Soziologische Grundbegriffe - SG Skript SS 2024 PDF
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Goethe-Universität
2024
Prof. Dr. Gerhard Wagner
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This document provides an overview of social relationships, including their duration, size, meaning, and asymmetries. It discusses how social relationships are shaped by factors like conventions, law, and expectations. Concepts mentioned include social movements, nations, and the perspectives of Weber and Simmel.
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Soziologische Grundbegriffe SG_Skript_SS_2024 VERWENDUNG NUR IM RAHMEN DER VERANSTALTUNG „Soziologische Grundbegriffe“ © Prof. Dr. Gerhard Wagner, Goethe Universität Quelle der Fotos: Internet...
Soziologische Grundbegriffe SG_Skript_SS_2024 VERWENDUNG NUR IM RAHMEN DER VERANSTALTUNG „Soziologische Grundbegriffe“ © Prof. Dr. Gerhard Wagner, Goethe Universität Quelle der Fotos: Internet 1 Lerneinheit 2 3. Soziale Beziehung 3.1 Dauer sozialer Beziehungen 3.2 Größe sozialer Beziehungen 3.2.1 Zwei, Mehrere, Intimität 3.2.2 Integration in größere Gruppen: Arbeitsteilung, Herrschaft 3.2.3 Konvention und Recht bzgl. Gruppengröße 3.3 Sinngehalte sozialer Beziehungen 3.3.1 Kampf, Konkurrenz und Auslese 3.3.2 Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung 3.3.3 Offene und geschlossene soziale Beziehungen 3.4 Asymmetrie sozialer Beziehungen 3.4.1 Verband, Betrieb, Verein, Anstalt 3.4.2 Macht, Herrschaft, Disziplin, Legitimität 3.4.3 Typen legitimer Herrschaft: traditional, charismatisch, legal 3.4.4 Politischer und hierokratischer Verband: Staat und Kirche Suppl. Leitfragen zu Kapitel 3. 4. Explikationen 4.1 Soziale Bewegung als Vergesellschaftung 4.2 Nation als Vergemeinschaftung 4.2.1 Was ist eine Nation? 4.2.2 Das kulturelle Gedächtnis 4.2.3 In welchem Sinne wird eine Nation „sozial konstruiert“? Suppl. Leitfragen zu Kapitel 4. 2 3. Soziale Beziehung Bisher haben wir uns mit sozialem Handeln beschäftigt. Wir haben gelernt, dass soziale Handlungen durch Motive (Gewohnheiten, Gefühle, Interessen) kausal verursacht werden (Motivkausalität) und durch Mitmotive (Sitten, Moden, Interessenlagen, Konventionen, Recht) in einer Weise kausal mitbestimmt werden, dass sie sich in einem typischen (üblichen) Ablauf vollziehen. Erinnern wir uns an dieses Handlungsschema (hier in komprimierter Form): m1 → m2 → p m4/m3 → Dieses Handlungsschema können wir visuell in ein Schema sozialen Handelns überführen, wenn wir zwei Handelnde, die sich wechselseitig aneinander orientieren, abbilden: m1 → ← m1 m2 → p p ← m2 m4/m3 → ← m3/m4 Individuum I Individuum II Im Zuge unserer Auseinandersetzung mit den Typen des Ablaufs sozialen Handelns sind wir bereits Webers Begriff der sozialen Beziehung begegnet, den er in § 3 wie folgt definiert: „Soziale ‚Beziehung’ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.“ (Weber, WuG, 13) Die wechselseitigen Einstellungen der Handelnden machen aus ihrem sozialem Handeln also eine soziale Beziehung. 3 Das setzt voraus, dass sich die Beteiligten nicht nur einmal, sondern wiederholt dem gemeinten Sinn ihrer Handlungen nach auf die Handlungen anderer beziehen und ihre eigenen Handlungen an den Abläufen der Handlungen der anderen orientieren. Mit „kontinuierlicher Wiederkehr“ dieses sinnentsprechenden sozialen Handelns stellen sie sich hinsichtlich ihrer weiteren Handlungen aufeinander ein, und zwar insofern, als sie voneinander „erwarten“, dass sie weiterhin dem gemeinten Sinn ihrer Handlungen nach handeln werden (Weber, WuG, 14). Einstellung Einstellung m1 → ← m1 m2 → p1...n p1... n ← m2 m4/m3 → ← m3/m4 Individuum I Individuum II Zum Beispiel: Ein Studierender geht in die Sprechstunde eines Dozenten, um zu fragen, ob er seine Bachelor-Arbeit betreuen möchte. Der Dozent lehnt ab. Das ist soziales Handeln. Denn beide Beteiligten haben sich sinnhaft aneinander orientiert. Aber es entsteht keine soziale Beziehung. Beide mögen sich zwar weiterhin an der Uni begegnen. Aber sie stellen sich nicht aufeinander ein. Wenn der Dozent jedoch einwilligt, entsteht eine soziale Beziehung. Die Beteiligten stellen sich aufeinander ein. Sie vereinbaren ein Thema und weitere Termine. Und solange beide in kontinuierlicher Wiederkehr dem vereinbarten Sinngehalt entsprechend sozial handeln, bleibt die Beziehung bestehen. Oder: Auf einem Konzert kommt es spontan zu einer Jam Session. Das ist soziales Handeln. Aber weil die Chemie zwischen den Musikern stimmt, treffen sie sich regelmäßig wieder. Sie stellen sich aufeinander ein, tingeln durch die Clubs, nehmen Tonträger auf und gehen auf Tourneen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spielen sie noch heute – wie die Rolling Stones (gegründet 1962). Das bringt uns zur Dauer der sozialen Beziehung. 4 3.1 Dauer sozialer Beziehungen Bei sozialen Beziehungen kann die Dauer sehr unterschiedlich sein. Weber formuliert hierzu: „Eine soziale Beziehung kann ganz vorübergehenden Charakters sein oder aber auf Dauer, d. h. derart eingestellt sein: daß die Chance einer kontinuierlichen Wiederkehr eines sinnentsprechenden […] Verhaltens besteht. Nur das Vorliegen dieser Chance:– der mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeit also, daß ein sinnentsprechendes Handeln stattfindet, und nichts darüber hinaus – bedeutet der ‚Bestand’ der sozialen Beziehung […]. Daß eine ‚Freundschaft’ oder daß ein ‚Staat’ besteht oder bestand, bedeutet also ausschließlich und allein: […] daß eine Chance vorliegt oder vorlag: daß auf Grund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen in einer einem durchschnittlich gemeinten Sinn nach angebbaren Art gehandelt wird, und sonst gar nichts.“ (Weber, WuG, 14) Weber wurde nicht müde zu betonen, dass er diesbezüglich jede „substanzielle“ Konnotation vermeiden möchte. Für ihn „besteht“ eine soziale Beziehung „ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird“ (Weber, WuG, 13). „Denn ‚Beziehungen’ existieren ja nur als menschliches Handeln bestimmten Sinngehalts.“ (Weber, WuG, 21) Mit anderen Worten, die soziale Beziehung besteht, solange eine „mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit“ (Chance = Wahrscheinlichkeit) vorliegt, dass „auf Grund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen in einer [...] angebbaren Art gehandelt wird“ (Weber, WuG, 14). Weber zufolge sind alle sozialen Beziehungen, von Zweierbeziehungen bis hin zu komplexen „sozialen Gebilden“, „lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen“ (Weber, WuG, 6). In diesem Sinne spricht er auch davon, dass das aufeinander eingestellte soziale Handeln die soziale Beziehung „konstituiert“ (Weber, WuG, 23). 5 Als Abläufe und Zusammenhänge sozialen Handelns einzelner Menschen sind soziale Beziehungen nicht ablösbar von den physikalischen Eigenschaften der Bewegungen der Körper und den mentalen Eigenschaften der Gehirne der Menschen, die sie hervorgebracht haben und an die sie insofern zurückgebunden bleiben, als die Kontinuität wechselseitiger Einstellungen die Chance ihres Bestehens garantiert. Hören wir dazu Weber selbst: „Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte ‚soziale Gebilde’, wie ‚Staat’, ‚Kirche’, ‚Genossenschaft’, ‚Ehe’ usw. handelt, ausschließlich und lediglich in der Chance [d. h. in der Wahrscheinlichkeit], daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird. Dies ist immer festzuhalten, um eine ‚substanzielle’ Auffassung dieser Begriffe zu vermeiden. Ein ‚Staat’ hört z. B. soziologisch zu ‚existieren’ dann auf, sobald die Chance, daß bestimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialen Handeln ablaufen, geschwunden ist. Diese Chance kann eine sehr große oder eine verschwindend geringe sein. In dem Sinn und Maße, als sie tatsächlich (schätzungsweise) bestand oder besteht, bestand oder besteht auch die betreffende soziale Beziehung.“ (Weber, WuG, 13) Für Weber ist ein Staat daher auch kein Handlungssubjekt, wie das eine metaphorische Sprache suggeriert: „Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehrern einzelnen Personen. [...] Für [...] andere (z. B. juristische) Erkenntniszwecke oder für praktische Ziele kann es andererseits zweckmäßig […] sein: soziale Gebilde (‚Staat’, ‚Genossenschaft’, ‚Aktiengesellschaft’, ‚Stiftung’) genau so zu behandeln, wie Einzelindividuen [...]. Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind. [...] Wenn sie von ‚Staat’ oder von ‚Nation’ oder von ‚Aktiengesellschaft’ oder von ‚Familie’ oder von ‚Armeekorps“ oder von ähnlichen ‚Gebilden’ spricht, so meint sie damit vielmehr lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen […] sozialen Handelns Einzelner [...]. Die Deutung des Handelns muß von der grundlegend wichtigen 6 Tatsache Notiz nehmen: daß jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-)Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Köpfen realer Menschen […] sind, an denen sich deren Handeln orientiert“ (Weber, WuG, 6-7) Simmel hat in diesem Zusammenhang auf einen weiteren wichtigen Aspekt hingewiesen. Seines Erachtens kommt es nämlich auch auf die Vorstellungen an, die die Beteiligten von der Dauer ihrer sozialen Beziehung haben: „Alle [Wechselwirkungen] werden im Charakter ihrer Form und ihres Inhalts aufs entschiedenste durch die Vorstellung der Zeitdauer beeinflußt, für die man sie bestimmt glaubt.“ (Simmel, SOZ, 753-754) Für Simmel ist z. B. das „qualitative Wesen einer Verbindung von Mann und Weib in der lebenslänglichen Ehe“ ein anderes als in einem „flüchtigen Verhältnis“: „Ob ein Kontrakt auf ein oder auf zehn Jahre abgeschlossen ist; ob ein geselliges Zusammensein auf ein paar Abendstunden oder wie etwa bei einer Landpartie auf einen ganzen Tag berechnet ist […] – das ist bei sonst gleichem Material, Gesinnung, Personencharakter des Zusammen für die Färbung seines Verlaufes durchaus wesentlich.