Marktpsychologie PDF

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This document provides an introduction to market psychology, a branch of economic psychology that explores human behavior in markets. It discusses the subject's scope and its relationship to other fields, like consumer psychology and advertising psychology. The text outlines the different approaches and methods within market psychology and economic theory.

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ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Prinzipiell existieren Unternehmen nur deshalb, weil sie den Kunden und Anwendern einen Nutzen stiften. So entscheidet über den Erfolg eines Unternehmens letztlich der Absatz und damit verbunden die Bereitschaft des Konsumenten, Leistungen (Produkte...

ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Prinzipiell existieren Unternehmen nur deshalb, weil sie den Kunden und Anwendern einen Nutzen stiften. So entscheidet über den Erfolg eines Unternehmens letztlich der Absatz und damit verbunden die Bereitschaft des Konsumenten, Leistungen (Produkte und Service) des jeweiligen Anbieters in Anspruch zu nehmen. Die Marktpsychologie ist eine angewandte Wissenschaft und hat als Teil der Wirtschaftspsychologie das Ziel, menschliches Verhalten auf Märkten zu erklären, vorauszusagen und Hinweise zu geben, wie eine überzeugende, marktgerechte Kommunikation ausgestaltet werden kann. Nach einer Einführung werden in diesem Kurs marktpsychologische Handlungsoptionen und der Kaufprozess näher betrachtet. Nach Abschluss dieses Kurses sind Sie mit den verschiedenen marktpsychologischen Wir- kungsmodellen und der Analyse von Bedürfnissen, Emotionen, Motiven und Einstellungen vertraut und können Ihre Erkenntnisse zur Differenzierung und zielgruppengerichteten Positionierung des Leistungsangebotes eines Unternehmens am Markt nutzen. 10 LEKTION 1 EINLEITUNG, DEFINITIONEN, ABGRENZUNG UND WISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG DER MARKT- UND WERBEPSYCHOLOGIE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – wie die Markt- und Werbepsychologie im größeren Kontext der Psychologie als wissen- schaftlicher Disziplin verortet ist. – wie Markt- und Werbepsychologie als Teildisziplinen voneinander abzugrenzen sind. – was Medienpsychologie als Spezialdisziplin umfasst. – mit welchen typischen Fragestellungen in diesen Disziplinen umgegangen wird. 1. EINLEITUNG, DEFINITIONEN, ABGRENZUNG UND WISSENSCHAFTLICHE EINORDNUNG DER MARKT- UND WERBEPSYCHOLOGIE Einführung Als Ludwig Erhard (1897–1977), der „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, nach einem weitverbreiteten Bonmot konstatiert haben soll, dass 50 Prozent der Ökonomie Psychologie seien, steckte die Wirtschaftspsychologie noch in den sprichwörtlichen „Kin- derschuhen“. Damals, Mitte des 20. Jahrhunderts, war es sehr unorthodox, Psychologie und Ökonomie gleichzeitig zu nennen. Es passte nicht zur Weltsicht der damaligen Zeit. Das hat sich seitdem grundlegend verändert. Mittlerweile ist es offensichtlich: Ohne Psychologie ist die Ökonomie nicht zu verstehen, weil ökonomisches Handeln Teil der Natur des Menschen ist. Es existiert nicht erst seit ein paar Dutzend oder hundert Jahren, sondern seit zehntausenden, denn Austausch, Teilen und Handel haben sich in der Geschichte der Menschheit entwickelt und bewiesen. Öko- nomie – das ist nichts anderes als eine Reihe nützlicher Verhaltensweisen, die einen effizi- enten Einsatz von Zeit, Energie und lebenswichtigen Ressourcen erlauben. Um diese Ver- haltensweisen zu verstehen, bedarf es der Psychologie. Ob Konsum, Arbeit, Sparen oder ein anderer ökonomischer Prozess: Ein psychologischer Ansatz ist praktisch immer nütz- lich oder sogar unerlässlich. 1.1 Gegenstandsbereich und Teilbereiche der Marktpsychologie Die Psychologie als solche ist eine empirische Wissenschaft, die sich mit dem menschli- chen Erleben und Verhalten beschäftigt und deren Umfang zusammenfassend in Anleh- nung an Neumann (2013, S. 20ff.) wie folgt beschrieben werden kann: Anliegen der Psychologie ist es, spezifische Methoden zu entwickeln, um das Erleben und die unterschiedlichen Verhaltensweisen konkret untersuchen zu können. Beispiele dafür sind Fragebögen zur Einstellung von Personen, um ihre Meinung abzufragen, oder auch Schemata anhand deren sich beobachtetes Verhalten klassifizieren und spezifischen Kate- gorien zuordnen lässt. Nach dem jeweiligen Ziel und orientiert an der Herkunft der Frage- stellungen haben sich in der Historie der empirischen Psychologie drei Hauptrichtungen herausgebildet: die Theoretische, 12 die Angewandte und die Praktische Psychologie. Entsprechend den Arbeitsinhalten, können diese Teilbereiche noch weiter ausdifferenziert werden. Gegenstand der Theoretischen Psychologie in Forschung und Lehre ist das menschliche Erleben und Verhalten, ohne dass jedoch ein besonderes Gewicht auf der Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse liegt. Aussagen der Theoretischen Psychologie orientieren sich aus- schließlich am Kriterium der Wahrheit der jeweiligen Erkenntnisse. Die praktische Nütz- lichkeit ist hingen kein Kriterium, da allein der Erkenntnisgewinn für die psychologische Theorie entscheidend ist und nicht der praktische Nutzen für den Einzelnen. Beispiels- weise werden in diesem Zusammenhang zwar die Gesetzmäßigkeiten beim Lernen von Worten untersucht, nicht jedoch deren Anwendungsmöglichkeiten im Kontext von Schu- len oder in Alltagssituationen, wie z. B. bei der Konfrontation mit Werbebotschaften. Ganz anders verhält es sich mit der Praktischen Psychologie. Im Vordergrund stehen bei der Tätigkeit eines praktischen Psychologen der Nutzen seines Auftraggebers und die Lösung von dessen Problemstellungen. Ob dabei die psychologische Theorie weiter fort- geschrieben werden kann, ist indes nicht von Interesse. Als Beispiel sei hier ein klinisch praktizierender Psychologe angeführt, dessen Patient seine Tabaksucht überwinden möchte, wobei gleichgültig ist, ob die zur Anwendung kommende Therapie hinreichend wissenschaftlich erforscht ist. Eine gewisse Zwischenstellung nimmt hingen die Angewandte Psychologie ein: Sie ist sowohl um die Wahrheit und damit verbunden um den Erkenntnisgewinn für die psycho- logische Theorie, als auch um den Nutzen und die praktische Verwertbarkeit der Ergeb- nisse und Erkenntnisse in ihrem Anwendungsbereich bemüht. Ein Psychologe, der im Feld dieser Disziplin tätig ist, baut auf die Erkenntnisse der Theore- tischen Psychologie auf, führt eigene Forschung und entsprechende Studien durch, die sich mit konkreten Aufgabenstellungen befassen und weiter stellt er praktisch tätigen Kol- legen spezifisches Anwendungswissen in Form seiner Forschungsergebnisse bereit. Die Wirtschaftspsychologie ist eine Teildisziplin der Angewandten Psychologie; zu der, z. B. neben Arbeits- und Organisationspsychologie oder der Medienpsychologie, auch die Markt- und Werbepsychologie zählt. Diese hat, wie jede andere angewandte Teildisziplin, auch eine Entsprechung in der Praktischen Psychologie, wenn beispielsweise in einer Internet- oder Marketingagentur oder einem Marktforschungsinstitut psychologische Arbeitsweisen zum Einsatz kommen. Den Gegenstandsbereich der Marktpsychologie beschreiben Raab/Unger/Unger (2016) wie folgt: Marktpsychologie als Wissenschaft erklärt und prognostiziert das menschliche Verhalten in Märkten. Im Folgenden ist unter einem Markt eine Institution zu verstehen, die rahmen- gebend für die Interaktion zweier oder mehrerer Akteure ist und die auf die Generierung von Wert gerichtet ist. Die Akteure haben dabei unterschiedliche Rollen, wie z. B. die eines Anbieters, Nachfragers oder eines Mittlers. 13 Der wohl bekannte Markt ist jener, auf dem materielle oder immaterielle Leistungen (Pro- dukte und Service) erbracht und gegen Geld getauscht werden. In diesen Märkten ist das Streben nach finanziellem Gewinn entscheidend für das Verhalten der Anbieter. Die Käufer suchen nach Nutzen (Käufer von Produktionsgütern) oder Befriedigung von Bedürfnissen (Käufer von Konsumgütern). Es findet selbst dann ein regelmäßiger Austausch statt, wenn das Streben nach Gewinn nicht das Hauptziel ist. Wenn beispielsweise eine Organisation eine Kommunikationskampagne gegen das Fahren unter Alkoholeinfluss startet, bietet sie im Gegenzug etwas an (Sicherheit, Gesundheit), wofür sie die Verbraucher auffordert, das Trinken einzustellen. Dies ist gleichzeitig ein Beispiel für das Marketing von sozialen bzw. Non-Profit-Organisationen. Selbst wenn Parteien im Wahlkampf um Stimmen konkurrie- ren, ist das ein Markt, in dem das Vertrauen in ein Wahlprogramm durch Stimmen ersetzt wird. Ein weiteres Beispiel für einen Markt ist der Finanzmarkt, einschließlich des Aktien- marktes. Alle diese Beispiele sind zweifellos für eine Disziplin relevant, die als „Marktpsy- chologie“ bezeichnet werden kann. Wiswede (2012) beschäftigt sich umfassend mit der Wirtschaftspsychologie. Dazu gehören auch andere Disziplinen, die Wiswede (2012) als „Spezielle Wirtschaftspsychologie“ bezeichnet, wie die Arbeits- und Organisationspsychologie, letztere mit der Subdisziplin der Führungspsychologie. Wiswede betrachtet auch das Verhalten, die Wahrnehmung und die Reaktion von Ersparnissen auf Inflation, Besteuerung und Wohlstand/Armut als Teil der Wirtschaftspsychologie. Im Führungsverhalten werden Anreize (materiell oder imma- teriell) genutzt, um ein bestimmtes Arbeitsverhalten zu erreichen; das Gleiche gilt für den Bereich der Personal- oder