Skript zu Vorlesung 2 PDF
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This document is a philosophy lecture script, discussing philosophical methods, including argumentation, definition, and interpretation. It also covers different types of definitions and their characteristics.
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Kap II. Methoden Kapitel II. Philosophische Methoden Crime is common. Logic is rare. Therefore, it is upon the logic rather than upon the crime that you should dwell. [Sherlock Holmes in Sir Arthur Conan Doyles The Adventure of the Copper Beeche] ยง1....
Kap II. Methoden Kapitel II. Philosophische Methoden Crime is common. Logic is rare. Therefore, it is upon the logic rather than upon the crime that you should dwell. [Sherlock Holmes in Sir Arthur Conan Doyles The Adventure of the Copper Beeche] ยง1. Drei grundlegende Methoden der Philosophie Mein erklรคrter Wunsch ist es, dass Sie im Zuge dieser Einfรผhrung beginnen, selber philosophische Gedankenarbeit zu leisten. Daher stellt sich die Frage: Wie arbeitet man in der Philosophie? Mit welchen Methoden sollte man vertraut sein, um fruchtbar an philosophischen Kontroversen teil- nehmen zu kรถnnen? Im vorigen Kapitel habe ich erwรคhnt, dass die Philosophie sich von anderen Wissenschaften eher durch die Abwesenheit besonderer Fachmethoden auszeichnet. Dementsprechend sind drei der viel- leicht wichtigsten Methoden oder Arbeitsweisen in der Philosophie gar keine spezifisch philosophi- schen Methoden. Vielmehr sind es allgemeine Methoden wissenschaftlicher Arbeit, nรคmlich โช Argumentieren, โช Definieren, โช Interpretieren. Argumentieren heiรt, Thesen durch andere Thesen zu untermauern. Das ist ein absolutes Grund- geschรคft der Philosophie; man gibt in ihr nicht einfach Meinungen kund, sondern man begrรผndet sie mit Argumenten. Definieren heiรt, Begriffe eindeutig zu fassen. Erst dadurch werden die The- sen, in denen die Begriffe auftauchen, wirklich klar; zudem verhindern Definitionen, dass man unbeabsichtigt und fruchtlos aneinander vorbeiredet. Interpretieren heiรt, die Aussagen anderer klar und differenziert auszulegen. Dies ist die unentbehrliche Grundlage fรผr die Lektรผre philoso- phischer Texte und fรผr eine gelungene Auseinandersetzung mit den Thesen eines Gegenรผbers. In diesem Kapitel mรถchte ich vor allem die ersten beiden dieser Methoden vorstellen. Ein paar Bemerkungen zur Methode der Interpretation werde ich dabei auch machen, allerdings nur mit Blick auf einen Sonderfall, nรคmlich die Interpretation von Argumenten. Dafรผr werde ich spรคter noch einmal auf die Interpretation zurรผckkommen; sie ist nรคmlich eng mit einem bestimmten Un- tergebiet der Philosophie verbunden, das ich in einem spรคteren Kapitel vorstellen werde: der Sprachphilosophie. Seite 11 Kap II. Methoden ยง2. Was ist was? โ รber Definitionen ยง2.a. Definitionen: Wozu? Sie haben das vielleicht schon mal erlebt: Eine aufgeregte Diskussion unter Freunden; beide Par- teien in der Diskussion sind sich ihrer Sache sicher und kรถnnen kaum glauben, dass die andere Seite anderer Meinung ist: โNa klar ist der Andi ein Kommunistโ โ โAber nie im Leben!โ. Irgend- wann lรถst sich dann der Knoten: Der in der Diskussion zentrale Begriff wurde von beiden Parteien unterschiedlich verstanden. Als das klar wurde, konnte das Kriegsbeil weitgehend begraben wer- den: โOkay, wenn Du unter einem Kommunisten einfach jemanden verstehst, der den Kapitalis- mus nicht unterstรผtzen mรถchte, dann ist der Andi einer. Ich wรผrde es anders nennen, aber gut.โ In Diskussionen redet man oft mehr oder weniger aneinander vorbei, weil man stillschweigend ein unterschiedliches Verstรคndnis eines Begriffs zugrunde legt. Indem man Definitionen oder Be- griffsbestimmungen vornimmt, kann man dem entgegenwirken. Daher spielen Fragen nach Defi- nitionen bzw. Begriffsbestimmungen insbesondere in Wissenschaften eine wichtige Rolle. Die Be- urteilbarkeit von wissenschaftlichen Thesen und Theorien hรคngt wesentlich daran, dass die ver- wendeten Ausdrรผcke eine deutlich umgrenzte Bedeutung haben. Wo eine solche nicht vorhanden ist, werden Thesen unklar und Theorien schwammig. ยง2.b. Zwei Arten von Definitionen Manchmal bekommt man zu hรถren, man kรถnne Ausdrรผcke doch definieren, wie man wolle; das sei eine freie, willkรผrliche Entscheidung. Stimmt das? Ob man sagen sollte, Definitionen seien willkรผrlich, hรคngt davon ab, welche Art von Definition man im Sinn hat. Denn man kann zwei Arten von Definitionen unterscheiden: โช Sinn-Stiftungen sind Definitionen, die einem Wort eine neue Bedeutung verleihen, und โช Sinn-Reportagen sind Definitionen, die eine vorhandene Bedeutung erfassen sollen. Sinn-Stiftungen werden oft auch stipulative Definitionen genannt. Sie dienen dazu, einem Wort eine neue Bedeutung zu verleihen (wobei auch das jeweilige Wort selbst oft neu in die Sprache einge- fรผhrt wird). So etwas geschieht oft in wissenschaftlicher Fachsprache, wenn man prรคzise Begriffe fรผr bislang nicht benannte Phรคnomene benรถtigt: Jemand entdeckt eine neue Variante eines Virus und tauft sie auf den Namen โDelta-Varianteโ. Ein anderer fรผhrt in einem Mathematik-Text einen neuen Fachbegriff ein und setzt fest: Zahlen, die durch 4 teilbar sind, nenne ich fortan Q-Zahlen. Solche Definitionen haben einen normativen Charakter: Sie schreiben vor, wie ein Wort zukรผnftig im Sinne des Definierenden zu verwenden ist; damit werden sie zum Maรstab fรผr den korrekten und inkorrekten Gebrauch des Worts. Und da sie einem Wort eben eine neue Bedeutung verleihen, sind sie in der Tat sehr frei und im Wesentlichen der Willkรผr der Definierenden anheimgestellt. Seite 12 Kap II. Methoden Sinn-Reportagen beziehen sich auf die vorhandene Bedeutung eines Worts in einer Sprache und versuchen, diese korrekt abzustecken. Nehmen Sie etwa an, Anna, Ben und Carla mรถchten auf diese Weise den Begriff eines Junggesellen definieren. Sie schlagen folgende Definitionen vor: โช Anna: Ein Junggeselle ist ein junger Mann. โช Ben: Ein Junggeselle ist unverheirateter Mensch. โช Carla: Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann. Die ersten beiden Definitionen sind verfehlt. Anna scheint das Wort โJunggeselleโ nicht wirklich zu kennen und stellt eine Vermutung auf Basis der Wortbestandteile an. Aber mit ihrer Vermutung irrt sie. Ben besitzt offenbar ein gewisses Verstรคndnis des Worts. Dennoch ist seine Definition nicht korrekt. Denn er รผbersieht, dass ihr zufolge auch unverheiratete Frauen Junggesellen wรคren; so aber funktioniert das Wort im Deutschen nicht. Carla schlieรlich bietet eine gute Definition des Worts an. Weil Sinn-Reportagen der vorhandenen Bedeutung eines Worts gerecht werden sollen, sind sie nicht der Willkรผr des Definierenden anheimgestellt. Vielmehr bildet die vorhandene Wortbedeutung den Maรstab fรผr die Korrektheit oder Inkorrektheit der Definition. รber die Korrektheit von Sinn- Reportagen kann man daher sinnvoll streiten (genauso wie die Eintrรคge in Wรถrterbรผchern richtig und falsch sein kรถnnen). Das geschieht denn auch sehr oft im philosophischen Alltag. Es mag รผbrigens Sonderfรคlle von Sinn-Reportagen geben, bei denen ein gewisser Freiraum fรผr Will- kรผr besteht. Vielleicht ist die Bedeutung einiger Wรถrter unscharf, so dass man mit gleichem Recht zwei leicht verschiedene Definitionen des Worts akzeptieren kรถnnte. Zum Beispiel meinen man- che Philosoph*innen, es sei nicht klar geregelt, ob der Papst als Junggeselle zรคhlt oder nicht. In so einem Fall mag es legitim sein, eine der im Prinzip passenden Definitionen nach Gusto auszuwรคh- len. Wenn dann jemand anders eine andere Wahl trifft, sollte man das akzeptieren, da sonst ein leerer Streit um Worte entstรผnde; man muss dann eben nur Vorsicht walten lassen, den anderen richtig zu verstehen. Aber im weiteren Verlauf des Kapitels lasse ich unscharfe Wortbedeutungen einmal beiseite und konzentriere mich auf die einfacheren Fรคlle von Definitionen. Dabei meine ich fortan stets: Defi- nitionen verstanden als Sinn-Reportagen. ยง2.c. Fragen nach Definitionen Weil klare Begriffe fรผr Wissenschaften von immenser Wichtigkeit sind, werden Fragen nach De- finitionen (verstanden, wie gesagt, als Sinn-Reportagen) hรคufig an zentralen Stellen im wissen- schaftlichen Alltag gestellt und insbesondere auch im philosophischen Alltag. Sie kรถnnen unter- schiedliche Formen annehmen. Typisch wรคre etwa: Was ist ein Ladida? Beispiele: Was