“ (Simmel, SOZ, 753-754) Darüber hinaus kommt es auch auf die Vorstellungen an, die andere von der Dauer solcher Beziehungen haben. So sind in einem säkular-postmodernen Milieu flüchtige Verhältnisse zwischen „Mann und Weib“ möglich, weil es die Konventionen und das Recht erlauben. In einem religiös-traditionalen Milieu sind solche flüchtigen Verhältnisse nicht möglich, weil es die Konventionen und das Recht verbieten. Diese Ordnungen schreiben lebenslange Ehen vor. Manche sozialen Beziehungen sind in der Tat recht flüchtiger Natur, wenn sie z. B. nach dem Prinzip hire and fire oder als Lebensabschnittsteilzeitpartnerschaft zustande gekommen sind. Dann stellen sich die Beteiligten natürlich auch auf das nahe Ende ihrer Beziehung ein, was diese in jedem Fall prägen wird. Andere Beziehungen sind dauerhafter. In der Tat gibt es sie ja, die 40-jährigen Dienstjubiläen, die Goldenen Hochzeiten, die tausendjährigen Reiche, die ewige Stadt. 7 3.2 Größe sozialer Beziehungen Für Weber ist die soziale Beziehung ein seinem Sinngehalt nach aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer. Das können zwei sein oder sehr viele. Weber hat sich damit nicht weiter beschäftigt, vielleicht weil Simmel das bereits ausführlich getan hatte: z. B. in seinen Text zur „Quantitativen Bestimmtheit der Gruppe“. 3.2.1 Zwei, Mehrere, Intimität Dabei besteht der gravierendste Unterschied zwischen einerseits Beziehungen, an denen nur zwei Handelnde beteiligt sind, und andererseits allen größeren – also all jenen, an denen drei oder mehr Handelnde beteiligt sind. Simmel hat das folgendermaßen formuliert, wobei er tatsächlich die Vorstellungen, die die Handelnden von ihren Beziehungen haben, ins Zentrum seiner Betrachtung rückt: Die Zweierbeziehung „ruht unmittelbar auf dem einen und auf dem andern. Der Austritt jedes Einzelnen würde das Ganze zerstören [...]; wogegen selbst schon bei einer Vergesellschaftung von dreien bei Ausscheiden eines Einzelnen noch immer eine Gruppe weiter bestehen kann. Diese Abhängigkeit der Zweiergruppen von der reinen Individualität des einzelnen Gliedes läßt die Vorstellung ihrer Existenz in näherer und fühlbarerer Weise von der ihres Endes begleitet sein, als es bei andern Vereinigungen der Fall ist, von denen jegliches Mitglied weiß, daß sie nach seinem Ausscheiden oder seinem Tode weiterexistieren können.“ (Simmel, SOZ, 101-102) Dieses unmittelbare, existenzielle Aufeinanderangewiesensein impliziert eine gewisse Tragik: „Wie nun das Leben des Individuums durch seine Vorstellung von seinem Tode in bestimmter Weise gefärbt wird, so auch das Leben der Vereinigungen. [...] Jede vielgliedrige Gruppe kann ihrer Idee nach unsterblich sein, und dies gibt jedem ihrer Mitglieder [...] ein ganz bestimmtes soziologisches Gefühl. Daß aber eine Vereinigung von zweien [...] von jedem ihrer Elemente für sich allein abhängt, [...] das muß […] diesen Verbindungen […] einen Ton von Gefährdung und von Unersetzlichkeit geben, 8 der sie zu dem eigentlichen Ort einerseits einer echten soziologischen Tragik, andrerseits einer Sentimentalität und elegischen Problematik macht.“ (Simmel, SOZ, S. 101-102) Die Zweierbeziehung ist bezeichnenderweise auch die Basis der Intimität. Für Simmel entsteht Intimität dann, wenn der Sinn des Handelns, den die Menschen nur miteinander, aber mit niemandem sonst teilen, zum Kern ihrer Beziehung wird. Dieser Sinn kann sich aus der ganzen Palette an Gefühlen und Interessen speisen. (Simmel, SOZ, 104-105). Zu Zweierbeziehungen sei folgende weiterführende Lektüre empfohlen: Lenz, Karl, 2009: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS. 3.2.2 Integration in größeren Gruppen: Arbeitsteilung, Herrschaft Alles in allem basiert mit zunehmender Größe die Einheit der Gruppe immer weniger auf den Beteiligten selbst, die dadurch immer austauschbarer werden. Das „Ineinandergreifen und Auf-einander-angewiesen-sein“ der Mitglieder, das sich bei kleineren Gruppen sozusagen von Natur aus einstellt, muss in größeren künstlich hergestellt werden. „Man wird von vornherein und aus den alltäglichen Erfahrungen heraus zugeben, daß eine Gruppe von einem gewissen Umfang an zu ihrer Erhaltung und Förderung 9 Maßregeln, Formen und Organe ausbilden muß, deren sie vorher nicht bedarf“. (Simmel, SOZ, 63) „Man kann überhaupt die Bildungen, die dem großen Kreise als solchem eigentümlich sind, zum wesentlichen Teil daraus erklären, daß er sich mit ihnen einen Ersatz für den personalen und unmittelbaren Zusammenhalt schafft, der kleinen Kreisen eigen ist. Es handelt sich um Instanzen, die die Wechselwirkungen der Elemente durch sich hindurchleiten und vermitteln und so als selbständige Träger der gesellschaftlichen Einheit wirken, nachdem diese sich nicht mehr als Beziehung von Person zu Person herstellt. Zu diesem Zwecke erwachsen Ämter und Vertreter, Gesetze und Symbole des Gruppenlebens, Organisationen und soziale Allgemeinbegriffe. […] sie alle bilden sich der Hauptsache nach nur in großen Kreisen rein und reif aus, als die abstrakte Form des Gruppenzusammenhanges, dessen konkrete bei einer gewissen Ausdehnung nicht mehr bestehen kann“. (Simmel, SOZ, 72-73) Simmel weist in diesem Zusammemhang auf die besondere Bedeutung der Arbeitsteilung hin. Natürlich gibt es auch in Zweierbeziehungen Arbeitsteilung. Aber ihre eigentliche Bedeutung gewinnt sie in größeren Gruppen: „Eine sehr große Zahl von Menschen kann eine Einheit nur bei entschiedener Arbeitsteilung bilden […] weil erst sie das Ineinandergreifen und Auf-einander- angewiesen-sein erzeugt, das jeden durch unzählige Mittelglieder hindurch mit jedem in Verbindung setzt, und ohne das eine weit ausgedehnte Gruppe bei jeder Gelegenheit auseinanderbrechen würde.“ (Simmel, SOZ, 64) Tatsächlich werden die Menschen durch Arbeitsteilung voneinander abhängig. Wer z. B. Texte schreiben, Fotos machen und eine Druckmaschine bedienen kann, der kann allein eine Zeitung herausbringen. Sobald er sich aber aufs Texteschreiben spezialisiert und anderen das Fotografieren und Drucken überlässt, wird er von ihnen ebenso abhängig wie sie von ihm. Der Vorteil davon ist, dass durch Spezialisierung die einzelnen Arbeiten besser durchgeführt werden können. Der Nachteil dabei ist, dass die Spezialisierung zu einer Vereinzelung der Teile führen kann, bei der nicht nur die anderen Teile, sondern das Ganze aus dem Blickfeld verschwinden, was bei der Arbeit an einem Fließband gut zu sehen ist. 10 Arbeitsteilung ist also in gleicher Hinsicht integrierend und differenzierend, Zusammenhalt stiftend und ihn zugleich aufs Spiel setzend. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ Webers hat der Begriff der Arbeitsteilung keinen systematischen Stellenwert. Für andere ist er durchaus ein soziologischer Grundbegriff. Dies gilt vor allem für die Positionen, die Weber als „organische“ Soziologie bezeichnet (Weber, WuG, 7). Weber verweist dabei auf Albert Schäffles Werk Bau und Leben des sozialen Körpers (1875ff.). Er hätte ebensogut auf Auguste Comte, Herbert Spencer oder Emile Durkheim verweisen können, die allesamt die Gesellschaft metaphorisch wie einen großen Organismus begreifen. Diese Metapher stammt aus der Antike. Man findet sie bei Aristoteles, der damit die Polis beschreibt, ebenso wie bei Paulus, der sie auf die Christengemeinde überträgt. Dabei steht die Arbeitsteilung im Zentrum dieser metaphorischen Transfiguration: „Wie wir nämlich an dem einen Leib viele Glieder haben, die Glieder aber nicht alle den gleichen Dienst verrichten, so sind wir als viele ein einziger Leib in Christus, im einzelnen aber untereinander Glieder“. (Paulus, Römer 12, 4-5) Die Theorien von Comte, Spencer und Durkheim sind im Grunde nur Säkulalisierungen dieser antiken Vorstellung. Das gilt auch für andere Positionen, die sich dem soziologischen 11 Funktionalismus oder der soziologischen Systemtheorie zuordnen lassen, in denen statt von „Arbeitsteilung“ auch synonym von „funktionaler Differenzierung“ die Rede ist. Das soll uns hier nicht weiter beschäftigen. Wer sich dafür interessiert, kann einen Blick in diese Texte werfen: Comte, Auguste, 1973 : Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reorganisation der Gesellschaft notwendig sind. München: Hanser Spencer, Herbert, 1966 : Principles of Sociology. Bd. 1. Aalen: Scientia. Durkheim, Emile, 1988 : Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ein weiterer Mechanismus, der für den Zusammenhalt größerer Gruppen von fundamentaler Bedeutung ist, ist die „Herrschaft“. Wir haben ja eben gehört, dass Simmel von Ämtern und Vertretern, von Gesetzen und Symbolen des Gruppenlebens, von Organisationen und sozialen Allgemeinbegriffen gesprochen hat. Darauf werden wir ausführlich eingehen, wenn wir uns mit der Asymmetrie sozialer Beziehungen beschäftigen werden. 3.2.3 Konvention und Recht bzgl. der Gruppengröße Hier wollen wir nur noch auf zwei Zuordnungen Simmels hinweisen, die eine gewisse Plausibilität haben: Simmel ordnet die Konvention (die er – wie später Dahrendorf – dummerweise „Sitte“ nennt) den Gruppen mittlerer Größe zu. Das „Recht“ ordnet er großen Gruppen wie z. B. dem „Staat“ zu (Simmel, SOZ, 77). Individuum Gruppen mittlerer Größe große Gruppen freie Sittlichkeit Konvention Recht 12 Soll-Erwartung Muss-Erwartung Stand / Klasse Gesellschaft Ehre Simmel spannt ein Kontinuum auf, an dessen einem Pol die großen Gruppen und das Recht stehen. Den anderen Pol bildet seines Erachtens das einzelne Individuum und seine „Moral“ bzw. „Sittlichkeit“: „Die freie Sittlichkeit des Individuums […] besitzt kein andres Gesetz, als das sie sich von innen heraus autonom gibt, und keine andre Exekutive als das Gewissen“. (77) Inwiefern das „Gewissen“ tatsächlich „autonom“ ist, ist Gegenstand der Moralphilosophie. Die Soziologie neigt dazu, diese Autonomie nicht allzu groß zu veranschlagen. Aber das muss uns hier nicht weiter kümmern. Wichtig für uns ist nur, dass Simmel zwischen das Individuum und die großen Gruppen die mittleren Gruppen als Domäne der Konvention platziert: „Durch die [Konvention] nun sichert sich ein Kreis das ihm angemessene Verhalten seiner Mitglieder da, wo der Zwang des Rechtes unzulässig und die individuelle Sittlichkeit unzuverlässig ist. [...] Damit ist der soziologische Ort der [Konvention] schon angedeutet: er liegt zwischen dem größten Kreis, als dessen Mitglied der Einzelne dem Recht untersteht, und der absoluten Individualität, die der alleinige Träger der freien Sittlichkeit ist. Sie gehört also den engeren Kreisen – den mittleren Gebilden zwischen jenen – an. Fast alle [Konvention] ist Standes- oder Klassen[konvention]; ihre Äußerungsweisen, als äußeres Benehmen, Mode, Ehre, beherrschen immer nur je eine Unterabteilung des größten Kreises, dem das Recht gemeinsam ist, und haben in den benachbarten schon wieder einen andern Inhalt. Auf Verletzungen der guten Sitte [das heißt: der Konvention] reagiert der engere Kreis derer, die irgendwie dadurch betroffen sind oder Zeugen davon sind, während eine Verletzung der Rechtsordnung die Reaktion der Gesamtheit aufruft.