Organisationspsychologie. Sparen bedeutet im Sinne von Wiswede (2012) nichts anderes als den sofortigen Verzicht auf den Verbrauch gegen Entgelt (Zinsen). Die Reaktion auf die Inflation kann immer der eingangs beschriebenen Produktmarktdomäne zugeordnet werden, da sie die Reaktion auf Preisänderungen ist. Steuern sind in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Bezahlung einer Dienstleistung im Gegenzug. Es gibt jedoch keine Wahlfreiheit. Unter die- sem Gesichtspunkt ist die Besteuerung nicht Teil der Marktpsychologie. Es erscheint jedoch eher willkürlich, von einem Bereich der Marktpsychologie einerseits, und einem Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie andererseits auszugehen, d. h. bestimmte Börsengeschäfte aus dem Bereich der Marktpsychologie auszuschließen und sie neben der Marktpsychologie einem höheren Bereich der Wirtschaftspsychologie zuzuordnen. Kieser und Walgenbach (2007) sehen die Möglichkeit, Kunden als ihre Mitglie- der zu betrachten, weil sie die Entscheidungen der jeweiligen Organisation beeinflussen. In dieser Perspektive kommt Irle (1983, S. 4) zu dem Schluss, dass die Konsumpsychologie ein „besonderes Feld der Organisationspsychologie“ ist. Dies wird verständlich, wenn angenommen wird, dass Märkte nur eine Form der Organisation sind. Unternehmen unter- scheiden sich vom Markt als Organisation durch das Vorhandensein einer zentralen Admi- nistration. Die Märkte haben eine solche (in aller Regel) nicht. Nach Wiswede (2012) stellt sich die Wirtschaftspsychologie mit ihren Teildisziplinen wie in folgender Abbildung dar: 14 Abbildung 1: Teilbereiche der Wirtschaftspsychologie Quelle: Raab/Unger/Unger 2016, S. 3. Ausgehend von einem umfassenden Marktkonzept, wird in Anlehnung an Raab/Unger/ Unger (2016) im Folgenden von einem umfassenden Verständnis von Marktpsychologie ausgegangen, die sich somit wiederum in eine unbegrenzte Anzahl von Teildisziplinen unterteilen lässt. Welche Teildisziplinen gebildet und wie sie untergliedert werden, hängt unter anderem vom Interesse des jeweiligen Forschers ab. Die Bedeutung der gewählten Unterteilung oder Gebietsbildung muss dann als Hypothese im zukünftigen Forschungs- prozess nachgewiesen werden. Es wird die Marktpsychologie als die wissenschaftliche Disziplin betrachtet, die das Markt- verhalten erklärt (Raab/Unger/Unger 2016): Konsumpsychologie, Werbepsychologie, Arbeitspsychologie, Organisationspsychologie, Führungspsychologie, Kommunikationspsychologie, Medienpsychologie, Entscheidungs- psychologie sind Spezialdisziplinen, die sich überschneiden können. Auch ein Teil der Gesundheitspsychologie kann Teil der Marktpsychologie sein, denn es gibt einen Markt für Gesundheitsprodukte und erforderliches Gesundheitsverhalten. 15 1.2 Gegenstandsbereich und Teilbereiche der Werbepsychologie Werbepsychologie Die Werbepsychologie befasst sich mit den Erlebniswelten, Verhaltensweisen und Reakti- Zentraler Betrachtungs- onsmustern der Konsumenten auf die Anbieterwerbung (Neumann 2013). In der relevan- bereich der Werbepsy- chologie ist die Auswir- ten Fachliteratur werden Fakten und Forschungsschwerpunkte unter Themen wie „Wer- kung der Werbung auf bung und Konsumpsychologie“ oder dem Begriff „Konsumentenverhalten“ erörtert den Verbraucher. (Felser 2015; Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013). Dieser breite Begriff des Konsumenten ist eng mit dem Marketingkonzept von Kotler/ Keller/Bliemel (2007, S. 11) verbunden. Laut diesen Autoren dient das Marketing dazu, die Austauschprozesse zu gestalten, durch die Einzelpersonen oder Gruppen (Institutionen) ihre Bedürfnisse erfüllen, insbesondere die Austauschbeziehungen zwischen den Unter- nehmen, die Produkte herstellen, und den Konsumenten, die sie kaufen. Marketing bezieht sich auch auf Austauschprozesse in nicht-kommerziellen Bereichen, z. B. zwischen Krankenhäusern oder Museen und Bürgern (Konsumenten), die die Dienste dieser Institu- tionen nutzen. Die genaue Abgrenzung eines so breiten Konzepts des Konsumentenverhaltens gegenüber anderen menschlichen Verhaltensweisen ist schwierig, reicht aber aus, wenn das For- schungsgebiet nur grob abgegrenzt ist (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013). Entscheidend ist jedenfalls die Abgrenzung, die sich aus der aktuellen Forschungsarbeit und damit aus den wissenschaftlichen Konventionen ergibt, und diese Konventionen ändern sich ständig (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013). Das grundlegende Ziel der Konsumentenforschung ist es, das Konsumentenverhalten zu verstehen und zu erklären und Empfehlungen abzuleiten, um dieses Verhalten zu beein- flussen. Die Forschung zum Konsumentenverhalten wird von Kroeber-Riel/Gröppel-Klein (2013, S. 11) als „angewandte Verhaltenswissenschaft“ verstanden, deren Ziel es sei, Verhaltens- gesetze zu formulieren, zu testen und an die Praxis weiterzugeben. Dies könne nur erreicht werden, wenn sie die notwendigen Erkenntnisse der empirischen Verhaltenswissenschaf- ten übernimmt oder durch eigene empirische Studien erwirbt. „Unter den Verhaltenswis- senschaften oder der Verhaltensforschung fassen die Autoren alle Wissenschaften zusam- men, die sich auf das menschliche Verhalten beziehen. Ein interdisziplinäres Grundverständnis charakterisiert auch die verstehende Richtung“ (ebd.). Die Wissenschaft des menschlichen Verhaltens umfasst vor allem (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 11): Psychologie Soziologie Sozialpsychologie Vergleichende Verhaltensforschung (Verhaltensbiologie) Physiologische Verhaltenswissenschaften und in jüngster Zeit Hirnforschung (Neurologie). 16 Daraus folgern die Autoren vereinfachend, dass sich die Psychologie mit den Aspekten des individuellen Verhaltens beschäftigt, hingegen die Soziologie mit den sozialen Aspekten (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 11). Die Sozialpsychologie kombiniert beide Ansätze. 1.3 Medienpsychologie als Spezialdisziplin der Wirtschaftspsychologie Die Medienpsychologie kann als Spezialdisziplin der Wirtschaftspsychologie angesehen Medienpsychologie werden, da sie auf der Grundannahme der Medienwissenschaftler basiert, dass das Kom- Die Art und Weise, wie Menschen Medien zur munikationsmedium als Unterscheidungskriterium gegenüber direkter Kommunikation Kommunikation einset- einen Unterschied macht. Andernfalls hätten Medienpsychologen nichts einzubringen zen, verändert die Kom- über das hinaus, was Psychologen bereits entdeckt haben, und die Massenkommunikati- munikation. Ein eigener Umgang mit Medien onsforschung wäre nicht anders als die zwischenmenschliche Kommunikation. Wenn begründet eine eigen- Menschen Medien nutzen, verändert sich die Art ihrer Kommunikation. Wie McLuhan ständige Medienpsycho- logie. (1964) bereits feststellte, verändern Medien Form, Tempo, Prozess, Größe und sogar den Inhalt der Kommunikation. Es ist daher logisch zu erwarten, dass sie auch die Auswirkun- gen der Kommunikation verändern werden. Was tun Medien also mit dem Kommunikationsprozess? Dieser Frage geht Sundar (2017) nach und gibt dabei einige Denkanstöße zu dieser Forschungsrichtung: Eine rudimentäre mechanistische Konzeption der Rolle der Medien in der Kommunikation würde nahelegen, dass sie Botschaften über eine Entfernung übertragen, die Signalstärke verstärken, die Reichweite des Publikums erweitern und so weiter. Unter dieser Perspektive ist das Medium ein bloßer Kanal, strukturell in seinem Beitrag zum Kommunikationsprozess und für ein sozialwissenschaftliches Verständnis der Dynamik der Kommunikation weitgehend uninteressant. Diese Sichtweise hat den Bereich der Medien- und Kommunikationswissen- schaften für einen Großteil ihrer Geschichte geprägt, wobei sich die Wissenschaftler vor allem auf Botschaften konzentrieren, die den Prozess der Kommunikation beeinflussen. Die Fortschritte in der Medientechnik in den letzten Jahrzehnten haben jedoch dazu geführt, dass man das Medium der Kommunikation nicht nur als einen reinen Kanal zur Übertragung von Informationen zwischen Sendern und Empfängern betrachtet. In der Regel betrachten und beschreiben Menschen ihre Erfahrungen mit modernen Medien (von Websites über Spiele bis hin zu Virtual Reality) räumlich, als Orte, die sie besuchen und wo sie sich mit anderen treffen, mit ihnen arbeiten und spielen (Sundar 2017). Da Computer und Roboter im Namen des jeweiligen Mediennutzers Entscheidungen treffen und dem Nutzer personalisierte Information zur Verfügung stellen, neigen die Nutzer dazu, sie als eigenständige autonome Quellen zu behandeln. Die Menschen als Nutzer verhalten sich ihnen gegenüber sozial und neigen dazu, unbelebten Objekten automatisch Absichten zuzuordnen, weil sie gedankliche Drehbücher über die zwischenmenschliche Kommunika- tion im Kopf des Nutzers anstoßen. 