Gesellschaftliche und soziale Verantwortung PDF

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Dieses Dokument befasst sich mit dem Konzept der gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung von einem philosophischen Standpunkt aus. Es analysiert verschiedene Definitionen von Verantwortung und geht dabei auf Beispiele wie die Fälle von Carola Rackete und Francesco Schettino ein, um die verschiedenen Facetten der Verantwortung in alltäglichen Situationen zu verdeutlichen.

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Gesellschaftliche und soziale Verantwortung 2. Verantwortung als philosophisches Arbeits- feld Eine Philosophie der Verantwortung Das Nachfolgende zweite Kapitel des Skriptums beschäftigt sich mit dem Verantwortungsbegriff als solchem. Hierzu wird zuerst eine umfassende Definition des Verantwor...

Gesellschaftliche und soziale Verantwortung 2. Verantwortung als philosophisches Arbeits- feld Eine Philosophie der Verantwortung Das Nachfolgende zweite Kapitel des Skriptums beschäftigt sich mit dem Verantwortungsbegriff als solchem. Hierzu wird zuerst eine umfassende Definition des Verantwortungsbegriffs illustriert. Im Unterschied zum vorangegangenen Kapitel stehen nicht die historische Genese, sondern vielmehr konzeptionelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Verantwortungsdefinitionen im Zentrum. Damit stellt dieses Kapitel das theoretische Hauptstück des Skriptums dar. Ausgehend von einer vierfachen Definition des Verantwortungsbegriffes in der philosophischen Fachliteratur wird der Verantwortungsbegriff im Hinblick auf seine rechtliche und ethische Dimension, seine normativen Hintergrundtheorien, seine individuelle und kollektive Akteursdimension sowie seine politischen und sozialen Implikationen dargestellt. Das vorliegende Kapitel soll ein grundlegendes Verständnis des aktuellen Verantwortungsdiskurses in seinen vielfältigen Ausprägungen ermöglichen. 2.1. Definitionen der Verantwortung 2.1.1. Eine Definition der Definition Eine allgemeingültige Definition des Verantwortungsbegriffes zu skizzieren, ist kaum möglich. Wie bereits anhand der historischen Debatte ersichtlich, haben sich viele Autoren in unterschiedlicher Art mit dem Begriff auseinandergesetzt und diesen dadurch sowohl historisch als auch inhaltlich geprägt. Tatsächlich steckt hinter den vielfältigen und uneinheitlichen Definitionsvarianten philosophischer Begriffe (so unbefriedigend und verwirrend diese fallweise auch sein mögen) selbst ein philosophisches Problem. Michael Quante beschreibt diese Problematik (mit Rückgriff auf den britischen Philosophen George E. Moore) mit einer Differenzierung von verschiedenen Arten der Definition im Hinblick auf Sprach- und Begriffsgebrauch. Zum einen lässt sich eine sogenannte nominale Definition eines Sachverhalts, eines Konzepts oder einer Sache angeben. Dabei legt ein Autor oder eine Gruppe von Autoren (oder die wissenschaftliche Community im weiteren Sinne) fest, einen Begriff mit einer bestimmten Bedeutung zu definieren und im weiteren Verlauf nur so zu gebrauchen. So wird etwa in der akademischen Philosophie (sowie in diesem Skriptum), sofern nicht 30 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung explizit erwähnt, unter Ethik lediglich die normative Ethik verstanden. Wie an anderer Stelle gezeigt wurde (siehe Kapitel I.1), könnte dieser Konsens einer nominalen Definition in anderen Wissenschaften (etwa der Soziologie oder der Sozialanthropologie) durchaus anders sein. Solche nominalen Definitionen sind insbesondere dann hilfreich bzw. nötig, wenn bereits viele verschiedene Definitionen eines Begriffes parallel verwendet werden. Für eine weitergehende philosophische Beschäftigung mit einem Thema ist die bloße nominale Definition eines Begriffes natürlich ungenügend. Als zweite Definitionsart lässt sich die sogenannte Standarddefinition von der nominalen Definition unterscheiden. Standarddefinition in diesem Sinne meint die Definition im Sinn des alltäglichen Wortgebrauchs. Merksatz Diese Standarddefinition kann man etwa in Wörterbüchern finden. Die im Wörterbuch aufgeführte Definition bzw. Definitionen (oftmals kennen auch Wörterbücher mehrere Definitionen) erheben nicht den Anspruch, dass jeder Sprecher einer Sprache sogleich die wörterbuchbasierte Definition seines Begriffes im Blick hat. Dennoch bildet die Standard- oder Wörterbuchdefinition, gewissermaßen eine Nulllinie oder ein Bezugssystem, anhand dessen sich abweichende Definitionen im Sprachgebrauch erst als abweichend identifizieren lassen. Eine philosophische Analyse, so Quante, dürfe weder die Standarddefinition eines Begriffes mutwillig ignorieren noch versuchen, diese (etwa durch statistische oder linguistische empirische Erhebungen) nachzuzeichnen. Wenngleich sich keine allgemeine Aussage über das beste Verhältnis von philosophischen Begriffsdefinitionen einerseits und wörterbuchgemäßen Standarddefinitionen andererseits angeben lässt, sollten diese möglichst nicht vollständig voneinander entkoppelt werden. Zuletzt lässt sich in diesem Kontext die sogenannte Realdefinition von den beiden zuvor genannten Definitionsarten unterscheiden. Die Realdefinition zielt anders als die nominale Definition und die Standarddefinition nicht auf eine Bedeutungs- und Verwendungsanalyse der Sprache ab, sondern bezieht sich auf eine Analyse der mit der Sprache bezeichneten Gegenstände selbst. Ohne hierbei auf den sprachphilosophischen Hintergrund im Detail einzugehen, liegt dieser Herangehensweise die These zugrunde, dass es eine Unterscheidung zwischen den Gegenständen der Sprache und der Sprache selbst gibt. Dabei ist die Sprachanalyse bzw. der sprachanalytische Zugang in der Philosophie jedoch, nach Quante, kein Selbstzweck, sondern zeigt, dass eine Analyse der Sprache zur Analyse des Sachproblems beiträgt. 31 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Das primäre Interesse des Philosophen gilt in der Realdefinition dem Sachproblem selbst, und dieses besteht zu (kleinen) Teilen aus der verwendeten Sprache. Entscheidend ist für diese Definitionsunterscheidung Merksatz (die lediglich eine von vielen möglichen Unterscheidungen auf diesem Gebiet darstellt) die grundsätzliche Differenz von Begriffsanalyse (nominale Definition und Standarddefinition) einerseits und Gegenstandsanalyse (Realdefinition) andererseits. 78 Ein anschauliches Beispiel für die unterschiedlichen Definitionsarten und ihre Verbindung zur Alltagssprache findet man etwa im Werk des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860) und seinem Hauptwerk mit dem Titel Die Welt als Wille und Vorstellung. Darin erhebt Schopenhauer den Begriff des „Willens“ bzw. des Willens zum Leben zum Grundbegriff seiner Philosophie. Anders als die Standarddefinition von Willen als „Verhaltensweise leitendes Streben“ 79 versteht Schopenhauer unter dem „Willen“ eine Art Überlebenstrieb, welcher der ganzen Welt zugrunde liegt. Jener Wille ist „als das Ding an sich (…) ein blinder universeller Lebensdrang. (…) Der Wille zum Leben findet sich nicht infolge der Welt ein, sondern die Welt infolge des Willens zum Leben.“ 80 Hierbei zeigt sich am Beispiel Schopenhauers die philosophische Tendenz, sich graduell am alltagssprachlichen Begriff zu orientieren und gleichzeitig eine Realdefinition zu entwerfen, deren Gegenstandsgrundlage von der rein sprachlichen Analyse unterschieden ist. Der spezielle sprachphilosophische Zugang Moores (und Quantes) beispielsweise ist jedoch nicht universell akzeptiert in der akademischen Philosophie, insofern andere Autoren eine solche Einteilung der Definition nicht zugrunde legen. Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass sich im Zuge einer philosophischen Definitionsanalyse im Kontext des Verantwortungsbegriffes nicht nur verschiedene Definitionen auf sprachlicher Ebene unterscheiden Zusammenfassung lassen, sondern, dass Definitionen auch methodisch und erkenntnistheoretisch auf verschiedene Aspekte einer Sache abzielen können. Das philosophische Hauptproblem besteht also darin, dass Definitionen nicht nur rein quantitativ anhand verschiedener kontextabhängiger sprachlicher Bestimmungen unterschieden werden können, sondern auch qualitativ anhand verschiedener Grundlagen der besagten Definitionen selbst. Michael Quante beschreibt diese Problematik 78 Vgl. Quante, 2008, S. 25-26 79 Duden, 2022 80 Schoppenhauer, zit. nach: Spierling, 2010, S. 241 32 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung (mit Rückgriff auf den britischen Philosophen George E. Moore) mit einer Differenzierung von drei verschiedenen Arten der Definition. Zum einen lässt sich eine sogenannte nominale Definition eines Sachverhalts, eines Konzepts oder einer Sache angeben. Dabei legt eine Autorin oder eine Gruppe von Autoren fest, einen Begriff mit einer bestimmten Bedeutung zu definieren und im weiteren Verlauf nur so zu gebrauchen. Als zweite Definitionsart lässt sich die sogenannte Standarddefinition unterscheiden. Standarddefinition in diesem Sinne meint die Definition im Sinn des alltäglichen Wortgebrauchs. Diese Standarddefinition kann man etwa in Wörterbüchern finden. Zuletzt lässt sich in diesem Kontext die sogenannte Realdefinition unterscheiden. Die Realdefinition zielt – anders als die nominale Definition und die Standarddefinition – nicht auf eine Bedeutungs- und Verwendungsanalyse der Sprache ab, sondern bezieht sich auf eine Analyse, der mit der Sprache bezeichneten Gegenstände, selbst. 2.1.2. Verantwortung erkennen: die Fälle Carola Rackete und Francesco Schettino Nimmt man den Verantwortungsbegriff und seine philosophische Definition in den Blick, so zeigt sich, dass Verantwortung in alltagspraktischen Situationen auf verschiedenen Grundlagen zu- oder abgesprochen wird. Betrachtet man hierzu zwei konkrete Beispiele der jüngsten Vergangenheit, zeigen sich die unterschiedlichen Facetten des Verantwortungsbegriffes im gesellschaftlichen und medialen Kontext besonders deutlich: Im Sommer 2019 hatte die deutsche Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, dreiundfünfzig lybische Flüchtlinge auf der italienische Insel Lampedusa abgesetzt. Rackete verstieß damit eindeutig und wissentlich gegen die Anordnungen der italienischen Behörden, wonach die Flüchtlinge italienisches Staatsgebiet nicht hätten betreten dürfen. Gleichzeitig hätte laut Rackete die lybische Küstenwache erst spät und zögerlich reagiert, während der allgemeine Zustand der Flüchtlinge als sehr besorgniserregend seitens der Crew und des medizinischen Bordpersonals eingeschätzt wurde. Kapitänin Rackete hatte daraufhin den bewussten Rechtsbruch damit gerechtfertigt, dass sie nur so den in Not geratenen Flüchtlingen angemessen hätte helfen können. Der Fall wurde medial breit rezipiert, wobei vor allem Racketes Motive, ihr wissentlicher Rechtsbruch sowie die individuelle und gesamtgesellschaftliche moralische Verpflichtung gegenüber Geflüchteten im Zentrum der Debatte standen. Nur sieben Jahre zuvor hatte ein gänzlich konträrer Fall in einem ähnlichen Kontext für Empörung in den internationalen Medien gesorgt. 