“ (79) Einheiten mittlerer Größe sind die Domäne der Konventionen. Die Anonymität ist nicht so groß, als dass man darauf pfeifen könnte, was andere von einem halten. Wenn einer etwas tut, 13 was sich nicht schickt, zieht er die Missgunst der anderen auf sich, die direkt betroffen oder Zeuge sind. Konventionen greifen in größeren Einheiten nicht mehr, die dafür auf das Recht angewiesen sind. Das Recht beschränkt sich freilich darauf, nur die Dinge zu regeln, die für das Zusammenleben vieler Menschen unabdingbar sind. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass es je nach Größe der Gruppen (das heißt: der sozialen Beziehungen) typische Abläufe sozialen Handelns gibt. Für weniger große Gruppen sind Konventionen typisch, für größere das Recht. Ordnung Soll-Erwartung Muss-Erwartung Konvention Recht mittlere soziale größere soziale Beziehungen Beziehungen 3.3 Sinngehalte sozialer Beziehungen Weber expliziert den Begriff der sozialen Beziehung auch hinsichtlich der Sinngehalte, die die Handelnden mit ihrem (rationalen, emotionalen, traditionalen) Handeln verbinden, wenn sie sich aufeinander einstellen. Dabei betont er, dass die Handelnden keineswegs die gleichen Sinngehalte mit ihrem Handeln verbinden müssen (Weber, WuG, 13-14). Ein Heiratsschwindler z. B. ist nur am Vermögen seiner Braut interessiert, während sie ihn abgöttisch liebt. Außerdem kann der Sinngehalt wechseln oder sich verändern (Weber, Grundbegriffe, S. 14). Aus Interesse kann Liebe werden, womit sich der Schwindel in Wohlgefallen auflöst. Aus Liebe kann Hass werden, wenn der Schwindel auffliegt, was aber nicht automatisch das Ende der Beziehung bedeutet. 14 Tatsächlich gibt es nicht nur „harmonische“, sondern auch „disharmonische“ soziale Beziehungen: „Der Begriff besagt […] nichts darüber: ob ‚Solidarität’ der Handelnden besteht oder das gerade Gegenteil.“ (Weber, WuG, 13) Entsprechend differenziert Weber den Begriff der sozialen Beziehung, indem er weitere, spezifizierende Begriffe einführt. Damit kommen wir zu den §§ 8 ff. Solidarische versus nicht-solidarische soziale Beziehungen Die erste Unterscheidung, die er dabei trifft, trennt soziale Beziehungen in solidarische und nicht-solidarische. Die solidarischen umfassen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung, die nicht-solidarischen umfassen Kampf, Konkurrenz und Auslese: soziale Beziehung nicht-solidarisch solidarisch Kampf Konkurrenz Vergesellschaftung Vergemeinschaftung Auslese 15 3.3.1 Kampf, Konkurrenz, Auslese „§ 8. Kampf soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist. ‚Friedliche’ Kampfmittel sollen solche heißen, welche nicht in aktueller physischer Gewaltsamkeit bestehen. Der ‚friedliche’ Kampf soll ‚Konkurrenz’ heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andre begehren. ‚Geregelte Konkurrenz’ soll eine Konkurrenz insoweit heißen, als sie in Zielen und Mitteln sich an einer Ordnung orientiert. Der ohne sinnhafte Kampfabsicht gegen einander stattfindende (latente) Existenzkampf menschlicher Individuen oder Typen um Lebens- oder Ueberlebenschancen soll ‚Auslese’ heißen: ‚soziale Auslese’, sofern es sich um Chancen Lebender im Leben, ‚biologische Auslese’, sofern es sich um Ueberlebenschancen von Erbgut handelt.“ (Weber, Wu, 20) Kämpfe können also mehr oder weniger gewaltsam und mehr oder weniger geregelt sein (durch Recht oder Konvention). Konkurrenzen als friedliche Kämpfe können ebenfalls mehr oder weniger geregelt sein (durch Recht oder Konvention). „Vom blutigen, auf Vernichtung des Lebens des Gegners abzielenden, jede Bindung an Kampfregeln ablehnenden Kampf bis zum konventionell geregelten Ritterkampf (…) und zum geregelten Kampfspiel (Sport), von der regellosen ‚Konkurrenz’ etwa erotischer Bewerber um die Gunst einer Frau, dem an die Ordnung des Marktes gebundenen Konkurrenzkampf um Tauschchancen bis zu geregelten künstlerischen ‚Konkurrenzen’ oder zum’Wahlkampf’ gibt es die allerverschiedensten lückenlosen Uebergänge.“ (20) Hier sehen wir auch, dass sowohl rationale als auch emotionale Motive im Spiel sein können. Nicht zu vergessen die traditionalen (Erbfeindschaften oder Nachbarschaftsstreitigkeiten). Kämpfe und Konkurrenzen führen zur Auslese: „Jedes typisch und massenhaft stattfindende Kämpfen und Konkurrieren führt trotz noch so vieler ausschlaggebender Zufälle und Schicksale doch auf die Dauer im Resultat 16 zu einer ‚Auslese’ derjenigen, welche die für den Sieg im Kampf durchschnittlich wichtigsten persönlichen Qualitäten in stärkerem Maße besitzen. Welches diese Qualitäten sind: ob mehr physische Kraft oder skrupelfreie Verschlagenheit, mehr Intensität geistiger Leistungs- oder Lungenkraft und Demagogentechnik, mehr Devotion gegen Vorgesetzte oder gegen umschmeichelte Massen, mehr originale Leistungsfähigkeit oder mehr soziale Anpassungsfähigkeit, mehr Qualitäten, die als außergewöhnlich, oder solche, die als nicht über dem Massendurchschnitt stehend gelten: – darüber entscheiden die Kampf- und Konkurrenzbedingungen, zu denen, neben allen denkbaren individuellen und Massenqualitäten auch jene Ordnungen gehören, an denen sich […] das Verhalten im Kampf orientiert. Jede von ihnen beeinflußt die Chancen der sozialen Auslese.“ (20) Weber betont allerdings: „Nicht jede soziale Auslese ist in unsrem Sinn ‚Kampf’.“: „‚Soziale Auslese’ bedeutet vielmehr zunächst nur: daß bestimmte Typen des Sichverhaltens und also, eventuell, der persönlichen Qualitäten, bevorzugt sind in der Möglichkeit der Gewinnung einer bestimmten sozialen Beziehung (als ‚Geliebter’, ‚Ehemann’, ‚Abgeordneter’, ‚Beamter’, ‚Bauleiter’, ‚Generaldirektor’, ‚erfolgreicher Unternehmer’ usw.) Ob diese soziale Vorzugschance durch ‚Kampf’ realisiert wird... darüber sagt sie an sich nichts aus.“ (20-21) Wer also z. B. nicht schwindelfrei ist, der kann nicht Bergführer oder Astronaut werden. Wer den „Willen zur Macht“ nicht hat, der wird in der Politik kaum Karriere machen, usw. Weber zufolge gilt dies alles nicht nur für Individuen, sondern auch für Gruppen, das heißt für soziale Beziehungen – freilich nur in dem metaphorische Sinne, den sein reduktionistischer Ansatz zulässt: „Zu scheiden von dem Kampf der Einzelnen um Lebens- und Ueberlebenschancen ist natürlich ‚Kampf’ und ‚Auslese’ sozialer Beziehungen. Nur in einem übertragenen Sinn kann man hier diese Begriffe anwenden. Denn ‚Beziehungen’ existieren ja nur als menschliches Handeln bestimmten Sinngehalts. Und eine ‚Auslese’ oder ein ‚Kampf’ zwischen ihnen bedeutet also: daß eine bestimmte Art von Handeln durch eine andere, sei es der gleichen oder anderer Menschen, im Lauf der Zeit verdrängt wird.“ (21) 17 Als Beispiel seien Kriege zwischen Staaten, Nationen, Religionsgemeinschaften, ethnischen Gruppen – oder abstrakter: zwischen Kulturen oder Zivilisationen – genannt. 3.3.2 Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung Für Simmel waren bekanntlich alle Wechselwirkungen Vergesellschaftungen. Da Weber den Begriff des sozialen Handelns differenziert (rationales, emotionales, traditionales Handeln), kann er auch den Begriff der Vergesellschaftung differenzieren und ihn einerseits als Vergesellschaftung und andererseits als Vergemeinschaftung verwenden. Seinem Sinn nach aufeinander eingestelltes rationales Handeln führt zu Vergesellschaftungen, seinem Sinn nach aufeinander eingestelltes emotionales und traditionales Handeln führt zu Vergemeinschaftungen. VERGESELLSCHAFTUNG rationales Handeln ß à emotionales Handeln 18 aus Interesse aus Gefühl VERGEMEINSCHAFTUNG traditionales Handeln aus Gewohnheit Dazu schreibt Weber in § 9 das Folgende: „‚Vergesellschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (…) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann […] auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen. […] Die reinsten Typen der Vergesellschaftung sind a) der streng (…) rationale, frei praktizierte Tausch auf dem Markt: ein aktueller Kompromiß entgegengesetzt, aber komplementär Interessierter; – b) der reine, frei paktierte Zweckverein, eine nach Absicht und Mitteln rein auf Verfolgung sachlicher (ökonomischer oder anderer) Interessen der Mitglieder abgestellte Vereinbarung kontinuierlichen Handelns“ (Weber, WuG, 21-22) Beispiele: Arbeitsgruppe, Schule, Friedens-, Öko- oder Frauenbewegung, Aktiengesellschaft, Unternehmen, Staat „‚Vergemeinschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns […] auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. […] Vergemeinschaftung kann auf jeder Art von affektueller oder emotionaler oder aber traditionaler Grundlage ruhen: eine pneumatische [geistige] Brüdergemeinde, eine erotische Beziehung, ein Pietätsverhältnis, eine ‚nationale’ Gemeinschaft, eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe. Den Typus gibt am bequemsten die Familiengemeinschaft ab.“ (Weber, WuG, 21-22) Beispiele: Freundschaft, Beziehungskiste, Verein, ethnische Gruppe, Religionsgemeinschaft, Nation Weber weist darauf hin, dass wir es hier ebenso wie beim (sozialen) Handeln mit reinen Typen zu tun haben: 19 „Die große Mehrzahl sozialer Beziehungen aber hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung. Jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (Kundschaft z. B.) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgreifen. […] Ebenso kann umgekehrt eine soziale Beziehung, deren normaler Sinn Vergemeinschaftung ist, von allen oder einigen Beteiligten ganz oder teilweise zweckrational orientiert werden. Wie weit z. B. ein Familienverband von den Beteiligten als ‚Gemeinschaft’ gefühlt oder als ‚Vergesellschaftung’ ausgenutzt wird, ist sehr verschieden.