzeug für knappe Formulierungen. Aber was die Inhalte anbelangt, die wir kommunizieren wollen, könnten wir auf den Wahrheitsbegriff verzichten. Denn statt ihn zu verwen- den, könnte man stets die als wahr bezeichnete Aussage wiederholen. Zusammen genommen ergeben die drei Ideen eine Position zur Wahrheit, die als Redundanztheorie bezeichnet wird; denn ihr zufolge ist der Wahrheitsbegriff eben inhaltlich überflüssig bzw. redun- dant. Liefert uns diese Theorie nun eine Antwort auf unsere Ausgangsfrage: Wie ist der Wahrheits- begriff zu definieren? Schon, nur nicht die erwartete. Die Antwort wäre hier die Zurückweisung der Frage: Weil der Wahrheitsbegriff inhaltsleer ist, gibt es keine gewöhnliche Definition, da diese gerade den Inhalt des Begriffs erläutern würde. Aber es lässt sich dennoch sagen, wie der Wahr- heitsbegriff korrekt verwendet wird; und das wird durch die obenstehenden Ideen erläutert. Ein Redundanztheoretiker macht sich die vorgestellten Ideen im Dreierpack zu eigen; was sich anbietet, insofern sie ja gut zusammenpassen. Nichtsdestotrotz handelt es sich um verschiedene Ideen. Und man kann der ersten der drei Ideen zustimmen, ohne zugleich auch der zweiten und dritten zustimmen zu müssen. Um das zu zeigen, möchte ich die zweite und dritte Idee nun kriti- sieren. Das Kernproblem für diese Ideen besteht in folgender Beobachtung: Man verwendet den Wahr- heitsbegriff nicht immer für eine einzelne, bestimmte Aussage, die man klar vor Augen hat. Das ist in der alltäglichen Rede zwar sehr häufig der Fall. Aber man kann den Wahrheitsbegriff auch in Bezug auf Aussagen verwenden, die man nicht kennt. Was ich mit der obigen abstrakten Formulierung meine, wird am besten an Beispielen klar. Hier ist eines: Bernard ist ein zutiefst gläubiger Christ. Er ist davon überzeugt, dass die Bibel Gottes Wort ist; und als solches wahr. Daher sagt Bernard: S1 Alles, was in der Bibel steht, ist wahr. Kaum jemand würde Bernard restlos zustimmen. Das ändert aber nichts daran, dass Bernard eine sinnvolle Aussage macht; man kann über sie streiten und Gründe für oder wider anführen. All dies kann man tun, ohne die Bibel auswendig zu können; und sogar, ohne sie komplett gelesen zu haben. Auch Bernard selbst muss die Bibel nicht auswendig können, um seine Aussage zu machen. Ein zweites Beispiel: In §2.c. habe ich den Zusammenhang von Wahrheit und Falschheit bespro- chen und gesagt: S2 Wenn eine Aussage wahr ist, so ist ihre Verneinung falsch. Seite 81 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Dabei habe ich über Aussagen im Allgemeinen geredet, ohne irgendeine bestimmte im Sinn zu haben. Tatsächlich gilt meine Behauptung für restlos alle Aussagen – auch für solche, die ich noch nie gehört habe und vielleicht auch gar nicht verstünde, wenn ich sie hören würde. Ein drittes Beispiel: Bertrand schreibt ein wissenschaftliches Buch. Bescheiden, wie er ist, sagt Bertrand mit voller Überzeugung: S3 Mein Buch wird leider auch einige falsche Aussagen enthalten. Offenbar hat Bertrand bei seiner Prognose keine bestimmte Aussage im Sinn, die er in sein Buch schreiben will. Er weiß noch gar nicht, was er alles schreiben wird; und selbst, wenn er das wüsste, hätte er keine bestimmte dieser Aussagen im Sinn. Denn er schreibt nicht mit Absicht Falschheiten hinein. Er ist sich lediglich