ist eine Lรผge? Was ist ein Kunstwerk? etc. Seite 13 Kap II. Methoden Was macht ein Ladida aus? Beispiele: Was macht eine Lรผge / ein Kunstwerk aus? Worin besteht es, dass etwas/jemand ladidiert? Beispiele: Worin besteht es, dass etwas eine Lรผge ist / jemand tanzt / jemand irrt / etc. ? In den obigen Kรคsten habe ich von einem Trick Gebrauch gemacht, den Sie oft in philosophischen Texten finden werden. Ich wollte die gemeinsame Form veranschaulichen, die mehreren Fragen gemeinsam ist. Dafรผr habe ich einen reprรคsentativen Platzhalter verwendet: โLadidaโ bzw. โladi- dierenโ. Da wo in der Frageform โLadidaโ steht, steht in konkreten Fragen dieser Form ein spe- zifischer Begriff โ wie eben z.B. โRomanโ, โWissenโ, โSpielโ. Was fรผr einen Ausdruck man als Platzhalter verwendet, ist beliebig; wichtig ist nur, dass die Funktion als allgemeiner Platzhalter fรผr spezifische Begriffe klar wird. Oft wird als Platzhalter der Buchstabe โFโ verwendet. Dann wรผrden die oben genannten Frageformen wie folgt angegeben: โช Was ist ein F? โช Was macht ein F aus? โช Worin besteht es, dass etwas ein F ist? ยง2.d. Die Formulierung von Definitionen Wie kรถnnten nun Antworten auf definitorische Fragen aussehen? Betrachten wir ein Beispiel: Frage: Was ist ein Roman? Antwort: Ingeborg Bachmanns Malina, Thomas Bernhards Auslรถschung und Mary Shelleys Frankenstein sind Romane. Frage: Aha. Ist Bichsels Der Mann, der nichts mehr wissen wollte auch ein Roman? Antwort: Nein, das ist eine Erzรคhlung. Auch Poes The Raven ist kein Roman, sondern ein Gedicht. Bei dieser Art von Antwort wird versucht, einen Begriff durch die Angabe von Beispielen zu ver- mitteln. Genauer gesagt, durch die Angabe typischer Beispiele von (i) Dingen, die unter ihn fallen, sowie von (ii) Dingen, die nicht unter ihn fallen. Eine solche Antwort auf eine definitorische Frage wird oft als exemplarische oder eine ostensive De- finition bezeichnet. Seite 14 Kap II. Methoden Freilich haben exemplarische bzw. ostensive Definitionen ein recht offensichtliches Problem: Man muss darauf zรคhlen, dass der Zuhรถrer die Idee hinter den Beispielen erfasst und in der richtigen Weise von den Beispielen abstrahiert. Dazu muss er (i) die wichtigen Gemeinsamkeiten der Bei- spiele erkennen und beachten, (ii) unwichtige Besonderheiten erkennen und auรer Acht lassen. Ob das gelingt, ist letztlich Glรผckssache. Sicherlich wรคre es schรถn, wenn man sich beim Definieren nicht auf den Riecher und das Glรผck der Zuhรถrer*innen verlassen mรผsste. Was einer exemplari- schen Definition daher vorzuziehen ist, wรคre die explizite Angabe davon, was alle Fs gemeinsam haben und was Fs von anderen Dingen unterscheidet. Um das anzugeben, sind zwei Faktoren zu beachten: (i) Wie muss etwas beschaffen sein, um F zu sein? (M.a.W.: Was haben alle Fs gemein?) (ii) Gibt es etwas, was ausreicht, um F zu sein? (M.a.W.: Was unterscheidet Fs von allen ande- ren Dingen?) Eine Antwort auf Frage (i) gibt sogenannte notwendige Bedingungen dafรผr an, ein F zu sein, eine Ant- wort auf Frage (ii) sogenannte hinreichende Bedingungen. Eine ordentliche Definition sollte beide Fra- gen zugleich beantworten und damit Bedingungen angeben, die zugleich notwendig und hinrei- chend fรผr das sind, was definiert werden soll. Eine solche Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen hat die folgende Form: Etwas ist genau dann ein F, wenn es so-und-so beschaffen ist. Alternativ wird diese Form auch folgendermaรen angeben: x ist ein F ๏ซ x ist so-und-so beschaffen. Dies lehnt sich an eine gรคngige Notation aus der modernen philosophischen Logik an: โช Durch die Variable โxโ wird angezeigt, dass รผber beliebige Dinge geredet wird. โช Der Doppelpfeil spielt die Rolle des โgenau dann, wennโ. Betrachten wir einmal zwei konkrete Beispiele so formulierter Definitionsversuche: Definitionsversuch: Lรผge x ist eine Lรผge ๏ซ x ist eine falsche Aussage Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x erweckt beim Betrachten eine Erfahrung des Erhabenen Was ihre Form anbelangt, sind diese Definitionsversuche tadellos: Sie bemรผhen sich um die An- gabe hinreichender und notwendiger Bedingungen dafรผr, eine Lรผge bzw. ein Kunstwerk zu sein. Seite 15 Kap II. Methoden Dabei macht die Prรคsentation optisch sofort klar, was definiert werden soll und durch welche Bestimmung es definiert werden soll: Ersteres steht links neben dem Doppelpfeil, letzteres steht rechts neben dem Doppelpfeil. รbrigens nennt man das, was in einer Definition definiert werden soll, oft auch das Definiendum, den definierenden Ausdruck hingegen das Definiens. Nun ist die Form aber natรผrlich nicht alles, was bei einem Definitionsversuch zรคhlt. Auch bei den wohlgeformten Definitionen gibt es gelungene und misslungene. Was kann einen Definitionsver- such inhaltlich kritikwรผrdig machen? ยง2.e. Kritik an Definitionen I: Die Bedingungen sind nicht notwendig Notwendige und hinreichende Bedingungen mรผssen allemal auch notwendige Bedingungen sein. Man kann eine Definition daher kritisieren, indem man zeigt, dass sie keine notwendigen Bedingungen angibt. Kehren wir zur Veranschaulichung dieser Form der Kritik einmal zu einem der obigen Definitionsversuche zurรผck: Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x erweckt beim Betrachten eine Erfahrung des Erhabenen Man kann diesen Vorschlag kritisieren, indem man zeigt, dass keine notwendigen Bedingungen angegeben sind. Wie das? Indem man etwas anfรผhrt, das zwar ein Kunstwerk ist, aber beim Be- trachten keine Erfahrung des Erhabenen erweckt. Zum Beispiel gibt es musikalische Kunstwerke. Doch die werden gar nicht betrachtet. Das geschilderte Problem des Definitionsversuchs resultiert, wie Wittgenstein sagen wรผrde, aus einer โeinseitige[n] Diรคt: man nรคhrt sein Denken nur mit einer Art von Beispielen.โ (Philosophische Untersuchungen ยง593) Wittgenstein hรคlt dies ferner fรผr die โHauptursache philosophischer Krankheitenโ (ebd.). Selbst, wenn das etwas รผbertrieben sein mag: Versucht man, einen Begriff zu fassen, so tut man gut daran, sich zunรคchst einmal in Ruhe die Spannbreite seiner Anwendungen zu vergegenwรคrtigen und auch spรคter immer mal wieder zu รผber- legen, ob man nicht mรถgliche Anwendungen รผbersehen und durch seinen Definitionsversuch lei- der ausgeschlossen hat. Nachdem eine solche Kritik vorgebracht wurde, muss man einen Definitionsversuch freilich nicht gleich in Bausch und Bogen verwerfen. Mitunter kann man stattdessen versuchen, den Definiti- onsversuch nachzubessern. Angenommen also, man hatte bei der Formulierung einer Definition eine zu kleine Auswahl an Beispielen im Sinn und hat daher einen zu speziellen Begriff verwendet. Das scheint beim obigen Versuch, den Begriff des Kunstwerks zu definieren, geschehen zu sein. Man kann auf diese Beobachtung reagieren, indem man am Ansatz der Definition festhรคlt, aber den zu speziellen Begriff durch einen allgemeineren ersetzt. Kunstwerke beispielsweise werden zwar nicht alle betrachtet, sie werden aber doch alle wahrgenommen bzw. rezipiert. Insofern kann man der angebrachten Kritik zunรคchst einmal begegnen, indem man nur leicht in die Definition eingreift: Seite 16 Kap II. Methoden Ursprรผnglicher Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x erweckt beim Betrachten eine Erfahrung des Erhabenen Revidierter Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x erweckt beim Rezipieren eine Erfahrung des Erhabenen Solange man die Grundidee der Definition (Kunst hat etwas mit erhabenen Erfahrungen zu tun) unterstรผtzt, ist diese Art der Reaktion im Allgemeinen auch erst einmal legitim. ยง2.f. Kritik an Definitionen II: Die Bedingungen sind nicht hinreichend Notwendige und hinreichende Bedingungen mรผssen allemal auch hinreichende Bedingungen sein. Man kann eine Definition daher kritisieren, indem man zeigt, dass sie keine hinreichenden Bedingungen angibt. Kehren wir hierfรผr einmal zur vorgeschlagenen Definition der Lรผge zurรผck: Definitionsversuch: Lรผge x ist eine Lรผge ๏ซ x ist eine falsche Aussage Man kann diesen Vorschlag kritisieren, indem man zeigt, dass keine hinreichenden Bedingungen fรผr Lรผgen angegeben sind. Wie das? Indem man jemanden anfรผhrt, der eine falsche Aussage macht, aber nicht lรผgt. Und solche Leute gibt es zuhauf: Wer sich verrechnet und das Ergebnis seiner Rechnung kundtut, der sagt etwas Falsches. Aber offenbar lรผgt er nicht. Wer sich hรคufig irrt, ist dadurch noch lange kein notorischer