“ (Weber, WuG, 22) 3.3.3 Offene und geschlossene soziale Beziehungen „§ 10. Eine soziale Beziehung (gleichviel ob Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung) soll nach außen ‚offen’ heißen, wenn und insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen ‚geschlossen’ dann, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen.“ (Weber, WuG, 23) Beispiele für geschlossene soziale Beziehungen auf Basis traditionalen Handelns: Familie auf Basis emotionalen Handelns: erotische Beziehung 20 auf Basis rationalen Handelns: Geheimdienst Beispiele für offene soziale Beziehungen auf Basis traditionalen Handelns: Verein auf Basis emotionalen Handelns: Religionsgemeinschaft auf Basis rationalen Handelns: Markt 3.4 Zur Asymmetrie sozialer Beziehungen 3.4.1 Verband, Betrieb, Verein, Anstalt Wenn es in einer sozialen Beziehung einen Leiter und ggf. auch einen Verwaltungsstab gibt, kommt eine Asymmetrie bzw. Hierarchie ins Spiel. Dies ist beim Verband der Fall: „§ 12. Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes.“ (Weber, WuG, 26) „Ob es sich um Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung handelt, soll für den Begriff zunächst keinen Unterschied machen. Das Vorhandensein eines ‚Leiters’: Familienhaupt, Vereinsvorstand, Geschäftsführer, Fürst, Staatspräsident, Kirchenhaupt, dessen Handeln auf Durchführung der Verbandsordnung eingestellt ist, soll genügen, weil diese spezifische Art von Handeln: ein nicht bloß an der Ordnung orientiertes, 21 sondern auf deren Erzwingung abgestelltes Handeln, soziologisch dem Tatbestand der geschlossenen ‚sozialen Beziehung’ ein praktisch wichtiges neues Merkmal hinzufügt. Denn nicht jede geschlossene Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung ist ein ‚Verband’: z. B. nicht eine erotische Beziehung oder eine Sippengemeinschaft ohne Leiter.“ (Weber, WuG, 26) „Die ‚Existenz’ des Verbandes haftet ganz und gar an dem ‚Vorhandensein’ eines Leiters und eventuell eines Verwaltungsstabes. D. h. genauer ausgedrückt: an dem Bestehen der Chance, daß ein Handeln angebbarer Personen stattfindet, welches seinem Sinn nach die Ordnungen des Verbandes durchzuführen trachtet: daß also Personen vorhanden sind, die darauf ‚eingestellt’ sind, gegebenenfalls in jenem Sinn zu handeln. [...] Fehlt die Chance dieses Handelns eines angebaren Personenstabes (oder: einer angebbaren Einzelperson), so besteht für unsere Terminologie eben nur eine ‚soziale Beziehung’, aber kein ‚Verband’. So lange aber die Chance jenes Handelns besteht, so lange ‚besteht’, soziologisch angesehen, der Verband trotz des Wechsels der Personen, die ihr Handeln an der betreffenden Ordnung orientieren.“ (Weber, WuG, 26) Autonomie/Heteronomie – Autokephalie/Heterokephalie „Ein Verband kann sein: a) autonom oder heteronom, b) autokephal oder heterokephal. Autonomie bedeutet, daß […] die Ordnung des Verbands [nicht] durch Außenstehende gesatzt wird, sondern durch Verbandsgenossen […]. Autokephalie bedeutet: daß der Leiter und der Verbandsstab nach den eignen Ordnungen des Verbandes, nicht wie bei Heterokephalie, durch Außenstehende bestellt wird.“ (Weber, WuG, 26-27) Spezifikationen von Verband: Betrieb, Verein, Anstalt „§ 15. Betrieb soll ein kontinuierliches Zweckhandeln bestimmter Art, Betriebsverband eine Vergesellschaftung mit kontinuierlich zweckhandelndem Verwaltungsstab heißen. Verein soll ein vereinbarter Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen nur für die kraft persönlichen Eintritts Beteiligten Geltung beanspruchen. Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden. [...] ‚Verein’ und ‚Anstalt’ sind beide Verbände mit 22 rational (planvoll) gesatzten Ordnungen, oder richtiger: soweit ein Verband rational gesatzte Ordnungen hat, soll er Verein oder Anstalt heißen.“ 3.4.2 Macht, Herrschaft, Disziplin, Legitimität Ein Verband zeichnet sich durch einen Leiter und ggf. durch einen Verwaltungsstab aus. Damit kommt eine Asymmetrie ins Spiel: Der Leiter muss über Macht verfügen, um die Einhaltung der Ordnung erzwingen zu können. „§ 16. Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eignen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Allerdings zeigt sich, dass der Begriff Macht soziologisch nicht präzise verwendbar ist. Deswegen plädiert Weber für den Begriff Herrschaft. „Der Begriff ‚Macht’ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen. Der soziologische Begriff der ‚Herrschaft’ muß daher ein präziserer sein und kann nur die Chance bedeuten: für einen Befehl Fügsamkeit zu finden.“ (Weber, WuG, 28-29) Weber definiert daher: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.“ (Weber, WuG, 28) „Der Tatbestand einer Herrschaft ist nur an das aktuelle Vorhandensein eines erfolgreich andern Befehlenden, aber weder unbedingt an die Existenz eines Verwaltungstabes noch eines Verbandes geknüpft […] Ein Verband soll insoweit, als seine Mitglieder als solche kraft geltender Ordnung Herrschaftsbeziehungen unterworfen sind, Herrschaftsverband heißen.“ (Weber, WuG, 29) 23 Eine ausführlichere Definition des Herrschaftsbegriffs liefert Weber in seinem Aufsatz „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“. Dieser Aufsatz sollte freilich auf der Folie der „Soziologischen Grundbegriffe“ gelesen werden. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, S. 475- 488 in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr 1982. Weber beginnt seinen Aufsatz „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ mit einer kürzeren Definition des Herrschaftsbegriffs: „Herrschaft, d. h. die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden “. (475) Weber zufolge kann diese Chance auf verschiedenen „Motiven der Fügsamkeit“ beruhen (475). Er geht davon aus, dass es seitens der Gehorchenden unterschiedliche Motive gibt, einen Befehl zu befolgen. „Herrschaft, d.h. die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden, kann auf verschiedenen Motiven der Fügsamkeit beruhen: Sie kann rein durch Interessenlage, also durch zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen seitens des 24 Gehorchenden bedingt sein. Oder andererseits durch bloße ‚Sitte’, die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; oder sie kann rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten, begründet sein.“ (475) Insgesamt nennt er also drei derartige Motive: 1. Interessenlage, also zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen; rationales Handeln aus Interesse 2. bloße Sitte, also die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; tradtionales Handeln aus Gewohnheit 3. rein affektuell, also die bloße persönliche Neigung; emotionales Handeln aus Gefühl Weil er dem rationalen Handeln die Interessenlage und dem traditionalen Handeln die Sitte zuordnet, können wir ergänzend dem affektuellen/emotionalen Handen die Mode zuordnen. Den Zusammenhang zwischen dem Emotionale und dem Neuen kennen wir ja schon. So weit, so gut. Nun fährt Weber fort: „Eine Herrschaft, welche nur auf solchen Grundlagen ruhte, wäre aber relativ labil. Bei Herrschenden und Beherrschten pflegt vielmehr die Herrschaft durch Rechtsgründe, Gründe ihrer ‚Legitimität’, innerlich gestützt zu werden, und die Erschütterung dieses Legitimitätsglaubens pflegt weitgehende Folgen zu haben.“ (475) Damit stellt Weber einen Zusammenhang von Legitimität und Dauer her: Eine Herrschaft, bei der die Beteiligten nicht an die Rechtmäßigkeit/Legitimität der Befehlsstruktur glauben, kann nicht von Dauer sein: Sie bleibt labil. Sowohl die Befehlenden als auch die Gehorchenden müssen ihr Handeln an Rechtsgründen orientieren. Diese Rechtsgründe sind Mitbestimmungsgründe/Mitmotive, die zu den anderen Motiven (Interessen, Gewohnheiten, Gefühlen) der Beteiligten hinzutreten. 3.4.3 Typen legitimer Herrschaft: traditional, charismatisch, legal 25 Nachdem Weber zwischen drei Motiven der Fügsamkeit unterschieden hat, ist es nur logisch, dass er auch drei Legitimitätsgründe ins Auge fasst. Er ist sogar der Meinung, dass es, „in ganz reiner Form, nur drei“ gibt (475). Natürlich besteht eine Korrespondenz zwischen diesen beiden Dreierreihen, denen Weber dann drei reine Typen legitimer Herrschaft zuordnet. (1) legale Herrschaft kraft Satzung (475); (2) traditionelle Herrschaft kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten (478); (3) charismatische Herrschaft kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben (Charisma) (481). Bei der legalen Herrschaft wird das Handeln nicht nur bestimmt durch das aktuelle Interesse, sondern auch mitbestimmt durch eine Satzung, an der man sich orientiert. Diese Satzung ist „formal korrekt gewillkürt“ (475), d. h. für Weber geht es um „positives Recht“ und damit um den Ausdruck eines „Interessenkompromisses“: „das Recht [...] ist heute […] als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt“, formuliert Weber in seiner Rechtssoziologie (Weber, WuG, 502). Das bedeutet, dass man sein jeweiliges Interesse (das rationale Erwägen von Vorteilen und Nachteilen) mit dem Allgemeininteresse, das im Recht zum Ausdruck kommt, in Einklang bringen muss. Je mehr man sich dabei vom Allgemeininteresse (mit)bestimmen lässt, desto stabiler wird die Herrschaft. Bei der traditionalen Herrschaft wird das Handeln nicht nur bestimmt durch die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln, sondern auch mitbestimmt durch den Glauben an die Unantastbarkeit der Tradition, in der dieses (traditionale) Handeln steht. Hier geht es darum, dass man das eingelebte Handeln nicht dumpf reproduziert, sondern sich bewusst in diese Tradition stellt. Wir wissen ja schon, dass das traditionale Handeln an der Schnittstelle zum Verhalten angesiedelt ist: SOZIALES HANDELN rational ß à emotional ß affektuell aus Interesse aus Gefühl 26 traditional aus Gewohnheit VERHALTEN Je bewusster also die Bindung an das Gewohnte aufrecht erhalten wird, je überzeugter man von der Tradition ist, desto stabiler wird die traditionelle Herrschaft. Bei der