Hintergründe und Entwicklung PDF

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This document provides an overview of the historical background and development of behavioral therapy. It explores its core principles, methodologies, and areas of application, offering a valuable resource for those interested in the deeper understanding of psychological treatments.

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3 1 Hintergründe und Entwicklung Jürgen Margraf 1.1 Einleitung –4 1.2 Was macht Verhaltenstherapie aus? –5 1.2.1 Definition – 5 1.2.2 Grundprinzipien – 5 1.2.3...

3 1 Hintergründe und Entwicklung Jürgen Margraf 1.1 Einleitung –4 1.2 Was macht Verhaltenstherapie aus? –5 1.2.1 Definition – 5 1.2.2 Grundprinzipien – 5 1.2.3 Methodologisches Grundverständnis – 7 1.2.4 Ätiologisches Grundverständnis – 8 1.2.5 Verfahren – 9 1.2.6 Indikationsbereiche – 9 1.3 Historische Entwicklung – 10 1.3.1 Ausgangspunkte und Vorläufer – 10 1.3.2 Die »Gründungsphase« – 10 1.3.3 Der Einfluss operanter Verfahren – 13 1.3.4 Konsolidierung und Erweiterung – 14 1.3.5 Zusammenwachsen kognitiver u ­ nd behavioraler Ansätze – 16 1.3.6 Kontinuierliche Weiterentwicklung – 17 1.4 Empirische Überprüfung – 19 1.4.1 Vom Regen in die Traufe – 19 1.4.2 Ergebnisse der Wirksamkeitsforschung – 19 1.4.3 Dauerhaftigkeit und Übertragbarkeit a­ uf die Alltagspraxis – 26 1.4.4 Konsequenzen aus der Befundlage – 28 1.5 Kritik, Probleme und potenzielle F ­ ehlentwicklungen – 30 1.6 Zusammenfassung – 32 Literatur – 32 © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 J. Margraf, S. Schneider (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 1 https://doi.org/10.1007/978-3-662-54911-7_1 4 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung 1.1 Einleitung ­Charakterisierung der Verhaltenstherapie; Eysenck 1959). Aller- 1 dings war die Verhaltenstherapie von Anfang an eine heterogene Als der Begriff »Verhaltenstherapie« vor 60 Jahren zum ersten Bewegung von beachtlicher Breite. Die Rückkopplung aus der Mal in einer wissenschaftlichen Publikation auftauchte, hätte wachsenden klinischen Praxis und die rege Forschungstätigkeit kaum jemand gedacht, dass dies den Anfang der bisher größten weichten das klassische lerntheoretische Verständnis der Verhal- Erfolgsgeschichte in der Behandlung psychischer Störungen und tenstherapie schnell auf. Vor allem ihr Anspruch auf theoreti- verwandter Probleme markierte. Gibt man heute den Suchbegriff sche Fundierung und empirische Überprüfung sowie der Fort- »Verhaltenstherapie« oder seine englischen Entsprechungen bei schritt ihrer psychologischen Grundlagenwissenschaft ­bewirkten Google ein, so erhält man je nach Tagesform der Internetsuch- eine fortlaufende Diskussion. Es ist daher kaum überraschend, maschine 35-40 Millionen Treffer, weitaus mehr, als man in dass bis heute eine Vielzahl von Definitionen vorgelegt wurde. ­einem Menschenleben lesen kann. Führt man sich die Verschiedenheit dieser Definitionen vor Heute sind verhaltenstherapeutische Verfahren für die meis- ­Augen, so fragt man sich zu Recht, was denn Verhaltens­therapie ten psychischen Störungen entwickelt und erfolgreich überprüft nun eigentlich sei (dazu siehe auch 7 Eine Rose ist eine Rose ist worden, bei vielen sind sie Methode der Wahl. So ist es auch nicht eine Rose …). überraschend, wenn inzwischen vier von fünf Ausbildungskan- Eine Verhaltenstherapie oder viele Verhaltenstherapien didaten in der Psychotherapie sich für die Verhaltenstherapie Bekanntere Definitionen stammen von Eysenck (1959), Yates (1970), der Asso­ entscheiden und deren Verfahren eine immer größere Rolle für ciation for Advancement of Behavior Therapy (1975, zit. in Franks und Wilson die Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversiche- 1975), Wolpe (1976), Agras et al. (1979), Dorsch et al. (1982), Hollandsworth rung spielen. Bemerkenswert und ungewöhnlich ist aber nicht (1986) und Rachmann (1988). Diese Definitionen fassen den Gegenstand Ver­ haltenstherapie unterschiedlich breit, wobei Variationen hauptsächlich die nur der nachhaltige Erfolg der Verhaltenstherapie. Auch das theoretische Orientierung und die zugrunde liegende Methodologie betref­ ­Fehlen einer einzelnen Gründerfigur, die Breite der Bewegung fen. So besteht die Verhaltenstherapie etwa nach Wolpe (1976) ausschließlich und die ungebrochene Dynamik der Weiterentwicklung sind aus Methoden, die »aus experimentell abgesicherten Prinzipien und Para­ einzigartig im Bereich der Psychotherapie. Der Grund für diese digmen des Lernens« (S. 1, Übersetzung durch den Autor) abgeleitet wurden. Merkmale, nämlich die enge Anbindung an die wissenschaftliche Auch Eysenck (1959) verstand unter Verhaltenstherapie den Versuch, menschliche Verhaltensweisen und Emotionen unter Verwendung der Psychologie und ihre Nachbardisziplinen, dürfte maßgeblich am ­Gesetze der modernen Lerntheorie in heilsamer Weise zu verändern. Nach Erfolg der Verhaltenstherapie beteiligt sein. Bezeichnenderweise Agras et al. (1979) umfasst Verhaltenstherapie bereits in den 1970er Jahren war es ein »graduate student« der Psychologie, der den Begriff behaviorale und kognitive Ansätze. Noch breiter sieht Hollandsworth (1986) »behaviour therapy« prägte. Wer und wo das war, wird in­ in der Verhaltenstherapie ganz allgemein die Anwendung wissenschaftlicher 7 Abschn. 1.3.2 geschildert. Methoden auf klinische Probleme. Besonders einflussreich war die Definition von Yates (1970, zit. nach der deutschen Übersetzung von Yates 1977, S. 135), Je größer und breiter die Verhaltenstherapie in Forschung die daher hier vollständig wiedergegeben wird: und Praxis wird, desto stärker wächst aber auch die Gefahr der »Verhaltenstherapie ist der Versuch, den gesamten empirischen und theore­ Verwässerung des Profils und der Unklarheit über die zentralen tischen Wissensbestand, wie er durch den Einsatz experimenteller Methoden Merkmale. In der »Gründungsphase« bestand ein annähernder in der Psychologie und ihren Nachbardisziplinen (Physiologie und Neurophy­ Konsens über die Definition des Begriffs »Verhaltenstherapie«: siologie) angesammelt werden konnte, in systematischer Weise zu benutzen, um Entstehung und Beibehaltung abweichender Verhaltensmuster zu erklä­ Man ging allgemein davon aus, das es sich um die klinische ren, und weiterhin der Versuch, dieses Wissen bei der Behandlung oder ­Anwendung der durch die psychologische Forschung etablierten ­Prävention solcher Fehlverhaltensweisen einzusetzen, und zwar mit Hilfe Prinzipien der Lerntheorien handele (vgl. hierzu Eysencks kontrollierter experimenteller Untersuchungen am einzelnen Patienten.« Exkurs Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose … Unter dem schönen Titel »A rose by any other Lehrmethode deutlich bessere Effekte auf aka­ positive Bild eines lösungsorientierten, prag­ name …: Labeling bias and attitudes toward demisches Lernen und emotionales Wachstum matischen, hilfsbereiten, mitfühlenden und behavior modification« veröffentlichten erwartet. Nach Meinung der Autoren zeigte häufig erfolgreichen Vorgehens zeigen, fällt ­Woolfolk et al. (1977) eine bemerkenswerte ihre Arbeit die negativen Auswirkungen einer die Fremdwahrnehmung oft undifferenziert ­Arbeit. Sie zeigten in zwei Studien beginnen­ oft technisch und mechanistisch anmutenden oder gar negativ aus. Die wissenschaftlich den und fortgeschrittenen Studenten der Selbstdarstellung, wie sie auch in jüngster Zeit ­orientierte Fachsprache verhaltenstherapeuti­ ­Erziehungswissenschaften eine Filmauf­ noch von Eschenröder (1994) kritisiert wurde, scher Veröffentlichungen scheint manchem zeichnung einer Lehrerin, die Verstärkungs­ auf das »Image« der Verhaltenstherapie. Der Beobachter ein technizistisches, gar gefühl­ methoden anwendete. In beiden Studien ­Titel der Arbeit zitiert eine berühmte Stelle aus loses Bild nahezulegen. Eine Auswertung ­wurde jeweils der Hälfte der Versuchpersonen Shakespeares Romeo und Julia: »What’s in a ­amerikanischer Untersuchungen zur Akzep­ mitgeteilt, der Film zeige die Anwendung­ name? That what we call a rose, by any other tanz der Verhaltenstherapie zeigt tatsächlich ­»humanistischer Verfahren« bzw. »Verhaltens­ name would smell as sweet«. Ob dies auch auf häufige Negativurteile (Heekerenz 1991), modifikation«. Diese einfache Etikettierung die heutige Verhaltenstherapie zutrifft? ­wobei das Urteil z. T. umso negativer ausfällt, beeinflusste die Bewertung der Lehrerin und Jedenfalls dürfte kaum eine andere psycho­ je weniger die Befragten über die Verhaltens­ der Stunde ganz massiv: Beide Stichproben therapeutische Richtung so vielen Missver­ therapie wissen. Im deutschsprachigen Raum beurteilten die Lehrerin in der »humanisti­ ständnissen ausgesetzt sein wie die Verhal­ stellten Lutz et al. (1992, S. 258) fest, dass schen« Version signifikant positiver, kompe­ tenstherapie. Während die Selbstwahrneh­ ­»Verhaltenstherapeuten glauben, sehr viel tenter, flexibler und persönlich attraktiver, dar­ mung der Verhaltenstherapeuten und die schlechter gesehen zu werden, als sie selbst über hinaus wurden von der »humanistischen« ­Befunde der Forschung übereinstimmend das sich sehen«. 