Lรผgner. ยง2.g. Kritik an Definitionen III: Unklarheit Manchmal kann man nicht umfassend beurteilen, ob eine Definition notwendige und hinreichende Bedingungen angibt, weil der definierende Ausdruck unklar ist. Betrachten wir noch einmal die ausgebesserte Definition eines Kunstwerks: Revidierter Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x erweckt beim Rezipieren eine Erfahrung des Erhabenen Hier besteht verschiedener Klรคrungsbedarf: Erstens verwendet die definierende Klausel einen ge- wiss ungewรถhnlichen und erlรคuterungsbedรผrftigen Ausdruck: Denn was soll das eigentlich sein, eine Er- fahrung des Erhabenen? Seite 17 Kap II. Methoden Zweitens lรคsst die definierende Klausel verschiedene Auslegungen zu, sie ist undeutlich. Denn es stellt sich die Frage, wie allgemein das Definiens gemeint ist: โช Geht es um jede stattfindende Rezeption? โช Oder nur um viele / typische? โช Oder vielleicht nur um Rezeption durch Kenner? Je nachdem, wie die Antwort ausfรคllt, werden mehr oder weniger Dinge als Kunstwerk zรคhlen. Dieser Art der Unklarheit โ wie allgemein sind generell gehaltene Formulierungen gemeint? โ fin- det sich รผbrigens durchaus oft bei Definitionen. Es ist sinnvoll, hier eine Sensibilitรคt fรผr Problem- potential zu entwickeln. ยง2.h. Kritik an Definitionen IV: Zirkularitรคt Eine Definition soll hinreichende und notwendige Bedingungen angeben, unter denen der defi- nierte Begriff auf etwas zutrifft. Nun gibt es freilich eine sehr einfache Weise, das zu erreichen: Wir kรถnnten einfach den zu definierenden Begriff wiederholen. Der folgende Definitionsversuch gibt trivialerweise hinreichende und notwendige Bedingungen dafรผr an, ein Kunstwerk zu sein: Zirkulรคrer Definitionsversuch: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ x ist ein Kunstwerk Das ist aber gewiss kein besonders guter Vorschlag, auch wenn das Ziel erreicht ist, hinreichende und notwendige Bedingungen anzugeben. Ein Problem des Vorschlags besteht darin, dass er uns nicht mehr mitteilt, als wir ohnehin schon wussten: Ein Kunstwerk ist ein Kunstwerk. Allerdings erfasst diese Beschreibung noch nicht die ganze Dimension des zugrundeliegenden Problems. Betrachten wir einmal folgende Variante: Zirkulรคrer Definitionsversuch II: Kunstwerk x ist ein Kunstwerk ๏ซ (i) x erweckt beim Rezipieren Erfahrungen des Erhabenen & (ii) x ist ein Kunstwerk Anders als die erste Definition teilt uns diese nicht nur mit, was wir schon wussten; zugleich ist hier die Information enthalten, dass Kunstwerke Erfahrungen des Erhabenen hervorrufen. Doch auch wenn diese Definition daher nicht informationsleer ist, ist sie klarerweise problematisch. Ge- nerell sind zirkulรคre Definitionen problematisch, bei denen der zu definierende Begriff im definier- ten Begriff selbst auftaucht. Zirkularitรคt ist in mehrerlei Hinsicht problematisch. Hier soll genรผgen, eine Hinsicht zu nennen: Auch, wenn nicht jede zirkulรคre Definition nur mitteilt, was man schon wusste, hat dennoch jede zirkulรคre Definition einen Mangel an Informativitรคt. Denn wenn das Seite 18 Kap II. Methoden Definiens im Definiendum auftaucht, dann kann man nur entscheiden, ob das Definiendum auf einen Gegenstand zutrifft, wenn man bereits entscheiden kann, in welchen Fรคllen das Definiens zutrifft. Angenommen, ich will anhand der obigen Definition entscheiden, ob der Eiffel-Turm ein Kunstwerk ist. Dazu muss ich (i) entscheiden, ob er Erfahrungen des Erhabenen hervorruft, und (ii) ob er ein Kunstwerk ist. Aus diesem Grund hilft er mir aber bei meinem ursprรผnglichen Anliegen gar nicht weiter. Zirkularitรคt wird รผblicherweise als Ausschlussgrund fรผr Definitionsversuche erachtet. Daher trifft man offen zu Tage liegende Zirkularitรคt auch wirklich selten an. Was man schon hรคufiger antrifft, ist versteckte Zirkularitรคt. Sie kann z.B. auftreten, wenn ein Autor oder eine Autorin eine Reihe von Definitionen vorschlรคgt, die im Ganzen einen Zirkel beschreiben: Das wรคre z.B. der Fall, wenn โช in der Definition von Begriff A Begriff B auftaucht, โช in der Definition von Begriff B Begriff C, und โช in der Definition von Begriff C wiederum Begriff A auftaucht. Eine solche Art der Zirkularitรคt kann man leicht einmal รผbersehen; aber problematisch bleibt sie dennoch. Damit genug zu Definitionen; lassen Sie mich zum Thema Argument voranschreiten. Rekapitulation: Definitionen ๏น 1. Definition รผber Beispiele Eine Begriffsklรคrung รผber Beispiele heiรt exemplarische oder ostensive Definition. - Eine ostensive Definition ist oft hilfreich fรผr eine erste Verstรคndigung. - Ihr Nutzen ist aber begrenzt, da man von den Beispielen richtig abstrahieren muss. 2. Definition รผber Bedingungen Eigentlich erstrebenswert ist eine Definition, die hinreichende und notwendige Bedingungen dafรผr angibt, dass der definierte Begriff auf etwas zutrifft. โช Eine besonders transparente Angabe von Definitionen hat die Form: x ist ein Ladida ๏ซDf. x ist so-und-so beschaffen โช Terminologie - das Definiendum ist der in einer Definition definierte Begriff; - das Definiens ist der definierende Begriff. โช Inhaltlich kann man eine Definition kritisieren, indem man zeigt: - dass sie keine hinreichenden Bedingungen angibt; - dass sie keine notwendigen Bedingungen angibt; - dass sie unklar ist; - dass sie zirkulรคr ist und den zu definierenden Begriff im Definiens verwendet. Seite 19 Kap II. Methoden ยง3. Argumentieren ยง3.a. Was ist ein Argument? In der Philosophie geht es nicht darum, einfach nur Meinungen und Ansichten auszutauschen. Es geht darum, begrรผndete Positionen zu vertreten. Aber wie begrรผndet man eine Position oder These? Antwort: mit Argumenten. Daher ist die Argumentation das wohl wichtigste philosophische Werk- zeug. Man wird in der Philosophie auf keinen grรผnen Zweig kommen, wenn man nicht weiร, wie man gut argumentiert und wie man Argumente analysiert und bewertet. Daher wollen wir uns hier mit zumindest ein paar Basics bezรผglich Argumenten vertraut machen. Beginnen sollten wir mit der definitorischen Frage, was ein Argument eigentlich ist. Zur Vorbe- reitung einer Antwort kann es helfen, zunรคchst ein paar Beispiele von Argumenten zu betrachten: Ich denke. Also bin ich. (Renรฉ Descartes) Ich gehe spazieren. Also bin ich. (Descartes nachempfunden von Pierre Gassendi) โTake some more teaโ, the March Hare said to Alice, very earnestly. โIโve had nothing yet,โ Alice replied in an offended tone, โso I canโt take more.โ (Lewis Carroll, Alice in Wonderland) Lots of people act well, [โฆ] but very few people talk well, which shows that talking is much the more difficult thing of the two, and much the finer thing also. (Oscar Wilde, The Devoted Friend ) To love is to suffer. To avoid suffering, one must not love. But then, one suffers from not loving. Therefore, to love is to suffer; not to love is to suffer; to suffer is to suffer. (Sonja in Woody Allens Love and Death) Dies sind tatsรคchlich recht reprรคsentative Beispiele. Wir kรถnnen an ihnen nun einige Beobachtun- gen zum Wesen eines Arguments anstellen: 1. Ein Argument ist eine Folge von Aussagen. 2. Dabei soll eine der Aussagen gestรผtzt, belegt, bzw. erwiesen werden. 3. Zur Stรผtzung wiederum dienen ein oder mehrere Aussagen, die im Argument als gegeben vorausgesetzt werden. Die zu stรผtzende Aussage soll aus diesen Voraussetzungen folgen (was oft durch Folgerungswรถrter wie โalsoโ, โfolglichโ, โdaherโ angezeigt wird). Diese drei Merkmale kann man durchaus als definitorisch fรผr den Begriff eines Arguments be- trachten. Wir halten also fest: Seite 20 Kap II. Methoden DEFINITION: ARGUMENT Ein Argument ist eine Folge von Aussagen, โช von denen eine gestรผtzt bzw. untermauert werden soll, โช wรคhrend die anderen Aussagen als Annahmen vorausgesetzt werden, um die eine zu untermauern. Statt von Argumenten wird รผbrigens auch von Schlussfolgerungen gesprochen, da man in einem Ar- gument eine Aussage aus anderen folgert. Die Aussagen, die in einem Argument vorausgesetzt werden, um eine andere Aussage zu stรผtzen, nennt man in der Philosophie auch die Prรคmissen des Arguments. Die Aussage, fรผr die argumentiert wird, nennt man die Konklusion. Zu wissen, was die Prรคmissen und die Konklusion eines Arguments sind, ist wesentlich dafรผr, das Argument zu verstehen. Denn solange man nicht weiร, welche Voraussetzungen genau in An- spruch genommen werden, kann man ja auch nicht beurteilen, ob sie das Beweisziel tatsรคchlich stรผtzen. Daher ist es