sicher, dass er nicht unfehlbar ist und daher einige der Aussagen in seinem Buch falsch sind – aber ohne zu wissen, welche. Die drei Beispiele zeigen, dass man den Wahrheitsbegriff in Bezug auf Aussagen verwenden kann, die man nicht vor Augen hat und die man vielleicht noch nicht einmal kennt. In solchen Fällen verwendet man den Wahrheitsbegriff nicht, um einfach eine Aussage abzukürzen, die man eigent- lich genauso gut äußern könnte. Daher ist der Wahrheitsbegriff in diesen Fällen nicht überflüssig. Ohne ihn könnten wir die Aussage, die wir machen wollen, nicht machen. Dies widerlegt IDEE 3. Überdies zeigt sich dadurch, dass der Wahrheitsbegriff nicht leer ist. Denn er trägt etwas Wesent- liches zu allgemeinen Aussagen wie S1 bis S3 bei. Dies widerlegt IDEE 2. Übrigens sei noch bemerkt: Sobald man wegen Aussagen wie S1 bis S3 eingesteht, dass der Wahr- heitsbegriff einen Inhalt hat, sollte man auch sagen, dass er in Aussagen folgender Art etwas zum Inhalt beiträgt: Es ist wahr, dass Schnee weiß ist. Denn Wörter verhalten sich systematisch: Wenn ein Wort eine inhaltliche Bedeutung hat, trägt diese nicht einmal zum Inhalt einer Aussage bei und ein anderes Mal nicht. Es tut das immer. Daher sollte man wohl auch den zweiten Teil von IDEE 2 verwerfen, dass wir also mit folgenden beiden Sätzen genau dieselbe Aussage machen: S4 Schnee ist weiß. S5 Es ist wahr, dass Schnee weiß ist. Denn der Wahrheitsbegriff steuert eben etwas zum Inhalt des zweiten Satzes bei, nicht aber zum Inhalt des ersten. Worin aber besteht dann der inhaltliche Unterschied zwischen den beiden Sät- zen? Nun, Satz S4 handelt von der Farbe des Schnees. Satz S5 tut das auch; aber zusätzlich nimmt er auf die Aussage, dass Schnee weiß ist (also auf S4) Bezug, und handelt also auch von dieser Aussage. S4 tut das nicht. Die simple Aussage „Schnee ist weiß“ ist nicht selbstbezüglich, sie spricht nicht über sich selber. Satz S5 enthält also sozusagen eine zusätzliche Ebene der Reflektion, die in Satz S4 nicht enthalten ist. Das ist ein kleiner, feiner Unterschied zwischen beiden. Er tut aber der Seite 82 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Beobachtung keinen Abbruch, dass die beiden Sätze in einer Hinsicht gleichwertig sind: Wenn der eine zutrifft, dann auch der andere, und umgekehrt. IDEEN 2 & 3 könnten in einer Sprache zutreffen, die ausdrucksschwächer ist als unsere und in der Wahrheit und Falschheit immer nur einer einzelnen und bekannten Aussage beigelegt werden kön- nen. Unsere Sprache erlaubt aber mehr als das; nämlich die Verwendung der Begriffe von Wahr- heit und Falschheit in allgemeinen Behauptungen über alle oder einige Aussagen, die uns weder vor Augen stehen noch bekannt sein müssen. Das Resultat der Diskussion: Wir haben gute Gründe kennengelernt, IDEEN 2 & 3 aufzugeben. Sprechen diese Gründe ebenso gegen IDEE 1? Nein. Atem zu sparen und Aussagen abzukürzen, ist in der alltäglichen Rede eine wichtige Funktion des Wahrheitsbegriffs. Nur eben nicht die einzige. Daher bleibt die Frage bestehen, wie Wahrheit definiert werden kann. §4. Epistemische Wahrheitstheorie Aber nochmal: Eine bestimmte, uns gegebene Aussage als wahr zu bezeichnen, heißt im Wesent- lichen, ihr zuzustimmen. Vielleicht kommen wir bei der Definition des Wahrheitsbegriffs weiter, wenn wir uns auf die Zustimmung im