1.2 · Was macht Verhaltenstherapie aus? 5 1 Neben den Missverständnissen von außen gibt es jedoch theoretischer Hintergrund durch eine Vielzahl störungsspezifi- auch »Selbstmissverständnisse« und Divergenzen, die u. a. dar- scher und störungsunspezifischer Erklärungsansätze und ­hieraus aus entstehen, dass ihre beispiellos stürmische und breite Weiter- abgeleiteter Änderungsmodelle aus. Die gemeinsame Klammer entwicklung viele verschiedene Formen und Auffassungen von bildet die Orientierung an der empirischen Psychologie. Darüber Verhaltenstherapie hervorgebracht hat. So unterscheidet sich die hinaus kann eine zukunftsoffene Charakterisierung nicht ein- Verhaltenstherapie Wolpes deutlich von der modernen kogniti- fach in einer Aufzählung der gegenwärtigen Methoden bestehen. ven Verhaltenstherapie, die klassische progressive Muskelrelaxa- Die Definition muss daher tion von der »applied relaxation« Östs und die frühe operante 44die inzwischen erreichte theoretische und methodische Depressionstherapie von dem kognitiven Ansatz Becks. Ganz Breite des gesamten Ansatzes umfassen, gleich, ob die Ursachen für die Missverständnisse zur Verhaltens- 44trotz einer breiten Grenzziehung die spezifischen Momente therapie in der polarisierenden Form ihrer frühen Selbstdar­ der Verhaltenstherapie explizit berücksichtigen, stellung, in mangelnder Information, im Bedrohungsgefühl 44zukünftige Entwicklungen zulassen. ­angesichts unzweifelhafter Erfolgsbelege, in Wissenschaftsfeind- lichkeit oder wo auch immer gesucht werden – die obigen Aus diesen Gründen habe ich bereits an anderer Stelle (Margraf ­Ausführungen machen deutlich, wie wichtig eine explizite Dar- und Lieb 1995) den Vorschlag gemacht, Verhaltenstherapie nicht stellung der diesem Lehrbuch zugrunde liegenden Auffassung als Therapieschule oder Gruppe von Verfahren, sondern als eine von Verhaltenstherapie ist. psychotherapeutische Grundorientierung aufzufassen, wie dies Eine für »alle Zeiten« abschließende Festlegung ist nicht auch der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie tut (vgl. http:// möglich. Selbst der bloße Versuch einer solchen endgültigen www.wbpsychotherapie.de). Festschreibung des »Status quo« wäre schon kontraproduktiv Konkret kann die moderne Verhaltenstherapie dann wie und würde die künftige Entwicklung behindern. Gerade ihre folgt definiert werden: ständige Entwicklung führt stattdessen dazu, dass die Frage nach Die Verhaltenstherapie ist eine auf der empirischen Psycho- dem Wesen der Verhaltenstherapie immer wieder neu diskutiert logie basierende psychotherapeutische Grundorientierung. Sie werden muss. Zu Beginn dieses Lehrbuches soll daher das Ver- umfasst störungsspezifische und -unspezifische Therapiever­ ständnis der Verhaltenstherapie geklärt werden, das dem Buch fahren, die aufgrund von möglichst hinreichend überprüftem zugrunde liegt. Dabei reicht eine bloße Definition für eine Störungswissen und psychologischem Änderungswissen eine ­adäquate Wesensbestimmung nicht aus (vgl. Margraf und Lieb systematische Besserung der zu behandelnden Problematik 1995). Eine aussagekräftige und zugleich zukunftsoffene ­anstreben. Die Maßnahmen verfolgen konkrete und operationa- ­Standortbestimmung der modernen Verhaltenstherapie muss lisierte Ziele auf den verschiedenen Ebenen des Verhaltens und vielmehr über die reine Definition hinaus vor allem die Grund- Erlebens, leiten sich aus einer Störungsdiagnostik und indivi­ prinzipien des verhaltenstherapeutischen Vorgehens und das duellen Problemanalyse ab und setzen an prädisponierenden, zugrunde liegende Verständnis von Methodologie und Ätiologie auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Problembedingun- erläutern. Um sich nicht im Abstrakten zu erschöpfen, sollten gen an. Die in ständiger Entwicklung befindliche Verhaltens­ außerdem typische Therapiemethoden und Indikationsbereiche therapie hat den Anspruch, ihre Effektivität empirisch abzu­ genannt werden. Da diese beiden letzten Punkte ausführlich in sichern. den weiteren Kapiteln von Band I behandelt werden, werden sie Am häufigsten werden nach Lang (1971) eine behaviorale, hier jedoch nur knapp erläutert. Weiterhin soll eine Darstellung eine subjektive und eine physiologische Ebene unterschieden. der historischen Entwicklung der Verhaltenstherapie zu einem Emotionen werden dabei als aus diesen drei Ebenen zusammen- besseren Verständnis ihrer Gegenwart verhelfen. Im Anschluss gesetzt angesehen. Wenngleich dieses »Drei-Ebenen-Modell« an eine Diskussion der Ergebnisse und Konsequenzen der kritisiert werden kann (vgl. Fahrenberg 1987), hat sich eine ­empirischen Überprüfung der Verhaltenstherapie wird dann ­multimodale Herangehensweise weitgehend durchgesetzt (vgl. ­abschließend auf Probleme und Kritikpunkte verwiesen. Seidenstücker und Baumann 1987). 1.2 Was macht Verhaltenstherapie aus? 1.2.2 Grundprinzipien 1.2.1 Definition Wichtiger als die Definition ist das Herausarbeiten der allge­ meinen Prinzipien, die allen verhaltenstherapeutischen Metho- Die Verhaltenstherapie ist ein genuin klinisch-psychologischer den zugrunde liegen (mod. nach Margraf und Lieb 1995): Heilkundeansatz, der eine große Anzahl unterschiedlicher ­spezifischer Techniken und Behandlungsmaßnahmen in sich jjPrinzip 1: Verhaltenstherapie orientiert sich an vereinigt. Diese verschiedenen Maßnahmen werden im thera- der empirischen Psychologie peutischen Handeln je nach Art der vorliegenden Problematik Die Grundlagenwissenschaft der Verhaltenstherapie ist die einzeln oder miteinander kombiniert eingesetzt. Somit lässt sich ­empirische Psychologie. Dementsprechend bemüht sich die Ver- Verhaltenstherapie nicht als eine einzelne, klar umrissene Thera- haltenstherapie, ihre theoretischen Konzepte und therapeuti- piemethode begreifen, die auf ein einziges theoretisches Modell schen Methoden zu operationalisieren und empirisch zu über- zurückgeführt werden kann. Vielmehr zeichnet sich auch ihr prüfen. Diese Überprüfung soll möglichst umfassend und mit 6 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung Hilfe objektiver, reliabler und valider Maße erfolgen. Neben dem jjPrinzip 6: Verhaltenstherapie ist nicht auf ­ 1 psychologischen Wissen über Veränderungsprinzipien und -ver- das therapeutische Setting begrenzt fahren werden auch die Erkenntnisse nichtpsychologischer Die Verhaltenstherapie strebt eine Generalisierung der erzielten Nachbardisziplinen (z. B. Biologie, Medizin, Sozialwissenschaf- Änderungen auf den Alltag des Patienten an. Das therapeutische ten) berücksichtigt. Setting und eine gute therapeutische Beziehung bieten die Möglichkeit, verändertes Verhalten und Erleben in einem ­ jjPrinzip 2: Verhaltenstherapie ist problemorientiert ­geschützten Rahmen zu erfahren und einzuüben. Sie gewähr­ Die Behandlung setzt in der Regel an der gegenwärtig bestehen- leisten allerdings nicht die Übernahme in den Alltag bzw. in das den Problematik an. Das therapeutische Vorgehen wird mög- individuelle Lebensumfeld. Hierzu ist es notwendig, dass der lichst genau auf die jeweilige Störung und den individuellen Patient neu erworbene Strategien regelmäßig zwischen den ­Patienten zugeschnitten, sodass für verschiedene Störungen in ­Sitzungen ausprobiert und übt. Wenngleich Verhaltenstherapeu- der Regel auch verschiedene Verfahren, die auf empirisch ermit- ten ihre Patienten häufig auch bei Erfahrungen außerhalb der teltem Störungswissen basieren, in individualisierter Form Praxis, der Ambulanz oder der Klinik begleiten, ist das Ziel doch ­angewendet werden. Über die Lösung des aktuell bestehenden stets die Bewältigung ohne therapeutische Begleitung. Problems hinaus wird eine Erhöhung der allgemeinen Problem- lösefähigkeit angestrebt. Dies kann indirekt durch Transparent- jjPrinzip 7: Verhaltenstherapie ist transparent machen des therapeutischen Vorgehens und Vermittlung neuer Verhaltenstherapie setzt auf den aufgeklärten, aktiven Patienten. Erfahrungen oder direkt durch gezielte Problemlösetrainings Das Geben eines plausiblen Erklärungsmodells für die vor­ erfolgen. liegende Störung und das verständliche Erklären aller Aspekte des therapeutischen Vorgehens sind Bestandteile der Verhaltens- jjPrinzip 3: Verhaltenstherapie setzt an den therapie, die das legitime Bedürfnis der Patienten nach dem Ver- prädisponierenden, auslösenden und aufrecht­ stehen ihrer Lage erfüllen und zu einer erhöhten Akzeptanz der erhaltenden Problembedingungen an Therapiemaßnahmen sowie zur Prophylaxe von Rückfällen Die Verhaltenstherapie unterscheidet zwischen prädisponieren- ­beitragen. Transparenz erhöht die Compliance, das Verständnis den, auslösenden und aufrechterhaltenden Problembedingun- der Patienten für den therapeutischen Prozess und indirekt ihre gen. Die Interventionen setzen an denjenigen Bedingungen an, Problemlösefähigkeit. Auf diese Weise können die erworbenen deren Änderung für eine dauerhafte Lösung des Problems als Fertigkeiten bei zukünftigen Schwierigkeiten besser bzw. auch notwendig erachtet werden. Oft sind dies die aufrechterhalten- ohne erneute therapeutische Hilfe eingesetzt werden. den Bedingungen, da diese für das zukünftige Befinden von ­besonderer Bedeutung sind. Hinsichtlich der Prädispositionen jjPrinzip 8: Verhaltenstherapie soll ­ und Auslöser steht meist deren konkrete Auswirkung in der »Hilfe zur Selbsthilfe« sein ­Gegenwart im Vordergrund, zumal diese beiden Typen von Pro- Über die Erhöhung der allgemeinen Problemlösefähigkeit und blembedingungen häufig nicht geändert werden können. In den über das transparente Ableiten des therapeutischen Vorgehens letzten Jahren wird darüber hinaus dem Aspekt der Ressourcen- aus einem Störungsmodell werden den Patienten generelle aktivierung und der Stärkung von Resilienz wachsende Auf- Fertigkeiten zur selbstständigen Analyse und Bewältigung ­ merksamkeit gewidmet. ­zukünftiger Probleme vermittelt. Somit erhöht die Verhaltens­ therapie das Selbsthilfepotenzial der Patienten und kann dadurch jjPrinzip 4: Verhaltenstherapie ist zielorientiert Rückfällen und der Entwicklung neuer Probleme vorbeugen. Die Identifikation des Problems sowie die