hilfreich, wenn die Struktur eines Arguments mรถglichst explizit gemacht wird, indem Prรคmissen und Konklusion eindeutig als solche prรคsentiert werden. Das kann dann z.B. wie folgt aussehen: P1 Nur vernunftbegabte Wesen sind der Sprache mรคchtig. P2 Sherlock Holmes beherrscht eine Sprache. K Also: Sherlock Holmes ist vernunftbegabt. Sie erkennen das Muster: Die Prรคmissen werden zeilenweise getrennt festgehalten, mit einem P markiert und durchnummeriert. Die Konklusion wird durch ein K markiert. Das macht einerseits genau klar, was als Voraussetzungen und was als Beweisziel der Argumentation gilt; und es erlaubt, sich bei der Diskussion des Arguments eindeutig auf bestimmte Teile zurรผckzubeziehen. Aus der obigen Definition eines Arguments ergeben sich zwei wichtige Unterscheidungen: Erstens gibt es einen Unterschied zwischen Meinungsรคuรerungen oder Behauptungen und Argumenten. Denn in einem Argument wird versucht, eine These oder Meinung zu untermauern. Die bloรe Kundgabe einer Meinung tut das nicht und ist daher noch kein Argument. Zweitens gibt es einen Unterschied zwischen Argumenten und guten Argumenten. Denn wesent- lich ist fรผr ein Argument nur, dass man versucht, eine These zu untermauern. Inwieweit der Versuch gelingt, bestimmt die Gรผte des Arguments; nicht aber, ob รผberhaupt ein Argument vorliegt. Doch was macht ein gutes Argument eigentlich aus? Seite 21 Kap II. Methoden ยง3.b. Gute Argumente Tatsรคchlich kann man verschiedene Faktoren im Sinn haben, wenn man ein Argument als gut bzw. schlecht bezeichnet. In der philosophischen Arbeit geht es vor allem um zwei solcher Faktoren: โช Erstens kann man auf die Wahrheit der Prรคmissen abzielen. In einer Hinsicht ist ein Argu- ment schlecht, wenn die Prรคmissen nicht zutreffen. โช Zweitens kann man auf die logische Korrektheit des Arguments abzielen. In einer Hinsicht ist ein Argument schlecht, wenn der Schluss von den Prรคmissen auf die Konklusion nicht folgerichtig ist. Nun gibt es Argumente in jedem beliebigen Themenbereich. Daher gibt es auch keine generelle Methode, um festzustellen, ob die Prรคmissen eines Arguments wahr sind. Dies muss von Fall zu Fall beurteilt werden. Manchmal kann das leicht, manchmal sehr schwer sein; manchmal wird di- verses Hintergrundwissen benรถtigt, manchmal weitere Argumente. Zu diesem Aspekt der Gรผte eines Arguments kรถnnen weder ich noch die Philosophie รผberhaupt mehr sagen. Anders verhรคlt sich mit der logischen Korrektheit eines Arguments. Die ist der zentrale Untersu- chungsgegenstand eines eigenen Gebiets der Philosophie, nรคmlich der Logik. Ein paar Grundideen zur logischen Korrektheit von Argumenten mรถchte ich im Folgenden vorstellen. Freilich lieรe sich dazu noch weit mehr sagen, was dann aber Thema einer Einfรผhrung in die Logik wรคre. Zuallerst noch ein paar terminologische Punkte: Was ich bislang oft (logische) Korrektheit eines Arguments genannt habe, wird in der Logik oft auch als Schlรผssigkeit bezeichnet. Ein Argument hat die Eigenschaft der Schlรผssigkeit, wenn seine Konklusion aus den Prรคmissen folgt. Dann sagt man auch, dass die Prรคmissen die Konklusion implizieren. Halten wir also fest: BEGRIFFE UND TERMINOLOGIE: IMPLIKATION, FOLGE, SCHLรSSIGKEIT Die folgenden drei Redeweisen sind gleichwertig: ๏ Aussage A impliziert Aussage B ๏ Aussage B folgt aus Aussage A ๏ Das folgende Argument ist schlรผssig: Prรคmisse A Konklusion B Die Begriffe der logischen Folge, der logischen Implikation und der Schlรผssigkeit betreffen somit alle dasselbe Phรคnomen. Aber was genau soll es nun heiรen, dass eine Schlussfolgerung folgerichtig bzw. dass ein Argument logisch korrekt ist? Und was heiรt es, dass eine Konklusion aus bestimmten Prรคmissen folgt? Seite 22 Kap II. Methoden ยง3.c. Schlรผssigkeit ๏น รberzeugungskraft Ein wichtiger Punkt: Die Schlรผssigkeit bzw. Korrektheit eines Arguments hรคngt nicht am subjek- tiven Befinden der Argumentierenden. Ob eine Adressatin sich von einem Argument beeindruckt zeigt (ihre Meinung รคndert, oder nicht etc.), ist kein Maร fรผr die Korrektheit des Arguments. Denn einerseits verdankt sich die รberzeugungskraft einer Argumentation oft anderen Faktoren als ihrer tatsรคchlichen Folgerichtigkeit. Eine wichtigere Rolle als die Korrektheit spielen oft Stilfragen, Machtgefรคlle, Schmeicheleien, Loyalitรคtsappelle oder auch absichtliche Irrefรผhrung. Andererseits aber ist die Schlรผssigkeit eines Arguments nicht immer offenkundig. Bei der Beurteilung der Schlรผssigkeit eines Arguments kann man falsch liegen; man kann Fehlschlรผsse ziehen und sich vertun. Dass man ein Argument fรผr folgerichtig hรคlt, heiรt daher nicht, dass es folgerichtig ist; und umgekehrt kann der ein oder andere, konfrontiert mit einem schlรผssigen Argument, durchaus zu- nรคchst mal meinen, die Konklusion folge gar nicht aus den Prรคmissen. Man muss also streng unterscheiden zwischen Schlรผssigkeit und รberzeugungskraft und ebenso da- zwischen, ob ein Argument von jemandem fรผr schlรผssig gehalten wird und ob es tatsรคchlich schlรผssig ist. Fรผr die tatsรคchliche Schlรผssigkeit spielen die รberzeugungen der Produzenten und Konsumen- ten eines Arguments zunรคchst mal keine Rolle. Die Frage bleibt: Was dann? ยง3.d. Schlรผssigkeit und Wahrheit Die Prรคmissen eines schlรผssigen Arguments sollen die Wahrheit der Konklusion untermauern. Schlรผssigkeit hat also etwas mit Wahrheit zu tun. Aber wie eng hรคngen diese Faktoren zusammen? Die Kurzantwort lautet: Im Groรen und Ganzen ergibt sich die Korrektheit bzw. Schlรผssigkeit eines Arguments nicht aus der Frage, ob die Prรคmissen und die Konklusion wahr oder falsch sind. Insbesondere gibt es klare Fรคlle von Fehlschlรผssen, in denen von wahren Prรคmissen auf eine wahre Konklusion geschlossen wird, aber eben in fehlerhafter Weise. Hier ein Beispiel: A.1 P Es gibt sterbliche Menschen. K Also sind alle Menschen sterblich. Dieses Argument hat eine wahre Prรคmisse und eine wahre Konklusion. Dennoch ist der vollzo- gene Schluss nicht statthaft. Das sieht man sehr gut durch den Vergleich mit folgendem Argument: A.2 P Es gibt weibliche Menschen. K Also sind alle Menschen weiblich. Hier wurde offensichtlich schlecht geschlossen. Denn von einer wahren Prรคmisse (ja, es gibt weib- liche Menschen) wurde auf eine falsche Konklusion geschlossen (nein, nicht alle Menschen sind Seite 23 Kap II. Methoden weiblich). Das zeichnet den Schluss als offenbar verfehlt aus. Ein korrektes Schlussverfahren muss bei wahren Voraussetzungen auch eine wahre Konklusion erzeugen. Nun folgen die beiden Argumente A.1 und A.2 aber demselben Schlussmuster, sie bedienen sich haargenau derselben Logik. Argument A.1 ist deshalb ebenso wenig korrekt geschlossen wie A.2, auch wenn A.1 eine wahre Konklusion aufweist. Die Wahrheit der Konklusion ist hier nicht der Gรผte der Schlussfolgerung zu verdanken; es handelt sich vielmehr um einen Glรผckstreffer. Wie bereits festgestellt, darf man bei folgerichtigem Schlieรen erwarten, dass man von Wahrheiten nur zu weiteren Wahrheiten gelangt. Ein Argument, bei dem dies geschieht, wรคre das folgende: A.3 P Es gibt keine Gespenster. K Also gibt es auch keine traurigen Gespenster. Wichtig ist aber zu sehen, dass man auch von einer falschen Ausgangslage aus in korrekter Weise Schlรผsse ziehen kann. Hier ein Beispiel zur Veranschaulichung: A.4 P Es gibt keine Menschen. K Also gibt es auch keine traurigen Menschen. Die Prรคmisse des Arguments ist falsch. Aber in Sachen Folgerichtigkeit ist das Argument nicht zu beanstanden. Es verwendet eine korrekte Schlussart, nรคmlich dieselbe wie Argument A.3. Insgesamt kann man daher feststellen, dass die Wahrheit bzw. Falschheit der Prรคmissen und der Konklusion eines Arguments in der Regel nicht aufzeigt, ob es korrekt ist oder nicht. Nur eine einzige Kombination von wahren/falschen Prรคmissen und wahrer/falscher Konklusion erlaubt eine unmittelbare Diagnose: Hat ein Argument wahre Prรคmissen aber eine falsche Konklusion, so wurde in ihm nicht korrekt geschlossen. Lassen Sie mich hier nebenbei einmal betonen: Zu sagen, dass die Prรคmissen eines Arguments wahr sind, meint, dass sie zusammengenommen wahr sind โ dafรผr muss jede einzelne wahr sein. Wenn hingegen mindestens eine der Prรคmissen falsch ist, sind sie zusammengenommen falsch, nicht wahr. ยง3.e. Schlรผssigkeit und Wahrheitserhalt Wenn aber die Wahrheit bzw. Falschheit von Prรคmissen und der Konklusion fรผr sich genommen noch nicht entscheidend fรผr die Korrektheit bzw. Folgerichtigkeit eines Argumentes ist, was dann? Entscheidend ist, ob ein bestimmter Zusammenhang zwischen Prรคmissen und Konklusion besteht: Ein korrekter Schluss zeichnet sich dadurch aus, dass mit ihm kein รbergang von wahren Prรคmis- sen zu einer falschen Konklusion vorkommen kann. Es muss sichergestellt sein, dass wenn die Seite 24 Kap II. Methoden Prรคmissen wahr sind, oder wahr wรคren, sie zu einer wahren Konklusion fรผhren, bzw. fรผhren wรผr- den. Diesen Zusammenhang kรถnnen wir als Wahrheitserhalt bezeichnen: Etwaige Wahrheit der Prรค- missen bleibt beim รbergang zur Konklusion erhalten. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, dass wir die Prรคmissen und die Konklusion nicht bloร in Sa- chen tatsรคchlicher Wahrheit und Falschheit auswerten. Vielmehr mรผssen wir auch rein hypothetische Fรคlle betrachten: Wir mรผssen verschiedene Szenarien durchspielen, in denen die Prรคmissen wahr sind, und uns fragen, ob in ihnen auch die Konklusion wahr ist. Betrachten wir als Beispiel das folgende Argument: P Sokrates war Tรถpfer. K Sokrates war Handwerker. Wir wollen uns fragen, ob der รbergang von der Prรคmisse zur Konklusion wahrheitserhaltend ist. Nun ist die Prรคmisse dieses Arguments, so wie die Dinge nun mal liegen, falsch. Insofern gibt es hier zunรคchst mal gar keine Wahrheit, die beim รbergang von der Prรคmisse zur Konklusion erhal- ten werden kรถnnte. Aber wir kรถnnen mรถgliche Szenarien betrachten, in denen die Prรคmisse wahr ist. Wir kรถnnen hypothetisch annehmen, dass Sokrates Tรถpfer war, und รผberlegen, wie es dann um die Konklusion bestellt ist. Dann aber sehen wir, dass der Schluss tatsรคchlich wahrheitserhal- tend ist; unter der Annahme, die Prรคmisse sei wahr, ist auch die Konklusion wahr. Wir kรถnnen diese รberlegungen wie folgt zur Erklรคrung des Schlรผssigkeitsbegriffs einsetzen: DEFINITION: SCHLรSSIGKEIT ALS WAHRHEITSERHALT Ein Argument ist schlรผssig ๏ซDf. der รbergang von den Prรคmissen zur Konklusion des Arguments ist wahrheitserhaltend (und zwar auch in bloร mรถglichen Szenarien). ยง3.f. Ein strenger und ein liberaler Schlรผssigkeitsbegriff Damit sind wir fast am Ziel, aber noch nicht ganz. Denn wir kรถnnen im Einklang mit unserer Definition zwei Sorten von Schlรผssigkeit unterscheiden. Schlรผssige Argumente sind wahrheitser- haltend, und zwar auch รผber bloร mรถgliche Szenarien hinweg. Da sollte man sich noch fragen: รber ausnahmslos alle mรถglichen Szenarien hinweg? Oder sind ein paar Ausnahmen erlaubt, so dass der Wahrheitserhalt bloร in typischen oder vielen Szenarien bestehen muss? Im letzteren Fall stรผtzen die Prรคmissen die Konklusion nur zu einem bestimmten Grad und machen sie wahrschein- lich. Im ersteren Fall verbรผrgen die Prรคmissen die Konklusion mit strikter Notwendigkeit. Dementsprechend kรถnnen wir zwei unterschiedlich strenge Begriffe von Schlรผssigkeit definieren: โช Im liberaleren Sinn verlangt Schlรผssigkeit nur den Wahrheitserhalt รผber viele bzw. typische mรถgliche Szenarien hinweg. Seite 25 Kap II. Methoden โช Im strengeren Sinn wird der Wahrheitserhalt รผber alle mรถglichen Szenarien hinweg verlangt. Diese Unterscheidung lรคuft standardmรครig unter dem Titel induktive versus deduktive Schlรผssigkeit. Gemรคร dem bisher Gesagten kรถnnen wir den Begriff der induktiven Schlรผssigkeit auf zwei einan- der entsprechende Weisen festhalten: DEFINITION: INDUKTIVE SCHLรSSIGKEIT Ein Argument ist induktiv schlรผssig ๏ซDf. der รbergang von den Prรคmissen zur Konklusion ist รผber viele/typische mรถgliche Szenarien hinweg wahrheitserhaltend. DEFINITION: INDUKTIVE SCHLรSSIGKEIT (ALTERNATIVE FORMULIERUNG) Ein Argument ist induktiv schlรผssig ๏ซDf. es ist wahrscheinlich, dass, wenn die Prรคmissen wahr sind, auch die Kon- klusion wahr ist. Ebenso kรถnnen wir die deduktive Schlรผssigkeit in zwei gleichwertigen Definitionen fassen: DEFINITION: DEDUKTIVE SCHLรSSIGKEIT Ein Argument ist deduktiv schlรผssig ๏ซDf. der รbergang von den Prรคmissen zur Konklusion ist รผber restlos alle mรถglichen Szenarien hinweg wahrheitserhaltend. DEFINITION: DEDUKTIVE SCHLรSSIGKEIT (ALTERNATIVE FORMULIERUNG) Ein Argument ist deduktiv schlรผssig ๏ซDf. es ist strikt notwendig, dass, wenn die Prรคmissen wahr sind, auch die Konklusion wahr ist. Induktive Schlรผssigkeit ist durchaus wichtig. Sehr oft, wenn wir fรผr eine Konklusion argumentie- ren, begnรผgen wir uns mit bloร induktiv schlรผssigen Argumenten und haben nur den Anspruch, dass die verwendeten Prรคmissen sie wahrscheinlich machen. Das gilt insbesondere, wenn wir em- pirische Fragen diskutieren, bei denen wir auf Verallgemeinerungen von Einzelbeobachtungen an- gewiesen sind oder mit รberlegungen zu statistischer Wahrscheinlichkeit arbeiten. In der philosophischen Logik liegt das Augenmerk aber auf strenger/deduktiver Schlรผssigkeit. Denn Argumente in der Philosophie stรผtzen sich meist auf begriffliche Zusammenhรคnge zwischen Prรคmissen und Konklusion, die mit strikter Notwendigkeit gelten (wenn sie รผberhaupt gelten), wie beispielsweise in: Seite 26 Kap II. Methoden A.6 P Ludwig ist Junggeselle. K Also ist Ludwig unverheiratet. A.7 P Karl ist groร und stark. K Also ist Karl stark. A.8 P1 Jeder Menschenaffe ist ein Schriftsteller. P2 Professor Ape ist ein Menschenaffe. K Also ist Prof. Ape ein Schriftsteller. Nur sehr selten betreibt man in der Philosophie empirische Forschung, bei der induktive Schluss- folgerungen zentral sind. Wenn ich daher im weiteren Verlauf dieser Einfรผhrung von Schlรผssigkeit spreche, meine ich in aller Regel deduktive Schlรผssigkeit; ansonsten sage ich es explizit an. Den Begriff der Schlรผssigkeit zu verstehen ist einer der wesentlichen Grundsteine fรผr jedes erfolg- reiche Philosophiestudium. Denn die Untersuchung von Argumenten auf Schlรผssigkeit hin ist der methodische Anker des Philosophierens. ยง3.g. Mรถgliche Szenarien und Notwendigkeit Lassen Sie mich daher noch etwas mehr zu einem Schlรผsselelement aus der Definition deduktiver Schlรผssigkeit sagen. In den beiden Varianten der Definition spielen die Begriffe von Notwendig- keit und mรถglichen Szenarien eine zentrale Rolle. Diese werden in der Philosophie als modale Be- griffe bezeichnet. Modale Begriffe kommen ins Spiel, wenn wir nicht bloร daran interessiert sind, wie sich Dinge tatsรคchlich verhalten, sondern auch daran, wie sie sich verhalten mรผssen, kรถnnen oder wรผrden, wenn die Umstรคnde andere wรคren. Die Welt ist auf eine bestimmte Weise beschaffen. Aber sie hรคtte auch ganz anders sein kรถnnen. Sehr viele Dinge hรคtten sich anders entwickeln kรถnnen, als sie es getan haben. Oft genug malt man sich aus, was gewesen wรคre, wenn dies oder jenes anders gekommen wรคre โ wenn man dem un- verschรคmten Pรถbler gegenรผber die treffende Erwiderung gefunden hรคtte, wenn man eine Gele- genheit beim Schopf ergriffen hรคtte, etc. pp. Dann denkt man รผber mรถgliche Szenarien nach โ oder, wie Philosoph*innen mit Anlehnung an Leibniz oft sagen: รผber mรถgliche Welten. Die Rede von mรถglichen Szenarien oder mรถglichen Welten kann man wie folgt direkt in die Be- griffe von Notwendigkeit, Mรถglichkeit und Unmรถglichkeit รผbersetzen: Seite 27 Kap II. Methoden ๏ Etwas ist notwendig, wenn es in allen mรถglichen Szenarien der Fall ist. ๏ Etwas ist mรถglich, wenn es in mindestens einem mรถglichen Szenario der Fall ist. ๏ Etwas ist unmรถglich, wenn es in keinem mรถglichen Szenario der Fall ist. Die Begriffe von Mรถglichkeit und Notwendigkeit hรคngen dadurch systematisch zusammen. Wenn etwas nicht mรถglich bzw. unmรถglich ist, ist sein direktes Gegenteil notwendig. Ein Beispiel: ๏ Es ist unmรถglich, dass ein Kreis viereckig ist. ๏ Also ist es notwendig, dass ein Kreis nicht viereckig ist. Und wenn etwas notwendig ist, dann ist seine Verneinung unmรถglich. Ein Beispiel: ๏ Es ist notwendig, dass Kreise rund sind. ๏ Also ist es unmรถglich, dass Kreise nicht rund sind. Dieser Umstand ist dafรผr verantwortlich, dass man die Definitionen deduktiver Schlรผssigkeit auch รผber den Begriff der Unmรถglichkeit fassen kann. Denn es gilt: ๏ Ein Argument ist schlรผssig, wenn es notwendig ist, dass, falls die Prรคmissen wahr sind, die Konklusion auch wahr ist ist. Nun kรถnnen wir das Prinzip anwenden: Notwendig ist das, dessen Gegenteil unmรถglich ist. Damit erhalten wir: ๏ Ein Argument ist schlรผssig, wenn es unmรถglich ist, dass die Prรคmissen wahr sind, aber zugleich die Konklusion falsch ist. Schlรผssigkeit kann man also auch die Unmรถglichkeit