2012 hatte der Kapitän des havarierten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, Francesco Schettino, 33 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung den Unglücksort als einer der ersten Personen verlassen, noch bevor die Sicherheit der übrigen Crew und der Passagiere gewährleistet war. Bei dem Schiffsunglück starben insgesamt zweiunddreißig Menschen. Kapitän Schettino wurde dafür letztlich von einem italienischen Gericht wegen fahrlässiger Tötung zu sechzehn Jahren Haft verurteilt. Wenngleich diese beiden Fälle aufgrund ihrer tragischen Umstände und menschlichen Schicksale als bedauernswert gelten müssen, lassen sich verschiedene Facetten des Verantwortungsbegriffes aus der medialen Rezeption und der öffentlichen Diskussion erkennen. Einerseits lässt sich erkennen, dass Rackete die Verantwortung proaktiv übernommen hatte, während Schettino diese entgegen seinem Eingeständnis zugeschrieben wurde. Zudem hatten beide agierende Personen neben ihrer konkreten Handlungsverantwortung als Kapitäne auch eine besondere Rollenverantwortung inne. Die Empörung am Verhalten Schettinos war nicht zuletzt wesentlich von dem Eindruck geprägt, er hätte seine Verantwortung als Kapitän (also erst von Bord zu gehen, wenn die übrigen Personen in Sicherheit wären) nicht wahrgenommen. Zudem wird die grundsätzliche Differenz von rechtlicher und moralischer Verantwortung und der Rolle der Justiz als richtende Instanz besonders deutlich. Beide Fälle stellten juristisch gesehen einen klaren Rechtsbruch dar, wurden jedoch moralisch sehr unterschiedlich bewertet. 81 Die Philosophin Ina Schmidt stellte in diesem Kontext fest: „Verantwortliches Handeln ist also keine Selbstverständlichkeit – es versteht sich nicht von selbst und bezieht sich auf verschiedene Ebenen des eigenen Tuns. Der Unterschied im Handeln von Carola Rackete und Francesco Schettino scheint offensichtlich. Die eine hat das Richtige getan, der andere nicht. So weit, so klar. Aber was genau bedeutet: das Richtige? Rein rechtlich hat Rackete etwas Verbotenes getan, dass es damit aber nicht notwendig auch das Falsche war, ist der Punkt, an dem die Sache interessant wird.“ 82 Aufbauend auf diesen anschaulichen Beispielen wird im nächsten Abschnitt ein Modell präsentiert, das die bereits implizit in den Fällen von Carola Rackete und Francesco Schettino angelegten Verantwortungsdimensionen in ein explizites und formales Modell integriert. Eine vorläufige philosophische Definition von Verantwortung kann an dieser Stelle mit 81 Vgl. Schmidt, 2021, S. 22 ff. 82 Ebd., S. 23 34 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Rückgriff auf Andrea Clausen als „die Verpflichtung, bestimmte negative Konsequenzen des eigenen Handelns zu vermeiden oder umgekehrt erwünschte Konsequenzen zu garantieren und bei Zuwiderhandeln dafür gerade zu stehen“ angegeben werden. 83 Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass Verantwortungszuschreibungen unterschiedlicher Arten in der gesellschaftlichen und medialen Debatte dargestellt werden. Der Zusammenfassung Verantwortungsdiskurs ist trotz seiner theoretischen und interdisziplinären Vielfalt keineswegs auf akademische Debatten im berüchtigten „Elfenbeinturm“ beschränkt. Der wissentliche Rechtsbruch der deutschen Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, zeigt, wie Verantwortung proaktiv übernommen werden kann. Gleichzeitig zeigt der Fall des italienischen Kapitäns des havarierten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, Francesco Schettino, wie Verantwortung von außen zugeschrieben werden kann. Dabei spielten in beiden Fällen konkrete Rollenverantwortungen sowie eine Differenzierung von rechtlichen und moralisch-ethischen Dimensionen der Verantwortung eine zentrale Rolle. 2.1.3. Verantwortung als relationaler Begriff: vier Definitio- nen des Verantwortungsbegriffs Wie bereits gezeigt wurde, birgt die vermeintlich einfache Aussage „Carola trägt Verantwortung“ eine Vielzahl möglicher Interpretationen. So wird deutlich, dass Carola als Verantwortungssubjekt für etwas, einen Verantwortungsgegenstand, verantwortlich gemacht wird. Grundsätzlich gibt es mehr als ein Element, durch welches Verantwortung konzeptionell beschrieben werden muss. Dabei gilt es als übergreifender Konsens der Verantwortungsforschung, dass Verantwortung ein relationales Konzept aus verschiedenen Elementen und deren Beziehung zueinander darstellt. Jedoch wird in der Verantwortungsforschung mitunter heftig diskutiert, welche Elemente der Relation (die sogenannten Relata) konkret gemeint sind und in welcher strukturellen Beziehung diese zueinanderstehen. Je nach Verantwortungsdefinition und impliziten Annahmen über die Abhängigkeiten der einzelnen Relata zueinander zeichnet sich ein anderes Bild des Diskurses. 84 83 Clausen, 2009, S. 92 84 Loh, 2018, S. 35-37 35 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Als plausible Kandidaten für die möglichen Relata eines relational gefassten Verantwortungsbegriffes gelten nach Janina Loh jedenfalls der Träger der Verantwortung (Wer ist verantwortlich?), der konkrete Gegenstand der Merksatz Verantwortung (Wofür ist jemand verantwortlich?), die Instanz der Verantwortung (Wovor ist jemand verantwortlich?) gegenüber einem konkreten Adressaten (Warum ist man verantwortlich?) und auf Grundlage welcher normativer Prinzipien (Inwiefern ist man verantwortlich?). 85 Vor dem Hintergrund dieser möglichen Relata lassen sich auch die verschiedenen Definitionsversuche des Verantwortungsbegriffes in der aktuellen Forschungsdebatte in konzeptionelle Kategorien einteilen. Ganz allgemein gilt, dass Verantwortung als „das Einstehen von Agierenden für die Folgen einer Handlung in Relation zu einer geltenden Norm“ verstanden werden kann. 86 Der deutsche Philosoph und Experte auf dem Gebiet der Verantwortungsforschung, Ludger Heidbrink, unterscheidet insgesamt vier Definitionen der Verantwortung. Dabei lässt sich Verantwortung folgendermaßen verstehen: eine Form der Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit definieren (1. Definition) als folgenbasierte Legitimation (2. Definition) als kontextualistisches Reflexionsprinzip (3. Definition) als Struktur und Steuerungselement (4. Definition) Diese Definitionen decken zwar nicht die Gesamtheit aller zeitgenössischen und historischen Verantwortungsdiskurse ab, zeigen jedoch in paradigmatischer Weise die Entwicklung und Relevanz unterschiedlicher Konzeptionen des Verantwortungsbegriffs. 87 Daher sollen die Charakteristika der von Heidbrink vorgeschlagenen Verantwortungsdefinitionen im Nachfolgenden näher betrachtet werden. 2.1.4. Erste Verantwortungsdefinition: Verantwortung als Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit Die erste Verantwortungsdefinition nimmt direkt Bezug auf die historische Debatte, insofern die Eigenschaft, für eine Handlung zurechnungsfähig zu 85 Loh, 2018, S. 39 86 Heidbrink, 2018, S. 5 87 Vgl. ebd., S. 8 36 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung sein, insbesondere in der christlichen Philosophie und der Verantwortung vor Gott konzeptionell angelegt ist. Dieser traditionelle Verantwortungsbegriff ist also stark apologetisch (also entschuldigend) geprägt und steht in Zusammenhang mit schuldhaftem Handeln. Die Zuschreibung von Verantwortung kann daher nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen der Freiheit, der Kausalität und der Intentionalität erfüllt sind. Merksatz Damit Verantwortung also zugeschrieben werden kann, muss die agierende Person ohne Zwang handeln, wissentlich und willentlich handeln und kausaler Verursacher der Handlung sein. Zusätzlich werden weitere Maßstäbe für die Zurechenbarkeit von Verantwortung aus den konkreten Umständen und Rahmenbedingungen abgeleitet (etwa die Fähigkeiten der agierenden Person, seine Aufgaben und Rollen, gesetzliche Regelungen usw.). Der zweite Aspekt dieser ersten Definition beruht hingegen auf der Zuständigkeit als Basis der Verantwortung. Während die Zurechnungsverantwortung primär retrospektiv (also im Nachhinein) aus der Beobachterperspektive im Rahmen fix etablierter rechtlicher und moralischer Normen erfolgt, wird die Zuständigkeitsverantwortung als freiwillige Initiative der agierenden Person aus der Teilnahmeperspektive primär prospektiv (also im Vorhinein) übernommen. Es handelt sich also, grob gesagt, um den Unterschied, ob jemandem Verantwortung übertragen wird, oder ob jemand von sich aus Verantwortung übernimmt. Auch die soziale Reaktion auf Zurechnungs- und Zuständigkeitsverantwortung ist, wie am Beispiel von Francesco Schettino und Carola Rackete gezeigt wurde, durchaus unterschiedlich. Die Zuständigkeitsverantwortung ergibt sich neben der Selbstverpflichtung primär aus bestimmten Rollenerwartungen und Aufgabenfeldern, die übernommen werden (z. B. die Rolle einer Kapitänin auf einem Schiff). Dabei sind jedoch beide Verantwortungsarten als jeweils graduelle Abstufungen voneinander zu verstehen. Letztlich lassen sich in diesem Kontext vier unterschiedliche Verantwortungsarten im Hinblick auf Zurechnung und Zuständigkeit unterscheiden. 37 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Die sogenannte Handlungs(ergebnis)verantwortung umfasst alle Formen der Kausalverantwortung für bereits begangene oder noch zu begehende Handlungen. Dies gilt sowohl für individuelle als auch kollektiv agierende Merksatz Personen. Die bereits erwähnte Rollen- und Aufgabenverantwortung bezieht sich primär auf berufliche Zuständigkeit, aber etwa auch auf Haftungen in Institutionen. Die (universal) moralische Verantwortung wiederum ist primär jene Form der Verantwortung, die prinzipielle Formen der Verantwortung gegenüber anderen vorsieht bzw. auch rollenbasierte Pflichten, die als solche nicht delegierbar sind. Zuletzt wird die rechtliche Verantwortung anhand objektiver Schuldkriterien (im Unterschied zu Verantwortung aus Selbstverpflichtung) festgestellt und kann zu juristischen Sanktionierungen führen. 88 2.1.5. Zweite Verantwortungsdefinition: Verantwortung als folgenbasierte Legitimation Die zweite Verantwortungsdefinition nach Heidbrink versteht Verantwortung als folgenbasierte Legitimation. Aufbauend auf der ersten Definition gilt, dass zurechnungsfähige, agierende Personen für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können. Die Beurteilung von Handlungen erfolgt jedoch nicht in Hinsicht auf erwartbare Handlungsfolgen, sondern vielmehr im Ausgang von solchen erwartbaren Folgen. Damit wird Verantwortung in diesem Sinn kein folgenorientiertes, sondern ein folgenbasiertes Legitimationsprinzip. Diese Folgen können sowohl intendiert als auch nicht intendiert sein oder bloß in Kauf genommen (Kollateralschäden) werden. Dabei ist wiederum die konzeptionelle Unterscheidung der retrospektiven und prospektiven Verantwortung von entscheidender Bedeutung. Die sogenannte Ex-post-Verantwortung bezieht sich auf bereits vollzogene Handlungen und ist rückwärtsgewandt. Die sogenannte Ex-ante-Verantwortung richtet sich auf die Zukunft bzw. auf in der Zukunft liegende Handlungsfolgen. Diese Fokussierung auf Handlungsfolgen führt zudem zu einer konzeptionellen Unterscheidung drei unterschiedlicher Klassen von Folgen. Konkret lassen sich beabsichtigte Folgen (erste Klasse), vorhergesehene und bloß in Kauf genommene Handlungsfolgen (zweite Klasse) und unvorhergesehene Handlungsfolgen (3. Klasse) unterscheiden. Jene Folgen, die von Handelnden unter normalen 88 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 8-13 ff. 38 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Bedingungen antizipiert werden können, sind beabsichtigte Folgen. Vorhergesehene und bloß in Kauf genommene Handlungsfolgen sind zwar nicht erwünscht, jedoch waren sie vorhersehbar. Unvorhersehbare Folgen sind schließlich jene Handlungsfolgen, die weder in Kauf genommen noch vorhersehbar waren. Dabei lassen sich beabsichtigte Folgen leicht einer agierenden Person zurechnen, während vorhersehbare und in Kauf genommene Folgen etwa nach dem Umfang ihrer Vermeidbarkeit, der Art des Schadens oder etwaiger Fahrlässigkeit beurteilt werden müssen. Am schwierigsten ist die Zurechenbarkeit von unvorhersehbaren Handlungsfolgen zu bewerten. Hier gilt es zu klären, inwieweit die Folgen vorhergesehen werden hätten können bzw. wie mit dem Element der Ungewissheit in der folgenbasierten Verantwortungsdefinition allgemein umzugehen ist. Hier hängt die Zurechenbarkeit von nicht intendierten Handlungsfolgen einerseits von der Art der Ungewissheit bezüglich der Handlungsfolgen und andererseits von der Zumutbarkeit, sich ggf. das benötigte Wissen das Schadensrisiko betreffend anzueignen, ab. Dabei muss auch zwischen absolutem Nichtwissen und relativem Nichtwissen unterschieden werden. Während nämlich absolutes Nichtwissen über die Handlungsfolgen niemals hätte gewusst werden können, bewegt sich relatives Nichtwissen grundsätzlich im gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Wissensspektrum. Relatives Nichtwissen kann also, graduell abgestuft, in Wissen umgewandelt werden, wenn sich die Akteurin entsprechend informiert. Nichtwissen ist im Verantwortungsdiskurs dann zurechenbar, wenn es sich in Ungewissheit umwandeln lässt. Die bloße Ungewissheit von Handlungsfolgen ist also nicht per se ein Entlastungsgrund im Kontext der Verantwortungsdebatte. Die grundsätzliche Ungewissheit von Handlungsfolgen ist etwa im Kontext des globalen Klimawandels und der damit verbundenen Frage nach den verantwortlichen agierenden Personen besonders relevant. 