Geiste konzentrieren. Einem selber gilt genau das als wahr, was man glaubt. Daher könnte man vielleicht folgende Wahrheitsdefinition ins Auge fassen: WAHRHEITSDEFINITION: EPISTEMISCH, SUBJEKTIV Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn man an sie glaubt. Als epistemisch bezeichnet man in der Philosophie übrigens oft Begriffe, die etwas mit Wissen und Glauben zu tun haben. Daher kann man diese Wahrheitsdefinition epistemisch nennen; und da sie Wahrheit über das definiert, was ein einzelnes denkendes Subjekt glaubt, kann man sie subjektiv nennen. Diese epistemische Wahrheitsdefinition ist aber ein ziemlicher Griff ins Klo. Denn klarerweise können wir uns irren. Ich selber tue das eingestandenermaßen sehr, sehr oft. Wenn man sich selber nicht für gottesgleich unfehlbar hält, muss man begrifflichen Raum für den eigenen Irrtum lassen. Aber was heißt es, dass ich mich irre? Antwort: dass ich etwas glaube, was falsch ist. Dann aber muss man einen Unterschied machen zwischen dem, was wahr ist, und dem, was man glaubt bzw. für wahr hält. Dennoch meinen einige Philosoph*innen, die obige Wahrheitsdefinition weise in die richtige Rich- tung. Wir dürfen Wahrheit zwar nicht mit dem gleichsetzen, was man selber glaubt, da man sich eben auch irrt. Doch wir können daran arbeiten, Irrtümer zu vermeiden. Im echten Leben wird uns das sicherlich nie vollkommen gelingen. Trotzdem wir können uns das Ideal der Irrtumsfrei- heit vorstellen. Dem Ideal kann man sich durch Rationalität und dem Befolgen wissenschaftlicher Seite 83 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Methoden zumindest schrittweise annähern. Im Idealzustand würden dann Wahrheit und Über- zeugung bzw. Glauben zusammenfallen. Insofern könnte man den Wahrheitsbegriff vielleicht über diesen imaginären Idealzustand wie folgt definieren: WAHRHEITSDEFINITION: EPISTEMISCH, IDEALBEZOGEN Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn man im epistemischen Ideal-Zustand an sie glauben würde. Diese Definition hat in der Philosophie durchaus einige Anhänger. Allerdings gibt es auch ernst- zunehmende Einwände. Da diese aber schnell zu recht komplizierten Diskussionen führen, möchte ich nur ein sehr generelles Bedenken erwähnen: Wieso sollte sich unser alltägliche Wahr- heitsbegriff daran bemessen, was irgendwer in einem fiktiven Ideal-Zustand glauben würde? Ei- nem Ideal-Zustand, zu dem wir gedanklich kaum Zugang haben; von dem wir nicht wissen kön- nen, was in ihm geglaubt würde? Wie gesagt, ist das nur ein sehr pauschales Bedenken, das natür- lich viel Raum für Diskussion lässt. Aber ich möchte nun schauen, was der philosophische Markt noch an Alternativen im Angebot hat. §5. Die Korrespondenztheorie Man könnte ohnehin meinen, die epistemische Wahrheitsdefinition würde etwas Wesentliches au- ßer Acht lassen: Sprache ist eine Art Bindeglied zwischen uns und der nicht-sprachlichen Wirk- lichkeit. Das gilt z.B. für Namen, mit denen wir auf Dinge in der Welt Bezug nehmen; ich verwende den Namen Angela Merkel und nehme mit ihm auf eine Person Bezug. Es gilt aber auch für Aus- sagen, die eine Behauptung über etwas in der Welt aufstellen, die etwas in der Welt beschreiben. Wie es um diesen letzten Faktor steht – also um das, was beschrieben wird; das, worüber etwas ausgesagt wird – scheint eine wesentliche