17 Wie Sudar (2017) weiter ausführt, ist das menschliche Gehirn nicht so entwickelt, dass es auf moderne Medientechnologien in einer Weise reagiert, die zwischen rein menschlicher Kommunikation und menschlicher/computergestützter Kommunikation unterscheidet. Während sich die Studien in der einschlägigen Literatur darauf konzentriert haben, wie die Psychologie der Interaktion mit Medien der Psychologie der Interaktion mit Menschen ähnlich ist, hat sich die Literatur der Zwischen- und Gruppenkommunikation darauf kon- zentriert, inwieweit sich die medienvermittelte Kommunikation von direkter zwischen- menschlicher Kommunikation unterscheidet. Die allgemeine Tendenz ist dabei, sich auf die menschliche Psychologie zu konzentrieren, die sich an die Erfordernisse der Technologie anpasst, und nicht auf spezifische technolo- gische Merkmale, die Veränderungen in der menschlichen Psychologie und im Verhalten anregen (Sundar 2017): Die Berücksichtigung der zwischenmenschlichen Kommunikation als Vergleichsmaßstab hilft dabei zwar, die durch die Technik verursachten Veränderungen zu bewerten, erklärt aber nicht ganz die eindrückliche Benutzererfahrung, die die modernen Kommunikations- technologien bieten. Überall sind Menschen zu sehen, die geradezu an ihren mobilen Geräten kleben – eine dramatische Veränderung des sozialen, menschlichen Verhaltens in nur etwa einem Jahrzehnt. Noch dramatischer ist die Verbreitung und zwanghafte Nut- zung von Social-Networking-Angeboten. Es gibt noch einige andere Beispiele aus der jün- geren Geschichte, darunter Spiele, die die Unterhaltungsindustrie dominieren. Warum fühlen sich die Menschen so von Spielen angezogen? Warum hängen sie so an ihren mobi- len Geräten? Warum sind sie so froh, dass sie von sinnlosem Gerede über Instant Messen- ger und belanglosen Inhalten über die Social-Media-Kanäle unterbrochen werden? Es ist ja nicht so, dass diese Medien neue Inhalte bereitstellen, die es vorher nicht gab. Neu ist die Bequemlichkeit und Art und Weise, wie die Inhalte den Nutzern zur Verfügung gestellt werden. Sie bieten ganz einfach eine neue Form der Interaktion. Jedes dieser Medien hat einzigartige technologische Eigenschaften, die sich in Form von spezifischen Interface- Features und Kostenvorteilen manifestieren, die die Art der Kommunikation prägen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Psychologie der Menschen, der Nutzer. Mit Bezug auf die oben angesprochenen Märkte und ihre jeweiligen Akteure kann die Medienpsychologie somit als Teil der Marktpsychologie verstanden werden (siehe dazu auch Neumann, 2013). 1.4 Typische Fragestellungen der Markt- und Werbepsychologie Betrachtungsgegenstände der Markt- und Werbepsychologie sind also das Erleben und Verhalten der Akteure im marktwirtschaftlichen Kontext, entsprechend ihrer jeweiligen Rolle Anbieter, Mittler/Funktionär oder Konsument (Neumann 2013, S. 22ff.). Eine beson- dere Beachtung kommt dabei den Medien und der durch sie vermittelten Kommunikation zu. Typische Aufgaben und Fragestellungen des Gegenstandsbereichs sind z. B. bei Wis- wede (2012), Fennis (2015), Moser (2015) oder Raab/Unger/Unger (2016) zu finden. Über 18 die Wirkung von Werbung nachzudenken, bedeutet immer, eine bestimmte Perspektive zu wählen, um dies zu tun. In diesem Skript wird eine psychologische Perspektive eingenom- men, die sich auf individuelle Reaktionen auf klar definierte Werbeimpulse konzentriert. Diese psychologische Perspektive ist jedoch keineswegs die einzige Alternative. So gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven zur Werbewirksamkeit, wie hier zusammenfassend dargestellt (Fennis 2015): 1. Ein eher naiver Ansatz geht davon aus, dass Werbung effektiv sein muss, einfach weil sie so allgegenwärtig ist und die Werbeausgaben beträchtlich sind und stetig steigen. 2. Der ökonomische Ansatz versucht, das Problem der Auswirkungen anzugehen, indem er die Werbeausgaben mit den aggregierten Veränderungen des Umsatzvolumens korreliert. 3. Der Medienansatz konzipiert die Werbewirksamkeit im Hinblick auf die Anzahl der Personen in einer bestimmten Zielgruppe, die einer Botschaft ausgesetzt waren. Daher versteht es Wirkung als das Ausmaß der „Reichweite“ der Botschaft. Eine wirk- same Botschaft in diesem Ansatz ist eine, bei der viele Konsumenten des Zielseg- ments und relativ wenige Konsumenten außerhalb des Zielsegments exponiert wur- den. Dieser Ansatz ist nach wie vor ein dominierendes Paradigma in der Werbepraxis, bei dem Provisionen und Gebühren für Agenturen weitgehend auf der effektiven Reichweite basieren. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass er uns nicht über die Auswirkungen dieser Exposition informieren kann: Es ist unklar, was passiert, wenn ein Verbraucher der Botschaft ausgesetzt ist. 4. Der kreative Ansatz hingegen behauptet, eine Antwort auf dieses Problem zu geben, tut dies aber, indem er Effektivität mit Kreativität gleichsetzt. Es geht davon aus, dass eine Botschaft in dem Maße wirksam ist, wie sie gut gemacht und kreativ ist (wobei offen bleibt, was eine „kreative Anzeige“ ist). Dieser Begriff ist in Werbeagenturen weit verbreitet, wo Creative Directors (verantwortlich für Message-Strategie und Produk- tion) häufig diejenigen sind, die den Werbetreibenden davon überzeugen müssen, sich für die eine oder andere Art von Werbebotschaft zu entscheiden. 5. Schließlich zielt der psychologische Ansatz darauf ab, die Auswirkungen der Werbung auf die individuelle Ebene zu identifizieren. Das heißt, ihr Ziel ist es, spezifische Wer- beimpulse mit spezifischen und individuellen Verbraucherreaktionen in Beziehung zu setzen. Darüber hinaus sollen die intrapersonalen, zwischenmenschlichen oder grup- penbezogenen psychologischen Prozesse artikuliert werden, die für die Beziehung zwischen Werbeimpulsen und Verbraucherreaktionen verantwortlich sind. Der psychologische Ansatz ist die Perspektive der Wahl für die folgenden Betrachtungen in diesem Skript. Bereits vor mehr als 100 Jahren, 1904, veröffentlichte Walter D. Scott im Atlantic Monthly eine Arbeit mit dem Titel „The Psychology of Advertising“. Diese Veröf- fentlichung markiert den Beginn einer Ära, in der das Thema der Werbewirkung auf die Verbraucher seitens Praktikern, betroffenen Organisationen der öffentlich-sozialen Ord- nung und Wissenschaftlern überwältigende Beachtung gefunden hat. Ebenso hatte Claude C. Hopkins, ein Werbefachmann, bereits 1923 diesen Rat für seine Kollegen und Werbefachleute: Der kompetente Werbefachmann muss die Psychologie verstehen. Je mehr er darüber weiß, desto besser. Er muss lernen, dass bestimmte Effekte zu bestimm- ten Reaktionen führen, und dieses Wissen nutzen, um die Ergebnisse zu optimieren und Fehler zu vermeiden. 19 Der psychologische Ansatz impliziert nicht nur eine Fokussierung auf den Einzelnen, son- dern erfordert auch, dass die folgenden Punkte so genau wie möglich beschrieben wer- den: a) die Art der Konsumentenreaktionen, b) die Art Werbeimpulse, die diese Reaktionen beeinflussen und c) die Art der postulierten, kausalen Wirkungszusammenhänge zwischen Werbeimpulsen und Konsumentenreaktionen. Im Gegenstandsbereich der Werbepsychologie und der Erforschung des Konsumentenver- haltens umfassen spezifische Outcome-Messungen auf individueller Ebene demgemäß Gedanken, Gefühle und Handlungen oder, formeller gesagt, kognitive, affektive und ver- haltensorientierte Reaktionen der Verbraucher (Fennis 2015): Kognitive Reaktionen der Konsumenten sind Überzeugungen und Gedanken zu Marken, Produkten und Dienstleistungen, die die Konsumenten als Reaktion auf Werbung generie- ren. Dazu gehören die „traditionellen“ Werbewirkungsindizes wie Markenbekanntheit und Marken (und Produkt)-Rückruf und Wiedererkennung sowie neu gebildete Assoziationen über Produkte und Marken, die manchmal eine Funktion der in der Werbung anzutreffen- den, überzeugenden Informationen (d. h. überzeugenden Argumente) sind. Nach der Defi- nition von Einstellungen, als Kategorisierung eines Objekts (z. B. eines Produkts, einer Bot- schaft oder einer Marke) entlang einer bewertenden Dimension, sollten Einstellungen auch als kognitive Reaktionen betrachtet werden. Demgemäß erfasst eine Einstellung, wie gut oder schlecht ein Objekt von Verbrauchern beurteilt wird. Ebenso können Präferenzen von Marke X gegenüber Marke Y auch als kognitive Reaktionen betrachtet werden. Affektive Reaktionen hingegen beinhalten verschiedene mehr oder weniger flüchtige Emo- tionen und Stimmungen, die in Abhängigkeit von der Werbeeinblendung auftreten können und sich in ihrer Wertigkeit (positiv versus negativ) und Intensität (d. h. Erregung) unter- scheiden (Fennis 2015). Beispiele sind Wärme, Irritation, Angst, Stolz, Traurigkeit oder Wut. Schließlich beinhalten Verhaltensreaktionen die Absicht und das tatsächliche Verhal- ten als Reaktion auf Werbung, wie z. B. den Kauf des Produkts, die Wahl einer Marke, aber auch Produktversuche, Markenwechsel und die Entsorgung eines Produkts. ZUSAMMENFASSUNG Die Psychologie als empirische Wissenschaft, hat die Erforschung des menschlichen Erlebens und Verhaltens zum Gegenstand. Ihr Anliegen ist es, mit spezifischen Methoden unterschiedliche, menschliche Verhal- tensweisen zu untersuchen. In der Psychologie als wissenschaftlicher Disziplin werden drei Hauptrichtungen unterschieden: Die Theoretische Psychologie umfasst die Lehre des menschlichen Ver- haltens und Erlebens, ohne dass in diesem Bereich jedoch ein besonde- res Gewicht auf die Anwendbarkeit der Forschungsergebnisse gelegt wird. 20 Die Praktische Psychologie stellt hingegen gerade den Nutzen und die Lösung einer Problemstellung in den Vordergrund; ob dabei jedoch die Theorie insgesamt fortgeschrieben werden kann, ist nicht von Interesse. Eine Zwischenstellung nimmt die Angewandte Psychologie ein, die einerseits dem Erkenntnisgewinn und der Theorie verpflichtet ist, ander- seits sich jedoch um die praktische Verwertbarkeit bemüht. Dem Bereich ist die Wirtschaftspsychologie mit ihren Sub-Disziplinen, wie der Markt- und Werbepsychologie und der Medienpsychologie, zuzuordnen. Die Marktpsychologie ist demgemäß die Disziplin, die das menschliche Verhalten und Erleben auf Märkten untersucht; Gegenstandsbereich der Werbepsychologie als Teildisziplin sind das Verhalten und die Reaktio- nen der Nachfrager bzw. Konsumenten auf die Werbeaktionen und das Verhalten der Anbieter. Die Medienpsychologie geht darüber hinaus von der Prämisse aus, dass das Medium die Kommunikation verändert und sie somit über die reine zwischenmenschliche Kommunikation hinaus- geht. Typische Fragestellungen der Markt- und Werbepsychologie richten sich daher auf die Effektivität der Werbemaßnahmen und ihrer Auswirkun- gen, den Medieneinsatz und dessen Werbewirksamkeit, sowie die Aus- wirkungen auf Ebene des Individuums. Ein wesentlicher Gegenstands- bereich ist daher die Erforschung des Konsumentenverhaltens. 