gemeinsame Fest­ legung des zu erreichenden Therapieziels durch Therapeut und jjPrinzip 9: Verhaltenstherapie bemüht sich um ständige Patient sind integrativer Bestandteil der Verhaltenstherapie. Das Weiterentwicklung Problem stellt den Ansatzpunkt der Therapie dar. Die Lösung des Durch die Orientierung der Verhaltenstherapie an der empiri- Problems wird dementsprechend als Erreichen des angestrebten schen Psychologie unterliegen sowohl ihre theoretischen Kon- Ziels und damit als hinreichender Grund für die Beendigung der zepte als auch ihre praktischen Behandlungsmethoden einem Therapie angesehen. Im Idealfall verhindert die explizite Verein- permanenten Prozess der Evaluation und Ausdifferenzierung barung der Therapieziele das Verfolgen unterschiedlicher Ziele und somit einer ständigen Weiterentwicklung. durch Therapeut und Patient oder den Fortbestand unrealisti- scher Erwartungen. Hollywood oder Lebenshilfe: Nur realistische Hilfen sind dauerhafte Hilfen Welchen Anspruch soll, welchen Anspruch darf Psychotherapie verfolgen? Manche Patienten und Therapeuten verfolgen eine »Hollywood-Perspek­ jjPrinzip 5: Verhaltenstherapie ist handlungsorientiert tive«, in der das Ende der Therapie wie das Happy End eines Filmes sein soll. Die Verhaltenstherapie setzt zu ihrem Gelingen eine aktive Nach erfolgreicher Heilung verschwindet der Patient in sein Leben, wie der ­Beteiligung des Patienten voraus. Bloße Einsicht ist keine hin­ siegreiche Cowboy von der Leinwand. Obwohl es mittlerweile eine aner­ reichende Bedingung für die Veränderung »eingefahrener« kannte Trivialität ist, dass etwa Liebesfilme regelmäßig dann enden, wenn die Beziehungen und damit auch neue Herausforderungen beginnen, zeigt ­Probleme. Die Verhaltenstherapie erschöpft sich daher nicht in das Bild vom ewigen Glück gerade im »Psychosektor« eine erstaunliche Diskussion und Reflektion von Problemen, sondern motiviert Persistenz. Weitreichende explizite oder implizite Versprechungen von­ ­ den Patienten zum aktiven Erproben von neuen Verhaltens- bzw. einer völligen Umgestaltung der Persönlichkeit, von völliger Problem­ Erlebensweisen und Problemlösestrategien. freiheit, »implodierenden Symptomen«, immerwährendem Glück oder 1.2 · Was macht Verhaltenstherapie aus? 7 1 schmerzloser Lebensbewältigung sind jedoch nicht nur unrealistisch, sie Prinzip 1: Suche nach Gesetzmäßigkeiten Das Ziel wissenschaft- sind in der Regel auch schädlich. Enttäuschte Hoffnungen verbittern beson­ licher Arbeit besteht im Auffinden von Gesetzmäßigkeiten, die ders. Gemessen am Hollywood-Standard erscheinen eigene Leistungen und eine Beschreibung und Erklärung des Untersuchungsgegen­ Erfahrungen als Misserfolge und man selbst als Versager. Das Verfolgen von Schimären lenkt von einer realistischen Lebensbewältigung ab und ver­ standes erlauben. Die »Gesetze« müssen nicht deterministisch schwendet Energien, die anderswo erfolgversprechender eingesetzt werden sein, auch probabilistische Aussagen werden anerkannt. In der können. Je mehr man sich auf Heilsversprechen einlässt, umso unselbst­ Regel werden verschiedene Klassen von Ursachen unterschie- ständiger wird man. Psychotherapie kann aber nicht lebenslanges »An-­ den, wobei funktionale Beziehungsgefüge traditionell die größte die-Hand-Nehmen« bedeuten. Das realistische Therapieziel heißt daher Aufmerksamkeit finden (7 Abschn. 1.2.4). Problembewältigung und Hilfe zur Selbsthilfe. Auch bei komplexen ­ ­Problemkonstellationen kann es bestenfalls darum gehen, neue Bewälti­ gungsmöglichkeiten zu vermitteln und Angelpunkte zu identifizieren, um Prinzip 2: Beobachtbarkeit Nur beobachtbare Ereignisse oder bestehende Systeme aufzubrechen. Psychotherapie kann dazu beitragen, Phänomene, die regelhaft mit beobachtbaren Anzeichen das Schwimmen zu lernen, das Schwimmen selbst kann einem jedoch ­verknüpft sind, können zum Gegenstand wissenschaftlicher ­niemand abnehmen. Analysen werden. Dies bedeutet jedoch nicht die Beschränkung auf beobachtbares motorisches Verhalten als ausschließlichem Gegenstand der Psychologie. Heutzutage sind Erleben und 1.2.3 Methodologisches Grundverständnis ­Verhalten der allgemein anerkannte Gegenstand des Faches. ­Interessanterweise hat selbst Skinner (1974) die Introspektion Verhaltenstherapie versteht sich als angewandte Wissenschaft, nicht als Methode abgelehnt, wenn sie der obigen Forderung wobei das zugrunde liegende Wissenschaftsverständnis maßgeb- ­genügte. lich von Fragen der Methodologie geprägt ist. Die Methodologie ist die Lehre von den wissenschaftlichen Methoden. Als der Teil Prinzip 3: Operationalisierbarkeit Für die Erfassung der Unter- der Logik, der sich mit Fragen der Forschungslogik befasst, ist die suchungsgegenstände müssen explizite Messvorschriften vor­ Methodologie ein zentraler Gegenstandsbereich der Wissen- liegen. Theoretische Konstrukte müssen demnach operationali- schaftstheorie. siert werden, d. h. es muss angegeben werden, in welcher Weise sie in erfassbaren Variablen abgebildet werden. >> Häufig mit der Methodologie verwechselt wird die ­Methodik. Diese betrifft jedoch das konkrete Handwerks- Prinzip 4: Empirische Testbarkeit zeug für das praktische Vorgehen (z. B.: Wie plane ich ein Hypothesen müssen prinzipiell empirisch testbar sein, sie Experiment? Welche statistischen Verfahren sind für ­müssen also sensitiv für die Erfahrung sein. Immunisierungs- ­welche Probleme geeignet? etc.). Im Gegensatz dazu strategien, die theoretische Aussagen unwiderlegbar machen macht die Methodologie Aussagen über die Logik der sollen, sind prinzipiell abzulehnen, da sie jeden möglichen ­Methoden (z. B.: Was ist eine Hypothese? Was ist das Ziel ­Erkenntnisfortschritt ausschließen. Das Testen von Hypothesen wissenschaftlicher Forschung? etc.). kann sowohl durch Bestätigen als auch durch Widerlegen Die verhaltenstherapeutische Methodologie wird zumeist als ­erfolgen. Unter dem Einfluss Poppers hat dabei vor allem das methodologischer Behaviorismus bezeichnet. Dieser darf nicht Kriterium der Falsifizierbarkeit allgemeiner Hypothesen (»Für mit anderen Spielarten des Behaviorismus gleichgesetzt werden alle X gilt …«, z. B.: »Alle psychischen Störungen sind erlernt«) (7 Welcher Behaviorismus darf’s sein?). Die Grundprinzipien­ große Bedeutung erlangt. Relevant ist aber auch die Verifikation des methodologischen Behaviorismus werden von Westmeyer von Existenzhypothesen (»Es gibt manche Y, für die gilt …«, z. B.: (1984, 2005) und Reinecker (1994) folgendermaßen zusammen- »Manche Phobien werden durch klassische Konditionierung gefasst: ­erworben«). Exkurs Welcher Behaviorismus darf’s sein? Die Bezeichnung Behaviorismus war von 55 Der metaphysische Behaviorismus lehnt 55 Im Gegensatz zu den anderen beiden ­Anfang an auch ein Kampfbegriff. Geprägt von die Existenz eines Bewusstseins bzw. ­Varianten definiert sich der methodolo­ Watson zur Durchsetzung seiner Auffassung ­psychischer Ereignisse ab. Gegenstand gische Behaviorismus nicht durch Aus­ von Psychologie, wurde der Begriff später eher der psychologischen Wissenschaft ist aus­ sagen über die Existenz psychischer von Gegnern des Behaviorismus verwendet. schließlich das beobachtbare Verhalten ­Phänomene, sondern lediglich über ­die Dabei ging oft unter, dass es nicht den einen (Vertreter z. B. Watson). Festlegung methodologischer Prinzipien, Behaviorismus gab, sondern dass hier sehr ver­ 55 Der radikale Behaviorismus (auch mit deren Hilfe wissenschaft­liches von schiedene Positionen miteinander konkurrier­ ­analytischer Behaviorismus) ist eine ­unwissenschaftlichem Vorgehen abge­ ten (für die Diskussion eines Beispiels vgl. ­Spielart des radikalen Materialismus, ­ grenzt werden kann. Der methodolo­ Westmeyer 2005). Im Handbook of Behaviorism nach dem Welt nur aus einem Stoff, gische Behaviorismus ist heute die Mehr­ sind nicht weniger als 14 solcher Positionen ­nämlich der ­Materie, besteht. Geistige heitsströmung der e ­ mpirischen Psycho­ vertreten (O’Donohue und Kitchener 1999). Phänomene werden als bloße sprach­liche logie, der beispielsweise auch ­Vertreter Weit verbreitet ist die Unterscheidung der Illusion ­angesehen (Vertreter z. B. des Kognitivismus anhängen. ­folgenden drei Grundpositionen: ­Skinner). 8 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung Prinzip 5: Experimentelle Prüfung Die grundsätzlich beste salutogenen Faktoren einerseits und pathogenen Faktoren ande- 1 ­ ethode zur Überprüfung von Annahmen bietet das kontrol- M rerseits (Margraf 2005). Bei den pathogenen Faktoren können lierte Experiment, womit jedoch nicht notwendigerweise nur wir zudem sinnvollerweise zwischen Vulnerabilitäts-, auslösen- Laborexperimente gemeint sind. Aus ethischen ebenso wie aus den und aufrechterhaltenden Faktoren unterscheiden (»Drei- forschungspraktischen Gründen sind dem experimentellen Faktoren-Modell«, Margraf 1996). Im Einzelnen können­ ­Vorgehen in der klinischen Forschung enge Grenzen gezogen. diese Klassen ursächlicher Faktoren dann wie folgt beschrieben Häufig können wichtige Variablen nicht willkürlich variiert werden: ­werden, wie es in einem echten Experiment gefordert wäre. So ist es ethisch nicht vertretbar, psychische Störungen für experimen- Prädispositionen (auch Vulnerabilität, Diathese, Anfällig- telle Zwecke auszulösen. Allenfalls können vorübergehend keit) Vor­existierende genetische, somatische, psychische oder schwache experimentelle Analogien zu pathologischen Zustän- soziale Merkmale machen das Auftreten einer Störung möglich den induziert werden (z. B. Halluzinationen, sensorische Depri- bzw. wahrscheinlicher. Grundsätzlich kann zwar so gut wie jeder vation, Angstzustände, manipulierte Misserfolgsrückmeldung), Mensch eine Depression oder eine Abhängigkeit entwickeln, wobei sich jedoch in jedem Fall die Frage nach der akzeptablen aber eben nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit. Manche Grenze stellt. Aber auch der Versuch, psychische Störungen im Menschen sind anfälliger für psychische Probleme, andere dage- Rahmen der Therapieforschung zu beseitigen, erscheint nur auf gen resistenter. den ersten Blick ethisch unbedenklicher. So können etwa Perso- nen mit psychischen Störungen nicht ohne ihre Einwilligung Auslösende Bedingungen Vor dem Hintergrund einer indivi­ einer bestimmten Therapiebedingung zugeordnet werden. Es duellen Vulnerabilität lösen psychische, somatische oder soziale muss daher oft auf quasi-experimentelle Designs zurückge­ Bedingungen (Belastungen, Erfahrungen, Ereignisse, »Stress«) griffen werden. das Erstauftreten einer Störung aus. Halten die ursprünglich aus- lösenden Belastungen an, so können sie darüber hinaus die Funktion aufrechterhaltender Faktoren übernehmen. 