Rolle für die Wahrheit oder Falschheit der Aussage zu spielen. In der epistemischen Definition wird dieser Faktor aber außer Acht gelassen. Verfolgen wir diesen Gedanken einmal: Aussagen beschreiben, wie die Dinge so liegen. Die Wahr- heit einer Aussage besteht nun anscheinend darin, dass sie die Dinge so beschreibt, wie sie wirklich sind. Man könnte auch sagen: Eine wahre Aussage stimmt mit der Wirklichkeit überein, sie ent- spricht ihr; eine falsche Aussage hingegen stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein, entspricht ihr nicht. Dies ist der Kerngedanke sogenannter Korrespondenztheorien der Wahrheit; sie definieren den Begriff der Wahrheit über den Begriff der Übereinstimmung bzw. Entsprechung – mit einem Fremdwort gesagt: der Korrespondenz (daher der Name der Theorien). Korrespondenz-Theoretiker schlagen also folgende Definition von Wahrheit vor: WAHRHEITSDEFINITION: KORRESPONDENZTHEORETISCH Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Seite 84 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Auch wenn der Kerngedanke dieser Definition erstmal klar und überzeugend klingen mag, entste- hen beim genaueren Hinsehen schnell einige Probleme. Die meisten drehen sich um zwei Fragen: ▪ Erstens: Was genau ist mit Korrespondenz bzw. Übereinstimmung gemeint? ▪ Zweitens: Womit genau soll eine wahre Aussage übereinstimmen? Lassen Sie mich beide Fragen und die mit ihnen verbundenen Probleme ein wenig ausführen. Ich beginne mit der zweiten: Womit soll eine wahre Aussage übereinstimmen? Erstmal könnte man denken, die Antwort hierauf sei doch glasklar: Wahre Aussagen stimmen mit der Wirklichkeit überein. Doch ein Problem scheint darin zu bestehen, dass keine Aussage die Wirk- lichkeit in ihrer Gesamtheit beschreibt. Zum Beispiel beschreibt die Aussage „Johanna ist mutig“ nur Johanna, nicht aber Jean-Paul. Außerdem beschreibt die Aussage nur einen Aspekt von Johanna, nämlich dass sie mutig ist. Unzähliges anderes wird offengelassen. Es wird nichts darüber ausge- sagt, ob Johanna stark ist, ob kurzsichtig, ob Vegetarierin. Eine einzelne Aussage beschreibt nie die Wirklichkeit als Ganzes, sondern immer nur einen speziellen Teil der Wirklichkeit. Wenn es heißt, eine wahre Aussage stimme mit der Wirklichkeit überein, kann es also auch nicht um Über- einstimmung mit der Wirklichkeit als Ganzes gehen, sondern mit einem Teil der Wirklichkeit. Dann aber stellt sich die Frage, was man unter Teilen der Wirklichkeit verstehen kann. Welcher Teil der Wirklichkeit wird z.B. von „Johanna ist mutig“ beschrieben? Zunächst könnte man meinen: Der hier beschriebene Teil der Wirklichkeit ist Johanna. Aber die Antwort eignet sich nicht für Korrespondenz-Theoretiker. Denn wie schon betont, beschreibt die Aussage Johanna ja auch nicht in Gänze, sondern betrifft nur einen Aspekt von Johanna und schweigt sich zum Rest aus. Korrespondenz-Theoretiker sagen daher, die Aussage „Johanna ist mutig“ müsse, um wahr zu sein, mit einer Tatsache übereinstimmen – der Tatsache, dass Johanna mutig ist. Eine falsche Aussage hingegen hat keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Zum Beispiel ist die Aussage „Sebastian Kurz ist Bademeister“ falsch. Und zwar ist sie falsch, so Korrespondenz-Theoretiker, weil es keine Tatsache gibt, mit der sie übereinstimmt. Denn es ist eben gerade