einer falschen Konklusion bei wahren Prรค- missen fassen. Dieses Prinzip sollte man sich merken. Es ist sehr nรผtzlich fรผr den Nachweis davon, dass ein Argument nicht schlรผssig ist. Denn dafรผr genรผgt es, eine einzelne Mรถglichkeit aufzuzeigen, in der die Prรคmissen wahr und die Konklusion zugleich falsch sind. Betrachten Sie beispielsweise: A.9 P Ludwig sagt etwas Falsches. K Also lรผgt Ludwig. Dieses Argument ist nicht schlรผssig. Wir kรถnnen das aufzeigen, indem wir ein mรถgliches Szenario beschreiben, in dem Ludwig etwas Falsches sagt, aber nicht lรผgt. Und wir wissen bereits, wie ein solches Szenario aussieht: Ludwig irrt sich und glaubt also etwas Falsches; zudem teilt er seine irrige รberzeugung jemand anders mit. In dem Szenario ist die Prรคmisse des Arguments wahr, die Konklusion aber falsch. Damit ist das Argument als nicht schlรผssig erwiesen. Denn bei einem schlรผssigen Argument kann es kein solches Szenario geben, weil ja laut der Schlรผssigkeitsdefinition in jedem Szenario, in dem die Prรคmisse wahr ist, auch die Konklusion wahr sein muss. Seite 28 Kap II. Methoden ยง3.g. Relative versus absolute Notwendigkeit Den modalen Begriff der Mรถglichkeit drรผckt man oft auch durch das Verb โkรถnnenโ aus, den der Notwendigkeit durch das Verb โmรผssenโ. Daher kann man die Charakterisierungen von Schlรผs- sigkeit auch wie folgt formulieren: ๏ Ein Argument ist schlรผssig, wenn die Konklusion wahr sein muss, sofern die Prรคmissen wahr sind. ๏ Ein Argument ist schlรผssig, wenn die Konklusion nicht falsch sein kann, sofern die Prรค- missen wahr sind. Bei der Verwendung von modalen Ausdrรผcken wie โmรถglichโ oder โkannโ etc. hat man allerdings hรคufig Mรถglichkeit und Notwendigkeit verschiedener Art und/oder Stรคrke im Sinn. Beispielsweise hat man manchmal bloร besonders hohe Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit im Sinn, wie wenn man sagt: (1) Man kann nicht fรผnfmal hintereinander sechs Richtige im Lotto haben. Andererseits gebraucht man modale Ausdrรผcke manchmal, wenn man Gebote des Anstands oder der Moral formuliert, wie in (2) You canโt do that on stage anymore; (3) Man muss Ungerechtigkeit bekรคmpfen, wo man sie trifft. Auch spricht man bisweilen angesichts unertrรคglicher Lagen vom Mรผssen: (4) Wir mรผssen hier raus, das ist die Hรถlle. Oder auch angesichts bestimmter biologischer oder physikalischer Konstanten: (5) Hasen kรถnnen nicht fliegen. (6) Einmal angestoรen muss ein Kรถrper sich stetig fortbewegen, solange keine Gegenkraft auf ihn einwirkt. Das sind alles legitime Verwendungen modaler Ausdrรผcke; aber sie sind fรผr unsere gegenwรคrtigen Zwecke nicht einschlรคgig. Denn hier werden sozusagen relative oder eingeschrรคnkte Notwendig- keiten angesprochen; in der Definition von Schlรผssigkeit geht es um strikte oder absolute Notwen- digkeit und Unmรถglichkeit. Etwas ist nur dann absolut notwendig, wenn es in wirklich jedem mรถglichen Szenario der Fall gewesen wรคre โ ausnahmslos, also gleichviel, wie sehr sich die Welt des Szenarios und ihr Verlauf von der Wirklichkeit unterscheiden mรถgen. Ebenso ist etwas nur dann absolut unmรถglich, wenn es in keinem einzigen mรถglichen Szenario der Fall gewesen wรคre โ gleichviel, wie sehr sich die Welt des Szenarios und ihr Verlauf von der Wirklichkeit unterscheiden mรถgen. Versuchen wir einmal, uns klarzumachen, warum die oben angefรผhrten Beispiele (1) bis (6), so wie sie vorgestellt wurden, nicht von absoluten Modalitรคten handeln. Zunรคchst mal ist absolute Not- wendigkeit von hoher Wahrscheinlichkeit zu unterscheiden. Etwas, das sehr, das sogar extrem unwahrscheinlich ist, ist noch immer nicht im strengsten Sinne unmรถglich. Es kรถnnte eben in einer Seite 29 Kap II. Methoden Ausnahmesituation doch eintreten. Anders ausgedrรผckt: Etwas, das extrem wahrscheinlich ist, tritt in den meisten relevanten mรถglichen Szenarien ein. Aber etwas, das absolut notwendig ist, tritt in wirklich allen mรถglichen Szenarien ein; ausnahmslos. Extreme Wahrscheinlichkeit ist ein schwรค- cherer Begriff als absolute Notwendigkeit. Klar sollte sein, dass gesellschaftliche und auch moralische Gebote keine absoluten Notwendig- keiten darstellen. Offenbar kann man es z.B. unterlassen, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren und tut es auch hรคufig; die in (3) angesprochene Notwendigkeit ist etwas, das in einer moralisch perfekten Welt der Fall wรคre. Nicht aber etwas, das in jeder mรถglichen Welt der Fall ist. Auch wenn es bedauerlich ist, muss man ja eingestehen, dass auch in der tatsรคchlichen Welt viele moralisch gebotenen Umstรคnde nun einmal nicht der Fall sind. Und wenn man sagt, man muss seine Lebensumstรคnde รคndern, dann weiร man natรผrlich, dass der Fortbestand der Umstรคnde leider eine sehr reale Mรถglichkeit ist; aber vielleicht eine, die man nicht aushalten wรผrde, an der man innerlich zugrundegehen wรผrde. Wie steht es schlieรlich mit biologischer und physikalischer Notwendigkeit? Nun, die Welt hรคtte so manch bizarren Verlauf nehmen kรถnnen โ beispielsweise einen, in den die Evolution fliegende Hasen hervorgebracht hรคtte. Biologische Notwendigkeiten sind daher keine absoluten Notwendig- keiten. Sie sind nur notwendig relativ zu bestimmten Startbedingungen, die man als gegeben an- nimmt. Dasselbe gilt anscheinend fรผr physikalische Notwendigkeiten: Wรคhrend bestimmte physi- kalische Gesetze bei uns gelten, hรคtte es auch eine Welt mit radikal anderen physikalischen Geset- zen geben kรถnnen, in denen die Dinge aus unserer Sicht betrachtet drunter und drรผber gehen. Also: Extreme Wahrscheinlichkeit, gesellschaftlich oder moralisch Gebotenes, biologische Gesetz- mรครigkeiten, physikalische Gesetzmรครigkeiten, sie alle sind keine absoluten Notwendigkeiten. Da mag man sich nun langsam fragen, ob รผberhaupt irgendwas als absolute Notwendigkeit oder absolute Unmรถglichkeit gelten kann. Es kann. Einiges ist tatsรคchlich im striktesten Sinne unmรถg- lich. Gleichviel, wie die Welt sich entwickelt hรคtte, nichts hรคtte beispielsweise dazu fรผhren kรถnnen, ๏ dass es verheiratete Junggesellen gibt, ๏ dass es weibliche Eber gibt, ๏ dass es ein Grinsen gibt ohne zugleich irgendetwas, das grinst, ๏ dass es ein Dreieck mit zwanzig Ecken gibt, ๏ dass es gerade Primzahlen gibt, die grรถรer sind als die Zahl 2, oder ๏ dass es einen Hasen gibt, der zugleich flugfรคhig und nicht flugfรคhig ist. Dies sind typische Beispiele von absoluten Unmรถglichkeiten. Solche Unmรถglichkeiten spiegeln oft wesentliche begriffliche, oft definitorische Zusammenhรคnge wieder: Der Begriff eines Ebers ist per defi- nitionem der Begriff eines mรคnnlichen Schweins โ deshalb ist es nicht bloร ein Zufall der Natur, dass es keine weiblichen Eber gibt. Das, was mit der Aussage โEs gibt weibliche Eberโ beschrieben wird, ist eine begriffliche Unmรถglichkeit. Da Notwendigkeit und Unmรถglichkeit einander, wie Seite 30 Kap II. Methoden oben beschrieben, stets begleiten, entsprechen den aufgezรคhlten absoluten Unmรถglichkeiten auch absolute Notwendigkeiten (man mรถge sich klarmachen, welche). Wir haben nun gesehen, dass mit der Rede von Notwendigkeit und Unmรถglichkeit verschieden starke Anforderungen einhergehen. Die verschieden starken Reden von Notwendigkeit und Mรถg- lichkeit spielen eine wichtige Rolle im Alltag und teils auch in wissenschaftlichen Kontexten. Aber in der Definition von deduktiver Schlรผssigkeit ist ausschlieรlich von Notwendigkeit und (Un-)Mรถg- lichkeit in einem absoluten Sinne die Rede. ยง3.h. Argumente kritisieren Wie kritisiert man Argumente? Das ergibt sich bereits aus dem Begriff eines Arguments: In einem Argument soll die Konklusion durch die vorausgesetzten Prรคmissen untermauert werden. Eine sinnvolle Kritik kann daher entweder eine (oder mehrere) der Prรคmissen angreifen; oder sie kann den รbergang bzw. die Schlussweise in Zweifel ziehen und zeigen, dass das Argument nicht schlรผs- sig ist. Lediglich die Konklusion des Arguments zu verneinen, ignoriert das Argument statt es zu kritisieren. Denn das Argument liefert ja gerade einen Grund, die Konklusion zu akzeptieren. Der ist gegeben, wenn die Prรคmissen wahr sind und das Argument schlรผssig ist. Jede direkte Kritik eines Arguments muss daher an einem dieser beiden Faktoren ansetzen. Eine legitime Form der indirekten Kritik eines Arguments besteht darin, gegen die Konklusion zu argumentieren. Wenn das Gegenargument etwa so stark erscheint wie das kritisierte Argument, ergibt