89 Kurz gesagt, ist die zweite Definition der Verantwortung als folgenbasierte Legitimation „dadurch gekennzeichnet, dass die Vorhersehbarkeit und das Wissen um die erwartbaren Folgen zum primären Maßstab der Zurechnung gemacht werden“. 90 2.1.6. Dritte Verantwortungsdefinition: Verantwortung als kontextualistisches Reflexionsprinzip Die dritte Verantwortungsdefinition bezieht sich auf Verantwortung als kontextualistisches Reflexionsprinzip. Als folgenbasiertes 89 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 13-15 90 Ebd., S. 15 39 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Legitimationsprinzip fokussiert sich der Verantwortungsbegriff auf die Rechtfertigung von Handlungsfolgen. Diese sollen im Hinblick auf normative Vorgaben eine Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zwecken gewährleisten. So fragt die Verantwortungsethik danach, inwieweit ein bestimmter angestrebter Zweck (z. B. die Reduktion von Treibhausgasen) mit bestimmten Mitteln (z. B. einer bestimmten Steuer, einer Werbekampagne etc.) erreicht werden kann. Diese Mittel sollen sowohl prinzipiell gerechtfertigt (z. B. unter umweltethischen Kriterien) als auch im Hinblick auf erwartbare Handlungsfolgen legitim und effektiv (sozial verträgliche Steuerbelastung, faktische Reduktion der Treibhausgase) sein. In diesem Sinn dient der Verantwortungsbegriff als Reflexionsprinzip auf der Suche nach adäquaten Entscheidungsgründen vor dem Hintergrund komplexer Handlungsfelder. Dabei sind kontextsensitive Entscheidungen grundsätzlich durch Reflexion von universellen und partikularen Gründen gekennzeichnet. Diese Abwägung zwischen generellen und spezifischen Gründen erfordert nach Merksatz Heidbrink eine ethische Kasuistik, die die Angemessenheit von Handlungsnormen hinsichtlich moderner Lebensbedingungen und komplexer Entscheidungsprozesse im Blick hat. Dabei geht es im Verantwortungskontext nach dieser Definition grundsätzlich darum, unter sich widersprechenden Normen und dem Element der Ungewissheit die angemessenen Beurteilungskriterien für die Entscheidung zum Handeln zu identifizieren. Die Verantwortung wird durch diese Kontextualisierung des Verantwortungsprinzips bereits im Vorfeld der Handlungsentscheidung selbst angesiedelt. Die Angemessenheit der Handlungsnormen kann etwa in Form einer sogenannten Metaverantwortung stattfinden. Darunter versteht man – nicht unähnlich zur bereits skizzierten Metaethik – ein Verfahren mit der Aufgabe, „sowohl existierende Regeln und Prinzipien auf ihre jeweilige Anwendbarkeit hin zu prüfen als auch für neue und unbekannte Handlungsbereiche Geltungsregeln und Befolgungsprinzipien zu entwickeln“. 91 Somit ist die Metaverantwortung eine Art kontextbasierter Reflexionsprozess, der besonders in jenen Fällen bedeutsam ist, wo Verfahrensregeln fehlen. Derartigen Konflikten zwischen unterschiedlichen Normen lässt sich jedoch auch über die Bestimmung von konkreten Prioritätenregeln oder im Hinblick auf verschiedene Verpflichtungsgrade begegnen. 91 Heidbrink, 2018, S. 18 40 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Mit Rückgriff auf die Terminologie Kants können solche Verpflichtungsgrade auch in apodiktische Verantwortung (Verantwortung leitet sich aus universalen moralischen Prinzipien ab), assertorische Verantwortung Merksatz (Verantwortung ergibt sich aus faktischen Verpflichtungen) und problematische Verantwortung (Verantwortung wird freiwillig etwas aus Philanthropie übernommen) unterteilt werden. Bis hierhin kann festgehalten werden, dass die ersten drei Definitionen des Verantwortungsbegriffs nach Heidbrink sowohl die ethische als auch die rechtliche und soziale Dimension des Verantwortungsbegriffs umfassen. Der letzte Teil der Definitionsvarianten nimmt daher jene Handlungsprozesse von Kollektiven und Staaten in den Blick, die in den übrigen drei Definitionen keine explizite Erwähnung fanden. 92 Heidbrink selbst fasst seine vielschichtige und versierte Darstellung des Verantwortungsbegriffs folgendermaßen zusammen: „Die hier genannten vier Definitionen der Verantwortung als Zurechnungsfähigkeit und Zuständigkeit, als folgenbasierte Legitimation, als kontextualistisches Reflexionsprinzip sowie als Struktur- und Steuerungselement decken sicher nicht den gesamten Bereich dessen ab, was sich unter Verantwortung verstehen lässt. Sie sind allerdings paradigmatisch für die Entwicklung der Verantwortungskategorie von einem klassischen Handlungsprinzip zu einem nachklassischen Systemprinzip, die den Grund für die anhaltende Relevanz der Verantwortung zu Beginn des 21. Jahrhundert bildet.“ 93 2.1.7. Vierte Verantwortungsdefinition: Verantwortung als Struktur und Steuerungselement Die letzte von Heidbrink skizzierte Variante des Verantwortungsbegriffes betrifft jenes Handlungsfeld der Verantwortung, in dem Prozesse von Gruppen, Organisationen oder Netzwerken selbst zur Disposition stehen. Hierunter fallen etwa Verantwortungen des Staates oder politische Infrastrukturverantwortung, aber auch die soziale und gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (welche später als Corporate Social Responsibility noch detailliert behandelt wird). 92 Vgl. ebd., S. 18 ff. 93 Heidbrink, 2018, S. 8 41 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Konkret versteht man unter Verantwortung als Struktur und Steuerungselement die Verantwortlichkeit komplexer Systemprozesse im Hinblick auf die Rahmenregeln, Kontextgestaltung und Selbstverpflichtung Merksatz der beteiligten agierenden Personen. Diese handelnden Personengruppen bestehen in modernen, transnationalen Gesellschaften zumeist aus den Grundpolen von Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Nach Heidbrink stellen diese komplexen Handlungen sogenannte höherstufige Handlungsprozesse dar, insofern die jeweiligen Prozesse zwar von Akteuren verursacht, aber nicht kausal auf sie zurückgeführt werden können. So entziehen sich etwa transnationale Konzerne einer solchen Form einfacher Zurechnung, was konzeptionell zu einem Auseinanderklaffen von Handlungs- und Verantwortungssubjekten führt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch die sogenannte Systemverantwortung. Konzeptionell nimmt diese Verantwortungsdimension Anleihen bei der sogenannten Systemtheorie, die von der Eigendynamik sozialer Subsysteme basierend auf autonomer Selbstorganisation ausgeht. Gegenstand dieser Systemverantwortung sind jene Systemprozesse, die durch Handlungsprozesse begründet werden, sich aber nicht aus diesen herleiten lassen. Die drei Hauptkennzeichen einer solchen Systemverantwortung im Unterschied zu den übrigen, akteurszentrierten Verantwortungsdefinitionen sind: die besondere Berücksichtigung von Risikofolgen, die aus Systemprozessen resultieren, die Fokussierung auf Designverantwortung von Entscheidungsressourcen (wie etwa der Organisationskultur multinationaler Konzerne) sowie die starke Kontextsteuerung durch Selbstregulierung in kooperativer Abstimmung mit anderen agierenden Personen. Ziel der Systemverantwortung ist es, soziale Subsysteme mit autonomer Verantwortungsbereitschaft auszubilden. Hierzu verbindet sie Modelle der institutionellen Steuerung mit Selbstverpflichtungsprozessen. 94 Zusammenfassend kann in Bezug auf die vier Verantwortungsdefinitionen festgehalten werden, dass die erste Verantwortungsdefinition eine Differenzierung von Zurechnungsverantwortung und Zusammenfassung Zuständigkeitsverantwortung vornimmt. Die Zurechnungsverantwortung wird im Nachhinein von anderen zugeschrieben, die Zuständigkeitsverantwortung im Vorhinein von selbst übernommen. 94 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 7-28 42 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Die erste basiert auf der Verletzung etablierter moralischer oder rechtlicher Normen, die zweite auf einer Selbstverpflichtung und bestimmten Rollenerwartungen. Sie bilden zusammen einen objektiven und subjektiven Pol der Verantwortung und ergänzen sich gegenseitig – insofern Verantwortung gemäß ihrer Grunddefinition stets sowohl zugerechnet und übertragen als auch übernommen und vorgefunden werden kann. Die zweite Verantwortungsdefinition versteht Verantwortung als folgenbasiertes Legitimationsprinzip. Dabei werden konzeptionell eine prospektive Ex-post-Verantwortung und eine retrospektive Ex-ante- Verantwortung unterschieden. Zudem lassen sich Handlungsfolgen in die Klassen beabsichtigter Folgen, vorhergesehener und bloß in Kauf genommener sowie unvorhergesehener Handlungsfolgen unterteilen. Verantwortung als kontextualistisches Reflexionsprinzip beschreibt den Verantwortungsbegriff als Reflexionsprinzip auf der Suche nach adäquaten Entscheidungsgründen vor dem Hintergrund komplexer Handlungsfelder. Dabei sind kontextsensitive Entscheidungen grundsätzlich durch die Unterscheidung von universellen und partikularen Gründen gekennzeichnet. Unter Verantwortung als Struktur und Steuerungselement fasst Heidbrink zuletzt die Verantwortlichkeit komplexer Systemprozesse im Hinblick auf die Rahmenregeln, Kontextgestaltung und Selbstverpflichtung der beteiligten handelnden Personen zusammen. Diese Akteure bestehen in modernen, transnationalen Gesellschaften zumeist aus den Grundpolen Markt, Staat und Zivilgesellschaft. Dabei skizziert Heidbrink die sogenannte Systemverantwortung. Diese bezieht sich auf die Systemtheorie, die von der Eigendynamik sozialer Subsysteme und deren Selbstorganisation ausgeht. Gegenstand dieser Systemverantwortung sind jene Systemprozesse, die durch Handlungsprozesse begründet werden, sich aber nicht aus diesen herleiten lassen. Ziel der Systemverantwortung ist es, soziale Subsysteme mit autonomer Verantwortungsbereitschaft auszubilden. Dabei ist etwa die Fokussierung auf Designverantwortung von Entscheidungsressourcen oder die starke Merksatz Kontextsteuerung durch Selbstregulierung in kooperativer Abstimmung mit anderen Akteuren von Bedeutung. 