charismatischen Herrschaft wird das Handeln nicht nur bestimmt durch eine bloße persönliche Neigung, sondern auch mitbestimmt durch eine affektuelle Hingabe an eine Person, die besondere Gaben hat (Charisma). Hier geht es darum, dass man diese Person nicht einfach nur irgendwie mag, sondern sich aufgrund ihrer Gaben bewusst zu ihr hingezogen fühlt. Auch das affektuelle oder emotionale Handeln ist ja an der Schnittstelle zum Verhalten angesiedelt. Je bewusster einem diese Gaben sind, je überzeugter man von dieser Person ist, desto stabiler wird die charismatische Herrschaft. Webers Herrschaftstheorie kann wie folgt konkretisiert werden: ___________________________________________________________________________ Herrschaft traditional charismatisch legal __________________________________________________________________________________________ Legitimitätsgrund kraft Glaubens kraft affektueller kraft Satzung an die Heiligkeit Hingabe an die der von jeher vor- Person des Herrn handenen Ordnun- und ihre Gnaden- 27 gen und Herren- gabe (Charisma) gewalten __________________________________________________________________________________________ reinster Typus patriarchalische Herrschaft des bürokratische Herrschaft Propheten, Kriegs- Herrschaft helden, Demagogen __________________________________________________________________________________________ Herrschaftsverband Vergemeinschaftung Vergemeinschaftung Vergesell- Gemeinde schaftung Gefolgschaft Betrieb Behörde __________________________________________________________________________________________ Befehlender Herr Führer Vorgesetzter Leiter __________________________________________________________________________________________ Verwaltungsstab Diener Gefolgsleute Fachbeamte 1. patriarchal: Hingabe Kompetenz Sklaven, Hörige, (Betriebs- Günstlinge, Plebejer disziplin) (Disziplin); 2. ständisch: Vasallen (Treue, Ehre) __________________________________________________________________________________________ Gehorchende Untertanen Jünger Mitglieder Bürger Genossen __________________________________________________________________________________________ 3.4.4 Politischer und hierokratischer Verband: Staat und Kirche Weber beschließt seine „Soziologischen Grundbegriffe“ mit Ausführungen zu politischen und hierokratischen Verbänden. Näheres dazu findet sich in seiner Politischen Soziologie und Religionssoziologie sowie in WuG. 28 „§17. Politischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als sein Bestand und die Geltung seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Gebiets kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen Zwangs seitens des Verwaltungsstabes garantiert wird. Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstaat erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnung in Anspruch nimmt.“ (Weber, WuG, 29) „Hierokratischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als zur Garantie seiner Ordnungen psychischer Zwang durch Spendung oder Versagung von Heilsgütern (hierokratischer Zwang) verwendet wird. Kirche soll ein hierokratischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und soweit sein Verwaltungsstab das Monopol legitimen hierokratischen Zwangs in Anspruch nimmt.“ (Weber, WuG, 29) politischer Verband hierokratischer Verband Anstaltsbetrieb Anstaltsbetrieb Staat Kirche Monopol physischen Zwangs Monopol psychischen Zwangs Gebiet weiterführende Literatur: Weber, Max, 1988: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Weber, Max, 1988: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bände. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Supplement: Leitfragen zu Kapitel 3. 1. Was ist eine soziale Beziehung mehr als soziales Handeln? 2. Geben Sie Beispiele für kurzfristige und länger währende soziale Beziehungen. 29 3. Was wissen Sie über die Größe sozialer Beziehungen? Warum sind Zweierbeziehungen etwas ganz Besonderes? 4. In größeren sozialen Beziehungen bedarf es Einrichtungen, um deren Zusammenhalt und Funktionieren zu ermöglichen. Beschreiben Sie diesen Zusammenhang. 5. Geben Sie Beispiele für offene und geschlossene soziale Beziehungen. 6. Warum ist eine Liebesbeziehung kein Verband? 7. Warum ist Weber zufolge der Begriff „Macht“ soziologisch amorph? 8. Was bedeutet „Disziplin“ und was hat das mit „Herrschaft“ zu tun? 9. Nennen Sie die drei „Gründe“, die Weber zufolge Herrschaft legitimieren können? 10. Was ist „Charisma“ und was will der/die Charismatiker/in letztlich erreichen? 4. Explikationen 4.1 Soziale Bewegung als Vergesellschaftung Als Textgrundlage dient: 30 Rammstedt, Otthein, 1978: Soziale Bewegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Otthein Rammstedt (1939-2020) definiert den Begriff „soziale Bewegung“ wie folgt: „Unter sozialer Bewegung soll ein Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse verstanden werden, ein Prozeß, der bewußt getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung, die nicht formal organisiert zu werden braucht.“ (Rammstedt, 130) Damit wird deutlich, dass wir es mit einem typischen Ablauf sozialen Handelns zu tun haben. Erläuterungen zu den Definitionsmerkmalen zunächst: (1) Prozess, (2) Protest, (3) bestehende soziale Verhältnisse, [später: 4) bewusst getragen, (5) wachsende Gruppierung, (6) nicht formal organisiert] (1) Prozess: ein Vorgang, der in verschiedene aufeinanderfolgende Phasen eingeteilt werden kann. Dabei ist jede Phase durch die jeweils vorhergehende bewirkt. Insofern kann man von einem sukzessive determinierten Prozess sprechen. 31 (2) Protest: eine Aktion von Beherrschten (in Demokratien das Volk), mit der die Herrschenden (in Demokratien die Regierungsmitglieder als die – durch Wahlen legitimierten – politischen Repräsentanten des Volkes) zu einer Änderung der Politik veranlasst werden sollen. In Demokratien ist der Protest eine legitime Form politischer Partizipation. (3) bestehende soziale Verhältnisse: Zustände, die als unzumutbar empfunden werden. Diese Zustände sind von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, z. B.: Ausbeutung der Werktätigen; Unterdrückung der Frau; Frevel an der Umwelt bzw. am Klima Kriegstreiberei; Generationenlagen. Bei Protesten gegen spezifische Zustände spricht man von „single issue-Bewegungen“, etwa beim Bau eines Bahnhofs („Stuttgart 21“) oder Autobahnzubringers oder bei der Lärm- oder Geruchsbelästigung von Fabriken etc. Rammstedt spezifiziert nun den Prozesscharakter und die Position, die die soziale Bewegung in dessen Verlauf in der Gesellschaft erheischt: Soziale Bewegung als Vergesellschaftung pars pro toto Zunächst hat der Protest appellativen Charakter. Die Protestierenden wenden sich zwar gegen bestehende soziale Verhältnisse, die sie als unzumutbar empfinden. Aber sie wenden sich zunächst noch nicht gegen die Herrschenden, sondern erst einmal an sie, mit der Forderung, diese Zustände zu beseitigen. Erst wenn der Protest wirkungslos bleibt, wendet man sich gegen die Herrschenden. Dabei kommt es dazu, dass die Protestierenden die Herrschenden als Vertreter partikularer Interessen (des Kapitals, des Patriarchats, einer Lobby, etc.) hinstellen, um sich selbst zu Vertretern des Allgemeininteresses aufzuschwingen. 32 „Die soziale Bewegung engagiert sich in der Gesellschaft für das soziale Ganze [...]. Der Protest richtet sich gegen partielle Interessen, die das gesellschaftliche Allgemeine in seiner Entfaltung stören“. (Rammstedt, 131). Damit ist auch schon gesagt, dass eine soziale Bewegung eine Vergesellschaftung ist, denn es geht um Interessen. Erinnern wir uns an die Definition Webers: § 9. „‚Vergesellschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ (Weber, WuG, 21) Die Protestierenden haben alle dasselbe Interesse, nämlich die sozialen Missstände zu beseitigen. Um dieses Ziel zu erreichen, verbinden sie ihre Interessen und suchen nicht nur nach einem Interessenausgleich oder Interessenkompromiss mit den Herrschenden, sondern streben soziale Verhältnisse an, die den Interessen aller Bürger (dem Allgemeininteresse) gerecht werden. Die soziale Bewegung möchte das gesellschaftliche Ganze sozusagen „außerparlamentarisch“ vertreten (so hat sich die Studenbewegung 1968 bezeichnet). Sie ist eine Opposition, die nicht als Partei im Parlament vertreten ist. Sie möchte ein Herrschaftsgefüge etablieren, das dem gesellschaftlichen Ganzen verpflichtet ist, und sie möchte eine Vorstellung von Gesellschaft verwirklichen, in der es keine unzumutbaren sozialen Zustände mehr geben soll. Mit anderen Worten, sie entwickelt ein „Gegenbild zum sozialen Ganzen“. (Rammstedt, 132) Der herrschenden Vorstellung von Gesellschaft wird eine andere Vorstellung entgegengesetzt. Diese alternative Vorstellung wird verabsolutiert. Sie soll unbedingt verwirklicht werden. Soziale Bewegung als Dialektik Die Logik, die diesem Prozess zugrundeliegt, ist demzufolge die Dialektik. Was heißt das? Dialektik ist ein Prozess, der zwei Phasen durchläuft: 33 1. ein Sich-Entzweien einer Einheit und 2. ein Sich-wieder-mit-sich-Vereinen zur nunmehr „gefüllten“ Einheit. Eine Einheit trennt sich in sich selbst in zwei Teile. Das hat noch nichts mit Dialektik zu tun, sondern stellt eine bloße Differenzierung dar. Erst wenn diese beiden Teile einen Gegensatz bilden, kommt es zur Dialektik. Was ist ein Gegensatz? Ein Gegensatz ist ein ganz besonderer Unterschied. Es gibt den einfachen Unterschied, z. B. zwischen einer Bierflasche und einem Motorrad. Das eine hat mit dem anderen eigentlich nichts zu tun. Die beiden Momente des Unterschieds fallen – wie G. W. F. Hegel sagt – „gleichgültig auseinander“. Das ist bei einem Gegensatz nicht so. Bei einem Gegensatz sind die beiden Momente wechselseitig durcheinander bestimmt – und zwar negatorisch: Das andere ist nicht irgendein anderes, sondern das andere des einen, d. h. sein anderes, oder das andere seiner selbst. Zum Beispiel: Herr und Knecht. Der Knecht ist das andere des Herrn und der Herr ist das andere des Knechts, denn der Knecht ist der Nicht-Herr und der Herr ist der Nicht-Knecht. Beide sind negatorisch durcheinander bestimmt. Mit anderen Worten: Es kann zwar ein Motorrad ohne Bierflasche bzw. eine Bierflasche ohne Motorrad geben, aber keinen Knecht ohne Herrn bzw. Herrn ohne Knecht. Das gilt natürlich nur, wenn man beide Momente (Herr/Knecht) in einer bestimmten Hinsicht thematisiert, in unserem Fall hinsichtlich des Herrschaftsverhältnisses in der Gesellschaft (und nicht etwa hinsichtlich der Schuhgröße). Die Momente eines Gegensatzes müssen „in einer Identität verschiedene“ sein, sagt Hegel. 