Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen PDF
Document Details
![BullishArtInformel](https://quizgecko.com/images/avatars/avatar-20.webp)
Uploaded by BullishArtInformel
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Tags
Summary
This document provides an introduction to the field of pedagogy applied to behavioural disorders. It explores various aspects like forms of manifestation, classification systems, and the use of the ICD (International Statistical Classification of Diseases) for diagnostics. The text emphasises the multifaceted nature of behaviour disorders, underscoring the significance of considering the holistic well-being of individuals.
Full Transcript
Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Erscheinungsformen Vielfältiges Phänomen: Verhaltensstörungen stellen sich mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen in individuell außerordentlich unterschiedlichen Erscheinungsbildern dar. Vielfältige Begriffe: Infolge der Fülle an E...
Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Erscheinungsformen Vielfältiges Phänomen: Verhaltensstörungen stellen sich mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen in individuell außerordentlich unterschiedlichen Erscheinungsbildern dar. Vielfältige Begriffe: Infolge der Fülle an Erscheinungsformen hat sich über die Fachsprache der humanwissenschaftlichen Disziplinen (z.B. Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Allgemeinmedizin, u.v.w.) ein umfangreicher Begriffsapparat entwickelt Herausforderung: starke Fokussierung auf spezielle Verhaltensweisen, die die Ganzheitlichkeit von komplex agierenden und reagierenden Menschen ausblendet Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Erscheinungsformen Fazit: Das Vorliegen eines Symptomes aus dem skizzierten Begriffsapparat verweist nicht zwingend auf eine Verhaltensstörung Symptomkombinationen: In der Regel lassen sich Verhaltensstörungen von Schülerinnen und Schüler anhand von Symptomkombinationen besser beschreiben Qualitativ und quantitativ unterschiedlich: Symptome, die zum Erscheinungsbild einer Verhaltensstörung gehören können, sind qualitativ und quantitativ unterschiedlich bedeutsam Qualitative Unterschiede: Tagträumerei weniger gravierend wie Schlafstörungen Quantitative Unterschiede: Enuresis (Einnässen) tritt deutlich seltener auf als Ängstlichkeit Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Klassifikationen Hintergrund: In der Wissenschaft sind Klassifikationen Versuche, allgemeingültige Ordnungen vorzunehmen und bestimmte Objekte aufgrund ihrer Eigenschaften zu bündeln oder abzugrenzen Bsp.: Biologische Systematik / Biosystematik Klassifikationen von herausforderndem Verhalten: Im Umgang mit Verhaltensstörungen lassen sich ähnliche Versuche zu identifizieren Systematisierung der Systematiken: Müller (2021) schlägt eine Unterscheidung von Einteilungen vor 1. Deskriptive Einteilungen: basiert auf der äußerlich beobachtbaren Beschreibung von Merkmalen (was ist beobachtbar?) 2. Explanatorische Einteilungen: versuchen, Verhaltensstörungen auf gemeinsame Ursachen wie z.B. genetische Faktoren oder Erziehungsstile zurückzuführen (wodurch ist ein Verhalten begründet) 3. Funktionsbezogene Einteilungen: versuchen, Verhaltensstörungen auf die zugrunde liegenden Motive zurückzuführen (wozu dient ein Verhalten?) 4. Interventionsbezogene Einteilungen: Versuch einer Einteilung nach bestimmten Handlungsmöglichkeiten (z.B. medikamentöse Therapien) (wie lässt sich ein Verhalten beeinflussen?) Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ICD – International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems Herausgeber: WHO Aktuelle Ausgabe: 11 (seit 2022) Ziel: Einheitliche Strukturierung und Benennung von medizinischen Diagnosen Systematisierung: Jeder ICD-Code ist nach einer festgelegten Struktur aufgebaut – bestehend aus Buchstaben und Zahlen. Bsp.: J40-J47 repräsentieren chronische Erkrankungen der unteren Atemwege (z.B. Asthma bronchiale = J45) Diagnosevergabe in Dtld: In Deutschland werden Diagnosen nach der ICD von medizinischem Fachpersonal gestellt F-Codes: Die F-Codes beschreiben sämtliche Formen von Psychischen und Verhaltensstörungen und sind damit für die Veranstaltung von Interesse Bsp.: F32.0 = leichte depressive Episode; F90.0-F90.9 = Hyperkinetische Störungen Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Das