43 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung 2.1.8. Das klassische und nachklassische Modell relationaler Verantwortung Das sogenannte „klassische“ Modell der Verantwortung versteht Verantwortung grundsätzlich im Kontext eines negativ bewerteten Ereignisses (ein Unfall, ein Verbrechen oder Ähnliches), dessen Verursacher Merksatz ermittelt und damit zur Verantwortung gezogen werden soll. Es wird versucht, den Verursacher zu Schadenersatz zu verpflichten bzw. zu bestrafen, um derartige Ereignisse in der Zukunft verhindern zu können. Das grundsätzliche Ziel ist damit die Einflussnahme auf das zukünftige Handeln von Individuen. Wenngleich das „klassische“ Modell nicht mehr allgemeingültig bzw. das allein gültige Modell der Verantwortung darstellt, ist es dennoch bis heute gültig. Nach dem klassischen Modell wird Verantwortung als relationaler Begriff mit vier Relata verstanden. Zunächst muss das Objekt der Verantwortung (erstes Relatum) definiert werden. Im klassischen Modell sind dies nur menschliche Handlungen oder deren Unterlassung sowie die resultierenden negativen Folgen. Das klassische Modell beruht auf einer strikten Trennung von Naturprozessen einerseits und menschlichem Handeln andererseits, wobei eben nur menschliche Handlungen zum Objekt der Verantwortung werden können. Alltagssprachlich spricht man zwar auch davon, dass der Starkregen für eine Überschwemmung „verantwortlich“ wäre oder dass ein Tier für den Tod eines Menschen „verantwortlich“ ist, jedoch handelt es sich dabei um einen bloß metaphorischen Gebrauch des Verantwortungsbegriffs. Diese Objektdefinition führt zur Definition des Subjekts der Verantwortung (zweites Relatum) als rationale Person. Dies schließt – nach gängiger Definition – etwa Tiere oder Kleinkinder aus. Zudem muss die Person kausaler Urheber der negativen Handlungsfolge sein, die Handlung muss freiwillig erfolgt sein (worin die Verbindung zur antiken Verantwortungskonzeption erkennbar wird) und die Folge der Handlung muss vorhersehbar gewesen sein. Anschließend müssen die jeweilige Handlung und ihre (negativen) Folgen im Hinblick auf ein bestimmtes Normen- und Wertesystem (3. Relatum) interpretiert werden. Erst auf Basis eines solchen Wertesystems kann eine Handlung als „schlecht“ klassifiziert werden und nur auf dieser Basis kann eine Handlung allfällig gerechtfertigt werden. Die reine Zuschreibung von Folgen zu einer bestimmten Handlung ist bloß deskriptiv; erst durch ein Wertesystem werden gewissen Folgen als schlecht im moralischen Sinn 44 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung definiert. Was konkret unter schlechten Folgen zu verstehen ist, ist durchaus sozial und historisch bedingt. So fügt etwa eine Lehrperson, die einen Schüler (gerechtfertigterweise aufgrund mangelnder Leistung) negativ bewertet, dem betreffenden Schüler zwar freiwillig und vorhersehbar einen Schaden zu, jedoch wird dieser Schaden gemäß unserem aktuellen gesellschaftlichen Wertesystem nicht als „schlecht“ im moralischen Sinn klassifiziert. Diese Klassifizierung führt schließlich zur Instanz (4. Relatum), vor der sich das Subjekt zu verantworten hat. Die Verantwortungszuschreibung als soziale Praxis ist jedoch stets auch ein kommunikativer Prozess. Daher kann das Gericht und die damit verbundenen Konzepte von Urteil und Schuld als paradigmatische Instanz in einer formalisierten kommunikativen Praxis (etwa eine Verhandlung, in der die Rollen von Richter und Angeklagtem explizit festgelegt werden) verstanden werden. 95 Dieses klassische Modell samt seiner vier Relata (Objekt, Subjekt, Wertesystem und Instanz) wurde jedoch spätestens ab dem 19. Jahrhundert in seinem allgemeinen Geltungsanspruch herausgefordert. Als wesentlicher Faktor dieser Entwicklung gilt der gesamtgesellschaftliche Wandel im Hinblick auf den Übergang von traditioneller Feudalgesellschaft hin zum modernen Kapitalismus. Konkret können insbesondere vier Merksatz Elemente als zentral identifiziert werden: die wachsende Arbeitsteilung und Differenzierung (1), der Übergang von persönlichen Beziehungen hin zu anonymen Marktbeziehungen (2), die industrialisierte Technik und deren Anwendungen (3) sowie die theoretische Konzeption und praktische Implementierung moderner demokratischer Regierungen (4). Diese soziokulturellen Veränderungsprozesse wirkten sich etwa auf das klassische Verständnis von Verantwortungssubjekt und Verantwortungsobjekt als in einer direkten linearen Beziehung stehend aus. Dabei traten zwischen das handelnde Subjekt und die dadurch bewirkten Effekten zunehmend Vermittlungsinstanzen, die keine klar abgrenzbaren Handlungen und Handlungsfolgen einerseits und ebenso keine klar identifizierbaren Handlungsobjekte andererseits mehr gestatteten. Als Beispiel hierfür können etwa die sich ab dem 19. Jahrhundert häufenden Unfälle mit Dampfmaschinen gelten. Diese Unfälle führten regelmäßig zu Schwerverletzten und Toten, stellten jedoch für das klassische Verantwortungsmodell ein konzeptionelles Problem dar. Die Unfälle waren 95 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 136-138 45 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung häufig nicht auf einzelne Handlungen oder Unterlassungen kausal rückführbar, da nicht mehr nur individuelle Handwerker, sondern zunehmend autonom agierende Maschinen und technische Systeme zum Einsatz kamen. Zwischen das Verantwortungssubjekt und die Handlungsfolgen treten zunehmend hochkomplexe technische Prozesse, die sich zumindest teilweise der Kontrolle des Subjekts entziehen. Zudem sind derartige Unfälle in der Regel weder freiwillig herbeigeführt noch intentional oder vorhersehbar. Vielmehr scheinen sie teilautonom aus der Verknüpfung unterschiedlicher Kausalketten zu resultieren. Darüber hinaus sind nur noch selten konkrete Individuen, sondern vermehrt arbeitsteilig organisierte Gruppen (etwa ein Ingenieursteam) oder Systeme für technische Schäden verantwortlich. Individuelles Fehlverhalten reicht in solchen Kontexten meist nicht mehr aus, um einen Unfall kausal zu verursachen. Eine ähnliche Systemkomplexität tritt auch aufseiten der Geschädigten etwa im Kontext anonymer Märkte auf, insofern die Opfer völlig zufällig geschädigt werden oder geografisch weit entfernt sein können. Diese Veränderungen in der Konzeption der Verantwortungssubjekte und Verantwortungsobjekte machte eine entsprechende Adaption des Wertesystems erforderlich, insofern Schädigungen dieser Art im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen, der mit den neuen technischen Mitteln realisiert wird, in Kauf genommen wurde. 96 Die Genese eines solchen nachklassischen Verantwortungsmodells sieht Ludger Heidbrink auch im 20. Jahrhundert fortgesetzt: „Die Kollektivierung und Institutionalisierung des Verantwortungsprinzips im 20. Jahrhundert resultieren aus dem Umstand, dass sich in arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaften die Kategorie der Zurechnung vom Handlungssubjekt ablöst und auf höherstufige Prozessvollzüge übertragen wird. Zurechnungs- und Handlungssubjekt treten auseinander und machen erweiterte Verfahren der Attribution erforderlich, die der sachgesetzlichen und systemischen Dynamik moderner Wirtschafts- und Industriegesellschaften angemessen sind.“ 97 Dabei stellte sich jedoch zunehmend die gesellschaftliche Frage, wie mit Schädigungen dieses neuen Typs umzugehen sei. Traditionell setzte die Schadenersatzpflicht das Verschulden aufgrund einer rechtswidrigen Handlung voraus. Der drohenden „Verantwortungslosigkeit“ begegnete 96 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 138 ff. 97 Heidbrink, 2018, S. 10 46 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung man, indem die klassische Bindung der Haftung an das Verursachungsprinzip und das Verschuldensprinzip aufgegeben wurden. An ihre Stelle trat im 19. Jahrhundert die sogenannte Gefährdungshaftung, die auf die besonderen Risiken im Umgang mit technischen Betrieben abgestimmt war. Eine solche Gefährdungshaftung verlangte die Abwägung von öffentlichem Interesse und erwartbaren Gefährdungen sowie die Bereitschaft des Betreibers – als Vorbedingungen für eine Betriebsgenehmigung –, im Schadensfall angemessen zu entschädigen. Diese Adaptionen erleichterten den Umgang mit bereits eingetretenen Schäden, waren aber wenig hilfreich bei der Verhinderung zukünftiger Schäden. Insgesamt unterscheidet sich das nachklassische Verantwortungsmodell vom klassischen Verantwortungsmodell in einigen zentralen Punkten. Einerseits verlagert sich die zeitliche Ausrichtung von der retrospektiven Ex-post-Verantwortung hin zur prospektiven Ex-ante-Verantwortung. Hierbei werden nicht mehr frühere Handlungen, sondern künftige Handlungen zum paradigmatischen Objekt der Verantwortung. Andererseits verlagert sich die Aufmerksamkeit des Verantwortungssubjekts von zu vermeidenden Schäden hin zu gewünschten Zuständen mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit. Diese Zustände beziehen sich zwar meist auf die Vermeidung von Schäden, jedoch können die dazu führenden Handlungsanweisungen prospektiv nur vage formuliert werden. Die dadurch entstehende prospektive und präventive nachklassische Verantwortungskategorie wird auch als sogenannte Vorsorgeverantwortung verstanden. 98 Dabei ist der nachklassische Verantwortungsbegriff nach Kurt Bayertz und Birgit Beck letztlich „Ausdruck der spezifischen Koordinations- und Steuerungsprobleme, die sich im Rahmen moderner Gesellschaften und komplexer arbeitsteiliger Organisationen ergeben. 'Verantwortungsvolle' Aufgaben sind keine Routineaufgaben, sondern beziehen sich auf die Bewältigung unvorhersehbarer mehrdimensionaler Probleme, für die keine Standardlösungen existieren.“ 99 Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Verantwortungsbegriff im klassischen Verantwortungsmodell als relationaler Begriff mit den vier Relata von Objekt, Subjekt, Wertesystem und Instanz verstanden wird. Zusammenfassung Dabei stehen lineare Beziehungen zwischen Handlungssubjekt und Handlungsfolgen sowie ein negativ bewertetes Ereignis (dessen Verursacher zur Verantwortung gezogen werden soll) im Zentrum. 98 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 138 ff. 99 Bayertz/Beck, 2018, S. 142 47 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Das grundsätzliche Ziel des klassischen Modells ist damit die Einflussnahme auf das zukünftige Handeln von Individuen. Das klassische Modell ist seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr allgemein gültig, jedoch auch heute noch auf gewisse Situationen anwendbar. Es ist also nicht „veraltet“ in einem grundsätzlichen Sinn. Entscheidend für die konzeptionelle Entstehung des nachklassischen Modells war der gesamtgesellschaftliche Übergang von der traditionellen Feudalgesellschaft hin zum modernen Kapitalismus. Konkret können vier Elemente identifiziert werden: die wachsende Arbeitsteilung und Differenzierung (1), der Übergang von persönlichen Beziehungen hin zu anonymen Marktbeziehungen (2), die industrialisierte Technik und deren Anwendungen (3) sowie die theoretische Konzeption und praktische Implementierung moderner demokratischer Regierungen (4). Dabei traten zwischen das handelnde Subjekt und die dadurch bewirkten Effekte Vermittlungsinstanzen, die keine klar abgrenzbaren Handlungen und Handlungsfolgen einerseits und ebenso keine klar identifizierbaren Handlungsobjekte andererseits mehr gestatteten. Insgesamt unterscheidet sich das nachklassische Verantwortungsmodell vom klassischen Verantwortungsmodell in mindestens zwei Punkten. Einerseits verlagert sich die zeitliche Ausrichtung von der retrospektiven Ex-post-Verantwortung hin zur prospektiven Ex-ante-Verantwortung (1). Andererseits verlagert sich die Aufmerksamkeit des Verantwortungssubjekts von zu vermeidenden Schäden hin zu gewünschten Zuständen mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit (2). Die dadurch entstehende nachklassische Verantwortungskategorie wird auch als sogenannte Vorsorgeverantwortung verstanden. 2. Reflexionsfrage: Reflektieren Sie den Unterschied zwischen klassischem und nachklassischem Verantwortungsmodell. Übung 2.2. Rechtliche und ethische Verantwortung Der nachfolgende Abschnitt behandelt die Dimensionen rechtlicher und ethischer Verantwortung als überlappende, jedoch nicht idente Themengebiete. Dabei bezieht sich der hier illustrierte rechtswissenschaftliche Verantwortungsbegriff bewusst auf grundsätzliche Überschneidungspunkte des ethischen und juristischen Verantwortungsdiskurses. Die herangezogenen Primärquellen beziehen sich primär auf deutsches Recht, daher wurde in diesem Kontext auf die Rezeption konkreter Fallbeispiele bewusst verzichtet. Die hier skizzierte Darstellung bezieht sich in der Grundstruktur auf die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme, vermeidet aber eine detailliertere 48 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Auseinandersetzung auf Basis konkreter nationaler oder föderaler Gesetze. Der Verantwortungsbegriff als relationaler Begriff kann nicht ohne eine entsprechende normative Theorie gedacht werden. Wie bereits gezeigt wurde, bildet das Normen- oder Wertesystem, auf dessen Basis Verantwortung zugeschrieben wird, den eigentlichen Übergang von deskriptiven Aussagen hin zu normativen Bewertungen. Dies ist insbesondere in der normativen Bewertung von bereits bestehenden oder antizipierten Handlungsfolgen relevant. Die Zuschreibung einer Handlungsfolge an sich (z. B. jemand wurde freiwillig und in vorhersehbarer Weise von einer Person mit einem Messer in den Bauch gestochen) ist rein deskriptiv. Erst das moralische Werturteil (z. B. die Handlung geschah in Notwehr oder aus einer medizinischen Notwendigkeit) erlaubt die Einordnung in den Verantwortungskontext. 