keine Tatsache, dass Sebastian Kurz Bademeister ist; diese Tatsache aber müsste bestehen, damit die Aussage wahr wäre. Daher können wir die korrespondenztheoretische Wahrheitsdefinition nun präziser fassen: WAHRHEITSDEFINITION: KORRESPONDENZTHEORETISCH PRÄZISIERT Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn sie mit einer Tatsache übereinstimmt. So also wird beantwortet, womit genau eine wahre Aussage übereinstimmen soll: Mit einer Tatsa- che. Diese Antwort mag für Sie nun vielleicht recht harmlos erscheinen. Philosoph*innen aber sind berüchtigt dafür, dass sie Fünfe niemals gerade sein lassen. Sie schauen sehr genau hin und hinterfragen vermeintliche Harmlosigkeiten. Daher wird mit der These, Aussagen stimmten mit Tatsachen überein, in der Philosophie ein großes Fass aufgemacht. Denn Philosoph*innen fragen sich nun: Was genau sind Tatsachen denn? Und gibt es sie überhaupt? Das wird im philosophi- schen Gebiet der Ontologie sehr kontrovers besprochen. Ich kann die ontologische Debatte zu Seite 85 Kap V. Wahrheit: Was ist das? diesem Thema hier aus Platzgründen hier nicht anreißen. Festhalten können wir aber, dass Kor- respondenztheoretiker hier noch in einer Bringschuld sind: Wenn Tatsachen eine zentrale Rolle in der Wahrheitsdefinition spielen sollen, dann ist eine solide Theorie über sie vorzulegen. Lassen Sie mich nun einen Blick auf die zweite Grundkomponente der korrespondenztheoreti- schen Definition werfen: Was heißt es, dass eine Aussage mit einer Tatsache übereinstimmt? Unter Übereinstimmung versteht man üblicherweise den Besitz gemeinsamer Eigenschaften. Wenn man z.B. im Kunstunterricht ein Bild abzeichnet, kann der Lehrer die Leistung danach be- urteilen, wie gut die Kopie mit dem Originalbild übereinstimmt. Dazu vergleicht er die visuellen Eigenschaften beider Bilder: die Farben, Formen etc. Je mehr die beiden Bilder davon gemein haben, desto größer die Übereinstimmung. Ebenso kann man z.B. zwei Hosen derselben Marke vergleichen oder auch zwei Aufnahmen eines Liedes. Eine solche Art der Übereinstimmung findet sich nun aber offenbar nicht zwischen Aussagen und Tatsachen. Aussagen sind etwas Sprachliches, aber sie beschreiben Nicht-Sprachliches (natürlich gibt es auch Aussagen über die Sprache; aber die können wir hier beiseitelassen). Der Name „An- gela Merkel“ z.B. bezeichnet Frau Merkel. Klarerweise hat der Name nun aber ganz andere Eigen- schaften als die Person. Denn beispielsweise ist Merkel über 1,5m groß, hat zwei Beine und kann Englisch sprechen. Keine dieser Eigenschaften kommt dem Namen „Angela Merkel“ zu. Und auch eine ganze Aussage wie „Merkel ist Kanzlerin“ teilt kaum Eigenschaften mit nicht-sprachli- chen Dingen aus der Wirklichkeit. Die Aussage „Merkel ist Kanzlerin“ besteht aus Wörtern und Buchstaben; die Tatsache, dass Merkel Kanzlerin ist, tut das sicherlich nicht. Die Tatsache soll ein Bestandteil der außersprachlichen Wirklichkeit sein. Das wiederum trifft auf die Aussage nicht zu. Kurzum: Wenn die Wahrheit einer Aussage in der Übereinstimmung mit einer Tatsache bestehen soll, darf unter Übereinstimmung nicht der Besitz gleicher Eigenschaften gemeint sein. Was aber dann? Aufgabe der Korrespondenztheorie wäre es, dies zu erklären. Zeit für eine Zwischenbilanz. Die Korrespondenztheorie rückt einen wichtigen Faktor in den