34 Das heißt: Ein Moment ist nur dann mit der Negation des anderen Moments identisch, wenn es die Bestimmung eines Gegenstandes ist, in Beziehung auf den sich das andere Moment als ausschließende Gegenbestimmung verhält. Hegel illustriert diesen Sachverhalt anhand eines Beispiels aus der Arithmetik: Ein +a und ein –a können nur dann als entgegengesetzte Größen verstanden werden, wenn es ein und dasselbe a im Sinne einer „beiden zum Grunde liegende ansichseiende Einheit“ gibt (Hegel, Wissenschaft der Logik). a +a -a Herrschaftsverhältnis Herr Knecht = = Nicht-Knecht Nicht-Herr Befehlender Gehorchender 35 Mit diesem „zum Grunde liegen“ ist bereits angesprochen, dass wir es hier mit einem Prozess zu tun haben: Jedes Moment tritt als Bestimmung einer Identiät bzw. Einheit auf, die die Momente selbst erst hervorbringt. Hegel bezeichnet diesen Prozess als „Bewegung“: „die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang“ (Phänomenologie des Geistes) „diese Bewegung, sich als Anderes seiner selbst zu setzen, und dies Andere seiner aufzuheben, zum Scheine herabzusetzen und so in sich zurückzunehmen“ (Fragmente zur Philosophie des Geistes) „Daß die Dialektik zuerst auf die Bewegung gefallen [ist], ist eben dies der Grund, daß die Dialektik selbst diese Bewegung oder die Bewegung selbst die Dialektik alles Seienden ist. Das Ding hat, als sich bewegend, seine Dialektik selbst an ihm, und die Bewegung ist: sich anders werden, sich aufheben.“ (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte). In Marx und Engels „Kommunistischem Manifest“ finden Sie eine Übertragung dieser Logik auf die Gesellschaft: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander […]. Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ (Marx, Karl und Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus. Stuttgart: Reclam 1989 , S., 19-20) 36 Das lässt sich mit Hegels Arithmetik so visualisieren: a die ganze Gesellschaft spaltet sich in +a -a Bourgeoisie Proletariat = = Nicht-Proletariat Nicht-Bourgeoisie Unterdrücker Unterdrückte bestimmt die will die Gesellschaft Gesellschaft bestimmen Lorenz von Stein hat ebenfalls Hegels Begriff „Bewegung“ auf die Gesellschaft übertragen, und zwar in seinem Werk Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsre Tage. 3 Bde. Leipzig 1850. Tatsächlich bezeichnen sich revolutionäre Gruppierungen seit dem 19. Jahrhundert selbst als (soziale) Bewegung (z. B. Frauenbewegung, Arbeiterbewegung, Ökobewegung). Sie wollen die vorherrschenden Verhältnisse ihren eigenen Vorstellungen entsprechend ändern. Nehmen wir als Beispiel die Frauenbewegung: „Macht das Weib stark und geachtet durch Kenntnisse und Bildungswert, durch einen gründlich erlernten Beruf, der ihr Unabhängigkeit sichert auch ohne einen Ernährer, ohne die Tugend-Leibwache, d. h. den Ehemann, Vater, Bruder etc., hinter sich zu haben. […] Bildet es fürs Leben, für die Welt. […] Eine Furcht ist die, daß sich die Frauen, wenn ihnen erst vollständige Gelegenheit geboten sein wird, gleiche Ziele mit dem Mann zu erstreben, nicht mehr zu jener Frauendienstbarkeit und Unterwürfigkeit werden herabdrücken lassen, die man bisher so liebenswürdig, weil so bequem fand. Aber die wahrhaft gebildete, die geistig überlegene Frau tut das, was sie als notwendig, als ihre Pflicht erkennt, wenn auch durchaus nicht mit Demut und Unterwürfigkeit, so doch ganz ebenso bereitwillig […], weil klar vor ihrem Geiste steht, was getan werden muß. […] Eine gescheite, kluge Frau braucht eben nicht beherrscht zu werden, sie 37 beherrscht sich einfach selbst. […] Sie braucht nicht zu gefallen, sie kann stolz und unabhängig durchs Leben gehen, denn sie leistet das Ihrige in der Welt.“ (Anna Löhn- Siegel, in: Neue Bahnen, 11. Jg., 1876, zitiert nach Margit Twellmann, Die deutsche Frauenbewegung. Ihre Anfänge und erste Entwicklung 1843-1889. Meisenheim: Anton Hain 1993, S. 61) Dass „Bewegung“ durch „Negation“ entsteht, findet sich denn auch in soziologischen Konflikttheorien, etwa der von Ralf Dahrendorf: Dahrendorf, Ralf, 1961: Elemente einer Theorie des sozialen Konflikts. In: Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. München: Piper, S. 197-235. 38 Doch zurück zu Rammstedt: Wie erinnerlich, wenden sich die Protestierenden erst einmal an die Regierenden mit der Bitte um Abhilfe. Dadurch differenziert sich die soziale Einheit (das gesellschafliche Ganze) in zwei Teile: die Regierenden bzw. die Herrschenden einerseits und die Protestierenden als ein Teil des Volkes andererseits. In dem Augenblick, in dem sich die Protestierenden nicht „ernstgenommen“ fühlen, verliert ihr Protest seinen appellativen Charakter. Die Protestierenden fühlen sich „geknechtet“ und wenden sich nunmehr gegen die „Herrschenden“. Dadurch entsteht „Bewegung“. Die Regierung als die Instanz, die das gesellschaftliche Ganze (d. h. die zum Grunde liegende ansichseiende soziale Einheit) bislang bestimmt hat, wird negiert. Die Negierer als Teil des Volkes erheben nun selbst den Anspruch darauf, das gesellschaftliche Ganze zu bestimmen (pars pro toto). Sie treten in Gegensatz zur Politik und bringen dadurch nicht nur die Verhältnisse in Bewegung, sondern nennen sich gleich selbst „Bewegung“ (oder werden so genannt). gesellschaftliches Ganzes = die zum Grunde liegende ansichseiende soziale Einheit Differenzierung ← wenden sich an Regierende Betroffene Herrscher Beherrschte ← wenden sich gegen Gegensatz Regierung Protestbewegung als „das System“ als Teil des Volks bestimmen wollen das das Ganze Ganze bestimmen These Antithese herrschendes Gesellschaftsbild Alternative (Utopie) Synthese 39 Weitere Erläuterungen zu den Definitionsmerkmalen [nach: (1) Prozess, (2) Protest, (3) bestehende soziale Verhältnisse] nunmehr: (4) bewusst getragen, (5) wachsende Gruppierung, (6) nicht formal organisiert (4) bewusst getragen: Abgrenzung gegenüber Massenphänomenen affektuellen Handelns, in denen Gefühle meist spontan abreagiert werden (Volksauflauf, Tumult, Love Parade, etc.). Die soziale Bewegung hat ein Ziel, einen Zweck, der den Protestierenden bewusst ist. Ihr Handeln ist zweck- oder wertrational, die soziale Bewegung ist eine Vergesellschaftung. (5) wachsende Gruppierung: Wichtig ist hier, dass sich immer mehr Protestierende der sozialen Bewegung anschließen, damit diese genügend Aufmerksamkeit gewinnt, um sowohl von den Politikern als auch vom Rest des Volkes überhaupt ernstgenommen zu werden. (6) nicht formal organisiert: Es gibt anfangs keine Regelungen über Mitgliedschaften, Weisungsbefugnisse, Geschäftsverteilungspläne, etc. Manchmal taucht ein charismatischer Führer auf, dann gewinnt die Bewegung eine zusätzlich vergemeinschaftende Qualität. Die soziale Bewegung als Prozess im Sinne eines typischen Ablaufs sozialen Handelns Nach diesen allgemeinen Erläuterungen macht sich Rammstedt daran, den Prozesscharakter sozialer Bewegungen näher zu bestimmen. Dabei geht es um einen typischen Ablauf sozialen Handelns, den man mit dem Begriff „soziale Bewegung“ bezeichnen kann. Anfangs gibt es eine Vor-Bewegungs-Phase: Der Protest wird ausgelöst durch eine Krise, das heißt durch einen Zustand, der im Volk als Missstand empfunden wird und auf den die Regierung nicht problemlösend reagiert (weil sie entweder nicht kann oder nicht will). Dann folgt die eigentliche Bewegungs-Phase: Ein Teil des Volkes reagiert auf diese Krise mit Protest. Dadurch entsteht die soziale Bewegung, die es sich zum Ziel bzw. zum Zweck macht, den Missstand zu beseitigen. Im Einzelnen lässt sich der Ablauf so gliedern: 40 1. Propagierung der Krisenfolgen; 2. Artikulation des Protestes; 3. Intensivierung des Protestes; 4. Artikulation der Ideologie (besser: Utopie) 5. Ausbreitung 6. Organisation Schließlich kommt es in der Nach-Bewegungs-Phase ggf. zu einer Institutionalisierung der sozialen Bewegung, wenn der Zweck erreicht oder aufgegeben wurde. (Entdifferenzierung) Die soziale Bewegung als zunächst interaktionistische Beziehung droht mit zunehmender Organisation, sich zu einer formalen Organisation zu entwickeln: „Mit der Organisation institutionalisiert sich die Bewegung. Damit paßt sie sich den sozialen Strukturen an, vermag nun nicht mehr, diese insgesamt zu negieren.“ (Rammstedt, 168) Die soziale Bewegung fügt sich den bekämpften sozialen Strukturen wieder ein (langer Marsch durch die Institutionen). Die Institutionalisierung bewirkt, „daß die Zwecksetzung der Bewegung als realisierbares Ziel aufgegeben wird.“ (Rammstedt, 168). „Mit der Institutionalisierung paßt sich die Bewegung wieder dem abgelehnten System an; sie kann nun nur noch auf sozialstrukturell vorgegebenen Pfaden gegen das System protestieren – sie ist keine Alternative mehr. Aber die Bewegung paßt sich nicht einem starren System an. Auch dieses hat sich parallel zur Entwicklung der sozialen Bewegung gewandelz, hat sich der Bewegung angepaßt, zunächst als es die Bewegung als reales soziales Problem nehmen mußte und auf sie und ihre Forderungen zu reagieren gezwungen war, sodann als es die Ideologie der Bewegung zur Kenntnis nahm und schließlich indem das in der Bewegung überhöhte soziale Problem vom System als Problem akzeptiert wird. Die Phase der Institutionalisierung ist zugleich das idealtypische Ende jeder sozialen Bewegung“ (Rammstedt, 169) 41 4.2 Nation als Vergemeinschaftung 4.2.1 Was ist eine Nation? Die Beantwortung der Frage „Was ist eine Nation?