100 Tatsächlich wird die Bedeutung des normativen Bezugssystems für den Verantwortungsdiskurs auch daran deutlich, dass eine erwünschte kausal herbeigeführte Handlungsfolge auch moralisch irrelevant für die Verantwortungszuschreibung sein kann. Man denke hier etwa an eine Person, die den Markt besucht und versehentlich einen Stand mit Gemüse umstößt und so einen Dieb aufhält, der gerade von der Polizei verfolgt wird. Sofern der Marktbesucher nur zufällig gehandelt hat, ist er (es sei denn, das moralische Bezugssystem bezieht sich ausschließlich auf konsequentialistische Argumente) nicht verantwortlich für die Ergreifung des Diebes, wenngleich seine Handlung der kausale Grund für den gewünschten Zustand (in diesem Fall die Inhaftierung eines Verbrechers) ist. 101 In jedem Fall muss Verantwortung also unter normativen Gesichtspunkten verstanden werden. Manche Autoren unterscheiden hierbei terminologisch die ethische Verantwortung als eine Verantwortung des Individuums im Umgang mit anderen und die moralische Verantwortung als die im Hinblick auf moralische Normen auf unterschiedliche Objekte angewendete Verantwortung. 102 Die ethische Verantwortung untergliedert sich beispielsweise in der philosophisch-sozialphänomenologischen Analyse von Verena Rauen zusätzlich in eine Selbst- und eine Fremdverantwortung. Hierbei ist die Selbstverantwortung von einem autonomen Konzept der (Wahl-)Freiheit geprägt, während die Fremdverantwortung auf einem deterministischen Freiheitsbegriff beruht. Derartig ausdifferenzierte Betrachtungen stellen 100 Vgl. Bayertz/Beck, 2018, S. 136 ff. 101 Vgl. Isaacs, 2018, S. 456 ff. 102 Vgl. Rauen, 2018, S. 545 und 555 49 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung jedoch keine weitverbreitete Grundposition des Verantwortungsdiskurses dar und müssen für den vorliegenden Kontext daher nicht ausführlich betrachtet werden, zumal die notwendige Klärung der phänomenologischen Grundbegriffe hier nicht geleistet werden kann. Nichtsdestotrotz wird die Frage der moralischen Verantwortung (meist in einem breiten Sinn als die normative Dimension des Verantwortungsbegriffes) breit diskutiert. Manche Autoren, wie Ina Schmidt, binden die moralische Verantwortung nach antiker Tradition an das Streben nach dem Guten. Schmidt plädiert etwa dafür, gängige Moralvorstellungen und Regeln hinsichtlich ihrer Ausrichtung auf das Gute zu prüfen. Dabei versteht sie das Gute jedoch nicht primär als Gegenstand der Erkenntnis, sondern als eine „Form der prozesshaften Übereinstimmung unseres Handelns mit dem, was wir für richtig halten“. 103 Das so verstandene Gute muss in den Handelnden selbst immer wieder aufs Neue zum Ausdruck gebracht werden. Jedoch verlangt diese Orientierung am Guten nicht, dass Akteurinnen zu jedem Zeitpunkt das Gute und seine konkrete situative Verwirklichung kennen müssen. Vielmehr zeichnet sich die verantwortungsvolle Akteurin für Schmidt durch die Abwägung von Gründen und die Bereitschaft, auf den „Ruf“ der Verantwortung (d. h. die sprachliche Aufforderung, sich zu verantworten) antworten zu wollen, aus. Nach Schmidt ist der Verantwortungsbegriff zugleich ein inhärent normativer Begriff, und damit jede Verantwortung zugleich moralische bzw. ethische Verantwortung: 104 „Verantwortung ist also immer eine normative Haltung, sie ist darauf ausgerichtet, eine Verbesserung zum Guten wirksam werden zu lassen, die nichts mit dem eigenen Wohlbefinden zu tun haben muss. (…) Jeder Versuch, verantwortungsvoll zu handeln, ist ein normativer Aufbruch, um einen gesollten Zustand herstellen zu wollen, den wir sprachlich begründen und vor einer dritten Instanz vertreten können (…). Damit sind wir als Verantwortliche nicht verpflichtet, eine Lösung oder ein Ergebnis zu präsentieren, sondern eine Entscheidung zu treffen, die wir im Sinne des Guten begründen können.“ 105 Verantwortung weist in jedem Fall eine inhärent normative Dimension auf. Manche Autoren formulieren den Verantwortungsbegriff sogar primär unter 103 Schmidt, 2021, S. 40 104 Vgl. ebd., S. 35 ff. 105 Ebd., S. 33 50 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung normativen Gesichtspunkten (etwa als moralische Löblichkeit oder Schuldigkeit von Akteuren in Bezug auf Handlungsfolgen). Gleichzeitig muss moralische und rechtliche Verantwortung konzeptionell unterschieden werden. Dabei decken beide Verantwortungsarten unterschiedliche, jedoch fallweise überlappende Themenbereiche ab. So sind manche Handlungen zwar moralisch verboten, aber nicht rechtlich sanktionierbar (z. B. das Fremdgehen in einer Partnerschaft), während andere Handlungen unter Umständen zwar moralisch unproblematisch, jedoch rechtlich verboten sind (z. B. das kurzfristige Parken in einer Ladezone). Darüber hinaus verfügt der Bereich der rechtlichen Verantwortung über ein hochspezialisiertes Rechtsetzungs- und Sanktionierungssystem. Ein solches System existiert im Hinblick auf die Durchsetzung von Moral nicht. 106 Grundsätzlich spielen Verantwortungszuschreibungen und Verantwortungsübernahmen also sowohl im philosophisch- sozialwissenschaftlichen als auch im rechtswissenschaftlichen Bereich eine Rolle. Dabei definiert etwa der deutsche Staats- und Verfassungsrechtsexperte Jan Henrik Klement die Rechtswissenschaft als eine „Wissenschaft von der Verantwortung“ 107, welche von „der Weitergabe von Verantwortung von Person zu Person in der Sprache des Rechts“ 108 handelt. Dabei ist jedoch nach Klement zu betonen, dass die Rechtswissenschaft trotz der thematischen Einbettung in den weiteren Verantwortungsdiskurs nur selten explizit von „Verantwortung“ spricht. Stattdessen wird der Verantwortungsbegriff mit genuin rechtswissenschaftlichem Vokabular wie Zuständigkeit, Aufgabe, Befugnis, Adressat, Schuld oder Schadenersatz umschrieben. Aufgrund seiner Merksatz angeblichen mangelnden Bestimmtheit wenden sich sogar manche Rechtswissenschaftler explizit gegen den Gebrauch des Verantwortungsbegriffs in der juristischen Fachliteratur. Dennoch lassen sich zwei entscheidende Berührungspunkte des philosophischen Verantwortungsdiskurses mit der Rechtswissenschaft skizzieren. Nach Klement bestehen diese einerseits in der Innenperspektive des Rechts, welche die Ableitung von Normen und Gesetzen aus Sprache bzw. die juristische Begründung von Normgeltungsbehauptungen betrifft. Hierbei hilft der ethische Verantwortungsbegriff in der fallbezogenen Anwendung 106 Vgl. Isaacs, 2018, S. 456-457 107 Klement, 2021, S. 560 108 Ebd., S. 560 51 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung bei der Unterscheidung von Recht und Unrecht. In der Außenperspektive des Rechts wird hingegen versucht, das „fertige“ Recht und dessen Verfahren hinsichtlich des Verantwortungsdiskurses zu verstehen und zu beschreiben. In der Außenperspektive hilft der philosophisch geprägte Verantwortungsbegriff dem Recht, im interdisziplinären Diskurs seine eigene gesellschaftliche und moralische Rolle verstehen und Alternativen zum derzeit geltenden Recht zu formulieren. 109 Obwohl die Außenperspektive nicht im engeren Sinn Gegenstand der Rechtswissenschaft ist, lassen sich etwa die daraus gewonnenen Erkenntnisse meist nicht als Argumente in einem Rechtsstreit anführen, doch bietet sie die Möglichkeit, den hinter den Kulissen der Institutionen (Behörden, Ämter, Ministerien usw.) stattfindenden Diskurs über „richtiges, besseres, gerechteres Recht“ 110 zu führen. Hierzu zählen etwa Prämissen des positiven Rechts wie jene der Autonomie, wonach Personen grundsätzlich für ihre Handlungen verantwortlich sind. Besondere Fälle fehlender Verantwortung werden vom Gesetzgeber in Tatbeständen typologisiert erfasst. Ließe sich jedoch durch philosophische Argumentation (oder empirische Ergebnisse der Hirnforschung) ein gesamtgesellschaftlich überzeugender Determinismus darstellen, wäre das derzeit geltende Recht aus der Außenperspektive nicht mehr legitimiert. 111 Damit wird der Verantwortungsbegriff auch zu einem sogenannten heuristischen Rechtsbegriff, insofern er ethische, religiöse, ökonomische und politische Vorstellungen transportiert, auf die das Recht in seiner Innenperspektive antworten muss. Anderenfalls drohe ein Auseinanderklaffen der im Recht festgeschriebenen Ordnungsstrukturen einerseits und den aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Problemen andererseits. Hierzu Klement: „Theorien, die außerhalb des Kanons juristischer Auslegungsmethoden und normativer Argumente stehen, die Inhalte des Rechts aber gleichwohl beeinflussen, können als 'heuristische' Theorien des Rechts bezeichnet werden. (…) Der Begriff der Verantwortung eignet sich als Baustein heuristischer Theorien gerade deshalb, weil er als Rechtsbegriff im engeren Sinn traditionell von eher randständiger Bedeutung war (…).“ 112 109 Vgl. Klement, 2018, S. 561-572 110 Ebd., S. 561 111 Vgl. ebd., S. 562 ff. 112 Klement, 2018, S. 571 52 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass Verantwortung in jedem Fall eine inhärent normative Dimension aufweist. Manche Autoren formu- lieren den Verantwortungsbegriff sogar primär unter normativen Gesichts- Zusammenfassung punkten, andere betonen die Bedeutung des Normen- und Wertesystems für den relationalen Verantwortungsbegriff. Dabei ist Verantwortung ohne ethische Dimension nicht denkbar. Gleichzeitig wird der Verantwortungsdis- kurs auch in anderen Wissenschaften geführt. Konkret beschäftigt sich vor allem die Rechtswissenschaft mit dem Inhalt des Verantwortungsbegriffes, auch wenn dieser meist nicht explizit adressiert wird. Es ist also nötig, mora- lische und rechtliche Verantwortung konzeptionell zu unterscheiden. Recht- lich verbotene Handlungen können moralisch unbedenklich sein und umge- kehrt moralisch bedenkliche Handlungen rechtlich erlaubt. Dabei verfügt der Bereich der rechtlichen Verantwortung – im Unterschied zur ethischen Verantwortung – über ein Rechtsetzungs- und Sanktionierungssystem hin- sichtlich seiner Durchsetzung. Der Verantwortungsbegriff kommt in der Rechtswissenschaft sowohl im Hinblick auf die Innenperspektive des Rechts (die juristische Begründung von Normgeltungsbehauptungen) als auch die Außenperspektive (den gesamtgesellschaftlichen Rechtsdiskurs) in den Blick. Dabei hilft der ethische Verantwortungsbegriff der Rechtswissenschaft entweder in der fallbezogenen Anwendung bei der Unterscheidung von Recht und Unrecht oder im interdisziplinären Diskurs über die gesellschaft- liche und moralische Rolle des Rechts. 2.3. Deontologische und utilitaristische Theorien der Verantwortungsdebatte Der Verantwortungsbegriff kann, wie vergleichbar vielschichtige Begriffe des philosophischen Diskurses, bezogen auf verschiedene normative Theorien beurteilt und interpretiert werden. Zu den wichtigsten konzeptionellen Unterscheidungen des Verantwortungsdiskurses sowie der normativen Ethik allgemein zählt jene zwischen sogenannten deontologischen und konsequentialistischen bzw. utilitaristischen Theorien. Diese konzeptionelle Unterscheidung ist im Verantwortungsdiskurs vor allem hinsichtlich der Differenz von retrospektiver Ex-post-Verantwortung und prospektiver Ex-ante-Verantwortung relevant (siehe Kapitel II.1). Die Merksatz zugrunde liegende Unterscheidung zwischen teleologischen (altgriechisch: Telos, τέλος, Ziel, Zweck) und deontologischen (altgriechisch: Deon, δέον, das Gebührende bzw. die Pflicht) führt auf den seit den 1930er-Jahren bestehenden Versuch einer umfassenden Unterteilung ethischer Theorien 53 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung zurück. 