Blickpunkt: Aussagen beschreiben, wie die Dinge so liegen, wobei die Wahrheit einer Aussage darin besteht, dass sie die Dinge so beschreibt, wie sie wirklich sind. Diese Grundeinsicht wollen Korrespondenztheoretiker weiter ausbuchstabieren und sagen, eine wahre Aussage müsse mit ei- ner Tatsache übereinstimmen. Damit ergibt sich aber zusätzlicher Klärungsbedarf. Einerseits kann nun eine robuste Theorie der Tatsachen verlangt werden; andererseits scheinen sprachliche Aus- sagen und nicht-sprachliche Tatsachen sehr verschiedene Dinge zu sein, und es fragt sich, inwie- fern die einen mit den anderen noch übereinstimmen können. Ob Korrespondenztheoretiker den Erklärungsbedarf einholen können, lasse ich hier offen. Sagen wir also: Die Korrespondenztheorie bleibt vorerst als Anwärter auf die korrekte Wahrheitstheorie im Rennen. Aber man darf durchaus noch nach einer Alternative Ausschau halten. Seite 86 Kap V. Wahrheit: Was ist das? §6. Die Luft rauslassen: Die deflationäre Wahrheitstheorie Vielleicht hätten die Korrespondenztheoriker gut daran getan, an ihrem Ausgangspunkt einmal in Ruhe innezuhalten. Begonnen haben sie mit einer wichtigen Einsicht, die sie aber vielleicht allzu schnell mit theoretischem Überbau befrachtet haben. Kehren wir nochmal zum Ausgang zurück. Eine wichtige Feststellung lautete: Aussagen beschreiben, wie die Dinge so liegen. Die Wahrheit einer Aussage besteht darin, dass sie die Dinge so beschreibt, wie sie wirklich sind. Das scheint in der Tat das Wesen der Wahrheit gut zu beschreiben. Nun ist hier freilich noch keine Rede von Übereinstimmung und Tatsachen. Diese Begriffe kamen erst beim Versuch ins Spiel, die obige Einsicht präzise zu fassen. Aber tat das wirklich not? Vielleicht können wir die Aus- gangseinsicht auch ohne Verwendung korrespondenztheoretischer Begrifflichkeiten erläutern. Versuchen wir das doch mal. Es geht also um die Klärung der These: AUSGANGSEINSICHT Wahrheit besteht darin, dass eine Aussage die Dinge beschreibt, wie sie wirklich sind. Allgemein gehaltene Thesen gewinnen oft an Deutlichkeit, wenn man sie auf konkrete Einzelbei- spiele anwendet. Machen wir das also mit unserer Ausgangseinsicht und betrachten die konkrete Beispielaussage, dass Hühner Vögel sind. Sie ist genau dann wahr, wenn sie die Dinge so be- schreibt, wie diese sind. Was heißt das in diesem konkreten Fall? Antwort: Sie ist genau dann wahr, wenn Hühner Vögel sind. Der Inhalt der Aussage – dass Hühner Vögel sind – gibt gerade die Bedin- gung an, unter der die Aussage wahr ist. Und ebenso funktioniert dies mit anderen Beispielen: ▪ Die Aussage, dass Kühe wiederkäuen, ist genau dann wahr, wenn Kühe wiederkäuen. ▪ Die Aussage, dass Trump ein Idiot ist, ist genau dann wahr, wenn Trump ein Idiot ist. ▪ Die Aussage, dass es keine Hexen gibt, ist genau dann wahr, wenn es keine Hexen gibt. Jede Aussage sagt etwas aus. Und das, was sie aussagt, dient direkt als hinreichende und notwen- dige Bedingung für die Wahrheit dieser Aussage. Auf diese Weise können wir unsere Ausgangs- einsicht verstehen, ohne auf Begriffe der Übereinstimmung, der Wirklichkeit oder der Tatsachen zurückgreifen zu müssen. Basierend auf diesem Ergebnis kann man noch zwei kleine Schönheitsreparaturen an der Formu- lierung der Ausgangseinsicht durchführen. Es hieß: Wahrheit besteht darin, dass die