21 LEKTION 2 MARKTPSYCHOLOGISCHE INTERVENTIONEN LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – wie sich der Prozess praktisch-psychologischen Handelns gestaltet und welche typi- schen Phasen im Anwendungsfeld der Marktpsychologie dabei durchlaufen werden. – welche Ansatzpunkte von Interventionen (Maßnahmen) es seitens der unterschiedli- chen Akteure am Markt gibt. – was bei der Gestaltung eines Marktangebotes aus Sicht eines Anbieters zu beachten ist. – welche Arten von Nutzen es aus Sicht der Konsumenten gibt und auf welcher Ebene dabei in hiesigen Märkten der Wettbewerb ausgetragen wird. 2. MARKTPSYCHOLOGISCHE INTERVENTIONEN Einführung Ein Beispiel für eine marktpsychologische Intervention wäre im Kontext eines Automobil- herstellers denkbar, wenn dessen Marketingleiter einen Marktpsychologen damit beauf- tragt herauszufinden, warum der Absatz eines bestimmten Modells rückläufig ist (Neu- mann 2013, S. 36ff.): In der ersten Phase wird die Diagnose der Situation durchgeführt und der Ist-Zustand fest- gestellt. In der zweiten Phase folgt die Konzeption des anzustrebenden Soll-Zustandes, worauf in der dritten Phase ein Soll-Ist-Vergleich durchgeführt und Differenzen festgestellt werden. Es wird daraufhin eine geeignete Strategie entwickelt, die gewünschten Verände- rungen zu erreichen, woraufhin in einer fünften Phase geeignete Interventionen durchge- führt werden. Da aber nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass die Interventio- nen auch den gewünschten Erfolg haben (also z. B. mehr Konsumenten aufgrund der Maßnahmen bereit sind, ein bestimmtes Automodell zu kaufen), ist es unbedingt erforder- lich, zuvor meist mehrere Pretests durchzuführen und gegebenenfalls die Interventionen nochmals anzupassen, wobei alle Bereiche des Marketing-Mixes dabei zu berücksichtigen sind. Im Zentrum der marktpsychologischen Überlegungen stehen dabei der Nutzen des Anwenders und Konsumenten einer Leistung und dessen Bedürfnisse. Erst nach hinreich- enden Tests sollten die eigentlichen Interventionsmaßnahmen durchgeführt werden. Der Prozess endet mit der Evaluation der Ergebnisse und einer zweiten Ist-Analyse, um festzu- stellen ob die gesetzten Ziele erreicht wurden. 2.1 Der Ablauf marktpsychologischer Interventionen Jedes praktisch-psychologische Handeln, so auch im Anwendungsfeld der Marktpsycholo- gie, folgt einer strukturierten Vorgehensweise und durchläuft – wie im obigen Einfüh- rungsbeispiel – typische Phasen. 24 Abbildung 2: Sechs Phasen psychologischen Handelns Quelle: Neumann 2013, S. 36. Im Rahmen des Pretests gilt es v. a., die Liste der Interventionen, d. h. alle möglichen Akti- onen, mit echten Benutzern zu konfrontieren. Eine praktische Vorgehensweise schildert Wendel (2013), die hier zusammenfassend wiedergeben werden soll: Zunächst wird die Liste der Aktionen bewertet nach den Bedürfnissen des Unternehmens und der Benutzer. Auf dem Weg dorthin werden zudem wichtige Informationen über die Zielbenutzer gesammelt, die für die Gestaltung des Produkts (bzw. des Leistungsangebo- tes) benötigt werden. Es gilt, einige Untersuchungen zu den Zielpersonen anzustellen: Um den Benutzern, Anwendern oder Käufern zu helfen, ihr Verhalten zu ändern, muss das Team verstehen, wo die Benutzer anfangen zu denken, wie sie an die Sache herangehen und welches Verhalten realistisch und sinnvoll ist. Dieser Prozess konzentriert sich auf drei verschiedene Fragen: Wer sind die Benutzer, die mit dem Produkt interagieren werden? Wie denken und handeln diese (potenziellen) Nutzer in ihrem Alltag? Wie interagieren und verhalten sich diese Benutzer innerhalb der bestehenden Anwen- dung (falls vorhanden)? Weiter stellt sich die Frage nach dem Ziel-Kunden/Anwender/Nutzer. In der Regel bestim- men die Geschäftsziele des Unternehmens und die Marktforschung, wem das Produkt die- nen soll. Für ein privatwirtschaftliches Unternehmen besteht die Zielgruppe aus den Per- sonen, von denen das Unternehmen glaubt, dass sie das Produkt kaufen werden. Für 25 NGOs und Regierungsbehörden, die nichts „verkaufen“, sind die Menschen die Zielgruppe, denen sie zu helfen haben und von denen sie glauben, dass sie das Produkt oder den angebotenen Service benutzen werden. Im Rahmen der Marktforschung gilt es also, so genau wie möglich herauszufinden, wel- ches die Zielgruppen sind: Alter, Geschlecht, Ort, Anzahl der Personen usw. Es kann auch helfen, aufzuschreiben, wer nicht angesprochen wird: z. B. Menschen ohne Smartphone, Menschen, die reich sind usw. Die Zielbenutzer können je nach Liste der möglichen Aktio- nen, die zuvor identifiziert wurden, variieren. Mit aller Wahrscheinlichkeit sind manche Anwender innerhalb der Zielgruppe nicht wirk- lich gut für das Produkt geeignet, diese gilt es auszusortieren, da es zu aufwendig würde, sie gezielt anzusprechen. Das wird Teil des Prozesses der Anwender- bzw. Nutzererfor- schung und -identifizierung sein. Im ersten Moment gilt es, die potenziellen Benutzer zu identifizieren und diese weiter zu untersuchen. Andere Gruppen können evtl. später gesondert angesprochen werden. Wenn es darum geht, das Verhalten von Benutzern zu ändern, benennt Wendel (2013, S. 95ff.) die folgenden fünf Fragestellungen, die relevant sind: Vorhergehende Erfahrung mit der Aktion/Maßnahme: Haben diese Benutzer Erfah- rung mit der Durchführung der angedachten Maßnahmen? Wie denken sie über die Aktion? Gibt es starke emotionale Assoziationen oder ist das Neuland? Es ist viel einfa- cher, eine bereits laufende Aktion auszubauen bzw. zu verstärken, als eine neue zu star- ten. Bestehende Gewohnheiten rund um die Marketing-Ziele sind besonders wichtig. Frühere Erfahrungen mit ähnlichen Produkten und Kanälen: Wenn das Produkt z. B. E-Mail und eine Website verwendet, stellt sich die Frage, ob die angesprochenen Benut- zer einen Zugang zum Computer haben (und wissen, wie man ihn benutzt). Beziehung zu dem Unternehmen oder der Organisation: Vertrauen die Benutzer dem Unternehmen? Bei Nutzern, denen das Unternehmen gänzlich unbekannt ist, wird es schwerer sein, einen Standpunkt zu vertreten, als bei jenen, die Produkte und Leistun- gen des Unternehmens lieben und sie seit Jahren konsumieren. Bestehende Motivation: Einmal losgelöst betrachtet vom Angebot des Unternehmens – warum sollten Anwender das Produkt kaufen oder die Leistungen konsumieren? Mit anderen Worten, worauf kann das Unternehmen aufbauen mit seinen Werbemaßnah- men? Ein besonders starker Aspekt der Motivation ist die soziale Motivation (positiv oder negativ). Was werden die Freunde und Verwandten der Benutzer denken, wenn sie jede der Aktionen bzw. Werbemaßnahmen mitmachen? Werden die Anwender seitens ihrer Peer-Group Unterstützung, Spott oder einfach Apathie erfahren? Physische, psychische oder wirtschaftliche Hürden für das Handeln: Dies kommt nicht so häufig vor, ist aber manchmal der Fall. Gibt es Benutzergruppen, für die die Aktion besonders schwierig ist, z. B. Benutzer, die zu Hause gebunden sind oder nicht das Geld haben etc.? Diese und andere Fragestellung sind nur beispielhaft und zeigen die Breite des Feldes auf, mit dem sich Marktpsychologen konfrontiert sehen. Zur Vertiefung sei z. B. auf Wendel (2013) oder auch Raab/Unger/Unger (2016) verwiesen. 26 2.2 Interventionen: Was und mit welchem Ziel? Mögliche Ansatzpunkte für Interventionen sieht Neumann (2013, S. 38ff.) bei den unter- schiedlichen Akteuren am Markt entsprechend ihrer jeweiligen Rolle als Anbieter, Nachfra- ger oder Funktionär bzw. Mittler, seien sie direkt oder indirekt am Marktgeschehen betei- ligt. Zunächst ist bei den möglichen Interventionen und den damit verbundenen Aktivitäten festzustellen, welche Zielsetzung verfolgt werden soll, bevor dann das genaue Vorgehen festgelegt wird (was ist zu tun?). Seitens der Anbieter ist bei den Interaktionen v. a. an Maßnahmen zu denken, die den Absatz des eigenen Leistungsangebots voranbringen (denkbar sind hier z. B. Marketing- maßnahmen aus dem gesamten Marketing-Mix, wie preispolitische Maßnahmen oder wettbewerbsgerichtete Aktionen). Aber auch bei den Funktionären und v. a. bei den Nach- fragern (Kunden/Anwendern) können Maßnahmen ansetzen. An weiteren Ansatzpunkten für marktpsychologische Interventionen sieht Neumann (2013, S. 38) zudem die Umwelt mit sozio-kulturellen und anderen Faktoren. Weiter unterscheidet er noch zwischen objek- tiven Faktoren (die offensichtlich wahrnehmbar sind) und subjektiven Faktoren, wie z. B. die Wahrnehmung eines verbesserten Images eines Unternehmens durch einen Verbrau- cher. Auf Seiten der Anbieter ist die Gestaltung des eigenen Leistungsangebotes und des- sen Marktakzeptanz im Zielfeld der Interventionen. Diese sollten jedoch v. a. den Anwen- der und Nutzer in den Blick nehmen und sich an dessen Nutzen orientieren, denn der eigentliche Wert entsteht, wenn das Leistungsangebot des Unternehmens dem Anwender und Kunden einen Nutzen stiftet. So wird in der einschlägigen Marketingliteratur inzwi- schen ein Primär-, Sekundär- und sogar ein Tertiärnutzen unterschieden (Drengner 2011). Als Tertiärnutzen könnten die Resonanz des Umfeldes (z. B. in Social Media) verstanden werden. Die Marketingplanung beginnt mit der Formulierung eines Angebots, um die Bedürfnisse oder Wünsche der Zielkunden zu erfüllen. Der Kunde beurteilt das Angebot nach drei Grundelementen (Kotler/Keller 2012, S. 325): Produkteigenschaften und Qualität, Service- mix und dessen Qualität sowie Preis. All diese Elemente müssen zu einem wettbewerbsfä- higen und attraktiven Angebot verknüpft werden. Die Gestaltung von Produkteigenschaf- ten und deren Klassifizierung sollte zudem berücksichtigen, dass viele Menschen denken, ein Produkt sei grundsätzlich gegenständlich. Jedoch kann ein Produkt alles sein, was an einem Markt angeboten werden kann, um einen Wunsch oder Bedarf zu befriedigen, ein- schließlich physischer Güter, Dienstleistungen, Erfahrungen, Veranstaltungen, Personen, Orte, Eigenschaften, Organisationen, Informationen und Ideen oder eben auch Service. 