113 Dabei bezeichnet die Deontologie eine Theorie, welche die moralische Qualität einer Handlung danach bemisst, „ob der Handelnde aus einem Verständnis der normativen Verpflichtung heraus sich zur Handlung entschieden hat“. 114 Im Unterschied dazu geht es der teleologischen Ethik um die Realisierung eines Ziels (z. B. Glückseligkeit, Nutzenmaximierung etc.) in der ethischen Bewertung einer Handlung. Ausgehend von dem Paradigma aristotelischer Ethik wurde die Orientierung auf ein Ziel zum entscheidenden Kriterium einer konzeptionellen Unterscheidung. Später wurde die anfängliche Fokussierung auf die aristotelische Ethik zugunsten des Utilitarismus als neue paradigmatische teleologische Theorie aufgegeben. Dabei wird die Unterscheidung von teleologischen und deontologischen Theorien zumeist mit jener zwischen konsequentialistischen und nicht- konsequentialistischen Theorien gleichgesetzt. 115 Merksatz Dennoch ist die Unterscheidung in jedem Fall nur eine grobe Annäherung, da etwa die Beurteilung von Handlungen im Hinblick auf die Exemplifikation bestimmter Tugenden – im Sinne der sogenannten Tugendethik – eine von vielen weiteren möglichen Klassifikationen normativer Ethiktheorien darstellt, welche in diesem Schema nicht explizit berücksichtigt wird. Während also konsequentialistische Ethiken vor allem auf außermoralische Werte und Güter bzw. die Verhinderung außermoralischer Übel abzielen, gewichten deontologische Theorien zusätzlich stark den moralischen Eigenwert von Handlungen. Daneben existieren auch diverse Mischformen; Gesetzgeber etwa agieren meist im Sinne einer solchen Mischform, insofern der Gemeinnutzen (etwa bei einer Steuerreform) zwar als wichtige normative Handlungskategorie zugrunde gelegt wird, gleichzeitig jedoch auch intentionalistische Momente (wie etwa der Vorsatz zum Steuerbetrug) berücksichtigt werden. Als konsequentialistisch gilt eine Ethiktheorie jedoch dann, wenn sie exklusiv auf die Folgen einer Handlung fokussiert ist. Die Art dieser Folgenorientierung ist jedoch höchst unterschiedlich. Merksatz 113 Vgl. Dunshirn, 2008, S. 114 und 131 114 Grün, 2008, S. 102 115 Vgl. Steigleder, 2018, S. 172 ff. 54 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Damit eine Handlung im konsequentialistischen bzw. teleologischen Sinne zulässig ist, müssen die Handlungsfolgen bzw. auch zu erwartende Folgen oder unbeabsichtigte, aber absehbare Nebenfolgen positiv bewertet werden. Die meistdiskutierte Variante der teleologischen Ethik ist zweifellos der sogenannte Utilitarismus (vom Lateinischen utilis, nützlich). 116 Der klassische Utilitarismus geht ab dem 18. und 19. Jahrhundert maßgeblich auf Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick zurück. In der klassischen Version Benthams soll Lust bzw. Wohlbefinden gesteigert und Unlust bzw. Schmerz vermieden werden. Ein Vergleich der Nutzen und Schäden wird abgebildet und diese werden so gegeneinander aufgerechnet. Dabei wird die Perspektive eines unparteiischen Beobachters eingenommen und das zu maximierende Gesamtresultat (auch bekannt unter dem Schlagwort „Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl“) als normatives Handlungskriterium herangezogen. 117 Dieser ursprüngliche sogenannte hedonistische Utilitarismus zieht die Nutzenbilanz im Hinblick auf Lust und Unlust. Andere Varianten des Utilitarismus, wie der Präferenzutilitarismus, fokussieren sich auf andere Güter, wie die Maximierung in der Erfüllung von durch Abstraktion gebildeten Präferenzen. Merksatz Neben der Art der zu maximierenden Güter lassen sich jedoch weitere wichtige Binnendifferenzierungen in der utilitaristischen Theoriefamilie ausmachen. Während der sogenannte Handlungsutilitarismus etwa nur einzelne Handlungen nach ihren Konsequenzen beurteilt, stellt der sogenannte Regelutilitarismus gewissermaßen eine Brücke zur deontologischen Theoriebildung dar. Nach dem Regelutilitarismus werden Regeln, deren grundsätzliche Befolgung eine Maximierung des Nutzens erwarten lassen, auch dann befolgt, wenn der Nutzen im konkreten Fall nicht maximiert wird. Die dabei geltenden Regeln werden jedoch im Unterschied zur Deontologie letztlich durch ihre Nützlichkeit begründet. 118 Zumeist wird die theoretische Engführung von Deontologie und Utilitarismus bzw. Konsequenzialismus so verstanden, dass sich konsequentialistische Theorien um die Folgen von Handlungen kümmern, Merksatz während deontologische Theorien nur die innere Einstellung in Bezug auf moralische Pflichten im Blick haben. 116 Vgl. Birnbacher, 2018, S. 190 ff. 117 Vgl. Pfeifer, 2009, S. 42 ff. 118 Vgl. Birnbacher, 2018, S. 190-199 55 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Einem solchen holzschnitthaften Verständnis entspricht auch die von Max Weber formulierte Unterscheidung von „Verantwortungsethik“ (teleologisch bzw. konsequentialistisch) und „Gesinnungsethik“ (nicht- Merksatz teleologisch bzw. deontologisch). Tatsächlich weist der deutsche Philosoph Klaus Steigleder auf die vielfältigen Unschärfen einer solchen binären Einteilung hin. Versteht man deontologische Theorien in diesem breiten Sinn, so wird der Begriff zugleich zur Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche Theoriezugänge. Ähnlich wie in der utilitaristischen Ethik verschiedene Theorien mit unterschiedlichen Voraussetzungen hinsichtlich der Gütermaximierung (etwa im Unterschied zwischen hedonistischem- und Präferenzutilitarismus) oder der Geltungsebene (man denke an den grundsätzlichen Unterschied zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus) bestehen, ist dies auch im Hinblick auf die Pluralität deontologischer Theorien zu beobachten. So können innerhalb der deontologischen Theorienfamilie etwa Würde- basierte Moraltheorien und Rechte-basierte Moraltheorien grundsätzlich unterschieden werden. Während Würde-basierte Theorien, wie jene von Immanuel Kant, moralische Pflichten aus der Würde der Person ableiten, betrachten Rechte-basierte Theorien Anspruchsrechte als normative Grundkategorie. Erst aus diesen Anspruchsrechten leiten sich in weiterer Folge moralische Pflichten ab. Dabei kommen jeder Person, die Träger dieser Rechte ist, diese Rechte auch zu – unabhängig davon, ob die Person tatsächlich Anspruch auf sie erhebt oder ob der Anspruch faktisch überhaupt erhoben werden kann. Kurz gesagt, die Pflichten von Personen werden durch die Rechte anderer Personen begründet. Je nach konkreter Theorie können diese Rechte etwa negative (d. h. Abwehrrechte, als Recht auf die Unterlassung von Handlungen) oder positive (d. h. Rechte auf Unterstützung) sein. Ein negatives Recht auf Leben besagt also, dass der Person nicht von anderen das Leben genommen werden darf. Das positive Recht auf Leben verpflichtet andere dazu, der Person unter bestimmten Umständen (etwa, wenn der Rechteinhaber sich nicht selbst helfen kann) aktiv zu helfen. Wichtig ist in Bezug auf Rechte-basierte deontologische Theorien also, dass Handlungsfolgen, sofern sie die Rechte anderer verletzen, nicht grundsätzlich irrelevant sind. Hingegen findet keine Aufrechnung der Handlungsfolgen wie im Utilitarismus statt. Hierzu Steigleder: „Rechte-basierte Theorien beurteilen Handlungen, Handlungskonstellationen und die institutionellen Rahmenbedingungen des Handelns nach ihren Folgen, und zwar nach ihren Folgen oder Auswirkungen auf die Rechte aller 56 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Betroffenen. Es ist also nicht so, dass teleologische Theorien sich um die Folgen von Handlungen kümmern, während dies deontologische Theorien nicht tun. Wegen der Vielzahl ganz unterschiedlicher deontologischer Theorien gibt es aber auch deontologische Theorien, für die die Folgen von Handlungen (letztlich) irrelevant sind. Die Folgenorientierung Rechte-basierter Theorien unterscheidet sich jedoch von der Folgenorientierung utilitaristischer Theorien. Während utilitaristische Theorien an kumulativen Ergebnissen oder Gesamtresultaten interessiert sind, nehmen Rechte-basierte Theorien eine distributive Blickrichtung ein.“ 119 Betrachtet man nun die einzelnen Spielarten konsequentialistischer und deontologischer Theorien mit Fokus auf dem Verantwortungsbegriff, so ergibt sich – abhängig von einzelnen Autoren und den zugrunde liegenden Klassifikationen – ein ähnlich differenziertes Bild. So attestiert der deutsche Philosoph Dieter Birnbacher eine starke Affinität zwischen teleologischer Ethik und der Konzeption zukunftsgewandter Ex-ante-Verantwortung. Einerseits zeigt sich diese Affinität in der parallel auf die Zukunft gerichteten Blickrichtung der teleologischen Ethik (zukünftige bzw. erwartbare Handlungsfolgen) und des proaktiven Verantwortungsbegriffes. Andererseits zielt das Konzept der Ex-ante-Verantwortung primär auf die Realisierung bestimmter Zustände oder Ereignisse ab. Hierzu Birnbacher: „Sinn und Ziel der Verantwortungszuschreibung und -übernahme ist primär die Herstellung bestimmter Güter und die Vermeidung bestimmter Übel, nicht die Ausführung oder Unterlassung bestimmter Handlungen. Das entspricht der zentralen Zielsetzung der teleologischen Ethik, moralische Pflichten und Rechte in Hinblick auf die Folgeereignisse und -zustände zu formulieren, die sich von ihrer Geltung und/oder Befolgung erwarten lassen.“120 In diesem Zusammenhang skizziert Birnbacher auch teleologische Konsequenzen für die Verantwortungszuschreibung selbst. Dabei müsse der durch die Verantwortungszuschreibung erwartbare (soziale) Nutzen mit den dadurch entstehenden „Kosten“ (etwa psychische Belastungen) für Verantwortungsträger in Beziehung gesetzt werden. Dabei ist die Verantwortungszuschreibung für Birnbacher aus teleologischer Sicht umso unproblematischer, je mehr sie auch vom Verantwortungssubjekt freiwillig übernommen wird.121 Auch Ludger Heidbrink weist auf die augenscheinliche Verbindung konsequentialistischer und deontologischer 119 Steigleder, 2018, S. 177-178 120 Birnbacher, 2018, S. 191 121 Vgl. Birnbacher, 2018, S. 194-203 57 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Theorien im Kontext der Ex-post- und Ex-ante-Verantwortung hin. Dabei bezieht sich die Ex-post-Verantwortung nach Heidbrink primär auf deontologische Theoriemodelle, die den Vollzug gewisser Handlungen fordern. Die Akteurin handelt demnach nach einem bestimmten Pflichtkonzept, ohne auf den Ausgang seiner Handlung zu achten. Demgegenüber wird die Ex-ante-Verantwortung zumeist auf teleologische Ethiktheorien zurückgeführt, die das Handeln an einem gewissen wünschenswerten Zweck ausrichten. Der Verantwortungsbegriff umfasst konzeptionell sowohl handlungsanleitende Regeln als auch eine Vorstellung von erstrebenswerten Handlungszielen. Dort, wo Handelnde bestimmte Aufgaben erfüllen oder sich für Verbesserungen einsetzen, beruht dies häufig auf Überzeugungen und Handlungsprinzipien. Dies zeigt etwa das oben aufgeführte Beispiel von Carola Rackete. Ihr positives Prinzip im Sinne eines erstrebenswerten Ziels könnte der Wert der Gesundheit ihrer Passagiere gewesen sein. Ihre proaktive Übernahme der Verantwortung bzw. die gesetzte Handlung selbst geschah wohl mit Blick auf ein solches Ziel. Im Unterschied dazu werden Akteure meist derart für vollzogene Handlungen zur Verantwortung gezogen, dass obligatorische oder kategorische Prinzipien verletzt wurden und in Bezug auf die Beeinflussbarkeit und Vorhersehbarkeit dieser Handlungsfolgen beurteilt werden müssen. So könnte etwa argumentiert werden, dass Kapitän Francesco Schettino das Handlungsprinzip, wonach der Kapitän als Letzter das sinkende Schiff verlässt, verletzt hat. Daher wurde Schettino auch nachträglich für die Missachtung dieses Prinzips und dem daraus entstandenen Schaden zur Verantwortung gezogen. Jedoch gibt es trotz dieser allgemeinen Tendenz von deontologischer Ex-post-Verantwortung und teleologischer Ex-ante-Verantwortung auch gegenläufige Beispiele. So können etwa auch auf die Zukunft gerichtete Verantwortlichkeiten auf deontologischer Basis zugeschrieben werden (etwa bei der Gewährleistungshaftung oder Sorgfaltspflichten). Gleichzeitig können retrospektive Verantwortlichkeiten aufgrund teleologischer Theorien bzw. bestimmter Ziele zugeschrieben werden (etwa der Solidarität mit Notleidenden oder dem Wert von philanthropischem Engagement). 