ICF-Modell: Herausgeber: WHO (2001) Deutscher Titel: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit Deutsche Herausgabe: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) Ziel: System zur einheitlichen und standardisierten Beschreibung von funktionaler Gesundheit und Behinderung Modus: Verwendung von Kodes – zur umfassenden Beschreibung des Gesundheitszustandes sind i.d.R. mehrere Kodes nötig Fokus: Teilhabeorientierung Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Das ICF-Modell: Funktionale Gesundheit: Ziel des ICF-Modells ist die Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes Individuelle Faktoren: Körperliche Funktionen & Strukturen: bezeichnet Störungen, die den menschlichen Organismus betreffen Aktivitäten: bezeichnet die eingeschränkte Durchführung von Handlungen und Aktivitäten Teilhabe: bezeichnet Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe Kontextfaktoren: Umweltfaktoren: gesellschaftl. Einstellungen, Werte, politisches und rechtliches System Personenbezog. Faktoren: ökonomische Ressourcen, Bildungsniveau Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Externalisierende und internalisierende Störungsformen 2 Cluster: basierend auf empirischen Daten unter Kinder und Jugendlichen lassen sich unter Verweis auf Myschker und Stein (2018) mit ausreichender Sicherheit grundsätzlich zwei große, gegensätzliche Gruppen unterscheiden: Externalisierende Störungen: Nach außen gerichtet, gegen die Umwelt Aggressivität, Hyperaktivität, Wutanfälle, Impulsivität Externalisierende Störungen fallen insbesondere in begrenzenden Settings rasch auf (z.B. Unterricht) Internalisierende Störungen: Nach innen gerichtete Störung Ängste, Sorgen, Rückzug, Gehemmtheit, psychosomatische Störungen Internalisierende Störungen fallen insbesondere in Gruppensettings kaum auf (z.B. Unterricht) Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Erziehungsschwierigkeiten Früher Begriff: bereits vor etwa 35 Jahren hat Norbert Havers den Begriff der „Erziehungsschwierigkeiten“ geprägt Definition: „Unter einer Erziehungsschwierigkeit versteht man eine Regelübertretung eines Schülers, die von einem schulischen Erzieher wahrgenommen und als störend und unangemessen beurteilt wird.“ (Havers, 1978, 21) 3 Elemente der Erziehungsschwierigkeit: Laut Havers (1978) umfassen Erziehungsschwierigkeiten … 1. Regelverstöße, z.B. gegen Arbeitsanforderungen (S. arbeitet nicht) 2. Das Wissen der Lehrkraft um den Regelverstoß (Wahrnehmung) 3. Die Anwendung einer Verhaltensregel auf ein als unangemessen beurteiltes Verhalten („Bitte fange an zu arbeiten!“) Schwerpunkt: explizit schulpädagogische Prägung Nicht durchgesetzt: Insbesondere aufgrund der interdisziplinären Verständigung über Verhaltensstörungen hat sich der Begriff „Erziehungsschwierigkeiten“ nicht etabliert Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Verhaltensauffälligkeiten Gebräuchlich: alltagssprachlich hat sich der Begriff der Verhaltensauffälligkeit durchgesetzt. Wertneutral: grundsätzlich gilt der Begriff als wenig stigmatisierend Kritik: Nicht alle Kinder, die Verhaltensstörungen zeigen, werden durch ihr Verhalten offenkundig auffällig (z.B. internalisierende Symptome wie Ängstlichkeit) Nicht alle Kinder mit Auffälligkeiten haben mit sich oder der Umwelt tiefgreifende und andauernde Schwierigkeiten (z.B. Hochbegabte) Jeder Mensch ist hin und wieder in seinem Verhalten auffällig (z.B. bei akutem Stress, Übermüdung oder in alkoholisiertem Zustand) Eine Unterscheidung zwischen positiven und negativen Verhaltensauffälligkeiten wäre erforderlich Fazit: Der Begriff Verhaltensauffälligkeit ist zu allgemein, mehrdeutig und unscharf, was ihn für einen wissenschaftlich geführten Diskurs disqualifiziert Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen (Gefühls-) und Verhaltensstörungen Bevorzugte Bezeichnung: Der Begriff Verhaltensstörung hat im administrativen und wissenschaftlichen die größte Verbreitung gefunden International anschlussfähig: emotional and behavioral difficulties Sammelbegriff: geprägt auf dem Ersten Weltkongress für Psychiatrie in Paris (1950) für alle Formen von Symptomen und Symptombereichen Verhaltensstörungen oder Verhaltensstörung: Die Verwendung des Numerus ist nicht festgelegt – beide Formen kommen in der Fachliteratur vor Argument Plural: Symptomatik grundsätzlich vielfältig Argument Singular: Reaktionen und Konsequenzen für Betroffene sind i.d.R. gleich (z.B. Ablehnung; Bestrafungen) und signalisieren eine überdauernde Krisenkonstellation Inakzeptabel: Abzulehnen sind Begriffe wie „verhaltensgestörter Schüler“ oder „Verhaltensgestörter“ Gründe: Der pädagogische Sachverhalt wird verkürzt dargestellt Die komplexe Sachlage wird auf persönlichkeitsspezifische Zuschreibungen reduziert Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Definition: Verhaltensstörungen „Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrads die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.