27 Abbildung 3: Komponenten eines Marktangebots Quelle: Kotler/Keller 2012, S. 325. Bei der Planung seines Marktangebots sollte ein Anbieter insgesamt fünf Stufen des Kun- dennutzens berücksichtigen (Kotler/Keller 2012): 1. Das grundlegende Niveau ist der Kernnutzen (Core Benefit). Dies ist der Nutzen, den der Kunde wirklich kauft. Ein Hotelgast kauft sich Ruhe und Schlaf. Der Käufer einer Bohrmaschine kauft Löcher, jener einer Kaffeemaschine Kaffeegenuss. Marketingspe- zialisten müssen sich in diesem als Leistungserbringer verstehen. 2. Auf der zweiten Ebene muss der Anbieter, ausgehend von dem Kernnutzen, ein Basis- produkt bieten. So beinhaltet ein Hotelzimmer zunächst einmal ganz praktische Dinge wie ein Bett, Bad, Handtücher, Schreibtisch, Kommode und Schrank. 3. Auf der dritten Ebene bereitet der Anbieter das eigentlich erwartete Produkt vor, eine Reihe von Attributen und Bedingungen, die Käufer normalerweise erwarten, wenn sie dieses Produkt kaufen. Hotelgäste erwarten minimal ein sauberes Bett, frische Hand- tücher, Arbeitslampen und ein gewisses Maß an Ruhe. 4. Auf der vierten Stufe bereitet der Anbieter ein erweitertes Produkt vor, das die Erwar- tungen der Kunden möglichst übertrifft. In den entwickelten Ländern finden auf die- ser Ebene Markenpositionierung und Wettbewerb statt. In Entwicklungs- und Schwel- lenländern wie Indien und Brasilien findet der Wettbewerb jedoch meist auf dem erwarteten Produktniveau statt. 5. Auf der fünften Ebene steht das potenzielle Produkt, das alle möglichen Erweiterun- gen und Transformationen umfasst, denen das Produkt oder Angebot in Zukunft aus- gesetzt sein könnte. Hier suchen Unternehmen nach neuen Wegen, um Kunden zufrie- denzustellen und ihr Angebot zu differenzieren. Differenzierung und Wettbewerb entstehen zunehmend auf der Grundlage von Produkter- gänzungen, was auch dazu führt, dass ein Anbieter das gesamte Konsumsystem des Nutz- ers im Blick haben sollte (Kotler/Keller 2012, S. 326): 28 Gemeint ist also die Art und Weise, wie der Nutzer die Aufgaben der Beschaffung und Nut- zung von Produkten und damit verbundenen Dienstleistungen wahrnimmt. Jede Erweite- rung fügt jedoch Kosten hinzu und was heute noch einen zusätzlichen Vorteilnutzen bie- tet, wird bald zu einem erwarteten Nutzen und einem notwendigen Angebot in dieser oder jener Kategorie. Wenn die Hotelgäste von heute Satellitenfernsehen, Highspeed-Internet- zugang und ein voll ausgestattetes Fitnesscenter erwarten, müssen die Wettbewerber nach weiteren Merkmalen und Vorteilen suchen, um sich zu differenzieren. Da einige Unternehmen den Preis für ihr solchermaßen erneut erweitertes Produkt erhöhen, bieten andere eine reduzierte Version für weniger Geld an. So entstehen neben dem Wachstum von Luxushotels wie Four Seasons und Ritz-Carlton auch preisgünstigere Hotels und Motels wie McSleep, die sich an Kunden richten, die einfach nur das Basisprodukt wollen. Das Streben nach der Entwicklung eines erweiterten Produkts kann ein Schlüssel zum Erfolg sein, andere Ansätze sind jedoch ebenfalls denkbar. Damit die Interventionen eines Akteurs am Markt, z. B. die Werbemaßnahmen eines Anbieters für ein neues Produkt, so gestaltet werden können, dass sie Wirkung zeigen, stellt sich zunächst die Frage, wie eine solche Maßnahme von den anderen Akteuren (z. B. dem Konsumenten) wahrgenommen wird. In der einschlägigen Literatur zur Markt- und Werbepsychologie wird daher das Konstrukt der Wahrnehmung beim Menschen entspre- chend behandelt (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013; Krull 2014; Raab/Unger/Unger 2016). Neumann (2013) grenzt von der Wahrnehmung nochmals den Terminus der Vorstellung eines Menschen (Konsumenten) ab und weist darauf hin, dass die Grenzen zwischen bei- den fließend sind. So sei selbst eine „extrem objektive“ Wahrnehmung, die maximal durch Außeneinflüsse determiniert sei, niemals vollkommen frei von subjektiven (damit verbun- denen) Vorstellungen. Dies ist dadurch zu erklären, dass alle Arten von Reizen, die aus der Umwelt kommen, von einem Menschen bereits eingeordnet und teilweise nur selektiv wahrgenommen werden. Bevor irgendeine Information vom Menschen verarbeitet wird, muss sie wahrgenommen werden. Damit bezieht sich der Terminus der Wahrnehmung auf einen Prozess der Infor- mationsverarbeitung, durch den sich ein Individuum Wissen über sich selbst und seine Umwelt aneignet (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 363). In seiner alltäglichen Umge- bung ist der Mensch einer endlosen Fülle von Umwelteinflüssen ausgesetzt, die seine Sin- nesorgane ständig betreffen. Sie enthalten eine Fülle von Informationen. Die Erfassung und Verarbeitung dieser Informationen beim Menschen wird durch drei verschiedene Aspekte beeinflusst: Subjektivität, Selektivität und Aktivität (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 363). Subjektivität bedeutet, dass jeder Mensch seine Umwelt als Individuum wahrnimmt. Die meisten Menschen denken, dass sie die Realität so wahrnehmen, wie sie ist (Raab/ Unger/Unger 2016, S. 187). Zahlreiche Experimente zeigen jedoch, dass das Ergebnis der Wahrnehmung nur teilweise der tatsächlich existierenden Realität entspricht. Infolgedes- sen kann sich die wahrgenommene Umgebung einer Testperson erheblich von der einer anderen unterscheiden. Außerdem nimmt das menschliche Informationssystem die Wahr- nehmung selektiv vor. Aus der Informationsflut, die unsere Sinnesorgane erreicht, wählen Menschen nur die sehr spezifischen aus. Was sie sehen, hören, riechen oder schmecken, ist daher kein wirkliches Abbild der Realität. Die Wahrnehmung ist zahlreichen Faktoren 29 ausgesetzt, die sie verzerren oder sogar verfälschen können. Der Begriff Aktivität drückt letztlich die Aufnahme und aktive Verarbeitung von Reizen und Informationen durch den Menschen aus. Damit eine Person die dafür notwendigen Informationen ausreichend interpretieren und wahrnehmen kann, müssen auch im Körper entsprechende Reaktionen stattfinden (Raab/ Unger/Unger 2016). Der Körper muss mit seinen Sinneszellen körpereigene physikalische und/oder chemische Reize in körpereigene physiologische Reize umsetzen. Daraus resul- tieren psychologisch relevante Indikatoren, wie z. B. die Empfindungen. Der Prozess der menschlichen Wahrnehmung lässt sich in drei Bestandteile unterteilen (Felser 2015): physikalisch oder chemisch: z. B. die Wellenlänge des Lichts, die Intensität des Schalls, die Frequenz einer Schwingung, der Konzentrationsgrad der Duftstoffe; physiologisch: einige Aktivitäten der Nervenzellen; psychologisch: z. B. Wahrnehmung von Farbe, Lautstärke, Höhe eines Tons, Gerüchen oder der Tastsinn. Wie kann nun der Mensch all die komplexen Bilder wahrnehmen, denen er jeden Tag begegnet, besonders wenn die Informationen, die er von seinen Sinnen erhält, oft unvoll- ständig oder mehrdeutig sind? Ein Teil der Begründung ist, dass die Menschen ausgiebig auf die Fülle der Hintergrundinformationen zurückgreifen können, die sie gesammelt haben (Krull 2014, S. 113). Dies ermöglicht es, mit ihrem Wahrnehmungssystem fundierte Vermutungen anzustellen und den sprichwörtlich „gesunden“ Menschenverstand zu nutzen. Bereits im 18. Jahrhun- dert wies Helmholtz darauf hin, dass das Wahrnehmungssystem unbewusste Schlussfol- gerungen verwendet, Schlussfolgerungen, von denen nicht einmal bewusst ist, dass sie stattfinden und die dem jeweiligen Menschen helfen, die Welt wahrzunehmen. Wie von Goldstein (2007)beschrieben, hat Helmholtz auch das Likelihood-Prinzip vorgeschlagen, was darauf hindeutet, dass die Menschen dazu neigen, Dinge so wahrzunehmen, wie es aus ihrer Erfahrung am ehesten möglich ist. In gewisser Weise ist Wahrnehmung dann eine Konstruktion, die auf einer Kombination von Informationen aus den menschlichen Sinnen und Informationen aus vergangenen Erfahrungen basiert (Krull 2014, S. 113ff.). Oder, um es psychologisch auszudrücken: Wahr- nehmung ist eine Kombination aus zwei Arten der Datenverarbeitung. Die datengesteu- erte Verarbeitung, auch Bottom-up-Verarbeitung genannt, bezieht sich auf die Informatio- nen, die aus der Welt um den Menschen herum durch seine Sinne kommen. Im Gegensatz dazu bezieht sich die theoretisch orientierte Verarbeitung, auch Top-Down-Verarbeitung genannt, auf den Einfluss des menschlichen Hintergrundwissens auf die Wahrnehmung. Wie zu sehen sein wird, ist die Wahrnehmung nicht nur das Ergebnis einer