1.2.4 Ätiologisches Grundverständnis Aufrechterhaltende Bedingungen Falsche Reaktionen (des Auch wenn Entstehung und Behandlung einer Störung durchaus ­ etroffenen oder der Umwelt) oder anhaltende Belastungen ver- B auf verschiedenen Prozessen beruhen können, so ist ein ange- hindern das rasche Abklingen der Beschwerden und machen das messenes Grundverständnis der Ätiologie psychischer Störun- Problem chronisch. Die aufrechterhaltenden Bedingungen ent- gen doch eine wesentliche Basis für die Entwicklung und Erklä- scheiden demnach wesentlich über den weiteren Verlauf nach rung von Therapien. Dabei geht es keineswegs nur um kausale dem Erstauftreten eines Problems. Therapien. Auch prophylaktische, symptomatische oder Substi- tutionstherapien können von einer genauen Kenntnis der Gesundheitsfördernde und schützende Bedingungen Emotio­ ­Ätiologie profitieren. Aber wie genau sind unsere Kenntnisse nale Stabilität, soziale Unterstützung, tragfähige Beziehungen, die über die Ursachen psychischer Störungen? Genau besehen, Wahrnehmung von Sinnhaftigkeit, Problemlösefähigkeiten, sozi- ­wissen wir erstaunlich wenig. Die meisten unserer Befunde blei- ale Kompetenz und Kommunikationsfertigkeiten sind Beispiele ben auf der Ebene von Korrelationen. Dennoch können wir auch für Faktoren, die unsere Gesundheit fördern bzw. vor der Ent- bei unserem derzeitigen unbefriedigenden Kenntnisstand einige wicklung von Krankheiten schützen. Salutogene Faktoren kön- wichtige grundlegende Aussagen über die allgemeine Natur ätio- nen auf alle drei Klassen von pathogenen Faktoren ein­wirken. logischer Prozesse bei psychischen Störungen machen. Selbst- Eine grafische Veranschaulichung des Beziehungsgeflechts verständlich müssen diese allgemeinen Aussagen dann später für zwischen diesen großen Klassen ätiologischer Faktoren gibt die vielen verschiedenen Störungen und Probleme konkretisiert. Abb. 1.1. werden. Im Allgemeinen unterschätzen Kliniker die Bedeutung ­salutogener und schützender Prozesse und überschätzen die Ursache ist nicht gleich Ursache Die Zeit der großen monistischen Theorien zur Erklärung aller psychischen ­Bedeutung pathogener Bedingungen. Zudem setzen die ver- Störungen ist vorbei. Schon lange ist klar, dass derart komplexe Phänomene schiedenen Berufsgruppen unterschiedliche Schwerpunkte. Die nicht durch simplistische oder reduktionistische »Lösungen« erklärt werden Verhaltenstherapie konzentrierte sich ursprünglich neben den können. Heute beherrschen Schlagworte wie »biopsychosozialer Ansatz« auslösenden vor allem auf die aufrechterhaltenden Faktoren.­ oder »Vulnerabilitäts-Stress-Modell« die Debatte, müssen sich aber des Im Gegensatz dazu betonten psychiatrische und biologische ­Vorwurfs einer zu großen Beliebigkeit oder einer mangelnden Konkretheit erwehren. Die Verhaltenstherapie versucht, spezifische Konstellationen bei Theoretiker besonders die Vulnerabilität, Umwelttheoretiker spezifischen Störungen zu identifizieren, die als klinisch auffallende Verhal­ wiederum stärker die auslösenden Bedingungen. tensweisen bzw. psychische Syndrome mit Leiden oder Funktionseinschrän­ Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissen wir am besten über kungen auf der Verhaltens-, Erlebens-, körperlichen oder sozialen Ebene aufrechterhaltende Faktoren Bescheid und am wenigsten über aufgefasst werden. Dabei ist es wichtig, zwischen verschiedenen Arten von die Bestandteile und Mechanismen der Vulnerabilität. Natürlich »Ursachen« zu unterscheiden und deren Bedeutung als Ansatz für therapeu­ tische Veränderung zu untersuchen. ist es aus ätiologischer Perspektive unbefriedigend, dass wir so wenig darüber wissen, wie pathogene Entwicklungen überhaupt Grundsätzlich entstehen psychische Störungen bei einer negati- in Gang kommen bzw. wie und warum die Balance zwischen ven Balance zwischen gesundheitsfördernden, schützenden und salutogenen und pathogenen Einflüssen ins Negative umschlägt. 1.2 · Was macht Verhaltenstherapie aus? 9 1 55Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskel­ relaxation), 55operante Methoden (z. B. positive Verstärkung, ­Löschung, Response-Cost, Time-out, Token Economies), 55kognitive Methoden (z. B. Selbstinstruktionstraining, Problemlösetraining, Modifikation dysfunktionaler ­Kognitionen, Reattribution, Analyse fehlerhafter Logik, Entkatastrophisieren), 55Achtsamkeit, 55Schematherapie, 55Kommunikationstrainings, 55Training sozialer Kompetenz, 55Selbstkontrollverfahren. 44Störungsspezifische Therapieprogramme, die möglichst..Abb. 1.1 Das Grundmodell der Ätiologie psychischer Störungen (Margraf ­genau auf die speziellen Gegebenheiten der verschiedenen 1996, 2005) unterscheidet vier Klassen ätiologischer Faktoren: Pathogene Störungsbilder zugeschnitten sind. Solche Programme Faktoren sind in grauer, salutogene Faktoren in blauer Farbe hinterlegt ­wurden mittlerweile für die meisten psychischen Störungen entwickelt und überprüft. Sie bauen idealerweise auf Aus therapeutischer Sicht dagegen sind die aufrechterhaltenden ­psychologischem Störungs- und Veränderungswissen auf. Faktoren von zentraler Bedeutung als Ansatzpunkt für Verände- Zu den am weitesten verbreiteten Programmen zählen rungen. Wir wollen ja die Zukunft verändern und nicht die Ver- ­diejenigen für Angststörungen, Depressionen, Borderline- gangenheit. Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie-Rückfallprophylaxe, Dieses »Grundmodell« bietet keine allumfassende Erklärung Essstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, Partnerschafts- psychischer Störungen. Stattdessen stellt es einen Denkansatz probleme sowie Ausscheidungsstörungen, Hyperaktivität bzw. eine Heuristik dar, die bei der ätiologischen Forschung und und Aggressivität bei Kindern. der Bewertung möglicher Ansatzpunkte für das therapeutische Vorgehen ebenso wie bei der Erstellung individueller Genese­ Vor allem für die beiden letzten Gruppen von Verfahren existie- modelle hilfreich ist. Die verschiedenen Klassen von Ursachen ren in der Regel hinreichende empirische Effizienznachweise können zusammenfallen oder auch völlig auseinanderklaffen, sie und Therapiemanuale mit konkreten Beschreibungen des prak- können mehr oder weniger veränderbar sein etc. Beispielsweise tischen Vorgehens. Alle Verfahren werden in späteren Kapiteln können häufig Prädispositionen nicht verändert und auslösende des Lehrbuches genauer dargestellt. Stressoren oder Traumata nicht rückgängig gemacht werden, wohingegen der Modifikation der aufrechterhaltenden Bedin- gungen größte Bedeutung für das zukünftige Befinden zukommt. 1.2.6 Indikationsbereiche Die Verhaltenstherapie setzt daher häufig genau hier an (z. B. Abbau von Vermeidungsverhalten bei phobischen Patienten, Der letzte wichtige Aspekt, anhand dessen die Verhaltensthera- Training sozialer Kompetenzen bei schizophrenen oder depres- pie charakterisiert werden muss, beinhaltet ihren spezifischen siven Patienten). In dem Sinne, in dem eine Behandlung an einer Umgang mit der Indikationsfrage (7 Bd. I/Kap. 10). Da die voll- oder mehrerer dieser ursächlichen Klassen von Problembe­ ständige Frage der differenziellen Indikation aus forschungs- dingungen ansetzt, kann sie als mehr oder minder »kausal« praktischen Gründen experimentell nicht befriedigend gelöst ­angesehen werden. werden kann, betrachtet die Verhaltenstherapie in der Praxis ­lösbare Teilaspekte dieser Frage. Bei gegebener Psychothera- pieindikation betrifft dies die Auswahl eines für die vorliegende 1.2.5 Verfahren spezifische Störung geeigneten Therapieverfahrens und dessen Anpassung an den Einzelfall. In diesem Kontext ist die Entwick- Die Konzeptualisierung von Verhaltenstherapie als psychothera- lung störungsspezifischer Psychotherapieverfahren, die auf peutischer Grundorientierung geht auch auf die große Zahl an ­breiter Front empirisch validiert wurden (vgl. 7 Abschn. 