sich dann erstmal eine Aporie: Wir kennen nun gleich gute Grรผnde fรผr und gegen die Konklusion. Aufgelรถst werden kann sie durch eine direkte Kritik eines der beiden Argumente. ยง3.i. Argumente rekonstruieren In einem Argument soll die Konklusion aus den Prรคmissen folgen; in einem guten Argument tut sie es auch. Da Argumente in philosophischen Diskussionen eine wesentliche Rolle spielen, sollte man sich in der Beurteilung der Schlรผssigkeit von Argumenten schulen. Um aber die Schlรผssigkeit eines Arguments beurteilen zu kรถnnen, muss man die Struktur des Ar- guments klar erfassen: Welche Voraussetzungen werden gemacht und wofรผr genau wird argumen- tiert? Das ist mal mehr und mal weniger klar. Ein wenig Interpretationsarbeit ist oft vonnรถten. Betrachten Sie zum Beispiel die folgende Passage aus Platons Menon (78A): Sokrates: Wenn also niemand begehrt, unglรผckselig zu sein, dann begehrt auch niemand das Schlechte. Denn was ist Unglรผckseligkeit anderes, als das Schlechte zu begehren und zu seinem Besitz zu machen? Seite 31 Kap II. Methoden Sokrates argumentiert hier. Aber das Argument steht nicht in glasklarer Form da. Man muss er- kennen, dass der Fragesatz, den Sokrates verwendet, einen wichtigen Bestandteil seiner Argumen- tation ausmacht. Denn es handelt sich um eine rhetorische Frage; Sokrates setzt bei ihr die beja- hende Antwort voraus. Wir kรถnnen der Passage das folgende Argument entnehmen: P Unglรผckseligkeit ist nichts anderes, als das Schlechte zu begehren und es sich anzueignen. K Also: Wenn niemand begehrt, unglรผckselig zu sein, begehrt niemand das Schlechte. Wenn man ein wichtiges Argument einer Autorin besprechen mรถchte, dann sollte man erstmal รผber seine Struktur ins Klare kommen und diese dann auch schriftlich festhalten. Diesen Arbeits- schritt nennt man oft die Rekonstruktion eines Arguments: Definition: Rekonstruktion eines Arguments Aus einem argumentativ angelegten Text ein Argument zu rekonstruieren, heiรt: ๏ erstens den Text daraufhin zu interpretieren, was als Prรคmissen voraus- gesetzt wird und wofรผr als Konklusion argumentiert wird; sowie ๏ zweitens die so ermittelte Argument-Struktur explizit festzuhalten. Aus einem Text ein Argument zu rekonstruieren, gestaltet sich oft schwieriger als im oben prรคsen- tierten, einfachen Beispiel. Insbesondere ist nicht immer auf den ersten Blick klar, welche These eigentlich gestรผtzt werden soll (was also die Konklusion des Arguments sein kรถnnte). Noch schwieriger ist hรคufig festzustellen, welche Thesen tatsรคchlich zur Stรผtzung angebracht werden (und also als Prรคmissen dienen kรถnnen). So stehen Prรคmissen mitunter weit entfernt voneinander und/oder von der Konklusion; manchmal sind sie erst nach der Konklusion anzutreffen; manch- mal steht ein Teil von ihnen vor, ein anderer hinter der Konklusion. Dann wieder sind einige Prรคmissen womรถglich nur angedeutet und bedรผrfen der Ergรคnzung durch eine wohlwollende Le- serin. Bei der Suche nach Prรคmissen einer Argumentation helfen bisweilen Winke der Autorin, wie die Verwendung von Folgerungswรถrtern โ beispielsweise: also; mithin โ oder Wรถrtern, mit denen Prรคmissen als solche markiert werden: da; denn; die folgenden รberlegungen belegen meine These. Manchmal fehlen aber solche expliziten Hilfen und nur ein gutes Gesamtverstรคndnis vom vorlie- genden Text kann klรคren, wo sich in ihm Prรคmissen und wo die Konklusion befinden. Es gibt kein Patentrezept zum Erwerb der Fรคhigkeit, ein Argument aus einem eher undurchsichtig aufgebauten Text zu rekonstruieren. Man kann sie sich nur im hรคufigen Umgang mit Texten an- eignen (und diese Aneignung benรถtigt fรผr gewรถhnlich viel Zeit). Einzig eine Faustregel der Inter- pretation sei hier noch erwรคhnt, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Generell gesprochen sollte man im Allgemeinen versuchen, vorhandenen Interpretationsspielraum behutsam zugunsten der Autorin zu nutzen. Das heiรt, man sollte versuchen, offensichtliche Flรผchtigkeitsfehler in For- mulierungen zu korrigieren und bei verschiedenen mรถglichen Auslegungen einer Argumentation diejenige zu wรคhlen, bei der das insgesamt stรคrkste Argument herauskommt โ also ein Argument, mit mรถglichst plausiblen Prรคmissen und einer mรถglichst korrekten Schlussweise. Seite 32 Kap II. Methoden ยง3.j. Weitere Bestandteile von Argumentationen Wenn man ein Argument aus einem Text rekonstruiert, stellt man diese Teile klar heraus. Er- schwert wird die Rekonstruktion oft dadurch, dass ein Text, in dem ein Argument entwickelt wird, neben der Konklusion und den Prรคmissen noch anderes Material enthรคlt. Die wesentlichen Teile eines Arguments sind, wie gesagt, ๏ die Konklusion, also die Aussage, die gestรผtzt werden soll, und ๏ die Prรคmissen, also die Voraussetzungen, welche die Konklusion stรผtzen sollen. Daneben kommen oft Ausfรผhrungen vor, die fรผr das Argument selber schlicht irrelevant sind. Autoren verlieren sich manchmal in Ausschmรผckungen, machen kluge aber nur lose verbundene Randbemerkungen oder fรผgen schnell noch ein et ceterum censeo anbei, ein Was ich schon immer mal sagen wollte. Solche Teile lassen wir bei der Rekonstruktion eines Arguments auรen vor. Andererseits geht in eine Argumentation neben Prรคmissen und Konklusion manchmal noch wei- teres Material ein, das argumentationstheoretisch durchaus relevant ist, nรคmlich: ๏ Zwischenkonklusionen; ๏ Nebenargumente fรผr die Prรคmissen des eigentlichen Arguments; ๏ rein hypothetische Annahmen. Gehen wir diese Elemente einmal der Reihe nach durch. Zwischenkonklusionen. Wenn jemand einen Gedankengang besonders klar machen mรถchte, geht er manchmal Schritt fรผr Schritt vor und zieht einen Schluss nach dem anderen. Das heiรt, er folgert aus Prรคmissen etwas und folgert daraus dann wieder etwas. Hier ein Beispiel: So offensichtlich, wie wir denken, so offensichtlich gibt es auch Gedanken. Gedanken aber sind keine materiellen Gegenstรคnde. Also gibt es neben materiellen Dingen auch noch andere. Also ist der Materialismus, demzufolge alles materiell ist, falsch. Wir kรถnnen aus dem Text zwei aufeinander aufbauende Argumente rekonstruieren. Das zweite Argument setzt dabei genau dort an, wo das erste Argument endet: P.1 Wir denken. Argument 1 P.2 Wenn wir denken, dann gibt es Gedanken. P.3 Gedanken sind keine materiellen Gegenstรคnde. K Also: Neben materiellen Dingen gibt es auch noch andere. Argument 2 Neben materiellen Dingen gibt es auch noch andere. P Also: Der Materialismus, demzufolge alles materiell ist, ist falsch. K Seite 33 Kap II. Methoden Nebenargumente fรผr Prรคmissen. Kommen wir nun zum zweiten erwรคhnten Punkt. In Argumenten verwenden wir Prรคmissen, um eine These zu untermauern. Oft wird man sich fragen, ob die ver- wendeten Prรคmissen denn auch zutreffen. Um das zu zeigen, wird man fรผr diese Prรคmissen auf der Grundlage anderer Prรคmissen argumentieren. In der philosophischen Praxis begegnen wir da- her oft Argumenten, in die weitere Argumente eingebaut sind. Hier ein Beispiel: Der Konsum von Fleisch wird manchmal dadurch gerechtfertigt, dass wir von Natur aus Fleischfresser sind. Das aber ist keine akzeptable Rechtfertigung. Denn nicht alles, was wir im Naturzustand tun, ist auch in einer kultivierten Gesellschaft akzeptabel. Beispielsweise gilt dies fรผr den Einsatz kรถrperlicher Gewalt: Wรคhrend dieser im Naturzustand ein vรถllig gรคngiges Mit- tel zur Konfliktlรถsung darstellt, ist er in einer zivilisierten Gesellschaft nicht akzeptabel. Hier kรถnnen wir zwei miteinander verwobene Argumente rekonstruieren. Das erste ist das zentrale Anliegen des Textes: Es soll zeigen, dass Fleischkonsum nicht bereits dadurch gerechtfertigt ist, dass wir von Natur aus Fleischfresser sind. Das zweite Argument hingegen soll die Prรคmisse des ersten Arguments unterstรผtzen: Im Naturzustand ist kรถrperliche P Gewalt ein gรคngiges Mittel zur Assistierendes Argument Konfliktlรถsung, im Kulturzustand ist sie ist kein akzeptables Mittel zur Konfliktlรถsung. P Nicht alles, was Menschen im Na- Also: Nicht alles, was Menschen im Na- K Zentrales Argument turzustand tun, ist im Kulturzustand turzustand tun, ist im Kulturzu- akzeptabel. stand akzeptabel. K Also: Fleischkonsum ist nicht schon dadurch gerechtfertigt, dass wir von Natur aus Fleischfresser sind. Dies ist eine oft anzutreffende Struktur komplexer Argumentationsverlรคufe: Fรผr wichtige Prรคmis- sen, die man in einem Argument verwendet, versucht man gesondert