Folien_Wirtschaftsanthropologie_VL_2_-_Marktwirtschaft PDF
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Georg-August-Universität Göttingen
2024
Tim Burger
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Summary
These are lecture notes on economic systems, focusing on market economics and the concept of embeddedness. The document discusses the history of economic thought and examines ethnographic examples, including the Tiv economy, water privatization in Europe, and Wall Street. The lecture slides are from the winter semester 2024/2025.
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Institut für Ethnologie TIM BURGER Wirtschaftliche Systeme Wintersemester 2024/2025 Institut für Ethnologie VORLESUNG 2 Marktwirtschaft: Von den Commons zur Finanzwelt 31.12.2024 Georg-August-Universitä...
Institut für Ethnologie TIM BURGER Wirtschaftliche Systeme Wintersemester 2024/2025 Institut für Ethnologie VORLESUNG 2 Marktwirtschaft: Von den Commons zur Finanzwelt 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 2 Gliederung für Heute Kurze Wiederholung und Weiterführung der letzten Sitzung Der Begriff der Marktwirtschaft Karl Polanyis ‚Great Transformation‘ Substantivisten vs. Formalisten Ethnographisches Beispiel: Tauschsphären der Tiv Ethnographisches Beispiel: Privatisierung von Wasser Ethnographisches Beispiel: Wall Street 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 3 Kurze Wiederholung: Erfindung ‚der Ökonomie‘ in der Mitte des 20. Jahrhunderts Infragestellung ökonomischer Grundannahmen Ethnographisches Beispiel: Büffel in ruraler Ökonomie Ägyptens Homo Oeconomicus → Über Malinowskis Kritik hinaus 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 4 Homo Oeconomicus und freier Markt Nochmal Adam Smith und Neoklassische Ökonomie: Gegensatz zwischen der Natur der Menschen und jener der Dinge bedingt den freien Wettbewerb Aus diesem Gegensatz ergibt sich „Gesetz“ von Angebot und Nachfrage Wirkt wie eine unsichtbare Hand über den Preismechanismus und bestimmt Marktgeschehen und Produktion Überangebot: Preise sinken, Produktion wird verlagert oder aufgegeben; Nachfrage steht kein entsprechendes Angebot mehr gegenüber, Preise steigen, neue Produzenten steigen ein => Kreislauf beginnt von vorne Markt: sich selbst regulierende Institution, die den Individuen und der Gemeinschaft nur zum Guten dient; aus dem Ausbalancieren zwischen Angebot und Nachfrage ergibt sich der perfekte Preis => so wird aus dem Eigennutzen des Einzelnen das maximale Wohl aller 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 5 Karl Polanyi Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler (1886-1964) 1944: The Great Transformation 1957: Trade and Market in the Early Empires Argumentiert gehen die neoklassische Wirtschaftstheorie Begründet den wirtschaftsanthropologischen Substantivismus 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 6 Karl Polanyis ‚Great Transformation‘ (1944) „Die neuere historische und anthropologische Forschung brachte die große Erkenntnis, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Er schätzt materielle Güter nur insoweit, als sie diesem Zweck dienen… jeder einzelne Schritt … hängt mit einer Anzahl gesellschaftlicher Interessen zusammen…Diese Interessen werden in einer kleinen Jäger und Fischergemeinschaft ganz anders sein als in einer riesigen despotischen Gesellschaft, doch wird das Wirtschaftssystem in jedem Fall von nichtökonomischen Motiven getragen werden.“ (Polanyi 1978 : 75) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 7 Karl Polanyis ‚Great Transformation‘ (1944) Normalfall der „eingebetteten Ökonomie“ „Normalerweise ist die Wirtschaftsordnung bloß eine Funktion der Gesellschaftsordnung, in der sie eingeschlossen ist“ (Polanyi 1978: 106) Historischer Sonderfall der selbstregulierenden Marktwirtschaft „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet“ (Polanyi 1978: 88-89) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 8 Karl Polanyis ‚Great Transformation‘ (1944) Wie kam es dazu? → ‚Große Transformation‘ im 19. Jahrhundert in Europa Reziprozität – Redistribution – Haushalten – Markttausch Fiktive Waren: Land, Arbeit, Geld Mythos des selbst-regulierenden Marktes Kategorische und qualitative Unterscheidung zwischen Markt und Nicht-Markt Gesellschaften 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 9 Karl Polanyi Konsequenzen der Großen Transformation: Gesellschaft wird zum Beiwerk des Wirtschaftssystems “Entbettung” = Abstraktion ökonomischer Beziehungen aus sozialen und kulturellen Kontexten → „[…] bedeutet letztlich nichts anderes als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren“ (1978: S.70) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 10 Polanyi: Substanz und Form “The substantive meaning of economic derives from man’s dependence for his living upon nature and his fellows. It refers to the interchange with his natural and social environment, in so far as this results in supplying him with the means of material want satisfaction. The formal meaning of economic derives from the logical character of the means-ends relationship as apparent in such words as ‘economical’ or ‘economizing’. It refers to a definite situation of choice, namely, that between the different uses of means induced by an insufficiency of those means. If we call the rules governing choice of means the logic of rational action, then we may denote this variant of logic, with an improvised term, as formal economics. The two root meanings of ‘economic’ …have nothing in common. The latter derives