Dinge beschrie- ben werden, wie sie wirklich sind. Nun können wir einerseits auf das eingeschobene wirklich ver- zichten; es dient nur zur Betonung des Kontrasts dazwischen, wie die Dinge sind, und wie sie beschrieben werden. Andererseits könnte die Rede von den Dingen falsch verstanden werden, als ob jede Aussage etwas über bestimmte Dinge sagen würde. Auch könnte die Rede von den Dingen Seite 87 Kap V. Wahrheit: Was ist das? vielleicht Teilanlass für den Korrespondenztheoretiker sein, nach einer besonderen Sorte von Din- gen zu suchen, die Aussagen generell beschreiben – was ihn dann auf die Idee verfallen lässt, dass man hier eine ontologische Theorie der Tatsachen benötigt. Hier eine möglichst neutrale Reformulierung der Ausgangseinsicht, als Wahrheitsdefinition: WAHRHEITSDEFINITION: DEFLATIONÄR Eine Aussage ist genau dann wahr, wenn es sich so verhält, wie sie besagt, dass es sich verhält. Diese Definition der Wahrheit wird mitunter als deflationär bezeichnet, weil sie sozusagen die Luft aus dem aufgeblaseneren theoretischen Überbau anderer Theorien rauslässt: Sie stützt sich, wie gesehen, auf dieselbe Ausgangsannahme wie die Korrespondenztheorie, legt diese aber deutlich voraussetzungsärmer aus. Dieser Umstand kann nun tatsächlich auch als Argument für die deflationäre und gegen die korres- pondenztheoretische Auffassung herhalten. Oft genug kommt es in der Philosophie (und auch in anderen Wissenschaften) vor, dass die Diskussion zweier rivalisierender Theorien in keinem K.O. für eine der beiden Alternativen endet. Beide liefern eine passable Erklärung des behandelten Stoffs; vielleicht die eine mit leichten Schwächen hier, die andere mit leichten Schwächen dort. Da fragt man sich also: Was tun? Welche Theorie sollte man akzeptieren, wenn beide in etwas gleich gute Leistungen erbringen? Was da manchmal eine Entscheidung herbeiführen kann, ist eine Ab- wägung davon, welche der Positionen mit den schlankeren Voraussetzungen arbeitet. Wenn die eine Position weniger schwere theoretische Geschütze aufwarten lässt als die andere, spricht das für die erste und gegen die zweite. Denn ein Prinzip aller Wissenschaft lautet, nach möglichst einfachen und voraussetzungsarmen Erklärungen zu suchen. Im Fall der deflationären versus der korrespondenztheoretischen Wahrheitsdefinition würde dieses methodologische Prinzip für die erste der beiden sprechen. Denn die korrespondenztheoretische Definition benötigt eine substan- tielle ontologische Theorie der Tatsachen, wo die deflationäre Definition sozusagen ontologisch ganz neutral verbleibt und keine gewichtigen Annahmen benötigt. Man könnte also sagen: Sieg nach Punkten. Schlussbemerkung: Die deflationäre Definition kann übrigens auch den wahren Anteil der Redun- danztheorie gut erklären: Wieso besteht eine wesentliche Funktion des Wahrheitsbegriffs darin, einer Aussage luftsparend zuzustimmen? Antwort: Weil die Wahrheitsbedingungen einer Aussage durch ihren Inhalt gegeben sind. Bei einer einzelnen, uns bekannten Aussage ist es daher gleich- wertig, sie zu äußern und sie als wahr zu bezeichnen. Seite 88 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Rekapitulation 1. Vorklärungen Wahrheit ist eine Eigenschaft, und zwar von Aussagen und Überzeugungen. Bei einer wahren Aussage sagen Logiker*innen: Sie hat den Wahrheitswert wahr. Wahrheit und Falschheit hängen über folgende Prinzipien zusammen: - UNVEREINBARKEIT Keine Aussage ist wahr und falsch. - VERNEINUNG Ist eine Aussage wahr, ist ihre Verneinung falsch. - AUSGESCHLOSSENES DRITTES Jede Aussage ist wahr oder falsch. 