zu argumentieren. Hypothetische Annahmen. Kommen wir zum letzten Element, das uns in Argumenten oft begegnet, zu hypothetischen Annahmen. Betrachten wir sogleich ein Beispiel: Pete: Es ist nicht in Ordnung, dass Jo, die mir ohnehin von Anfang an unsympathisch war, ihren Krams รผberall rumliegen lรคsst. Angenommen, das wรผrde jeder machen. Dann kรถnnten wir uns hier bald nicht mehr bewegen. Wofรผr Pete hier argumentieren mรถchte, scheint klar zu sein: Dass Jo ihren Krams nicht รผberall rumliegen lassen sollte. Wie aber lรคuft das Argument ab? Seite 34 Kap II. Methoden Der Einschub, dass Jo ihm unsympathisch ist, trรคgt argumentationstechnisch nichts aus. Pete nutzt bloร die Gelegenheit, um das auch noch loszuwerden. Was hingegen durchaus eine argumentative Rolle spielt, ist der Satz โAngenommen, das wรผrde jeder machenโ. Aber was genau ist sein Status in der Argumentation? Zwar wird hier etwas angenommen, aber es wird fรผr das Argument offenbar nicht wirklich vorausge- setzt, dass es sich tatsรคchlich so verhรคlt. Pete weiร natรผrlich, dass nicht jeder seinen Krams รผberall rumliegen lรคsst. Ihm diese Annahme als echte Voraussetzung zuzuschreiben, auf deren Wahrheit er sich festlegen will, wรผrde daher frappant gegen das Prinzip der wohlwollenden Interpretation verstoรen. Was Pete stattdessen macht, ist mithilfe einer fiktiven Annahme ein kleines Gedankenexperiment durchzufรผhren. Er macht eine rein hypothetische Annahme, an die er gar nicht wirklich glaubt. Er stellt sie auf, um zu รผberlegen: Was wรผrde sich ergeben, wenn sie wahr wรคre? Aus Petes fiktiver Annahme wรผrde z.B. folgen, dass man sich nicht mehr bewegen kann. Diese รberlegung wird als Stรผtze fรผr die Konklusion angestellt. Worauf legt sich Pete in seinem Argument dann wirklich fest? Was kann man ihm als Prรคmisse zuschreiben? Er legt sich nicht auf die Wahrheit der hypothetischen Annahme fest, dass jeder alles liegenlรคsst; er hรคlt diese ja nicht fรผr tatsรคchlich korrekt. Er legt sich auch nicht auf die Wahrheit der Folge aus der hypothetischen Annahme fest, also darauf, dass man sich nicht mehr bewegen kann. Wiederum ist das etwas, was ja nicht wirklich der Fall ist. Worauf sich Pete aber festlegt, ist ein Zusammenhang zwischen der hypothetischen Annahme und der Folge: Wenn die Annahme gesetzt ist, dann ergibt sich Pete zufolge die Konsequenz. Dass dieser Zusammenhang besteht, ist tatsรคch- lich eine Voraussetzung der Argumentation; mit ihr soll die Konklusion gestรผtzt werden. Daher kรถnnen wir das folgende Argument aus dem Text extrahieren: P Wenn jeder seinen Krams รผberall rumliegen lieรe, dann kรถnnte man sich hier bald nicht mehr bewegen. K Also: Es ist nicht in Ordnung, dass Jo ihren Krams รผberall rumliegen lรคsst. Hypothetische Hilfsannahmen spielen in vielen Argumenten eine wichtige Rolle. Um zu unter- scheiden, ob eine Annahme als Prรคmisse oder als hypothetische Hilfsannahme verwendet wird, muss man den Argumentationsverlauf erfassen und sich fragen, ob der Vertreter des Arguments sich auf die Wahrheit der Annahme festlegt: Muss er sie als wahr verteidigen, wenn er sein Argument aufrechterhalten mรถchte? Falls ja, so handelt es sich um eine Prรคmisse. Falls nein, um eine hypo- thetische Hilfsannahme. Ein typisches (aber nicht eindeutiges) Erkennungszeichen ist die Einlei- tung eines Satzes mit Wendungen wie โNimm mal an, dass โฆโ, โStell Dir vor, dass โฆโ, โSuppose that โฆโ, โImagine that โฆโ u. ร. Hypothetische Hilfsannahmen sind insbesondere auch ein zentraler Schritt in sogenannten indi- rekten Beweisen oder Widerspruchsbeweisen. In ihnen macht man eine hypothetische Annahme und zeigt, dass sie unplausible bzw. sogar widersprรผchliche Konsequenzen hat. Damit argumentiert Seite 35 Kap II. Methoden man fรผr die Falschheit der hypothetischen Annahme. Hier ist ein klassisches Beispiel eines solchen Arguments: Angenommen, es gรคbe einen allgรผtigen und allmรคchtigen Gott. Als allgรผtiges Wesen wรผrde er dann doch alles daran setzen, dass es kein vermeidbares Leid in der Welt gibt. Als allmรคchtiges Wesen wรผrde ihm das auch gelingen. Aber die Welt ist voll von grauenhaftem und vermeidba- rem Leid. Also gibt es keinen Gott. Dieser Gedankengang wird รผbrigens oft das Theodizee-Argument genannt. In ihm soll gegen die Existenz Gottes als eines allgรผtigen und allmรคchtigen Wesens argumentiert werden. Daher kรถnnte der Auftakt des Arguments eigentlich erstmal verwunderlich erscheinen: Denn da wird gerade angenommen, was im Argument als falsch erwiesen werden soll. Klarerweise kann es sich bei dieser Annahme nicht um eine Prรคmisse des Arguments handeln, also um eine Voraussetzung, die die Konklusion des Arguments stรผtzen soll. Man will ja nicht die Nicht-Existenz Gottes zeigen und sich dabei auf seine Existenz festlegen. Wie im eben diskutierten Fall haben wir es mit einer hypothetischen Annahme zu tun, auf die sich das Argument nicht festlegt, sondern die gemacht wird, um ihre mรถglichen Konsequenzen auszu- loten. Die werden in den folgenden Sรคtzen genannt: Gott wรผrde versuchen, Leid zu vermeiden, und er wรผrde dabei erfolgreich sein. Worauf sich ein Verfechter des Arguments festlegt, ist nicht die Annahme, dass es Gott gibt, und auch nicht, dass Gott tatsรคchlich erfolgreich Leid vermeidet, sondern der Zusammenhang dieser Aussagen: Wenn es Gott gรคbe, dann wรผrde er Leid vermeiden. Aus dem Text kรถnnen wir daher das folgende Argument extrahieren: P1 Wenn es einen allmรคchtigen, allgรผtigen Gott gibt, dann versucht er dafรผr zu sorgen, dass es kein vermeidbares Leid in der Welt gibt, und ist bei dem Versuch erfolgreich. P2 Es gibt vermeidbares Leid in der Welt. K Also: Es gibt keinen allmรคchtigen, allgรผtigen Gott. Die Unterscheidung von Prรคmissen und Hilfsannahmen ist wesentlich fรผr das Verstรคndnis zahl- reicher Argumente. Halten wir also fest: Erklรคrung: Hilfsannahmen ๏ Eine hypothetische Hilfsannahme macht man im Zuge eines Arguments, um auszuloten, was aus ihr folgen wรผrde. ๏ Dabei legt man sich nicht darauf fest, dass die Hilfsannahme tatsรคchlich stimmt. ๏ Worauf man sich festlegt, ist ein Zusammenhang zwischen der Hilfsannahme und bestimmten Konsequenzen, die man aus ihr zieht. ๏ Dass dieser Zusammenhang besteht, darf also als Prรคmisse des Arguments gelten. Diese Prรคmisse hat die Form eines wenn-dann Satzes. Seite 36 Kap II. Methoden Rekapitulation ๏น 1. Argumente Die drei Begriffe Schlรผssigkeit, Folge und Implikation hรคngen systematisch zusammen: Ein Argument ist schlรผssig, wenn seine Konklusion aus seinen Prรคmissen folgt, bzw. wenn seine Prรคmissen seine Konklusion implizieren. 2. Schlรผssigkeit a. Schlรผssigkeit lรคsst sich allgemein als Wahrheitserhalt verstehen: Ein Argument ist schlรผssig, wenn der รbergang von seinen Prรคmissen zur Konklusion wahrheitserhaltend ist, und zwar auch รผber bloร mรถgliche Szenarien hinweg. b. Die Logik beschรคftigt sich mit strenger oder deduktiver Schlรผssigkeit. Ein Argument ist genau dann deduktiv schlรผssig, wenn โช der รbergang von seinen Prรคmissen zur Konklusion wahrheitserhaltend ist, und zwar in allen mรถglichen Szenarien; bzw. โช es strikt notwendig ist, dass, wenn seine Prรคmissen wahr sind, auch seine Konklu- sion wahr ist; bzw. โช es strikt unmรถglich ist, dass seine Prรคmissen wahr sind und zugleich seine Konklu- sion falsch ist. c. Die fรผr die Schlรผssigkeitsdefinition zentralen modalen Begriffe strikter Notwendigkeit und Unmรถglichkeit hรคngen direkt zusammen: โช Etwas ist genau dann notwendig, wenn sein direktes Gegenteil unmรถglich ist. โช Diese Begriffe lassen sich auch durch die Rede von mรถglichen Szenarien fassen: - Etwas ist notwendig, wenn es in restlos allen mรถglichen Szenarien der Fall ist. - Etwas ist unmรถglich, wenn es in keinem mรถglichen Szenario der Fall ist. 3. Kritik von Argumenten Die direkte Kritik an einem Argument muss entweder (i) eine der Prรคmissen begrรผn- det zurรผckweisen, oder (ii) die Schlussweise des Arguments zurรผckweisen (also zeigen, dass das Argument nicht schlรผssig ist). Eine indirekte Kritik kann darin bestehen, gegen die Konklusion zu argumentieren. So- lange sich keine direkte Kritik daran anschlieรt, entsteht eine Aporie. 4. Rekonstruktion von Argumenten Eine Argumentrekonstruktion besteht darin, einen argumentativen Text auf Prรคmissen und Konklusion hin zu interpretieren und ein Argument festzuhalten. Eine wichtige Maxime bei Argumentrekonstruktionen: wohlwollende Interpretation. Seite 37