“ (Myschker & Stein, 2018, 56) Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Fazit – Verhaltensstörungen Phänomenologischer Überbegriff: Unter dem Begriff der Verhaltensstörung werden eine Vielzahl von Phänomenen zusammengefasst Interaktionistisches Grundverständnis: Es liegt die Annahme zugrunde, dass Verhalten stets in Interaktion mit der Umwelt erfolgt und nie isoliert auftritt Adaptives Verhalten: repräsentiert das Ergebnis einer adäquaten Wahrnehmung, Verarbeitung, Einschätzung und Aktivierung Maladaptives Verhalten: basiert auf dysfunktionalen Wahrnehmungen, Emotionen und Kognitionen und äußert sich durch eine unangemessene, unvorteilhafte und sozial unverträgliche Situationsbewältigung Verhaltensstörung als Symptom einer gestörten Interaktion: Grundsätzlich werden Verhaltensstörungen als Signal für eine dahinter stehende Störung des Systems betrachtet, was mit problematischen Folgen für die betroffene Person und/oder ihr Umfeld einhergeht Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Fazit: Es ist Fingerspitzengefühl gefragt Bezugsnorm: Werte und Normen spielen in Bezug auf Verhaltensstörungen als soziales (d.h. interaktionistisches) Phänomen eine zentrale Rolle Basiert auf Vergleichen: Wer ein Verhalten als auffällig bezeichnet, geht dabei stets von einer bestimmten Bezugsnorm aus (z.B. Gleichaltrige) Kontextabhängig: die Feststellung, ob ein Verhalten auffällig ist, hängt sehr stark vom Rahmen ab, innerhalb dessen das Verhalten gezeigt wird Machtvoll: grundsätzlich ist die Feststellung einer Person A, dass eine Person B Verhaltensstörungen aufweist, ein extrem machtvoller Akt – insbesondere beispielsweise, wenn er in hierarchischen Konstellationen stattfindet z.B. Schule: Lehrkraft über Schüler Z.B. Klinik: Mediziner über Patient Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Epidemiologische Untersuchungen Epidemiologische Studien lassen sich der Gruppe deskriptiver Studien zuordnen. Deskriptive Studien dienen der Feststellung der Verbreitung von Merkmalen und Effekten in großen Grundgesamtheiten (z.B. Bevölkerung eines Landes) Epidemiologische Studien beschreiben mithilfe groß angelegter Forschungsdesigns die Verbreitung von spezifischen Merkmalen innerhalb ganzer Populationen. Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen: Schätzungen von Polanczyk und Kollegen (2015) deuten an, dass weltweit etwa 13,4% aller Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Erkrankung leiden „Our findings suggest that mental disorders affect a significant number of children and adolecents wordwirde“ (Polanczyk et al., 2015, 345) Psychosoziale Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen: Daten der Millennium Cohort Study aus England (Morrison Guttman et al., 2015) deuten an, dass auf Basis von Elternangaben 17,2% aller 11-Jährigen in England psychische Auffälligkeiten aufweisen auf Basis der Angaben von Lehrkräften 15,8% aller 11-Jährigen in England psychische Auffälligkeiten aufweisen Psychosoziale Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Daten der KiGGS-Studie deuten an, dass insgesamt 16,9% der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 3 und 17 Jahren von ihren Eltern als psychisch auffällig eingestuft werden Einführung in die Pädagogik bei Verhaltensstörungen Psychosoziale Belastung bei Kindern und Jugendlichen nach Corona: Die psychosoziale Belastung von Kindern und Jugendlichen liegt nach der Corona- Pandemie im Mittel noch immer höher als vor der Pandemie Fazit: Insgesamt ist davon auszugehen, dass etwa jedes vierte bis fünfte Kind Auffälligkeiten im emotionalen Erleben und sozialen Verhalten aufweist Schule als Verstärker: Es fällt auf, dass mit Schuleintritt eine erhebliche Zunahme von psychosozialen Problemen bei Kindern und Jugendlichen dokumentierbar ist