2. Redundanztheorie ▪ Man nennt eine Aussage wahr, um ihr zuzustimmen, ohne sie zu wiederholen. ▪ Der Wahrheitsbegriff ist leer und trägt nichts zum Inhalt von Aussagen bei; mit „Ladida“ und „Es ist wahr, dass Ladida“ sagt man dasselbe. ▪ Der Wahrheitsbegriff ist letztlich überflüssig und nur gut für knappe Formulierungen. ▪ Problem: Man kann Wahrheit von Aussagen behaupten, die einem nicht direkt ge- geben sind; z.B. in „Alle Aussagen in der Bibel sind wahr“. - Da kürzt man keine Aussage ab, die man ebenso äußern könnte; und da trägt der Wahrheitsbegriff klar etwas zum Inhalt bei, sonst wäre das keine Aussage. 3. Epistemische Wahrheitstheorie Subjektiv: Aussage A ist wahr man glaubt an sie. Problem: Dann gäbe es keine falschen Überzeugungen, also keinen Irrtum. Idealbezogen: Aussage A ist wahr Im Idealzustand würde man an A glauben. Problem: Wieso sollte ein fiktiver Idealzustand unsere alltägliche Wahrheitsrede len- ken? 4. Korrespondenztheorie Erste Fassung: Aussage A ist wahr A stimmt mit der Wirklichkeit überein. Problem: Eine Aussage betrifft nie die ganze Wirklichkeit, nur einen Teil von ihr. Zweite Fassung: Aussage A ist wahr A stimmt mit einer Tatsache überein. Problem: Wie kann eine sprachliche Aussage mit einer nicht-sprachlichen Tatsache übereinstimmen? 5. Deflationäre Wahrheitsdefinition Beobachtung: Die Wahrheitsbedingungen einer Aussage lassen sich direkt durch ihren Inhalt angeben, über Sätze der Form „Es ist wahr, dass Ladida Ladida“. Definition: Aussage A ist wahr Es sich so verhält, wie A besagt, dass es sich ver- hält. Vorzüge: Die Definition bindet die Wahrheit einer Aussage an die Welt, aber arbeitet mit schlanken Voraussetzungen und Begrifflichkeiten. Seite 89 Kap V. Wahrheit: Was ist das? Gelehrige Anmerkungen ▪ Teile der Redundanzauffassung finden sich bei Gottlob Frege (z.B. in „Meine grundlegen- den logischen Einsichten“; in: Frege, Nachgelassen Schriften, S. 272; Meiner 1969) ▪ Eine Wahrheitsdefinition mit Bezug auf die epistemische Idealsituation hat Hilary Putnam (z.B. in Realism and Reason, S. 85; Cambridge University Press 1983) vertreten. ▪ Eine korrespondenztheoretische Auffassung findet sich z.B. bei Bertrand Russell (The Prob- lems of Philosophy, Kapitel 12; Williams and Norgate 1912). ▪ Die vorgestellte deflationäre Wahrheitsdefinition wird von Wolfgang Künne (Conceptions of Truth; 2003, Oxford University Press) vertreten; es gibt aber noch andere Varianten des defla- tionären Ansatzes, z.B. von Paul Horwich (Truth, 2nd edition; Oxford University Press 1998). ▪ Das Schema „Dass P ist genau dann wahr, wenn P“ wird of als Tarski-Schema bezeichnet, da es von Alfred Tarski („The Semantic Conception of Truth: and the Foundations of Se- mantics“, Philosophy and Phenomenological Research 4, 1944, S. 341–76) in den Mittelpunkt der Debatte gerückt wurde (genauer gesagt galt das Schema für Tarski als eine Art Qualitäts- maßstab für Wahrheitsdefinitionen: eine angemessene Definition muss alle Aussagen von Bauart des Schemas implizieren). 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