122 Ludger Heidbrink fasst diese beiden Theoriezugänge bezogen auf die Verantwortungskonzeption letztlich folgendermaßen zusammen: „Der Verantwortungsbegriff ist somit sowohl durch kategorische Komponenten gekennzeichnet, die aus seiner deontologischen 122 Vgl. Heidbrink, 2018, S. 13-14 58 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Verfassung in der Gestalt handlungsanleitender Regeln und Normen hervorgehen, als auch durch konsequentialistische und utilitaristische Komponenten, die durch seine teleologische Ausrichtung in der Gestalt erstrebenswerter Ziele und Güter vorgegeben werden. Beide Komponenten sind relevant für ein vollständiges Verständnis des Verantwortungsbegriffs.“ 123 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Unterscheidung von teleologischen und deontologischen Theorien bzw. der meist analog gebrauchten Unterscheidung von konsequentialistischen und nicht- Zusammenfassung konsequentialistischen Theorien für den Verantwortungsdiskurs von großer Bedeutung ist. Dabei ist die grobe Unterscheidung von Deontologie als Handeln nach moralischen Prinzipien oder Pflichten und Konsequentialismus (wie der Utilitarismus als bekannteste konsequentialistische Theorie) als Handeln nach moralischen Handlungsfolgen zwar weitverbreitet, aber letztlich missverständlich. Betrachtet man die Vielfalt deontologischer Theorien, so kommen bei manchen auch Handlungsfolgen in den Blick, während mache Formen des Utilitarismus auch moralische Prinzipien berücksichtigen. Als grobe Annäherung ist das gängige Modell dennoch hilfreich. Hinsichtlich des Verantwortungsdiskurses kommen deontologische und teleologische Theorien vor allem in Verbindung mit retrospektiver Ex-post-Verantwortung und prospektiver Ex-ante-Verantwortung in den Blick. Die Ex-post- Verantwortung basiert primär auf der Umsetzung von Regeln und Prinzipien, die Ex-ante-Verantwortung auf der Erlangung oder Herstellung bestimmter Güter bzw. der Vermeidung konkreter Übel. Als grobe Annäherung gilt, dass sich Ex-post-Verantwortung tendenziell auf deontologische Theoriemodelle stützt, während sich Ex-ante-Verantwortung tendenziell auf teleologische Theoriemodelle bezieht. Jedoch ist diese Tendenz keine festgesetzte Einteilung, da sich auch gegenläufige Argumente in der Fachliteratur finden lassen. 2.4. Individuelle Verantwortung Betrachtet man den Verantwortungsdiskurs auf Akteursebene, so lässt sich eine Binnendifferenzierung von individueller und kollektiver Verantwortung vornehmen. 123 Ebd., S. 14 59 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Beide Formen sollen in den nachfolgenden zwei Abschnitten exemplarisch skizziert werden. Schon die jüdisch-christliche Vorstellung von Gott als Richter und die alttestamentarische Auffassung, das Geschöpf (der Mensch) wäre dem Schöpfer (also Gott) zur Antwort auf seine Fragen verpflichtet, betont diese historisch starke Fokussierung auf individuelle Verantwortung. 124 Merksatz Dabei ist die individuelle Verantwortung insofern konzeptionell vorrangig, als die Verantwortung des Einzelnen immer als paradigmatisch für jede Verantwortungsstruktur gilt. Die Fachliteratur spricht demzufolge auch von einem Primat individueller Verantwortung. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass ein ontologisches (auf das Sein gerichtetes) Primat der individuellen Verantwortung vorliegt, sondern vielmehr, dass auch Organisationen, Staaten, Vereine und Institutionen nach dem Modell handlungsfähiger Einzelpersonen gedacht werden. Nach Ansicht von Volker Gerhardt ist dies dadurch begründet, dass Individuen anhand eigener Erfahrungen und der Anleitung anderer ihr eigenes Verständnis des Verantwortungsbegriffes herausbilden. 125 Hierzu Gerhardt: „Die gleichwohl zu beobachtende epistemische Präferenz für individuelle Verantwortung hat ihren Grund darin, dass sich das Individuum seinen Zugang zur Welt weitestgehend am Leitfaden selbst erlebter und erfahrener Vorgänge erschließt. Da es selbst erst durch das Beispiel anderer sowie durch Ermahnung und Erläuterung zur Verantwortung erzogen werden muss, liegt es nahe, in ihm den Ausgangspunkt eines jeden Begriffs von Verantwortung zu sehen, der ihrem sozialen Verständnis nicht entgegensteht. So kann die individuelle Verantwortung als Prototyp der Verantwortung überhaupt gelten.“ 126 Jedoch muss in diesem Kontext betont werden, dass individuelle Verantwortung keineswegs in einem sozialen Vakuum für sich alleine steht, sondern, dass jedes Individuum zum Erlernen der entsprechenden Merksatz Fähigkeiten auf ein entsprechendes soziales Umfeld angewiesen ist. 124 Vgl. Gerhardt, 2018, S. 435 ff. 125 Vgl. ebd., S. 432 ff. 126 Ebd., S. 433 60 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Als Träger einer solchen individuellen Verantwortungskonzeption kommen nur Individuen eines gewissen Typs infrage. Dabei müsse es sich, so Gerhardt, um menschliche Individuen und in letzter Folge um eigenständige Personen handeln. Solche Personen sind – im Unterschied zu Haustieren, Naturereignissen, aber auch Suchtkranken und Kindern – für die Auslösung von Kausalketten und deren Folgen eigenverantwortlich. Das Kriterium der Zurechenbarkeit ist daher für menschliche handelnde Personen entscheidend. Dabei fallen auch nicht mehr zurechenbare Personen (etwa aufgrund von Demenz) bzw. noch nicht zurechenbare Personen (etwa Kinder) nicht unter das Kriterium. Tatsächlich sind Kinder in diesem Zusammenhang gewissermaßen ein Sonderfall, insofern ihnen zwar manchmal aus pädagogischen Gründen Verantwortung zugeschrieben wird (etwa, wenn ein gegebenes Versprechen gebrochen wurde); jedoch tragen die Erwachsenen in jedem Fall die volle Verantwortung für das Ereignis. Dabei müssen Kinder nicht nur zur Verantwortung erzogen, sondern auch regelmäßig an diese erinnert werden. Letztlich lässt sich das Primat der individuellen Verantwortung auch an Situationen von ungeklärter Zuständigkeit bemessen, insofern in diesem Fall meist Individuen die Initiative ergreifen müssen. Dies gilt insbesondere für Krisensituationen. Somit führt das Primat individueller Verantwortung meist auch zu einer Präferenz hinsichtlich individueller moralischer Verantwortung des Menschen. Das Primat individueller Verantwortung behauptet sich auch vor dem Hintergrund einer steigenden Segmentierung der Verantwortung in Form von einzelnen Bereichsethiken. Die Frage nach der agierenden Person bzw. dem Adressaten von Verantwortung ergibt auch im institutionellen Kontext nur dann Sinn, wenn mindestens ein Individuum davon betroffen ist und die Verantwortung übernehmen kann. Nach Gerhardt bleibt auch unter Einbeziehung anderer Relata des Verantwortungsbegriffes das „Paradigma der Verantwortung in allen denkbaren Fällen bei dem, wofür ein Individuum die moralische oder rechtliche Haftung übernehmen kann“. 127 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das sogenannte Primat der individuellen Verantwortung die Verantwortung einzelner, zurechnungsfähiger menschlicher Personen als grundlegendes Paradigma Zusammenfassung jeder Verantwortungsrelation begreift. Auch Fälle, in denen Staaten oder Vereine Verantwortung tragen, können nach dieser Auffassung letztlich nur vor dem Hintergrund individueller Verantwortung verstanden und konzeptualisiert werden. 127 Gerhardt, 2018, S. 449 61 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung 3. Reflexionsfrage: Reflektieren Sie einige wesentliche Merkmale individueller Verantwortung im ethischen Diskurs. Übung 2.5. Kollektive Verantwortung Anders als individuelle Verantwortung, von deren Primat manche Theoretiker ausgehen, ist das Konzept einer kollektiven Verantwortung durchaus umstritten. Anders als in Konzeptionen individueller Verantwortung sind kollektive Akteure, deren Zustandekommen, deren Willensbildung und Intention bis hin zu deren moralischer Zurechnungsfähigkeit immer schon erklärungsbedürftig. Darüber hinaus existieren mehrere unterschiedliche Konzeptionen kollektiver Verantwortung, die bis hin zu ihrer kompletten Ablehnung reichen. Politisch wurde die Frage nach kollektiver Verantwortung insbesondere im Kontext der Verbrechen Nazideutschlands während des zweiten Weltkrieges sowie jener Verbrechen während des Vietnamkrieges, des Völkermords in Ruanda, des Jugoslawienkriegs oder der US-Militäreinsätze im Irak und Afghanistan diskutiert. Dabei wurde argumentiert, dass derart groß angelegte Gräueltaten wie etwa Genozide nur auf kollektiver Ebene adäquat adressiert werden könnten. Auch wenn Einzelpersonen bei derart verabscheuungswürdigen Verbrechen wie dem Holocaust auch individuell verantwortlich waren, taten sie dies zumeist in offiziellen Funktionen innerhalb eines Staates. Dies machte nach Ansicht mancher Theoretiker auch den Staat selbst zum kollektiven Täter. Dabei ist es entscheidend, dass Ansätze kollektiver Verantwortung nicht versuchen, individuelle Verantwortung oder persönliche Schuld zu verneinen, sondern die gesamte moralische Dimension des Phänomens zu erfassen. Wenn etwa jemand seine Nachbarin ermordet, um damit an einem kollektiven Genozid mitzuwirken, kommt dem Fall eine andere moralische Dimension zu, als wenn der Mord für sich alleine stünde. Dabei gibt es unterschiedliche Arten, das Problem kollektiver Verantwortung zu konzeptualisieren. Ähnlich wie schon zuvor im Kontext der individuellen Verantwortung ist auch hier zunächst die Frage nach der agierenden Person essenziell. Die grundlegende Prämisse kollektiver Verantwortung auf Akteursebene besteht darin, dass kollektive Entitäten, Gruppen, Staaten usw. hinreichend handlungsfähig sind, um für ihre Taten verantwortlich gemacht zu werden. Merksatz 62 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Hierzu eignen sich jedoch nur kollektive Entitäten, die entweder eine Form innerer Strukturiertheit besitzen oder aber auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet und damit zu kollektivem Handeln fähig sind. Nach Auffassung der Philosophin Tracy Isaacs eignen sich letztlich nur Organisationen und zielorientierte Kollektive für einen solchen Akteursbegriff. Solche als „Organisationen“ bezeichneten Entitäten Merksatz zeichnen sich etwa durch ihre formalen Entscheidungsfindungsprozesse, Interessen und klar definierte Rollen aus. Dabei können sowohl Staaten, Regierungen, Sportmannschaften, NGOs oder gemeinnützige Vereine als Organisationen in diesem Sinn gelten. Demgegenüber sind zielorientierte Kollektive weit weniger strukturiert, jedoch koordinieren sie ihr Handeln im Dienst einer gemeinsamen Sache. Ein solches (zeitlich begrenztes Ziel) mag eine Gruppe von Badegästen sein, die am Badeteich zusammenarbeitet, um einen verunglückten Schwimmer vor dem Ertrinken zu retten. Nur wenn die kollektiven Entitäten zu intentionalen Handlungen (also zu einem Handeln aus Gründen) in der Lage sind, kann man ihnen moralische Verantwortung zusprechen. Demzufolge gibt es auch kollektive Entitäten, etwa soziale Gruppen, die auf Geschlecht, Ethnie oder sexueller Ausrichtung basieren, die als bloße Ansammlung von Individuen weder eine Struktur noch ein gemeinsames Ziel aufweisen und folglich auch keine Akteure im Sinne kollektiver Verantwortung sind. Ähnliches gilt für bloß zufällig gebildete Kollektive, wie Passanten, die an einer Kreuzung warten oder die Besucher eines Theaters. Isaacs versteht Verantwortung in diesem Kontext als „die moralische Löblichkeit oder Schuldigkeit von Akteuren für deren Handlungen (oder gegebenenfalls Unterlassungen)“ 128 und folglich kollektive Verantwortung als „die Löblichkeit oder Schuldigkeit, die kollektiven Akteuren für ihre Handlungen gebührt“. 