from logic, the former from fact.” (Polanyi 1968: 122) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 11 Substantivismus vs. Formalismus (v.a. 1960er) Formalisten: Prinzipien westlicher Ökonomie Substantivisten: als universell Differenz verschiedener Eigeninteressen und Wirtschaftsformen Gewinnstreben, aber nicht rein ökonomisch gedacht ‚Westliche‘ Gesellschaft als historischer Sonderfall R. Firth, M. Herskovits B. Malinowksi, M. Mauss, P. Bohannan, M. Sahlins 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 12 Substantivisten vs. Formalisten Formalisten Substantivisten Synchron Diachron Mathematisch Nicht-mathematisch Deduktiv Induktiv Normativ Deskriptiv Individualistisch Holistisch Positivistisch Interpretativ (nach Isaac 2012) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 13 Gegenseitige Kritik Formalisten behaupten: Substantivisten behaupten: Nutzenmaximierung auch jenseits Annahme, dass überall Egoismus durch von Reichtum/Kapital Nutzenmaximierung vorherrschst ist Relevanz des Faches durch eurozentrisch Kolaboration mit Ökonomie erhöhen Kritik an Rationalitätsprinzip Wert der Deduktion – einheiltiche Vorwurf der Erweiterung Theorie für Wissenschaft ökonomistischer Logiken 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 14 Beispiel 1: Tauschsphären bei den Tiv Feldforschung in Nigeria zwischen 1949 und 1953 Tiv leben von Landwirtschaft, Viehzucht, Handwerk → Subsistenzwirtschaft mir ‚peripheren Märkten‘ Güter zirkulieren in drei grund- legenden „Tauschsphären“ 1) Subsistenzgüter 2) Prestigegüter 3) Rechte an Personen → „multizentrische Ökonomie“ 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 15 Tiv Ökonomie “They are prosperous subsistence farmers and have a highly developed indigenous market in which they exchanged their produce and handicrafts, and through which they carried on local trade.” (Bohannan 1959: 492) Aber: „Among the Tiv, the market principle is not central. For all the vigor of the market place, the market principle of social integration is peripheral.“ (Bohannan und Bohannan 1968: 220) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 16 Tiv Ökonomie Die wesentlichen Produktionsfaktoren unterliegen nicht dem Marktprinzip ➔ Land: strikt unveräußerlich; jedes Mitglied der Gesellschaft verfügt über Grundlagen der Subsistenzproduktion; veräußert werden lediglich die damit erzielten Überschüsse ➔ Arbeit: Organisation primär im Rahmen der Familien und Clansolidarität; in vorkolonialer Zeit auch Sklaven; Lohnarbeit wird ebenfalls als Sklaverei bezeichnet Vergleiche: Polanyis „fiktive Waren“ ➔ Kapital: vor allem verschiedene Prestigegüter 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 17 ‚Spheres of Exchange‘ – ‚multi-centric economy‘ “a multi- centric economy is an economy in which a society's exchangeable goods fall into two or more mutually exclusive spheres, each marked by different institutionalization and different moral values.” (Bohannan 1959: 492) 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 18 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 19 Kritik an Bohannans Tauschsphären Bohannan beobachtet in Folge der Kolonialzeit einen tiefgreifenden sozioökonomischen Wandel unter den Tiv; er beschreibt die Bedeutung der Tauschsphären jedoch rückwärtsgewandt, das heißt er spekuliert mit Blick auf die vorkoloniale Zeit und bleibt dabei zu lokal (Guyer 2004) Objekt-zentrische Perspektive bei Bohannan – Güter bzw. Transaktionssphären lassen sich aber auch mit Blick auf Geschlechterbeziehungen, soziale Hierarchien, oder Produktionsverhältnisse klassifizieren (z.B. Klute 2003; Hutchinson 1996) Identifiziert „zu wenige Tauschsphären“ (Kopytoff 1986) → Trotzdem weitreichende Bedeutung in der Wirtschaftanthropologie 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 20 Tauschsphären in ‚unserer‘ Gesellschaft? Nicht alle Güter sind frei austauschbar → sie unterliegen gesellschaftlich konstruierten Restriktionen Spannungsfeld von Wert (im Singular als ökonomisch vergleichbare Größe) und Werten (im Plural, als soziokulturell bestimmte Ideale) Solche Verhältnisse sind historisch → sie unterliegen auch sozialen Aushandlungsprozessen, ökonomischen Wandel etc. 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 21 Beispiel 2: Wasserprivatisierung in Europa Markt will Problem der begrenzten Ressourcen lösen Wasser: Gemeingut oder Ware? Andrea Mühlebachs A Vital Frontier: Water Insurgencies in Europe (2023) Ethnographie der Wasserprivatisierung in Berlin, Süditalien und Irland 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 22 Wasserprivatisierung in Europa Systematische Privatisierung von Wasserversorgern → Kontext: Austeritätspolitik, Neoliberalismus Kapitalakkumulation vs. Lebens-Mittel Aufstände, politischer Widerstand, Klagen, Protest, ziviler Ungehorsam Volatilität von Finanzialisierungprozessen 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 23 Beispiel 3: Wall Street Caitlin Zalooms Out of the Pits: Traders and Technology from Chicago to London (2010) Ultimativer Marktplatz des globalen Kapitalismus? Aktienhändler als marktrationale Akteure? https://www.youtube.com/watch?v=VVxYOQS6ggk 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 24 Nächste Vorlesung am 09. Januar 2024 Kapitalismus: Marx und darüber hinaus 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 25 Bildquellen Karl Polanyi https://fr.wikipedia.org/wiki/Karl_Polanyi Tiv Häuser und Feld http://agronigeria.com.ng/wpcontent/uploads/2015/12/BENUE-IMAGE- TIV-VILLAGE.jpg 31.12.2024 Georg-August-Universität Göttingen 26