“ ist nicht einfach [vgl. zum Folgenden Wagner, Gerhard, 2005: Projekt Europa: Zur Konstruktion europäischer Identität zwischen Nationalismus und Weltgesellschaft. Berlin: Philo]. Der klassische, auch heute noch vielfach benutzte Standardtext – eine Rede von Ernest Renan (1823-1892) aus dem Jahr 1882 – bietet keine griffige Definition. Aber auch Weber, der ansonsten für seine Definitionen ebenso berühmt wie berüchtigt ist, hat nichts Kompaktes formuliert. Man kann sich aber damit behelfen, die Texte von Renan und Weber zusammenzupacken, was wir im Folgenden tun wollen, garniert mit einer Prise Simmel. Renan, Ernest, 1993: Was ist eine Nation? Vortrag an der Sorbonne am 11. März 1882, S. 290- 311 in: Michael Jeismann und Henning Ritter (Hg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig: Reclam. Was also ist eine Nation? Renan behauptet: „Es macht [...] das Wesen einer Nation aus, daß alle Individuen etwas miteinander gemein haben“ (Renan, 295). Was haben sie miteinander gemein? Renan argumentiert im Ausschlussverfahren: (1) die Rasse ist es nicht: „Die Wahrheit ist, daß es keine reine Rasse gibt. […] Die edelsten sind jene Länder – England, Frankreich, Italien –, bei denen das Blut am stärksten gemischt ist. Ist Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Ist es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch.“ (Renan, 300) 42 Auch für Weber ist eine Nation keine „Blutgemeinschaft“ und sie ist für ihn auch keine „Abstammungsgemeinschaft“? Er unterscheidet zwischen Nation und „ethnischer Gruppe“: „Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser [Glaube] für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, […] ‚ethnische’ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht.“ (Weber, WuG, 237) „Unterschiede der Bart- und Haartracht, Kleidung, Ernährungsweisen, der gewohnten Arbeitsteilung der Geschlechter und alle überhaupt ins Auge fallenden Differenzen [...] können im Einzelfall Anlaß zur Abstoßung und Verachtung der Andersgearteten und, als positive Kehrseite, zum Gemeinsamkeitsbewußtsein der Gleichgearteten geben, welches [...] Träger einer Vergemeinschaftung werden kann“ (WuG, 236). Diese Achtung und Anerkennung der Gleichgearteten nennt Weber „ethnische Ehre“. (2) die Sprache ist es auch nicht: „Die Sprache lädt dazu ein, sich zu vereinen; sie zwingt nicht dazu. Die Vereinigten Staaten und England, das spanische Amerika und Spanien sprechen dieselbe Sprache und bilden doch keine Nation. Im Gegenteil, die Schweiz […] zählt drei oder vier Sprachen.“ (Renan, 303) Auch für Weber ist eine Nation keine Sprachgemeinschaft: Nation ist „nicht identisch mit Sprachgemeinschaft, denn diese genügt keineswegs immer (wie bei Serben und Kroaten, Amerikanern, Iren und Engländern)“. (Weber, WuG, 528) (3) die Religion ist es auch nicht: „man kann Franzose, Engländer, Deutscher sein und dabei Katholik, Protestant, Israelit oder gar keinen Kult praktizieren. Die Religion ist eine individuelle Angelegenheit geworden, sie geht nur das Gewissen eines jeden an.“ (Renan, 306) Auch für Weber ist eine Nation keine Religionsgemeinschaft. 43 (4) eine Nation gründet auch nicht auf gleichen Interessen: „Die Gemeinschaft der Interessen ist sicherlich ein starkes Band zwischen den Menschen. Doch reichen die Interessen aus, um eine Nation zu bilden? Ich glaube es nicht. Die Gemeinschaft der Interessen schließt die Handelsverträge. Die Nationalität jedoch hat eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein ‚Zollverein’ ist kein Vaterland.“ (Renan, 306) Was Renan mit Interessengemeinschaft meint, ist soziologisch eine Vergesellschaftung, während eine Nation offenbar eine Vergemeinschaftung ist. „‚Vergesellschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ (Weber, WuG, 21-22) „‚Vergemeinschaftung’ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns... auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“ (Weber, WuG, 21-22) Eine Nation beruht also auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit. (5) in der Geographie gründet sie auch nicht: „Unbestreitbar ist, daß die Gebirge trennen und die Flüsse eher einen. Aber nicht alle Gebirge grenzen Staaten voneinander ab. Welche trennen, und welche tun es nicht?“ (Renan, 307) Simmel hat in seiner Raumsoziologie nachgewiesen, dass es im Grunde gar keine objektiven (natürlichen) Grenzen im Raum gibt: „Der Natur gegenüber ist jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Falle einer insularen Lage, da doch prinzipiell auch das Meer ‚in Besitz genommen’ werden kann. […] Darum ist das Bewußtsein der Eingegrenztheit auch vielleicht nicht gegenüber den sogenannten natürlichen Grenzen (Gebirge, Flüsse, Meere, Einöden) das stärkste, sondern gerade an bloß politischen Grenzen, die nur eine geometrische Linie zwischen 44 zwei Nachbarn legen. Und zwar gerade weil hier Verschiebungen, Erweiterungen, Einziehungen, Verschmelzungen viel näher liegen“ (Simmel, SOZ, 695). Renan hatte sehr wahrscheinlich sogar eine solche „politische Grenze“ im Sinn, als er 1882 seine Rede „Was ist eine Nation?“ an der Sorbonne hielt. Frankreich hatte 1870/71 den Krieg gegen Deutschland verloren. Das Elsaß und Teile Lothringens gehörten seither zum Deutschen Reich. Mit Hinweis auf die Geographie – den Gebirgszug der Vogesen – konnte die französische von der deutschen Nation also nicht abgegrenzt werden. Ebensowenig wie mit Hinweis auf Rasse, Sprache und Religion. Seit der Teilung des Karolinger Reiches 843 im Vertrag von Verdun waren das Elsaß und Lothringen als zum mittelfränkischen Reich gehörend ein steter Zankapfel zwischen dem westfränkischen Reich (Frankreich) und dem ostfränkischen Reich (Deutschland). Mal gehörten sie zu Frankreich, mal zu Deutschland. Ihre Kulturen vermischten sich. Tatsächlich zielt Renans Versuch, die Frage „Was ist eine Nation?“ zu beantworten, in diese politische Richtung, auch wenn er letztlich nicht auf den Punkt kommt: „Eine Nation ist […] eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem faßt sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen.“ (Renan, 309) 45 Zwei Dinge machen für Renan eine Nation aus: „Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. […] Wie der einzelne ist die Nation der Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und von Hingabe. […] Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den wahren) – das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht zu haben und es noch vollbringen zu wollen – das sind die wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein.“ (Renan, 308) „In der Vergangenheit ein gemeinschaftliches Erbe von Ruhm und von Reue, in der Zukunft ein gleiches Programm verwirklichen, gemeinsam gelitten, sich gefreut, gehofft haben – das ist mehr wert als gemeinsame Zölle und Grenzen, die strategischen Vorstellungen entsprechen. Das ist es, was man ungeachtet der Unterschiede von Rasse und Sprache [und Religion!] versteht. Ich habe soeben gesagt: ‚Gemeinsam gelitten haben’. Ja, das gemeinsame Leiden eint mehr als die Freude. Die nationalen Erinnerungen und die Trauer wiegen mehr als die Triumphe, denn sie erlegen Pflichten auf, sie gebieten gemeinschaftliche Anstrengungen.“ (308-309) Renans Position lässt sich mit Weber präzisieren: Bei dieser Solidargemeinschaft handelt es sich um eine „politische Gemeinschaft“, das heißt um eine Gemeinschaft, die ein Gebiet und die Menschen darauf beherrschen möchte und dazu auch Waffengewalt anwenden würde: „Unter politischer Gemeinschaft wollen wir eine solche verstehen, deren Gemeinschaftshandeln dahin verläuft: ‚ein Gebiet’ (nicht notwendig: ein absolut konstantes und fest begrenztes, aber doch ein jeweils irgendwie begrenzbares Gebiet) und das Handeln der darauf dauernd oder auch zeitweilig befindlichen Menschen durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Beteiligten vorzubehalten (und eventuell weitere Gebiete für diese zu erwerben).“ (Weber, WuG, 514) 46 Es geht den Beteiligten also um Herrschaft in Form einer bereits bestehenden oder von ihnen ersehnten „politische Machtgebildeorganisation“ (Weber, WuG, 244) bzw. eines „politischen Verbandes“ (Weber, WuG, 29) [d. h. eines „Staates“], für den man sogar das eigene Leben zu opfern bereit ist: „Es ist der Ernst des Todes,“ schreibt Weber, „den eventuell für die Gemeinschaftsinteressen zu bestehen, dem Einzelnen hier zugemutet wird. Er trägt der politischen Gemeinschaft ihr spezifisches Pathos ein. Er stiftet auch ihre dauernden Gefühlsgrundlagen. Gemeinsame politische Schicksale, d. h. in erster Linie gemeinsame politische Kämpfe auf Leben und Tod, knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur- [also a uch Religions-], Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es, welche [...] dem ‚Nationalbewußtsein’ erst die letzte entscheidende Note geben.“ (WuG, 515) Es sind also Erinnerungen an politische Schicksale, was die Individuen gemeinsam haben, und es sind Opfer, die man in solchen Kämpfen auf Leben und Tod gebracht hat, um die es bei Nationen geht. Das ist wirklich bemerkenswert: Die Beteiligten sind bereit, ihr Leben für diese große Gruppe von Menschen zu opfern, von denen sich nur die wenigsten persönlich kennen. Offenbar haben wir es hier mit einer dieser Paradoxien zu tun, auf die Simmel so gerne aufmerksam macht: Man öffnet sich den Nächsten und den Fernsten, während man allen anderen gegenüber reserviert bleibt. Ebenso wäre man bereit, sich für die Nächsten (Partner, Familie, Freunde) und für die Fernsten (die Mitglieder der Nation) zu opfern, d. h. letztlich zu sterben. Aus alledem folgt nun diese präzisierte Definition: Eine Nation ist eine auf der Erinnerung an gemeinsame politische Schicksale basierende große Solidargemeinschaft, deren Pathos sich auf einen bestehenden oder ersehnten Staat richtet. Bei den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gibt es zudem ein Einverständnis – oder wie Renan sagt: einen Willen – weiterhin zusammenzubleiben. Das sind die zwei Dinge, die eine Nation ausmachen. 47 Eine Nation ist also in der Tat eine große politische Gemeinschaft, die auf einen bestehenden oder ersehnten Staat fixiert ist. Für diesen Staat hat man Opfer gebracht und ist gewillt, weitere zu bringen. An diese politischen Schicksale muss man sich erinnern, um eine „Identität“ als Nation ausbilden zu können. Daher auch die spezifische nationale Symbolik: Soldatenfriedhöfe, Gedenkstätten, Gedenktage, etc. Weber definiert Staat wie folgt: „§ 17. Politischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als sein Bestand und die Geltung seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Gebiets kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen Zwangs seitens des Verwaltungsstabes garantiert wird. Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“ (Weber, WuG, 29) Für eine Nation macht es freilich einen Unterschied, ob sie einen Staat hat oder einen ersehnt, sei es weil sie noch keinen gebildet hat oder ihn wieder verloren hat (Fremdherrschaft). 48 Ist ein Staat vorhanden, kann sich die politische Gemeinschaft als eine auf diesen Staat fixierte Willensgemeinschaft konstituieren („Staatsbürgernation“). Zur Nation gehört, wer sich zum Staat und seinen Institutionen (Verfassung) bekennt. Das soll nicht heißen, dass Abstammung, Sprache und Religion keine Rolle spielen. Sie spielen nur nicht die Hauptrolle, die sie durchaus spielen können, wenn kein Staat vorhanden ist. Ist kein Staat vorhanden, muss sich die politische Gemeinschaft als Abstammung-, Sprach- und/oder Religionsgemeinschaft konstituieren („Volksnation“ oder besser „ethnische Nation“; „Kulturnation“). Zur Nation gehört, wer ein auf solchen Ähnlichkeiten basierendes Gemeinsamkeitsbewusstsein hat und sich für den ersehnten Staat ins Zeug legt. Diese reine Typen hat M. Rainer Lepsius im Anschluss an Weber in einem lesenswerten Artikel näher beschrieben hat. Empirisch haben wir es natürlich mit Mischformen zu tun. Lepsius, M. Rainer, 1982: Nation und Nationalismus in Deutschland. In: Heinrich August Winkler (Hg.), Nationalismus in der Welt von heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 12-27. Nation = Politische Gemeinschaft Staat Staat vorhanden ersehnt Institutionen Sprache Religion Rasse Staatsbürger- Kultur- ethnische Nation Nation Nation Nationen sind Kriegsmaschinen: „Der Krieg ist nicht der Ursprung der Nation, wohl aber ihr Katalysator. Von Beginn an waren es die Abgrenzung gegen den Nachbarn, die Feindschaft und der Kampf, wodurch die europäischen Nationen zu sich selbst fanden.“ (Schulze, Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München: C. H. Beck 1999, S. 126) 49 4.2.2 Das kulturelle Gedächtnis Da für Nationen Erinnerungen wesentlich sind, wollen wir uns im Folgenden mit der Frage beschäftigen, wie so etwas wie gemeinsame Erinnerungen überhaupt möglich sind. Dadurch wird uns auch klar werden, was eigentlich mit der immer wieder zu hörenden Behauptung gemeint ist, eine Nation (bzw. nationale Identität) sei eine „soziale Konstruktion“. Wir stützen uns dabei vor allem auf die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die Jan und Aleida Assmann formuliert haben: Assmann, Aleida, 1999: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck. Assmann, Jan, 2000: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck. Jeder Mensch hat Erinnerungen an Ereignisse, die nur er selbst erlebt hat. Diese Erinnerungen sind in seinem Gedächtnis als persönliche bzw. private Erinnerungen gespeichert. Jeder Mensch hat außerdem Erinnerungen an Ereignisse, die er zusammen mit anderen erlebt hat. Tatsächlich hat jeder Mensch sogar Erinnerungen an Ereignisse, die er gar nicht selbst erlebt hat, sondern die nur andere erlebt haben, nämlich dann, wenn er von diesen Ereignissen erfährt. Die Erinnerungen, die mehrere Menschen unmittelbar oder mittelbar miteinander teilen, sind in den 50 Gedächtnissen dieser Menschen ebenfalls gespeichert, und zwar als gemeinsame Erinnerungen. Diese gemeinsamen Erinnerungen bilden das kollektive Gedächtnis dieser Menschen. Ein kollektives Gedächtnis ist also keine Art Supergedächtnis eines Kollektivs. Das wäre Metaphysik. Es handelt sich nur um Erinnerungen, die zwar mehrere Menschen miteinander teilen, die aber jeder einzelne Mensch jeweils für sich in seinem individuellen Gedächtnis bewahrt. [kollektive Intentionalität] Gemeinsame Erinnerungen an Ereignisse der jüngsten Vergangenheit werden in mündlichen Erzählungen oder in Presse-Berichten kommuniziert. Das kollektive Gedächtnis manifestiert sich insofern als kommunikatives Gedächtnis. Es entsteht und vergeht mit dem jeweiligen Kommunikationszusammenhang, es sei denn, die Ereignisse sind von besonderer Signifikanz. Dann bringt man die gemeinsamen Erinnerungen an diese Ereignisse in feste Formen, damit man sich auch dann noch an sie erinnern kann, wenn alle Zeitzeugen längst verstorben sind. Die feste Form gemeinsamer Erinnerungen z. B. in Büchern, Bildern, Denkmälern, Gebäuden, etc. macht aus dem kommunikativen Gedächtnis ein kulturelles Gedächtnis. Tatsächlich ist das kulturelle Gedächtnis aus Zerdehnungen von Kommunikationssituationen entstanden, die sich bei der Überbringung von Botschaften über große Strecken einstellten. Diese Zerdehnungen erzwangen eine Entkopplung von Information und Interaktion. Die Interagierenden mussten Notationssysteme und Speichereinrichtungen entwickeln, um die Informationen in feste Formen zu bringen. Dadurch schufen sie nicht nur ein gemeinsames Symbolsystem, welches ihr Kollektiv im Heute integrierte, sondern auch die Grundlage für ein kulturelles Gedächtnis, welches das Heute mit dem Gestern und dem Morgen verband. Dieses 51 kulturelle Gedächtnis blieb lange eng auf den Interaktionsbereich bezogen und deckte sich weitgehend mit dem kommunikativen Gedächtnis. Mit der Erfindung der Schrift sollte es dann diesen Bereich und damit den Zeithorizont der mündlich interagierenden zwei oder drei Generationen überschreiten. Mit dem kulturellen Gedächtnis werden die vergangenen Ereignisse nun keineswegs im Sinne einer Abbildung ein zu eins erinnert. Sie werden vielmehr den Sinnbedürfnissen der Gegenwart entsprechend rekonstruiert, d. h. in einer Weise dargestellt, die den jeweils vorherrschenden Interessen, Gefühlen und Gewohnheiten der Mitglieder der Kollektive entspricht. Während bei Ereignissen der jüngsten Vergangenheit im Grunde jeder Zeitgenosse die Validität der gemeinsamen Erinnerungen prüfen kann, fallen längst vergangene Ereignisse in die Deutungshohheit von Spezialisten, die den Umgang mit den festen Formen der Erinnerung beherrschen (z. B. Schriftgelehrte, Priester, Künstler, Wissenschaftler, Literaten, etc.). Es sind solche Spezialisten, welche die längst vergangene Vergangenheit rekonstruieren, zu welchem Zweck auch immer. Diese Spezialisten sind die Verwalter des kulturellen Gedächtnisses. Ihnen stehen potenziell alle Erinnerungen zur Verfügung, die in diesem Gedächtnis gespeichert sind. Tatsächlich ist das kulturelle Gedächtnis insofern ein Speichergedächtnis, als es gemeinsame Erinnerungen tradiert. Es wird zu einem Funktionsgedächtnis, wenn die Spezialisten unter diesen tradierten 52 Erinnerungen eine Auswahl treffen, um sie einer ihren Sinnbedürfnissen entsprechenden Rekonstruktion der vergangenen Ereignisse zugrundezulegen. Das Speichergedächtnis ist also ein Reservoir gleichgültiger, ungebrauchter Erinnerungen, welches das Funktionsgedächtnis umgibt. Was nicht in eine Sinnkonfiguration passt, wird deshalb ja nicht vergessen. Die Spezialisten rekonstruieren die vergangenen Ereignisse in Form von Geschichten (im weitesten Sinne des Wortes: Erzählungen bzw. Narrationen). Manche Geschichten sind Mythen. Das sind fundierende Erzählungen, welche die Gegenwart von einem Ursprung her erhellen. Mythen können zwei Funktionen erfüllen. Entweder sind sie im eigentlichen Sinne fundierend, wenn sie die Gegenwart in das Licht einer Geschichte stellen, die sie sinnvoll erscheinen lässt. Oder sie sind kontrapräsentisch, wenn sie von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart ausgehen und in der Erinnerung eine Vergangenheit beschwören, welche die Züge eines goldenen Zeitalters annimmt. Von diesen Erzählungen her fällt ein ganz anderes Licht auf die Gegenwart: Es hebt das Fehlende, Verschwundene hervor und macht den Bruch bewusst zwischen einst und jetzt. Hier wird die Gegenwart weniger fundiert, sondern gegenüber einer größeren und schöneren Vergangenheit relativiert. kollektives Gedächtnis kommunikatives Gedächtnis kulturelles Gedächtnis Speichergedächtnis Funktionsgedächtnis Geschichten Mythen eigentlich kontra- fundierend präsentisch Auf Nationen bezogen werden im eigentlichen Sinne fundierende Mythen erzählt, wenn ein funktionierender Staat verhanden ist. Dann kann dieser Staat als das logische Produkt einer Gründung geschildert werden, von der aus sich alles so und nicht anders entwickeln musste. Dagegen werden kontrapräsentische Mythen erzählt, wenn ein vorhandener Staat in einer Krise steckt oder wenn man ihn verloren hat, weil man unter Fremdherrschaft geraten ist. Dann wird an eine Zeit erinnert, in der alles besser war. Die Vergangenheit wird zu einem Ideal erhoben, 53 das es zu erneuern gilt. Sie wird zu einem „Exemplum“ (Ernst Robert Curtius), das nachgeahmt werden soll. Solche Geschichten sind dann am plausibelsten, wenn man sie auf einen Raum bezieht. Tatsächlich gibt es eine besondere Affinität des Gedächtnisses zum Raum. Dies war bereits in der Antike bekannt, wie die von Cicero überlieferte Geschichte des Simonides belegt, der als einziger den Einsturz eines Hauses überlebte und die Leichen der darin Umgekommenen identifizieren konnte, weil er sich deren Plätze beim Festmahl gemerkt hatte. Die Rhetoriker wussten diese Affinität zu nutzen. Um sich die Abfolge von Argumenten merken zu können, ordneten sie ihnen Orte im Saal zu, die sie dann im Fortgang ihrer Rede nacheinander aufsuchten. Simmel sollte in seiner Raumsoziologie auf diese Affinität hinweisen: „Für die Erinnerung entfaltet der Ort, weil er das sinnlich Anschaulichere ist, gewöhnlich eine stärkere assoziative Kraft als die Zeit“ (Simmel, SOZ, S. 710). Auch Jan Assmann betont: „Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung“ (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 39). Daher spielt der Raum auch in der kollektiven Erinnerung die Hauptrolle. Jedes Kollektiv muss sich Gedächtnisorte schaffen. Solche Orte können entweder selbst mit Erinnerungen behaftet sein. In diesem Fall werden die Orte durch Zeichen wie Denkmäler, Frie