passiven Wahr- nehmung der Welt, sondern, wie Helmholtz schon anmerkte, beeinflusst das, was die Menschen bereits wissen, auch das, was sie wahrnehmen. Zusammenfassend lässt sich in Anlehnung an Krull (2014) sagen, dass die Wahrnehmung von jenen Daten beeinflusst wird, die über die menschlichen Sinne aufgenommen werden, aber auch von Erfahrungen der jeweiligen Person und Theorien über die Welt. Die Bedeu- tung der Wahrnehmung des Subjekts erkannten zunehmend auch die Akteure des Wirt- 30 schaftslebens und versuchten, die daraus resultierenden Erkenntnisgewinne gezielt zu nutzen (Raab/Unger/Unger 2016, S. 187). Es geht also um einen direkten Einfluss auf die Einstellung und/oder das Verhalten des Menschen durch den Einsatz spezieller Kommuni- kationsmaßnahmen. ZUSAMMENFASSUNG Praktisches psychologisches Handeln folgt stets einer strukturierten Vor- gehensweise, so auch im Anwendungsfeld der Marktpsychologie. Typi- sche Phasen sind dabei nach der Auftragserteilung... (1)... die Feststellung des Ist-Zustandes eines Sachverhaltes und die Diagnose, (2) die Konzeption eines anzustrebenden Zustandes, (3) der Soll-Ist-Vergleich und die Feststellung von Abweichungen, (4) die Planung von Strategien zu dessen Angleichung und geeignete Pretests der Maßnahmen, (5) die eigentliche Durchführung der Maßnahmen und schließlich (6) deren Kontrolle. Aus Sicht eines Marktakteurs in der Rolle eines Anbieters gilt es im Rah- men der Pretests v. a. herauszufinden, wie die potenziellen Anwender oder Nutzer auf eine spezifische Maßnahme reagieren würden und wel- che Anwender die Zielgruppe darstellen. Neben den Vorerfahrungen, die die potenziellen Nutzer haben, kommt es für einen Anbieter v. a. auf die Wahrnehmung der Nutzer bzw. Kunden an und wie die eigenen Pro- dukte, Leistungen oder das eigene Unternehmen in der Zielgruppe wahrgenommen werden. Mögliche Ansatzpunkte für die Gestaltung von Interventionen aus Sicht der Anbieter beziehen sich daher auf die Attrak- tivität des eigenen Marktangebots und sollten damit den Wert, den ein Angebot dem Kunden stiften kann, in den Blick nehmen. Von besonde- rem Interesse sind bei dieser Betrachtungsweise daher v. a. die mensch- liche Wahrnehmung und die damit verbundenen Verarbeitungsprozesse. 31 LEKTION 3 KAUFENTSCHEIDUNGEN LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welche Arten von Kaufentscheidungen im Konsumentenverhalten unterschieden wer- den. – welche Entscheidungsstrategien die Konsumenten einsetzen. – inwieweit Kaufentscheidungen das Ergebnis zielorientierten Handelns sind. – ob Kaufentscheidungen Ergebnis rationellen Handelns sind. 3. KAUFENTSCHEIDUNGEN Einführung Frau Schmitt befährt mit ihrem Auto die Autobahn in Richtung Wohnort. Die Kraftstoffan- zeige zeigt plötzlich an, dass sich das Fahrzeug in seiner Reserve befindet. Also sollte Frau Schmitt auftanken. Sie weiß, dass der Treibstoff i. d. R. problemlos ausreicht, bis sie in ihrer Heimatstadt ankommt, und dass sie dort billiger tanken kann als an einer Raststätte. Allerdings biegt sie bei nächster Möglichkeit rechts ab und tankt an der nächsten Auto- bahntankstelle, auch wenn sie 10 Cent mehr pro Liter zu bezahlen hat. Die Theorie der rationalen Entscheidung würde ein solches Verhalten als suboptimale Option oder als fal- sche Entscheidung ausschließen, da Frau Schmitt alle Variablen, also den Wohnort, die Benzinpreise und den Kraftstoffverbrauch kennt. Für Frau Schmitt ist diese Entscheidung jedoch die richtige, da sie eine eher vorsichtige und risiko-averse Person ist und für ihr Sicherheitsempfinden durchaus bereit ist, einige Cent mehr zu zahlen. Mit anderen Wor- ten, der volle Kraftstofftank beruhigt sie und lässt sie ohne Stress weiterfahren, was für sie bedeutsamer ist, als Geld einzusparen. Dieses Beispiel, das bei Kroeber-Riel/Gröppel-Klein (2013, S. 459) zu finden ist, spiegelt die Vielschichtigkeit der Materie sehr gut wider. Mehr dazu in der folgenden Lektion. 3.1 Kaufentscheidungen als spezifische Aktivierung Interne (psychologische) Prozesse, wie sie im Einführungsbeispiel ablaufen, lassen sich gemäß Kroeber-Riel/Gröppel-Klein (2013) in folgende Bereiche unterteilen: aktivierende Prozesse und kognitive Prozesse. Aktivierungsprozesse sind solche Prozesse, die mit interner Anregung und Spannung ver- bunden sind und das Verhalten beeinflussen. Kognitive Prozesse sind jene Prozesse, durch die das Individuum Informationen erfasst, verarbeitet und speichert. Sie sind Prozesse der Verarbeitung mentaler Informationen im weitesten Sinne. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick über die verschiedenen Variablen. 34 Abbildung 4: Aktivierende Prozesse Quelle: Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 52. Interne Prozesse (aktivierend oder kognitiv) werden durch innere oder äußere Reize akti- viert. Beispiele: Das Angebot von zwei verschiedenen Produkten durch einen Verkäufer (externer Stimulus) löst einen Bewertungsprozess aus. Andererseits wird eine spontane Idee, die während einer Mahlzeit entsteht (wie z. B. die Idee, ins Kino zu gehen), nicht von außen, sondern von innen angeregt. Die aktivierenden und kognitiven Prozesse können weiter strukturiert werden, je nach- dem, ob sie...... elementarer oder komplexer Natur...... sind. Das nahezu unauflösbare, weitgehend undurchsichtige Zusammenspiel von ele- mentaren aktivierenden und kognitiven Prozessen führt zu komplexen Abläufen. Das sind die Prozesse, um die es im Zusammenhang mit Kaufprozessen vornehmlich geht. Auch wenn komplexe Prozesse sowohl aktivierende als auch kognitive Komponenten aufwei- sen, werden diese dem System der aktivierenden oder kognitiven Variablen zugeordnet, um nachzuvollziehen, welche Komponente dominiert (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013): Komplexe mentale Prozesse werden als Aktivierung bezeichnet, wenn die Aktivierungs- komponenten vorherrschen, diese betreffen Prozesse der Aufmerksamkeit. Komplexe mentale Prozesse werden als kognitiv bezeichnet, wenn kognitive Kompo- nenten vorherrschen, die Prozesse der Informationsverarbeitung betreffen. Zu den in diesem Sinne verstandenen komplexen Aktivierungsprozessen gehören die Kon- strukte: Emotion, Motivation und Einstellung. Sie beinhalten auch kognitive Komponen- ten, aber alle zeichnen sich durch ihre aktivierende Kraft aus und ihre Eigenschaft, menschliches Verhalten zu steuern. Dies zeigt sich auch bei der Messung der Konstrukte deutlich. In allen drei Prozessen wird dabei die Aktivierungskomponente berücksichtigt. 35 Komplexe kognitive Prozesse werden zur Erklärung des Konsumentenverhaltens in Wahr- nehmung, Entscheidung, Lernen und Gedächtnis unterteilt. Sie beinhalten dabei jedoch auch aktivierende Komponenten. Es gibt z. B. keine Wahrnehmung, in die Gefühle nicht einwirken, oder eine Lernleistung, die nicht von der Motivation bestimmt ist. Ausschlagge- bend ist jedoch, dass kognitives Verhalten und kognitive Kontrollen dominieren (Kroeber- Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 51). Weiter wird zwischen spezifischer und unspezifischer Aktivierung unterschieden (Kroeber- Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 53): Unspezifische Erregungsprozesse sind generelle innere Spannungen oder Erregungen, die auch als allgemeine Aktivierung bezeichnet werden. Diese beeinflusst die Wachsamkeit, Leistungsfähigkeit und das Aktivitätsniveau des jewei- ligen Menschen. Zusätzlich zur unspezifischen oder allgemeinen Aktivierung gibt es auch organismusspezifische Erregungsprozesse, die sich auf einzelne Antriebskräfte wie Durst oder Liebe beziehen. Sie sind für die Konsumentenforschung wichtig, insbesondere in ihrer Interaktion mit kognitiven Prozessen: Durch die Interaktion von internen Erregungs- prozessen mit kognitiven Bewusstseins- und Steuerungsprozessen entwickeln sich menschliche Antriebskräfte wie Emotionen, Motivation, Einstellungen, die einem bestimmten Verhalten zugrunde liegen. Diese Triebkräfte werden als komplexe Aktivierungsprozesse repräsentiert. Sie haben einen direkten Einfluss auf das Verhalten oder wirken sich auf andere interne Prozesse aus, insbesondere auf die komplexen kognitiven Verhaltensweisen. Ein Beispiel: Beste- hende Emotionen oder Einstellungen lenken den Wahrnehmungsprozess auf bestimmte Objekte, z. B. im Zusammenhang mit einem beabsichtigten Kauf. Individuelle Kaufentscheidungen stehen auch im Fokus der folgenden verhaltensbasierten Betrachtung des Konsumentenverhaltens (Kroeber-Riel/Gröppel-Klein 2013, S. 460): Der Begriff Entscheidung kann dabei eng oder breit definiert werden, je nachdem, ob es sich um den gesamten Kaufentscheidungsprozess handelt (z. B. von der Produktwahrneh- mung bis zum Kauf eines Produkts) oder ob es sich nur um den Abschluss der Kaufent- scheidung (z. B. den Kauf einer bestimmten Marke) handelt. Dabei wird der komplette Kaufentscheidungsprozess der Verbraucher ganzheitlich betrachtet. Im Gegensatz zur „klassischen“ Theorie der Entscheidung nach dem rationalen Prinzip versucht die verhal- tensorientierte Entscheidungsanalyse, die Aktivierung und Kontrolle von tatsächlichen Entscheidungen zu erklären. So wird die Entscheidung zu einem Thema der Informations- verarbeitung im erweiterten Sinne. Beispielsweise gibt die mentale Aktivierung den Anstoß für die Verarbeitung kognitiver Informationen (Beispiel: „Je höher die Aktivierung, umso mehr Information wird nachgefragt“). Es ist ratsam, nicht konzeptionell zwischen „Problemlösung“ und „Entscheidung“ zu unterscheiden. Schon seit den 1970er-Jahren liegt der Fokus