1.4.2), therapeutischen Methoden zurück, die sie auszeichnen. Dabei eine bedeutsame Errungenschaft der Verhaltenstherapie. Sowohl können drei Gruppen von Verfahren unterschieden werden: die Frage nach dem optimalen therapeutischen Vorgehen­ 44Basisfertigkeiten wie Gesprächsführung, Beziehungsge­ bei e­ iner gegebenen Störung als auch das Anbieten konkreter staltung und Motivationsarbeit. Alternativen bei störungs- und problembezogenen Indikations- 44Störungsübergreifende verhaltenstherapeutische Maßnah- entscheidungen sind spezifische Charakteristika der Verhaltens- men, die jeder Verhaltenstherapeut flexibel in den jeweiligen therapie. Behandlungsplan einfügen können muss. Hierzu zählen u. a. Durch die Entwicklung spezifischer Therapieverfahren ist­ 55Konfrontationsverfahren (z. B. Reizüberflutung, Habi­ es möglich geworden, aus der nosologischen Einordnung der tuationstraining, Reaktionsverhinderung, systematische Patienten direkt Folgerungen für die Art des indizierten thera- Desensibilisierung), peutischen Vorgehens zu ziehen. Damit steht dem Praktiker eine 10 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung unter »Alltagsbedingungen« praktikable Lösung der Indika­ 1 tionsfrage zur Verfügung, wenngleich jeweils eine flexible ­Anpassung an den konkreten Einzelfall erfolgen muss. Die Ent- scheidung für ein bestimmtes Verfahren setzt eine kompetente Diagnosestellung voraus, die zunächst eine klassifikatorische Einordnung beinhaltet (7 Bd. I/Kap. 17). Eine anschließende ­Problemanalyse bietet dann die Grundlage für die individuelle Anpassung des gewählten Verfahrens (7 Bd. I/Kap. 18). Die Er- gänzung von klassifikatorischer Diagnostik und der individuel- len Analyse des vorliegenden Problems ist somit die Grundlage, auf welcher in der verhaltenstherapeutischen Praxis sinnvolle und problemadäquate Indikationsentscheidungen g­ etroffen wer- den können. Der zweite Band des vorliegenden Lehrbuches mit seinen Störungskapiteln gibt genauere Auskunft zur Indikations- frage in der Verhaltenstherapie. a b..Abb. 1.2 a Arnold Allan Lazarus verwendete 1958 als Erster den Begriff »behaviour therapy« in einer Fachzeitschrift, b Mary Cover Jones legte 1.3 Historische Entwicklung ­bereits 1924 eine »verhaltenstherapeutische« Fallstudie zur Angstbehand­ lung vor. (Foto Lazarus: © Clifford N. Lazarus; Foto Cover Jones: © G. Paul Bishop at gpaulbishop.com) 1.3.1 Ausgangspunkte und Vorläufer Die Verhaltenstherapie entstand aus der Anwendung experimen- talpsychologischer Prinzipien auf klinische Probleme. Ihr Dynamik bis heute keine Parallele im Bereich der Psychotherapie Wachstum war eng verbunden mit der Entwicklung der klini- hat (. Abb. 1.2). schen Psychologie als einer angewandten Wissenschaft. Wenn- gleich es vereinzelt frühere klinische Anwendungen gegeben hatte (7 Frühe klinische Anwendungen), entstand eine größere 1.3.2 Die »Gründungsphase« Bewegung doch erst um die Mitte dieses Jahrhunderts, als zwei Bedingungen zusammentrafen: Während England und die USA weithin als Ursprungsländer der 44Zum einen war die enorme Produktivität der Grund­ Verhaltenstherapie anerkannt werden, wird der Beitrag Süd­ lagenforschung zu lerntheoretischen Erklärungen klini- afrikas noch immer unterschätzt. Dabei begannen viele der scher ­Phänomene unübersehbar geworden (z. B. Mowrers Gründungspersönlichkeiten ihre Karriere in diesem Land. Auch Zwei-Faktoren-Theorie phobischer Ängste, die Forschung die erste Verwendung des Begriffes »behaviour therapy« in einer zu ­experimentellen Neurosen, Solomons und Wynnes wissenschaftlichen Fachzeitschrift erfolgte im South African ­Arbeiten zur traumatischen Konditionierung, Dollards und ­Medical Journal (Lazarus 1958). Seit Ende der 40er und während Millers lernpsychologische Experimente zu ursprünglich der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts versuchte Joseph Wolpe psychoanalytischen Konzepten). Diese Befunde verlangten an der Universität von Witwatersrand Lerntheorie und Neuro- gera­dezu nach einer Umsetzung und Bewährung in der physiologie zusammenzuführen, ein Ansatz, der seiner Aus­ ­Praxis. bildung als Arzt mit zentralem Interesse an Lernpsychologie 44Zum anderen war auch die Kritik an der geringen Effek­ entsprach. Wolpe war unmittelbar von den amerikanischen tivität der bis dahin vorliegenden psychotherapeutischen ­Arbeiten Massermans zu experimentellen Neurosen und Salters (d. h. weitgehend tiefenpsychologischen) Verfahren und zum »self-assertiveness training« beeinflusst worden. In Süd­ ­deren mangelhafter empirischer Basis unüberhörbar afrika arbeitete er mit Psychologen wie Stanley Rachman und ­geworden (vor allem Eysencks Kritik an der Psychoanaly- Arnold Lazarus zusammen, die gemeinsam mit ihren Lands­ se). Eine d ­ erart fundamentale Kritik warf sofort die Frage leuten G. Terence Wilson und Isaac Marks zu den wichtigsten nach ­Alternativen auf, die selbstverständlich von den Mitbegründern der Verhaltenstherapie gehören. In dieser so harsch Angegriffenen besonders kritisch betrachtet ­Gruppe wurden nicht nur die experimentellen Forschungsarbei- ­wurden und denen damit besondere Aufmerksamkeit zu- ten diskutiert, sondern es wurden auch Therapien durch die teilwurde. ­Einwegscheibe beobachtet und in supervisionsartiger Form ­besprochen. Genau in dieser Zeit berichteten Arbeitsgruppen in Südafrika, Bei seinen Forschungen zu »experimentellen Neurosen« bei England und den USA zunächst unabhängig voneinander über Katzen entwickelte Wolpe neue Techniken zur Eliminierung große Erfolge mit lernpsychologisch fundierten Maßnahmen bei ­experimentell erzeugter Furcht und Vermeidung. Ausgehend der Bewältigung von Ängsten und anderen Problemen. Zusam- von der Überlegung, dass konditionierte Furcht und Futter ant- men mit den beiden bereits genannten Faktoren gaben diese auf- agonistisch oder reziprok hemmend seien, folgerte er, dass Futter sehenerregenden Erfolge der neuen, zunächst experimentellen benutzt werden könnte, um die in spezifischen Situationen Methoden den Anstoß für eine Entwicklung, deren Breite und ­entstehende Furcht zu reduzieren. Wolpe (1954, 1958) demons- 1.3 · Historische Entwicklung 11 1 Exkurs Frühe klinische Anwendungen Der kleine Peter – ein großer Unbekannter ­ ehandelte Peter, indem sie ihn mit anderen b fach als »Mutter der Verhaltenstherapie« Liest man das vielleicht berühmteste Beispiel Kindern zusammenbrachte, die keine Angst ­bezeichnet wurde. einer Anwendung behavioraler Prinzipien auf vor Kaninchen äußerten. Peter spielte jeden das Problem der klinischen Angst, so kann man Tag mit drei anderen Kindern, wobei während Wenn die Matte klingelt … – Ein Vorläufer sich eines gewissen Schauders nicht ­erwehren. eines Teils der Spielzeit ein Kaninchen anwe­ des Biofeedbacks Im Jahr 1920 berichteten Watson und Rayner send war. ­Peters anfänglich starke Angst­ In den späten 1930er Jahren erfand das Ehe­ von Konditionierungsversuchen an »Little reaktion nahm kontinuierlich ab, bis er schließ­ paar Mowrer eine Behandlungsmethode für ­Albert«, einem 11 Monate alten ­Kind. Die Auto­ lich ruhig und unbeteiligt das Kaninchen die Enuresis nocturna, das Einnässen während ren riefen eine konditionierte Angstreaktion ­anschauen konnte. Als Peter nach einer aus­ des Schlafes. Sie betrachteten Enuresis als Aus­ auf eine weiße Ratte hervor, i­ndem sie die kurierten Krankheit von einer Kranken­ bleiben der Aufwachreaktion des Patienten ­Erscheinung der Ratte mit einem lauten Ge­ schwester mit dem Taxi vom Krankenhaus auf die Blasendehnung. Folgerichtig war ihre räusch verbanden. Diese konditionierte Angst nach Hause gebracht werden sollte, erlebte e ­r Behandlung darauf ausgerichtet, die Blasen­ übertrug sich auf ähnliche Reize wie etwa das einen Rückfall. Während sie in das Taxi ein­ dehnung (Beginn des Einnässens) mit dem weiße Haar eines der Forscher oder auf Baum­ steigen wollten, lief ein großer Hund auf sie zu Wecken und der nachfolgenden Kontraktion wolle, dagegen nicht auf ­andersgeartete Reize. und sprang sie an. Beide e ­ rschreckten sich des Schließmuskels zu verbinden. Schon nach Über eine anschließende Beseitigung der will­ sehr. Jones machte für den Rückfall die folgen­ wenigen Versuchen zog die Blasendehnung kürlich erzeugten Angst wird jedoch nichts den Variablen verant­wortlich: eine fremde auf dem Wege einer gelernten Reaktion »von ­berichtet – eine Unter­lassung, die nicht nur für ­Umgebung, ein aversiver Stimulus (ein Hund) selbst« eine Schließmuskelkontraktion nach Psychotherapeuten, sondern auch für jede und ein ängstliches E­ rwachsenen-Modell. ­ sich, und das Einnässen unterblieb. Das Ethikkommission im Rahmen moderner For­ Sie änderte ihre Therapiestrategie und ­Wecken konnte von einer elektrischen schungsbegutachtung inakzeptabel wäre. ­konfrontierte Peter von nun an direkt mit dem ­»Klingelmatte«, die auf Feuchtigkeit ansprach, Allerdings stimulierte dieser berühmt-berüch­ Kaninchen, während er in seinem Hochstuhl effektiv und ohne unangenehme emotionale tigte Bericht nur wenig später die erste saß und seine Lieblings­speisen aß. Das »Nebenwirkungen« (z. B. Scham) übernommen ­wissenschaftliche Arbeit, die im engeren Sinne ­Kaninchen wurde hierbei ­zunehmend an werden (Mowrer und Mowrer 1938). Die Arbei­ als verhaltenstherapeutisch bezeichnet ­Peters Stuhl angenähert. Auch bei diesem ten des Ehepaars Mowrer waren nicht nur im ­werden kann. 1924 veröffentlichte Mary Cover ­Behandlungsteil wurden nichtängstliche Hinblick auf ihre eindrucksvollen Therapie­ Jones eine detaillierte Einzelfallstudie, in der ­Kinder herangezogen, die vor den Augen erfolge wichtig, sondern auch deshalb, weil es nun nicht um die Erzeugung, sondern um ­Peters mit dem Kaninchen spielten. Schon Definition und Behandlung der Enuresis im die Behandlung einer kindlichen Tierphobie bald konnte Peter ein Kaninchen auf den Arm Rahmen einer behavioralen Konzeption neu ging (Jones 1924a, b). Peter war bei Beginn der nehmen, ohne eine Angstreaktion zu zeigen. waren. Auch wenn die Therapie der Enuresis Therapie 2 Jahre und 10 Monate alt. Er ent­ Die Ähnlichkeit dieser Methoden mit den seither fortgeschritten ist, waren die konse­ wickelte plötzlich eine Angst vor weißen ­später von Wolpe (systematische Desensibili­ quente theoretische Analyse und die empi­ ­Ratten, Kaninchen, Pelzmänteln, einer Feder sierung) und Bandura (»participant model­ risch fundierte Umsetzung in die Praxis der und Baumwolle. Jones explorierte, dass Peter ling«) entwickelten Verfahren sind so Mowrers ein Modell für spätere Entwicklungen die meiste Angst vor Kaninchen hatte. Sie ­bemerkenswert, dass Mary Cover Jones mehr­ in der Verhaltenstherapie. trierte dies mit Erfolg an seinen Versuchstieren, indem er sie in g­ efürchteten Situationen Schritt für Schritt und unter Aufrecht- immer geringerer Entfernung von der Stelle fütterte, an der erhaltung der Entspannung zu durchleben. Ursprünglich ­ursprünglich mit einem elektrischen Schock ihre Furchtreaktion ­benutzte Wolpe Konfrontation in vivo (d. h. in der wirklichen konditioniert worden war. In einem Artikel mit dem wenig Lebenssituation), ging dann aber zu imaginativen Situationen ­bescheidenen Titel »Reciprocal Inhibition as the Main Basis of über, da diese besser kontrollierbar und leichter zu verwirklichen Psychotherapeutic Effects« (1954) postulierte er reziproke waren. Ergänzend bearbeiteten die Patienten zwischen den ­Hemmung als allgemeingültiges Prinzip: Eine Angstreduktion ­Sitzungen umfassende Hausaufgaben in vivo. Dieses Vorgehen wird erreicht, wenn angstauslösende Reize zusammen mit nannte er systematische Desensibilisierung und beschrieb es in ­solchen Reizen vorgegeben werden, die eine dominierende ant- seinem einflussreichen Buch Psychotherapy by Reciprocal Inhibi- agonistische Reaktion auf Angst (die reziproke Hemmung) her- tion, das auf Empfehlung von Albert Bandura 1958 von der vorrufen. Um sicher zu sein, dass die Hemmung stärker war, gab ­Stanford University Press in den USA publiziert wurde. Die er die angstauslösenden Reize stufenweise mit ansteigendem ­systematische Desensibilisierung wurde die wohl berühmteste Schweregrad vor (die sog. Angsthierarchie). Methode der Verhaltenstherapie, wenngleich für viele Probleme Bei der Anwendung seiner Forschungsergebnisse auf mittlerweile effektivere Verfahren vorliegen und auch die Theo- ­Menschen zog Wolpe hauptsächlich drei Reaktionsbereiche in rie der reziproken Hemmung inzwischen erschüttert wurde Betracht, die reziprok hemmend wirken könnten: sexuelle Reak- (7 Bd. I/Kap. 27). Wolpes Formulierung einer Theorie auf der tionen, assertive (selbstsichere) Reaktionen und Entspannungs- ­Basis von nachprüfbaren Hypothesen mit dem Ziel einer klar reaktion. Am weitesten verbreitet war eine modifizierte Version definierten Behandlungsstrategie für ausführlich dargestellte von Jacobsons (1938) progressiver Muskelrelaxation, von der ­klinische Anwendungsbereiche hat einen beträchtlichen Einfluss Wolpe glaubte, dass sie ähnliche neurophysiologische Wirkun- auf die Entwicklung der Verhaltenstherapie ausgeübt. Darüber gen wie das Essen hätte. Um Furchtreaktion durch reziproke hinaus setzten die entscheidenden Personen der südafrikani- Hemmung abzubauen, brachte Wolpe seinen Patienten zunächst schen behavioralen Szene ihre Arbeit später in England und den die Entspannungstechnik bei und ermutigte sie dann, ihre USA fort. 12 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung Wolpes Veröffentlichungen fielen zeitlich mit der massiven und effektivste Bestandteil sei. Ein Grund, weshalb verhaltens- 1 Kritik an der Effektivität des psychoanalytischen Ansatzes therapeutische Ansätze zur Angstreduktion so rasch an Einfluss ­zusammen. Insbesondere Eysencks (1952) kontroverse Argu- gewannen, war die Tatsache, dass ihre Effektivität in kontrollier- mentation, wonach die von der Psychotherapie erreichten Besse- ten Versuchen (z. B. Paul 1966) systematisch untersucht wurde. rungsraten nicht höher seien als diejenigen, die man ohne »Aversionstherapie«: Nur Sackgasse oder schon Irrweg? ­Behandlung erzielen würde (»Spontanremission«), war Anlass Mit Hilfe eines Umkehrschlusses versuchten die frühen Verhaltenstherapeu­ für heftige Debatten. Folgerichtig stand die europäische Wiege ten, die Logik der so erfolgreichen Angstreduktionsverfahren auf die der Verhaltenstherapie denn auch am Wirkungsort Eysencks. Behandlung von Alkoholproblemen und abweichendem sexuellen Ver­ ­ Direktor des berühmten Institute of Psychiatry am Londoner halten zu übertragen. Sie wollten »unerwünschte« Verhaltensweisen durch die Kopplung mit willentlich erzeugter Angst abbauen. Bei dieser sog. Aver­ Maudsley Hospital war mit Aubrey Lewis ein Verfechter des sionstherapie wurden Stimuli, Gedanken oder Verhaltensweisen, die zu der ­Wertes der psychologischen Forschung für die Psychiatrie. Im unerwünschten Reaktion gehörten, mit einem aversiven Reiz wie einem Jahr 1950 berief er Eysenck zum ersten Leiter einer psycho­ elektrischen Schock verbunden. Nach mehreren Versuchen dieser Art sollte logischen Abteilung dieses nicht nur in England führenden der ursprüngliche Stimulus eine konditionierte Angst ähnlich der Reaktion ­Institutes. Dort interessierten sich bald Institutsmitarbeiter wie auf den aversiven Reiz hervorrufen. Ethische Bedenken und mangelnde ­Effektivität machten diesen Ansatz jedoch rasch obsolet (Rachman und Gwynne Jones, Victor Meyer, Aubrey Yates und M. B. Shapiro für ­Teasdale 1969). Obwohl sie für die Verhaltenstherapie allenfalls eine margi­ die Anwendung von Konditionierungstheorien auf psychologi- nale Rolle spielte, hat die Aversionstherapie eine nachhaltige negative sche Probleme. Diese Gruppe kannte auch die Veröffentlichun- ­Stigmatisierung des damals noch jungen Ansatzes bewirkt. Eine besonders gen Wolpes, weniger allerdings die operanten Arbeiten Lindsleys spektakuläre künstlerische Kritik der Aversionsmethode gab Stanley Kubrick in den USA. Bald wurden die zunächst rein diagnostisch aus­ in seinem Film »Clockwork Orange«. gerichteten Einzelfallexperimente und theoretischen Seminare Neben der Angstbehandlung wurden so verschiedenartige Pro- auf therapeutische Themen ausgedehnt. Bereits 1957 wies Meyer bleme wie Schreibkrampf, Tics oder Stottern behandelt. Dabei auf die Bedeutung einer guten Beziehung zwischen Therapeut waren vor allem die Veröffentlichungen Shapiros (1961) zur und Patient für Übungen in vivo hin. ­experimentellen Einzelfallmethodik ein wichtiges Antriebs­ element. In der Regel beruhen Einzelfalluntersuchungen auf Anfang beim Kaffeetrinken Die erste klinische Anwendung eines verhaltenstherapeutischen Ansatzes ­einer Serie von Messungen bei einer klinisch relevanten Variab- am Maudsley Hospital ergab sich zufällig (Schorr 1995). Beim Kaffeetrinken len in regelmäßigen Intervallen (Zeitreihe). An einem vorher­ mit einem Medizinstudenten sprachen Gwynne Jones und M. B. Shapiro bestimmten Punkt in dieser Serie erfolgt eine Intervention, und über eine Patientin, die erfolglos psychotherapeutisch behandelt worden die Auswirkung dieser Intervention wird anhand der Verände- war. Die junge Tänzerin konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben, da sie sehr rungen der Variablen ermittelt. Auf diese Weise kann die häufig urinieren musste und sich mittlerweile sekundäre Angstreaktionen und ein Mangel an Selbstvertrauen eingestellt hatten. Im Gespräch kam die ­Wirkung einer Vielzahl von Interventionsstrategien festgestellt Idee auf, einen neuen Therapieversuch zu unternehmen und zwar mit werden. Später wurden komplexe Versuchspläne entwickelt ­Konditionierungstechniken. Eine Kombination von systematischer Desensi­ (Barlow und Hersen 1984), die es ermöglichten, Einzelfallexpe- bilisierung in vivo für die Hauptbeschwerden und einem schrittweisen rimente als Teil klinischer Alltagsarbeit auf eine große Zahl von In-vivo-Training für die anderen Angstreaktionen außerhalb der Klinik ­ klinischen und wissenschaftlichen Fällen anzuwenden. Obwohl ­brachte einen Therapieerfolg, der auch bei der 5-Jahres-Katamnese noch ­anhielt (Jones 1956, 1960). diese Methode grundsätzlich nicht auf kognitiv-verhaltensthera- peutische Verfahren beschränkt ist, ist sie eine enge Verbindung In den 1960er Jahren wurde die Anwendung von Behandlungen mit diesem Ansatz eingegangen und spielt weiterhin eine Rolle auf Lernbasis am Maudsley Hospital von Rachman vorangetrie- in seiner Fortentwicklung. ben, der zuvor mit Wolpe gearbeitet hatte und nun einen guten Am Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre des letzten Kontakt mit der psychiatrischen Abteilung des Maudsley Jahrhunderts verfügte die Verhaltenstherapie bereits über eine ­Hospitals hatte (Eysenck, persönliche Mitteilung, September breite Palette therapeutischer Möglichkeiten auf der Basis expe- 1995). Rachman spielte auch eine entscheidende Rolle bei der rimentalpsychologischer Erkenntnisse. Diese wurden rasch auch Entwicklung der Aversionstherapie, der Verhaltensmedizin und über den engeren Kreis aktiver Forscher hinaus international insbesondere der Behandlung von Zwangsstörungen. Andere bekannt. Dazu trugen vor allem die Publikationen und die inter- Kollegen an Kliniken in London und Oxford (Warneford Hospi- nationalen Berufungen der Gründungspersönlichkeiten an Uni- tal) wie Gelder, Marks und Mathews entwickelten und überprüf- versitäten und klinische Einrichtungen bei. Das von Eysenck ten Konfrontations- bzw. Expositionsverfahren1 für Phobien. 1960 herausgegebene Buch Behaviour Therapy and the Neuroses Zur gleichen Zeit untersuchten amerikanische Forscher wie beinhaltete bereits Beiträge aus den USA, England, Südafrika ­Davison (1968) den Prozess der Desensibilisierung und anderer und der Tschechoslowakei. Anfang der 1960er Jahre nahmen Techniken zur Angstreduktion im Detail. Sie kamen zu dem Wolpe, Lazarus und Cyril Franks Professuren in den USA an. Schluss, dass Konfrontation in vivo (»exposure«) der wichtigste 1963 gründete Eysenck die Zeitschrift Behaviour Research and Therapy, deren Herausgeberschaft später an Rachman überging. 