129 Nach Isaacs lassen sich drei theoretische Grundpositionen in der Konzeptualisierung kollektiver Verantwortung unterscheiden. Hierzu Isaacs: „Es gibt kollektivistische Positionen, denen zufolge kollektive Entitäten als Akteure gelten können und deshalb moralisch verantwortlich sein können, individualistische Positionen, für die einzelne menschliche Akteure die Träger von Verantwortung sind, (…) denen zufolge auch Individuen für kollektiv erzielte Resultate verantwortlich sein können, 128 Isaacs, 2017, S. 456 129 Ebd., S. 457 63 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung und eliminative Positionen, die der ganzen Idee einer kollektiven Verantwortung ablehnend gegenüberstehen und die Auffassung vertreten, dass auf sie verzichtet werden sollte.“ 130 Isaacs skizziert die erste Grundposition, wonach kollektive Akteure zu intentionalen Handlungen fähig sind und folglich dafür im eigentlichen Sinn moralisch zur Verantwortung gezogen werden können, als die sogenannte Merksatz kollektive Verantwortung als Verantwortung kollektiver Akteure. Demgegenüber betont die sogenannte individualistische Konzeption kollektiver Verantwortung, dass jedes Individuum für das im Kollektiv erzielte Handlungsresultat verantwortlich ist, sofern dies auf die anderen auch zutrifft. In dieser Konzeption liegt zwar die primäre Verantwortung beim Individuum, jedoch werden auch nicht zu eliminierende kollektive Aspekte anerkannt. Die Verbindung zwischen individueller und kollektiver Verantwortung wird, je nach Theoretiker, etwa durch die individuelle Intention in der Partizipation oder eine gegenseitige interdependente Verantwortung von Individuen an der Mitwirkung kollektiver Ziele abgebildet, solange die übrigen individuellen Akteure auf gleiche Weise für ihre mitwirkenden Handlungen verantwortlich sind. Zuletzt bestreiten eliminative Auffassungen von kollektiver Verantwortung grundlegend die Notwendigkeit eines Konzepts kollektiver Verantwortung. Derartige Ansätze verstehen Verantwortung als grundsätzlich individuelles Konzept und formulieren unterschiedliche Einwände gegen einen kollektiven Verantwortungsbegriff. So wird etwa das Problem der unangemessenen Bestrafung kollektiver Akteure bzw. die Problematik von Kollektivstrafen genannt, insofern die Zuschreibung kollektiver Verantwortung auch mit kollektiver Sanktionierung verbunden sein muss. Derartige Kollektivstrafen würden jedoch letztlich unbeteiligte oder kaum beteiligte Individuen treffen. So führt der erfolgreiche Boykott eines tadelnswerten Unternehmens zu Lohnkürzungen oder Stellenstreichungen bei der (größtenteils unbeteiligten) Belegschaft. Ähnlich würde auch ein Handelsembargo auf staatlicher Ebene zu einer Schädigung der Zivilbevölkerung führen. Demgegenüber könnte jedoch eingewendet werden, dass auch individuelle Strafen meist Auswirkungen auf unschuldige Akteure haben, dies jedoch nicht als grundlegendes Argument gegen individuelle Sanktionierung gilt. So beeinträchtigt etwa eine hohe Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe oft auch die gesamte Familie des Straffälligen negativ. Darüber hinaus beziehen sich 130 Isaacs, 2017, S. 465 64 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung eliminative Positionen häufig auf den Einwand, kollektive Verantwortung würde zu einem Wegfall individueller Verantwortung führen, wodurch einzelne Täter nicht mehr sanktioniert würden oder sich mit dem Kollektiv „rausreden“ könnten. Demgegenüber wird jedoch eingewendet, dass Konzeptionen kollektiver Verantwortung die entstandene individuelle Verantwortung nicht ignorieren und Individuen weiterhin verantwortlich für ihre Mitwirkung an kollektiven Handlungen bleiben. Nach Isaacs kann eine Theorie kollektiver Verantwortung letztlich auch dazu beitragen, über die Konzeption kollektiver Pflichten eine prospektive kollektive Verantwortung zu formulieren. Eine solche auf die Zukunft gerichtete kollektive Verantwortung könnte im Kontext der Klimakrise eine nützliche theoretische Annäherung sein, insbesondere da die Hauptverursacher der Treibhausemission tatsächliche kollektive Akteure wie Staaten oder Unternehmen sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Konzeption kollektiver Verantwortung ein umstrittenes Konzept ist. Manche Theoretiker bezweifeln die Akteurschaft kollektiver Entitäten oder befürchten eine Zusammenfassung komplette Entwertung individueller Verantwortung zugunsten einer moralischen Auslagerung der Verantwortung auf das Kollektiv. Gleichzeitig betonen Befürworter eines wie auch immer konkret ausgestalteten Konzepts kollektiver Verantwortung, dass gerade monströse Verbrechen, Genozide oder die Verursachung des anthropogenen Klimawandels nur unter Einbeziehung einer kollektiven Perspektive vollständig verstanden werden können. Tracy Isaacs unterscheidet drei theoretische Hauptpositionen kollektiver Verantwortung. Die kollektivistische Position kollektiver Verantwortung sieht kollektive Entitäten als Akteure vollumfänglich für ihr Handeln verantwortlich. Individualistische Konzeptionen kollektiver Verantwortung betonen, dass jedes Individuum für das im Kollektiv erzielte Handlungsresultat verantwortlich ist, sofern dies auf die anderen auch zutrifft. Eliminative Positionen kollektiver Verantwortung hingegen lehnen die Konzeption kollektiver Verantwortung grundsätzlich ab. 4. Reflexionsfrage: Reflektieren Sie einige wesentliche Merkmale kollektiver bzw. organisatorischer Verantwortung im ethischen Diskurs. Übung 2.6. Soziale Verantwortung Vergleichbar mit anderen bereits skizzierten Verantwortungstypen und Verantwortungsbereichen muss auch jener der sozialen Verantwortung 65 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung grundsätzlich als mindestens vierstelliges Prädikat gelten – das meint: A ist verantwortlich für x gegenüber B vor der normativen Theorie Z. Dabei ist jedoch eine Vielfalt von normativen Hintergrundtheorien in der Literatur vertreten. Folglich kann es weder eine „einheitliche“ Theorie der Verantwortung noch der „sozialen“ Verantwortung geben. Abhängig von der zugrunde gelegten Hintergrundtheorie werden unterschiedliche Akteure für unterschiedliche Elemente des sozialen und politischen Zusammenlebens verantwortlich gemacht. Dabei überschneiden sich auch normative und politische Theorien im Hinblick auf die soziale Verantwortung des Staates. Zudem ist es nicht einheitlich geklärt, welche Problemfelder jeweils in den Bereich sozialer oder politischer Verantwortung fallen. Dies trifft beispielsweise auf die Frage wirtschaftlicher Grundsicherung zu. Für libertäre Denker steht die individuelle Freiheit im Vordergrund, während der Staat selbst nicht für das soziale und wirtschaftliche Wohlergehen seiner Bürger verantwortlich ist. Vielmehr soll der Staat nach dieser Theorie einen rechtlichen Rahmen etablieren und seinen Bürgern Rechtssicherheit gewähren. So argumentiert etwa Robert Nozick für das Recht auf Eigentum und körperliche Integrität als die zentralen Rechte, für deren Schutz der Staat verantwortlich ist. Im Gegensatz dazu sehen gemäßigte liberale Ansätze den Staat sehr wohl in der Verantwortung, eine soziale und wirtschaftliche Basis für alle Bürger zu schaffen. Der sogenannte Perfektionismus geht in dieser Frage sogar noch einen Schritt weiter. Diese Theorie geht davon aus, dass der Staat nicht nur für das wirtschaftliche Wohlergehen seiner Bürger, sondern auch für deren moralische und ethische Vervollkommnung verantwortlich ist. Dabei soll der Staat jedem Einzelnen helfen in moralischer (d. h. im Umgang der Bürger miteinander) als auch in ethischer Hinsicht (d. h. in der Optimierung individueller Fähigkeiten) zu besseren Menschen zu werden. Die perfektionistische Grundidee wurde schon in der Antike formuliert; so fördert etwa Platons idealer Staat die natürlichen Veranlagungen seiner Bürger. Gleichzeitig betonen zeitgenössische Vertreter des Perfektionismus die Rolle des Staates im Bildungsbereich, um so die Besserung der Bürger mit einer grundsätzlichen Freiheitskonzeption in Einklang zu bringen. Staatliche Eingriffe in Bereiche, in denen vernünftige Bürger diese nicht befürworten würden, sollen so minimiert werden. Vor dem Hintergrund einer prospektiven Sorgeverantwortung (Ex-ante-Verantwortung) diskutieren die deutschen Philosophen Nida-Rümelin und Bratu drei Fragestellungen, um die Dimension sozialer Verantwortung ohne kohärente normative Hintergrundtheorie dennoch skizzieren zu können. Die erste Grundfrage sozialer Verantwortung bezieht sich auf die Schaffung eines politischen 66 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung Gemeinwesens. Historisch ist diese Frage eng mit Theorien der politischen Philosophie verknüpft; so waren für Aristoteles etwa nur männliche Athener Bürger für die Schaffung des politischen Gemeinwesens in der Polis (dem griechischen Stadtstaat) verantwortlich. Für den englischen Staatsphilosophen Thomas Hobbes (1588-1679) ist es die Verantwortung aller vernünftigen Personen, ihre individuellen Rechte (etwa zur Selbstverteidigung) an den Staat im Sinne eines Gewaltmonopols Merksatz abzugeben, um so Sicherheit und Rechtssicherheit zu etablieren. Nach Hobbes liegt es also im Eigeninteresse der Bürger, den Naturzustand (der durch ständige Konkurrenz um Ressourcen zwischen allen Mitgliedern der Gemeinschaft geprägt ist) zu beenden und stattdessen ein politisches Gemeinwesen mit Gewaltmonopol zu schaffen. Betrachtet man eine Vielzahl politischer Theorien (von Rousseau über Kant bis zu Thomas Pogge und Iris Marion Young), so gehen praktisch alle Ansätze von der Verantwortung zur Schaffung eines politischen Gemeinwesens aus. Manche Autoren plädieren darüber hinaus für die Schaffung überstaatlicher Strukturen (wie etwa Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“). Die Akteure sind zumeist vernünftige Personen, mit allfälligen Einschränkungen im Hinblick auf den konkreten Vernunft- und Personenbegriff. Die Kernaufgabe des legitimen Staates variiert je nach Theorie (z. B. Sicherheit, Wahrung der Menschenrechte, Wahrung von moralischen Pflichten usw.), wobei zumeist unklar bleibt, vor welcher Instanz die Rechtfertigung bezüglich der Schaffung eines solchen Gemeinwesens geschehen müsste. Die zweite Grundfrage nach Nida-Rümelin und Bratu fragt nach den sozialen Aufgaben, die unter den Verantwortungsbereich eines politischen Gemeinwesens fallen. Hierbei wird etwa die vermeintliche staatliche Verantwortung zur Umverteilung von Gütern vor dem Hintergrund libertärer und liberaler Theorien diskutiert. Dies hängt nicht zuletzt vom jeweils zugrunde gelegten Freiheitsbegriff im Hinblick auf negative Freiheit (Freiheit, nicht gehindert zu werden bzw. von staatlicher Intervention eingeschränkt zu werden) und positive Freiheit Merksatz (Freiheit, bestimmte Handlungen zu setzen bzw. Freiheit, in der Ausübung bestimmter Handlungen aktiv gefördert zu werden) ab. Zuletzt diskutieren Nida-Rümelin und Bratu die Frage, wer innerhalb des politischen Gemeinwesens für konkrete Handlungen verantwortlich ist. Während die vorangegangenen Fragen sich konzeptionell durch die 67 Gesellschaftliche und soziale Verantwortung unterschiedlichen normativen Hintergrundtheorien unterscheiden, liegt der dritten Fra

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