nicht mehr auf dem kognitiven Problemlö- sungsverhalten (ideal, optimal oder rein rational), sondern auf dem realen, das emotio- nale, spontane oder intuitive Eigenschaften haben kann. Es geht nicht nur darum, ob durch intuitive Heuristiken („Bauchgefühl“) eine objektiv bessere Option gefunden wer- den kann als durch bewusste Reflexion und Bewertung (Lee/Amir/Ariely 2009), es geht 36 auch um die subjektive Zufriedenheit mit der Kaufentscheidung. Selbst scheinbar ungüns- tige Entscheidungen können für den Verbraucher eine bessere Wahl sein (wie das Ein- gangsbeispiel zeigt). Auch in scheinbar völlig rationalen Business-to-Business-Märkten – wie Praktiker bekräfti- gen – können emotionale Entscheidungskriterien wie Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Bezie- hungsmanagement und persönliche Bindung eine wichtigere Rolle spielen als der reine Preis. In dieser Lektion wird das Zusammenspiel von kognitiven und aktivierenden Prozes- sen im Entscheidungsverhalten der Konsumenten erörtert, da es der einzige Ansatz ist, die verschiedenen Arten von Entscheidungen zu berücksichtigen, die in der Realität vorkom- men. Angie et al. (2011) entdeckten z. B. durch eine Meta-Analyse, dass individuelle Emoti- onen wie Angst, Wut oder Freude einen wesentlichen (und starken) Einfluss auf das Ent- scheidungsverhalten haben können, z. B. auf die Risikobereitschaft oder auf die Wahl einer heuristischen „Faustregel“ zur Entscheidungsfindung. Ein Beispiel für einen rein kog- nitiven Ansatz bei der Analyse des Entscheidungsprozesses liefern Bettman/Luce/Payne (1998). Die Autoren unterstreichen, dass ein Verbraucher-Entscheidungsprozess immer konstruiert ist und glauben, dass Verbraucher bewusst eine Entscheidungsstrategie verfol- gen, die auf den Anforderungen der Situation basiert. Ihrer Meinung nach lassen sich die in der jeweiligen Entscheidungssituation genutzten Entscheidungsstrategien unter vier Aspekten betrachten: 1. Umfang der verarbeiteten Informationen, 2. Selektivität der Informationsverarbeitung (der Umfang der Informationsverarbeitung hängt von der entsprechenden Variante ab; es gibt Varianten, in denen mehr Kognitio- nen eingesetzt werden), 3. Art der alternativen Bewertung (alternativer vs. attributiver Ansatz), 4. kompensatorisches vs. nicht-kompensatorisches Vorgehen. Dieser Beitrag von Bettman/Luce/Payne (1998), der heute als Klassiker bezeichnet werden kann, bietet eine umfassende Übersicht über kognitive Prozesse im Entscheidungsprozess der Konsumenten, obwohl Emotionen in diesem Fall nur marginal berücksichtigt werden, nämlich im Rahmen einer Strategie zur Vermeidung negativer Emotionen. Viele Analytiker von Entscheidungen betrachten Emotionen immer noch eher als „Störfaktoren“, die opti- male Entscheidungen erschweren können: Obwohl sich die aktuelle Forschung zum Kon- sumverhalten viel mehr mit emotionalen Variablen im Kaufentscheidungsprozess beschäftigt als noch vor zehn Jahren, werden Emotionen dennoch häufig nur aus rein kog- nitiver Perspektive interpretiert, oder es geht darum, ob Emotionen zu Fehlern oder Ver- zerrungen führen können. 3.2 Arten von Kaufentscheidungen Eine Methode zur Systematisierung von Einkaufsentscheidungen besteht darin, zwischen verschiedenen Typen zu unterscheiden. Nach einer Typologie von Kroeber-Riehl und Gröppel-Klein (2013) gibt es vier ideale Arten von Kaufentscheidungen: extensiv, limitiert, habitualisiert und impulsiv. Kroeber-Riel/Gröppel-Klein (2013) stellen fest, dass diese vier Typen wie folgt aussehen. Sie können unterschieden werden nach... 37... ihrem Grad an mentaler (kognitiver) Kontrolle, dem Grad der emotionalen (affektiven) Aktivierung und dem Ausmaß der automatischen (reaktiven) Reaktionen. Die folgende Abbildung zeigt die jeweiligen Eigenschaften dieser drei Bestandteile. Darü- ber hinaus unterscheiden sich die vier Kategorien von Kaufentscheidungen durch weitere damit verbundene Merkmale, die ebenfalls beschrieben werden. Tabelle 1: Eine Typologie von Kaufentscheidungen Merkmale Extensiv Limitiert Habitualisiert Impulsiv konstituierend kognitiv hoch mittel gering gering affektiv hoch gering gering hoch reaktiv gering gering hoch hoch begleitend Involvement hoch gering –* –* Informationssu- extern und intern keine keine che intern Vorerfahrung keine gegeben hoch –* Dauer der Ent- lang mittel kurz kurz scheidungsfin- dung Strategien werden im Pro- heuristische Stra- fixe Wenn-dann- keine zess gewählt tegien, bewährte Regeln Regeln *Es werden keine Aussagen über eine spezifische Ausprägung gemacht. Quelle: Moser 2015, S. 31. Extensive Kaufentscheidungen sind durch einen erhöhten kognitiven Aufwand bei der Erfassung und Verarbeitung von Informationen gekennzeichnet. Die Eigenschaften des Produkts werden sorgfältig analysiert, verglichen und in eine Gesamtproduktbewertung integriert. Die Verbraucher suchen intensiv nach Informationen, nicht nur auf der Grund- lage ihrer eigenen Kenntnisse und Erfahrungen, sondern auch aus externen Quellen (z. B. Werbung, Fachzeitschriften, Wissen). Die emotionale Aktivierung von erweiterten Kaufent- scheidungen fördert die Bereitwilligkeit, Informationen intensiv zu suchen und zu verar- beiten. Weinberg (1981, S. 50) bezieht sich in diesem Kontext auf einen „emotionalen Schub“, führt den Begriff aber nicht weiter. Darüber hinaus sind extensive Kaufentschei- dungen nicht reaktiv, d. h., sie sind nicht von spontanen Reaktionen geprägt, sondern „gut durchdacht“. Die extensive Kaufentscheidung ist einer wirtschaftlich rationalen Kaufent- scheidung am nächsten, d. h. einer Entscheidung, die den maximalen Nutzen für den Ver- braucher bedeutet. 38 Extensive Kaufentscheidungen werden insbesondere dann getroffen, wenn die Einkäufer stark involviert sind, wenig Erfahrung mit einer Produktkategorie haben und die negativen Folgen einer Fehlentscheidung in Betracht ziehen können (Moser 2015, S. 30ff.): Oftmals werden teure Konsumgüter gekauft. Bei extensiven Kaufentscheidungen ist dem Käufer noch nicht bekannt, welche wichtigen Attribute und Kriterien das Produkt erfüllen muss; konkrete Kaufabsichten treten oft erst im Entscheidungsprozess auf. Der Kauf eines Klaviers könnte ein Beispiel für eine wichtige Kaufentscheidung sein. Wir haben keine Erfahrung mit dem Produkt, wir wissen nicht zuerst, welche Produkteigenschaften rele- vant sind und müssen uns z. B. beim Klavierlehrer oder Fachhändler informieren. Darüber hinaus werden mehrere Fachgeschäfte besucht, um sich einen Überblick über das Ange- bot zu verschaffen. Eine schlechte Entscheidung würde erhebliche Kosten für ein Produkt verursachen, das schlecht klingt. Der Verbraucher kann sich auch anderer Alternativen (Optionen) im Entscheidungsprozess bewusst sein (Flügel, E-Piano, Midi-Keyboard). Wenn diese Alternativen andere Merkmale aufweisen, die bisher unbedeutend waren (z. B. Platz- bedarf, Portabilität), kann es sogar notwendig sein, alle Produkte neu zu bewerten, um das beste, d. h. das nützlichste Verbraucherprodukt zu identifizieren. Bei limitierten Kaufentscheidungen haben die Verbraucher oft schon Erfahrung mit dem Kauf eines Produktes. Auf der Grundlage ihrer Vorkenntnisse können sie die betreffenden Produkte einschränken (Howard/Sheth 1969) und wenig mehr Informationen erhalten. Die Verbraucher sind sich dabei der Marken und Eigenschaften bestehender Produkte bewusst und konzentrieren ihre Informationssuche auf diese bekannten Alternativen. Bei der Aus- wahl eines Produkts verwendet der Käufer oft relativ einfache Entscheidungsstrategien, sogenannte allgemeine oder heuristische Regeln. Im Vergleich zu extensiven Kaufent- scheidungen ist der kognitive Aufwand daher deutlich geringer. Die habitualisierten Kaufentscheidungen sind die gebräuchlichen Käufe, d. h. die „gedan- kenlosen“ Wiederholungskäufe der gleichen Marke. Dies sind oft Produkte wie Zahnpasta oder Windeln (Kaas/Dieterich 1979). Der kognitive Aufwand ist gering, Recherchen und Informationsverarbeitung werden kaum durchgeführt (Moser 2015). Sobald der Bedarf an einem Produkt entsteht, wird die „gewohnte Produktalternative“ ohne weitere Überlegun- gen eingekauft, selbst die Produktvision im Ladengeschäft kann einen unbedachten Kauf auslösen (Wood/Neal 2009). In Bezug auf das beobachtbare Verhalten sind die Konsumen- ten bei ihren habitualisierten Kaufentscheidungen der Marke treu geblieben. Die Frage, ob solche Kaufentscheidungen wiederum differenziert werden sollen, ist umstritten. Wäh- rend Kroeber-Riel/Gröppel-Klein (2013) die Markentreue nach dem Konzept der üblichen Kaufentscheidungen gruppieren, unterscheiden andere Autoren zwischen Gewohnheit und Markentreue (Amine 1998; Liu-Thompkins/Tam 2013), die sich in ihren theoretischen Grundlagen und Auswirkungen unterscheiden. Gewohnheit bezieht sich auf den gebräuchlichen Kauf, der sich aus Bequemlichkeit ergibt und automatisch und routinemä- ßig durchgeführt wird (Wood/Neal 2009). Es stützt sich stark auf situative Reize als Auslö- ser. Daher können Veränderungen dieser Reize, z. B. durch Sonderangebote oder Sorti- mentswechsel, den Ablauf unterbrechen und einen Markenwechsel bewirken. Im Gegensatz dazu beinhaltet das Konzept der Markentreue ein emotionales Engagement über den wiederholten Kauf einer Marke hinaus. Dies ist für Unternehmen von großer Relevanz, da diese treuen Kunden dazu neigen, ihren Produkten gegenüber loyal zu blei- 39 ben, auch wenn die Kaufroutine durch Sonderangebote oder Lieferschwierigkeiten gestört wird oder wenn der Preis steigt (Amine 1998). Markentreue Verbraucher