1 Im Deutschen werden für das englische »exposure« sowohl der Begriff der Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die neue Bewegung auch Konfrontation als auch der der Exposition gebraucht. Im vorliegenden unter dem Begriff »behaviour therapy« bekannt, wenngleich Lehrbuch wird der Konfrontationsbegriff vorgezogen, da er die für die ent­ sprechende Therapie wichtige aktive Beteiligung des Patienten und die alternative Bezeichnungen (z. B. »behavior modification«, ­ Ausrichtung auf Bewältigung besser beschreibt als der möglicherweise ­bevorzugt von den Vertretern des operanten Ansatzes) vorlagen eine eher passive »Aussetzung« nahelegende Begriff der Exposition. oder manche ihrer Vertreter das althergebrachte »Psychothera- 1.3 · Historische Entwicklung 13 1 pie« lediglich durch erläuternde Zusätze ergänzen wollten (z. B. Gruppe hatte ein eigenes Netzwerk an Verbindungen und Publi- Wolpes »psychotherapy by reciprocal inhibition«). kationsmöglichkeiten aufgebaut. Sie verwendeten eine eigene, Wer den Begriff wirklich als Erster prägte, lässt sich jedoch ausgesprochen technizistische Fachsprache und beschränkten kaum entscheiden. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sich streng auf den engen Ansatz Skinners, dessen klinische es keine einzelne Gründerperson gab, sondern dass die Ver­ ­Anwendung sie als angewandte Verhaltensanalyse (»applied haltenstherapie eher als eine Bewegung an mehreren Orten in ­behavioral analysis«) oder als Verhaltensmodifikation ­(»behavior Südafrika, England und den USA zugleich entstand. Aus diesem modification«) bezeichneten. Den Begriff der Verhaltensthera- Grund kann auch kein genauer Zeitpunkt der Entstehung, pie lehnten sie dagegen ebenso wie den des Patienten ab. E ­ ysenck, ­sondern lediglich ein Zeitraum angegeben werden. Die Ent­ Rachman, Wolpe und ihre Kollegen wurden erst Anfang bis stehung als Bewegung auf der Basis der empirischen Psycho­ ­Mitte der 1960er Jahre auf die klinischen Arbeiten der amerika- logie unterscheidet die Verhaltenstherapie von allen anderen nischen operanten Schule aufmerksam. Aber auch danach war Formen der Psychotherapie: Diese wurden regelmäßig von ein- der Kommunikationsfluss zwischen beiden Gruppierungen eher zelnen charismatischen Persönlichkeiten mit mehr oder weni- zögerlich. Die Integration der operanten Verfahren in die ver­ ger großer D ­ istanz zur wissenschaftlichen Psychologie ins haltenstherapeutische Bewegung verlief nicht ohne Probleme. Leben gerufen. In dieser anderen Art der Entstehung ist bereits Bis heute hat sich eine kleine Gruppe von strikt operanten der Kern der künftigen breiten »Grundorientierung« im Gegen- ­Forschern außerhalb der klinisch orientierten Verhaltensthera- satz zu einer engen »Therapieschule« enthalten. Gleichzeitig pie eine eigenständige Tradition bewahrt (»applied behavior kann diese Herkunft auch als wichtiger Schutz vor dogmatischer ­analysis« bzw. »angewandte Verhaltensanalyse«). Erst seit den Erstarrung und ­Garant einer dynamischen Weiterentwicklung 1970er Jahren werden die Begriffe Verhaltenstherapie und Ver- gesehen werden. Besser als die Erfindung lässt sich die Verbrei- haltensmodifikation als austauschbar betrachtet. tung des Etiketts »Verhaltenstherapie« zuordnen. Seine weite >> Insgesamt wird die Bedeutung operanter Verfahren vor Anwendung geht vor allem auf Hans J. Eysenck und Arnold ­allem von Nichtverhaltenstherapeuten stark überschätzt ­Lazarus zurück. Während z. B. Wolpe einen solchen »Marken­ (z. B. Mitscherlich »Rattenpsychologie«), obwohl sie als begriff« zunächst noch ablehnte, waren sie der Ansicht, dass ­alleinige Therapiemaßnahmen kaum zum Einsatz kom- die großen Unterschiede zu den traditionellen Ansätzen durch men. Gleichwohl haben sie einen festen Platz in Teilbe­ einen neuen Namen unterstrichen werden sollten. Die erste reichen der Verhaltenstherapie, etwa bei der Behandlung ­öffentliche Verwendung ­des neuen Begriffes, die auf breitere kindlicher Verhaltensstörungen, geistiger Behinderungen Resonanz stieß, erfolgte ­ ­ 1958 durch Eysenck im Rahmen oder chronisch kranker hospitalisierter Patienten. eines Vortrages zum Thema »Learning Theory and Behaviour Therapy« (veröffentlicht in ­Eysenck 1959). Hier zeigte sich die Ganz allgemein unterstrichen Studien wie diejenigen zu den konfrontative Vermarktungsstrategie Eysencks, der die funda- »Token Economies« bzw. »Münzsystemen« (7 »Skinnerians go mentale Kritik an bisherigen Methoden gezielt und polemisch clinical«: Token Economy bei langzeithospitalisierten Patienten) mit einer teilweise überoptimistischen Sichtweise des neuen die Bedeutung sozialer Verstärkung, besonders als Unter­stützung ­Ansatzes verband. für langfristige Generalisierung und die Beibehaltung von erwünschtem oder akzeptiertem Verhalten. Jüngere Unter­ ­ suchungen haben allerdings Zweifel an der theoretischen Basis 1.3.3 Der Einfluss operanter Verfahren etwa der Münzsysteme oder anderer ursprünglich als rein ­operant konzeptualisierter Verfahren aufkommen lassen. So Der »Mainstream« der Verhaltenstherapie entwickelte sich zeigte sich etwa, dass das Feedback und die spezifische Hand- ­zunächst außerhalb Amerikas und nahm vielleicht auch deshalb lungsanleitung bei der Austeilung der »Münzen« die wichtigsten die Anwendungsmöglichkeiten des dort populären operanten Faktoren in solchen Programmen waren. Trotzdem war die Ansatzes zunächst kaum wahr. Ein weiterer Grund lag wohl in ­Entwicklung dieser Programme sehr wichtig, weil sie einen der Tatsache, dass die operanten Forscher nicht aus dem klini- ­umfassenden Behandlungsansatz in der Rehabilitation unter- schen Bereich kamen. Skinner selbst war nie therapeutisch tätig. stützte. Dabei wurde der Gebrauch strukturierter sozialer Aber auch diejenigen seiner Schüler, die Ausflüge in den ­Verstärker (Lob und Zuwendung seitens des Therapeuten) in der ­klinischen Bereich unternahmen, konzentrierten sich auch nicht klinischen Praxis stärker angenommen als der Einsatz von ausschließlich darauf, sondern sahen stets auch Felder wie ­Münzen oder Symbolen. Zu Recht hat die Betonung einer Ver- ­Erziehungswesen, Wirtschaft oder Verwaltung als Anwendungs- änderung und Strukturierung sozialer Interaktion nach wie vor bereiche ihrer Verfahren. großen Einfluss auf die B ­ ehandlung schizophrener Patienten Bereits in den späten 1950er Jahren hatten Skinner und (vgl. auch Falloon et al. 1984; Hahlweg et al. 1994). Ein weiterer Lindsley Anwendungsmöglichkeiten operanter Methoden wichtiger Einfluss des operanten Ansatzes besteht in der ­beschrieben. Entsprechende Behandlungen wurden jedoch erst ­Betonung der funktionalen Analyse, die auf Skinners Ansatz in den frühen 1960er Jahren und dann zuerst bei Kindern und ­zurückgeht, Verhalten durch das Studium der Bedingungen, un- geistig behinderten Erwachsenen durchgeführt. Die ersten klini- ter denen es auftritt, zu erklären. Die Bedeutung von Lebens­ schen Anwendungen sind mit den Namen Charles Ferster, Ivar bedingungen, Umwelt und ­sozialen Beziehungen wurde bis Lovaas, Donald Baer, Sidney Bijou, Leonard Krasner, Leonard ­dahin von den meisten psychotherapeutischen Schulen unter- Ullman, Nathan Azrin und T. Ayllon verbunden. Die »operante« schätzt oder gar übersehen. 14 Kapitel 1 · Hintergründe und Entwicklung jj»Skinnerians go clinical«: Token Economy bei ­ inaus auch international stets äußerst aktiv war, wurde der e­ rste h 1 ­langzeithospitalisierten Patienten Präsident der EABT. Zuvor war schon 1968 die Gesellschaft zur In einer frühen Anwendung operanter Verfahren auf psychische Förderung der Verhaltenstherapie (GVT) gegründet worden, die Probleme von Erwachsenen wollte Ayllon psychotisches Verhal- bereits 1969 rund 450 Mitglieder hatte. Die Mitgliedschaft der ten bei chronisch kranken hospitalisierten Patienten verändern, verschiedenen europäischen Verhaltenstherapiegesellschaften in die bis dahin als ungeeignet für psychologische Maßnahmen der EABT rekrutierte sich anfänglich aus ähnlichen Quellen wie ­galten. Er setzte Zigaretten und Lob als Verstärker und den Ent- bei der AABT, nämlich vorwiegend akademisch-forscherisch zug der Zuwendung zum Patienten als Verhaltenskonsequenzen ­ tätigen klinischen Psychologen und Praktikern mit engem ein. Je nachdem, ob es verstärkt oder gelöscht wurde, nahm das ­Kontakt zu den Gründungszentren wie London oder München. untersuchte abweichende Verhalten zu oder ab. Darauf auf­ Die »offizielle« Gründung der EABT erfolgte im Rahmen eines bauend entwarfen Ayllon und Azrin 1961 eine stationäre Umge- Kongresses in München, der von über 1200 Teilnehmern aus 14 bung, in der systematisch Verstärker zur Verhaltensveränderung verschiedenen Ländern besucht wurde. eingesetzt wurden. Dieses System wurde bekannt als »Token Die Entstehung der Verhaltenstherapie im deutschsprachi- Economy« (deutsch meist mit »Münzsystem« übersetzt), weil als gen Raum erfolgte parallel an mehreren Orten Ende der 60er und Verstärker Symbole wie etwa Münzen benutzt wurden. Diese Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine besondere konnten später für eine Reihe von Privilegien eingetauscht Rolle spielte dabei München. Dort war zum einen die bereits ­werden, die den Patienten zur Wahl standen (Ayllon und Azrin genannte psychologische Abteilung des Max-Planck-Instituts für 1968). Die Token Economy hatte einen großen Einfluss, weil sie Psychiatrie unter Brengelmann sehr aktiv. Mitglieder dieser und erstmals deutliche positive Wirkungen psychologischer Inter- benachbarter Abteilungen waren im Laufe der Jahre u. a. Udo ventionen bei Patienten zeigte, deren Versorgung sich zuvor Brack, Renate DeJong-Meyer, Heiner Ellgring, Roman Ferstl, weitgehend in der bloßen »Aufbewahrung« erschöpfte. Wesent- Kurt Hahlweg, Götz Kockott, Dirk Revenstorf, Eibe-Rudolf Rey, lich sind eine individuelle Anpassung der Verstärker und­ Rita Ullrich-de Muynck und Rüdiger Ullrich. Schon 1966 hatte die Betonung sozialer Beziehungen: Während es für den einen Peter Gottwald in der Kinderpsychiatrie des Max-Planck-Insti- Patienten als Verstärker wirken kann, allein in einem Einzel­ tutes mit operanten Verfahren gearbeitet, und 1969 verbrachte zimmer zu essen, kann die gleiche Situation für einen anderen mit Ivar Lovaas (UCLA) einer der Pioniere dieser Verfahren dort Patienten eine Bestrafung darstellen. 6 Monate. Zum anderen waren schon in den 1960er Jahren auch Mitarbeiter der Münchner Universität wie Jarg Bergold, Irmela Florin, Wolfgang Tunner und später Niels Birbaumer bei ­Lazarus, 1.3.4 Konsolidierung und Erweiterung Rachman und Wolpe in verhaltenstherapeutischen Verfahren geschult worden. Der Aufbau einer verhaltenstherapeutischen Aufbauend auf der Gründung eigener Fachgesellschaften kam es Ambulanz an der Klinischen Psychologie der Münchner Univer- zu einer ersten Konsolidierung der stürmischen Entwicklungen. sität begann bereits 1966, dort arbeiteten u. a. Jarg Bergold­ Die amerikanische AABT wurde 1966 in New York zunächst als und Karl-Herbert Mandel. Nach einem kurzen Aufenthalt in »Association for the Advancement of Behavioral Therapies« München wechselte Rudolf Cohen an die Universität Konstanz ­gegründet. Später wurde der Plural gestrichen und der Name­ und baute dort ab 1969 u. a. mit Irmela Florin eine stationäre in »Association for the Advancement of Behavior Therapy« Verhaltenstherapie auf. 1969 wurde die Verhaltenstherapie erst- ­geändert. Die ersten Mitglieder stammten vorwiegend aus zwei mals auf der TEAP, der Tagung der experimentell arbeitenden Kreisen: einer eher akademisch verankerten Gruppe von Psychologen, in Bern vorgestellt. ­Forscher-Klinikern mit Interesse an dem Thema »clinical psy- Ein weiteres frühes Zentrum der Entwicklung war Münster, chology as an experimental science«, die in einer Untergruppe wo unter der Leitung von Lilly Kemmler eine sehr aktive der American Psychological Association (APA) organisiert ­klinisch-psychologische Abteilung entstand. Unter anderem ­waren (Division 12, Section 3), und einer vorwiegend klinisch durch Frederick Kanfer, der 1968 ein Sabbatical bei Heckhausen tätigen Gruppe, die unmittelbar von den Gründerpersönlichkei- in Bochum verbrachte und 1970 eine Weile in Münster als Gast- ten der Verhaltenstherapie wie Wolpe, Franks, Salter oder Reyna dozent lehrte, wurden verhaltenstherapeutische Methoden in geprägt waren. Als erster Präsident der Gesellschaft wurde Cyril Münster eingeführt. In Kemmlers Abteilung arbeiteten u. a. Franks gewählt, Vizepräsident war Wolpe. Der Rat der Gesell- ­Gisela Bartling, Peter Fiedler, Wolfgang Fiegenbaum, Steffen schaft (»council«) bestand zu gleichen Teilen aus Wissenschaft- Fliegel, Alexa Franke, Dirk Hellhammer, Margarete Reiss, lern und Praktikern. Während die AABT rasch einen enormen ­Dietmar Schulte, Dieter Vaitl und Dirk Zimmer. Eine wichtige Anstieg der Mitgliederzahl erlebte, wurde 1971 die europäische Funktion bei der Entwicklung der Verhaltenstherapie hatten Schwestergesellschaft EABT (»European Association of ebenfalls sehr früh schon Lilian Blöschl (damals Düsseldorf), ­Behaviour Therapy«) gegründet. Die Initiative ging hier von Renate Frank in Gießen, Dieter Kalinke in Heidelberg, Rainer ­Johannes C. Brengelmann aus, der nach langjähriger Tätigkeit in Lutz in Marburg, Jürgen Mehl in Ost-Berlin und Hans-Georg England (bei Eysenck) und den USA seit 1967 Direktor und Zapotoczky in Wien. Die Gründung der ÖGVT (Österreichische ­Leiter der psychologischen Abteilung am Max-Planck-Institut Gesellschaft für Verhaltensforschung, Verhaltensmodifikation für Psychiatrie in München war. Brengelmann, der in der und Verhaltenstherapie) erfolgte 1971. Den ersten Vorstand ­Gründungsphase mehr als jeder andere für die Entwicklung der ­bildeten Peter Berner, Giselher Guttmann und Hans-Georg Verhaltenstherapie in Deutschland unternahm und darüber ­Zapotoczky, kooptiert war u. a. Lilian Blöschl. Ein erster Inten- 1.3 · Historische Entwicklung 15 1 sivkurs durch Victor Meyer aus London fand im November 1971 rein körperlicher Art (z. B. schmerzhafte Verbrennungen, statt. Ebenfalls schon Anfang der 1970er Jahre kam Jürgen Mehl ­Tumorschmerzen), Störungen mit einer möglichen bzw. partiel- in Ost-Berlin durch die Übersetzung von Eysencks Schriften­ len psychischen Ätiologie (z. B. entzündliche Darmerkrankun- zur Verhaltenstherapie. Entgegen allen Anfeindungen einer als gen) oder die Beeinflussung von Risikofaktoren (z. B. Rauchen, behavioristisch wahrgenommenen Therapie leistete er einen Ernährung, Bewegung) verstanden wird. Die Verhaltensmedizin ­wesentlichen Beitrag dazu, dass neben der Gesprächstherapie die ist mittlerweile zu einem so großen eigenen Feld herange­wachsen Verhaltenstherapie in der DDR aufgebaut werden konnte. Auch und so eng mit den medizinischen Aspekten der verschiedenen Mehl hatte schon früh Kontakt zu Lilly Kemmler in Münster. Krankheiten verflochten, dass ihre adäquate Darstellung den Viele der Mitarbeiter aus den genannten Orten übernahmen Rahmen eines Lehrbuches der Verhaltenstherapie sprengen ­später anderswo Professuren und bildeten ihrerseits Nachwuchs ­würde. Sie ist daher nicht Gegenstand des vorliegenden Buches. aus, hier wird jedoch nur auf die Entwicklungen bis Anfang der Eine weitere wichtige Entwicklung bestand in der zuneh- 1970er Jahre eingegangen2. menden Überwindung der engen Grenzen des behavioristischen Zur Konsolidierung trugen auch die stark anwachsenden Erbes der frühen, stark lerntheoretisch ausgerichteten Ver­ Forschungsarbeiten mit vielfältigen Publikationen in Fach­ haltenstherapie. Streng genommen beinhaltete ja bereits die zeitschriften und Büchern sowie die ersten Ausbildungs- und Zwei-Faktoren-Theorie, mit der Mowrer, Miller und andere die Trainingsangebote bei. In den 1970er Jahren kam daher die Ver- Entstehung von Phobien erklärten, eine Abkehr vom »reinen« haltenstherapie zu ihrer ersten vollen Blüte, wobei viele neue Behaviorismus, da mit der Idee der negativen Verstärkung Techniken entwickelt und experimentell untersucht wurden. ­phobischen Vermeidungsverhaltens durch Angstreduktion die Gegen Ende des Jahrzehnts waren diese Behandlungsansätze Annahme eines nicht direkt beobachtbaren, »mentalen« Zustan- weithin akzeptiert. Verhaltenstherapeutische Verfahren wurden des – eben der Angst – verbunden war. Außerdem hatten etwa die Methode der Wahl bei einer Vielzahl von Problemen wie Eysenck und Brengelmann stets die Rolle der Persönlichkeit Phobien, Zwängen, sexuellen Funktionsstörungen oder in der ­sowie biologischer und genetischer Faktoren anerkannt. Wesent- Rehabilitation chronisch kranker Patienten. Insgesamt war­ lichen Einfluss auf die Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie ­dieser Zeitabschnitt auch gekennzeichnet durch die Weiterent- hatte aber vor allem die Übernahme des »Drei-Ebenen-Ansat- wicklung der existierenden Techniken (z. B. die Verkürzung der zes«. Peter Lang, Rachman und andere vertraten die Ansicht, Zeitspanne für Konfrontationstherapien zur Angstbehandlung dass psychologische Reaktionen und diesbezügliche Probleme oder die Entwicklung abgekürzter Formen der Entspannung) als lose miteinander verbundene Reaktionssysteme oder »Ebe- sowie die Einführung neuer Ansätze (z. B. Selbstsicherheits­ nen« verstanden werden müssen. Zur Klassifikation schlugen sie therapie in Gruppen, Verhaltenstherapie der Depression). eine Dreiteilung in verhaltensmäßige, kognitiv/affektive und physiologische Reaktionen vor. Obwohl diese Systeme unterein- Die Sexualtherapie entwickelte sich weniger aus der behavioralen Forschung zu sexuellen Störungen, sondern vor allem auf der Basis der Arbeiten von ander verbunden sind, verändern sie sich nicht unbedingt zur Masters und Johnson zur Physiologie der sexuellen Reaktionen. Auch wenn gleichen Zeit, in der gleichen Weise oder in der gleichen R ­ ichtung. dieser Ansatz zunächst unabhängig entstand, teilte er doch von Anfang­ Das Auseinanderklaffen der Reaktionsebenen wird nach an die Betonung der konkreten Operationalisierung von Behandlungsstrate­ ­Rachman und Hodgson (1974; Hodgson und Rachman 1974) gien und ihrer empirischen Überprüfung mit der Verhaltenstherapie. Vor »Desynchronie« genannt. Empirisch sind desynchrone Reak­ ­allem aus diesem Grund kam es zu einer raschen Integration der Sexua­ therapie in die Verhaltenstherapie. Dies ist ein weiteres Beispiel für den tionen eher die Regel als die Ausnahme. ­Charakter der Verhaltenstherapie als einer empirisch-psychologisch ausge­ Diese Alternative zu einer einheitlichen Sicht psychologi- richteten Grundorientierung. scher Probleme war wichtig, weil dadurch die weite Skala der von Patienten berichteten Symptommuster erklärt und eine systema- Eine weitere Verbreiterung des verhaltenstherapeutischen tischere und präzisere Beurteilung von Behandlungsergebnissen ­Ansatzes war die Entwicklung der Verhaltensmedizin (»behavi- möglich wurde. Auch differenzielle Behandlungseffekte können oral medicine«), ein Begriff, der von Birk (1973) ursprünglich als dadurch beachtet werden: So dürften etwa Entspannungsübun- Beschreibung der Anwendung von Biofeedback auf medizini- gen von sich aus eher die physiologischen als die behavioralen sch

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