empfehlen ihren Bekannten auch häufiger Produkte. Lernprozesse können auch zur Erklärung habitualisierter Kaufentscheidungen genutzt werden (Kaas/Dieterich 1979; Wood/Neal 2009). Kaufentscheidungen werden durch posi- tive Kundenerfahrungenhonoriert (verstärkt), was zu einer Wiederholung des jeweiligen Kaufverhaltens führt. Darüber hinaus trägt der Status-quo-Effekt zur Erhaltung der Verhal- tensweisen bei (Inman/Zeelenberg 2002). Impulskäufe sind gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Reaktion, spontan, unerwartet und mit dem plötzlichen Wunsch, ein Produkt zu kaufen (Rook 1987). Die Entscheidung wird oft ohne vorherige Kaufabsicht an der jeweiligen Verkaufsstelle während der Produkt- prüfung getroffen. Obwohl Spontankäufe oft im Zusammenhang mit Billigprodukten (z. B. Süßigkeiten an der Supermarktkasse, sogenannten Quengel-Produkten) diskutiert wer- den, können auch hochpreisige Produkte wie ein Abendkleid oder ein Fernseher spontan gekauft werden. Der kognitive Aufwand beim Impulskauf ist gering. Die verschiedenen Alternativen werden nicht gegeneinander abgewogen und die möglichen Folgen kaum berücksichtigt. Impulskäufe sind auch aktivierend und emotional – so berichten Verbrau- cher in Interviewstudien, dass sie sich vom Anblick eines Produktes „magisch angezogen“ fühlen (Rook 1987). Diese starke Aktivierung und Emotionalisierung unterscheidet Impuls- käufe von anderen sogenannten ungeplanten Käufen, bei denen der Verbraucher auf das Produkt aufmerksam wird, das er benötigt. Es ist z. B. kein Impulskauf, wenn eine Person erst durch die Hygieneabteilung merkt, dass sie ein neues Shampoo braucht. Impulskäufe werden teilweise durch selbstregulierende Ansätze erklärt. Impulskäufe werden daher durch äußere Reize ausgelöst (Kacen/Hess/Walker 2012; Wells/Parbotheeah/Valacich 2011), denen der Einzelne eher folgen wird, wenn seine persönlichen Ressourcen erschöpft sind („persönliche Erschöpfung“, Vohs/Faber 2007) oder wenn die Persönlich- keitseigenschaften übereinstimmen (Verplanken/Herabadi 2001). Wie kann man diese Typologien bewerten? Die gemachten Ausführungen ermöglichen es, unterschiedlichste Kaufentscheidungen zu charakterisieren und zu organisieren. In der Forschung werden Impulskäufe und habitualisierte Kaufentscheidungen als spezifische Phänomene betrachtet (Moser 2015). Es ist jedoch nicht nachzuvollziehen, warum es genau vier Arten gibt. Andere Autoren beschreiben beispielsweise nur extensive, limitierte und habitualisierte Käufe, die sich nach ihrer kognitiven Anstrengung unterscheiden las- sen, ohne reaktive und emotionale Merkmale zu unterscheiden (Blackwell et al. 2001). Weitere Kombinationen der drei konstituierenden Eigenschaften sind ebenfalls vorstell- bar, so könnte z. B. die Markentreue als Entscheidungstyp mit niedrigen kognitiven, hohen reaktiven und hohen affektiven Eigenschaften von habitualisierten Kaufentscheidungen unterschieden werden (Moser 2015, S. 33). 40 3.3 Entscheidungsstrategien und Informationsaufnahme Ein weiterer Annäherungspunkt bei der Beschreibung von Kaufentscheidungen ist jener von Bettman/Luce/Payne (1998). Diese Autoren gehen davon aus, dass die Verbraucher über ein breites Spektrum an Entscheidungsstrategien verfügen, aus denen sie in Bezug auf ihre jeweiligen Ziele und ihre Entscheidungssituation eine Strategie auswählen. Es handelt sich also um einen Ansatz der Kontingenz. Bettman/Luce/Payne (1998) konstatie- ren, dass Entscheidungen in der Realität „konstruiert“ werden, d. h., die Konsumenten wählen während des Entscheidungsprozesses Entscheidungsstrategien aus und können diese jederzeit überdenken und modifizieren. Viele Verbraucher haben auch feste Vorlie- ben für gewisse Produkte oder Produkteigenschaften (regelmäßiges Einkaufen), in ande- ren Fällen überlegen die Verbraucher jedoch erst, wie sie eine Entscheidung für ein Pro- dukt treffen, wenn sie unmittelbar vor dem Regal stehen. Auf diese Weise können kontextabhängige Merkmale wie bestehende Produktalternativen oder Zeitdruck die Wahl einer Entscheidungsstrategie und damit auch den Kauf selbst beeinflussen. In unterschiedlichen Studien wird eine Vielzahl von Entscheidungsstrategien beschrieben, die bei Kaufentscheidungen zum Einsatz kommen (Betsch/Funke/Plessner 2011; Bettman/ Luce/Payne 1998). Um diese Strategien zu identifizieren, verwenden experimentelle Unter- suchungen oft Matrizen zur Informationsvisualisierung, einschließlich der Darstellung der Informationen in der folgenden Abbildung. In den Spalten dieser Matrizen sind diverse Produkte dargestellt, deren unterschiedliche Eigenschaften dann in den Zeilen zu finden sind (in der folgenden Abbildung kann die Zeile „Extras“ in mehrere Zeilen mit den Merkmalen „verfügbar“ und „nicht verfügbar“ unterteilt werden). Die Zellen, in denen sich die Eigenschaften des konkreten Produktes befinden, sind im Experiment ausgeblendet. Wenn die Versuchspersonen (Vpn) eine bestimmte Eigenschaft eines Produktes herausfinden wollen, müssen sie die entspre- chende Zelle einblenden. Diese Prüfanordnung macht nachvollziehbar, welche Eigen- schaften in welcher Reihenfolge beobachtet werden, z. B. ob zuerst alle Eigenschaften eines Produkts oder alle Ausprägungen einer Eigenschaft usw. erfasst werden. 41 Abbildung 5: Entscheidungsstrategien Quelle: Moser 2015, S. 35. 42 Auf diese Weise ist es möglich, verschiedene Strategien zur Informationsaufnahme zu identifizieren (Betsch/Funke/Plessner 2011; Bettman/Luce/Payne 1998). Diese Strategien unterscheiden sich in vier grundlegenden Aspekten: 1. Umfangreiche vs. eingeschränkte Informationsverarbeitung: Diese Unterschei- dung bezieht sich auf die Menge der berücksichtigten Informationen. Man kann versu- chen, so viele Informationen wie möglich zu berücksichtigen (extensive Verarbeitung) oder sich auf eine kleine Menge an Informationen zu beschränken (begrenzte Verar- beitung). Zum Beispiel können die Leute einfach das Produktdesign vergleichen und das äußerlich schönste Produkt kaufen. Sie können aber auch andere Informationen berücksichtigen, wie z. B. den Preis oder zusätzliche Merkmale. 2. Objektorientierter vs. produktbasierter Ansatz: Bei merkmalsorientierten (attribu- tiven) Strategien wird eine Produkteigenschaft ausgewählt und für alle Produkte berücksichtigt. So können beispielsweise die Preise aller angebotenen Produkte zuerst und erst dann andere Charakteristika berücksichtigt werden. Bei produktba- sierten Strategien (basierend auf Alternativen) werden die Produkte nacheinander nach ihren relevanten Eigenschaften bewertet, d. h., es werden zuerst die Eigenschaf- ten von Produkt A bewertet, gefolgt von den Eigenschaften von Produkt B etc. 3. Kompensatorische vs. nicht-kompensatorische Strategien: In Kompensationsstra- tegien können ungünstige Produkteigenschaften durch andere gute Eigenschaften kompensiert werden; in nicht-kompensierenden Strategien wird eine solche Kompen- sation nicht realisiert. So kann beispielsweise ein hoher Preis bei Kompensationsstra- tegien durch andere positive Eigenschaften (Qualität, Lebensdauer) ausgeglichen werden. Bei nicht-kompensierenden Strategien beispielsweise wird eine zu teure Alternative nicht mehr in Betracht gezogen, unabhängig davon, wie gut andere Merk- male sind. 4. Selektive vs. konsistente Informationsverarbeitung: Selektivität besteht sowohl in Bezug auf Produkte als auch auf Produkteigenschaften. Im Rahmen selektiver Strate- gien wird für jedes Produkt (oder jedes Merkmal) eine unterschiedliche Menge an Informationen betrachtet, während im anderen Extrem, d. h. bei konsistenten Strate- gien, die Menge an Informationen für jedes Produkt (jedes Merkmal) gleich oder kon- sistent ist. Wenn eine Person eine einzige Eigenschaft für alle Produkte in Betracht zieht, so liegt eine Selektivität in Bezug auf Eigenschaften und Konsistenz vor. Eine andere Person könnte die Eigenschaften der Produkte A und B in Betracht ziehen, aber nicht die von C – das nennt sich Selektivität im Hinblick auf Aspekte des Produkts selbst. Die in der obigen Abbildung dargestellte multiplikative Strategie spielt in der Theorie der präskriptiven Entscheidung eine Sonderrolle, da sie der Prototyp einer wirtschaftlich „rati- onalen“ Strategie ist (Frey 1990; O'Shaughnessy 1987). Die Anwendung der multiplikativen Strategie setzt voraus, dass die Bedeutung der Merkmale des Produkts ermittelt und die Qualität der Merkmale jedes Produkts bewertet wird. Die Bewertung der Eigenschaften wird mit der Bedeutung der Eigenschaft multipliziert und für jedes Produkt additiv ergänzt. Bei Toastern beispielsweise würde zunächst die Bedeutung der Merkmale Her- steller, Gehäuse, Leistung, Extras und Preis bestimmt werden, z. B. dass das wichtigste Merkmal der Preis ist, das zweitwichtigste das Gehäuse, und dann diesen Merkmalen nach ihrer Bedeutung Punktewerte zugeordnet werden (z. B. Preis 10 Punkte, Gehäuse 6 Punkte, etc.). In einer zweiten Phase wird die (subjektive) Qualität der jeweiligen Merk- 43 male bewertet, z. B. kann die Qualität jedes Falles auf einer Skala von 1 bis 5 bewertet wer- den. Diese Qualitätsbewertungen werden mit der entsprechenden Bedeutung der Eigen- schaften multipliziert. Die Ergebnisse werden zu einer Gesamtnote für jedes Produkt addiert und das Produkt mit der besten Gesamtnote wird gekauft. Die multiplikative Stra- tegie ist eine umfassende, objektorientierte, kohärente und kompensatorische Strategie. Sie bildet die Grundlage für mehrere Marktforschungsmethoden, wie z. B. die Conjoint- Analyse (Klein 2002; Wolff/Moser 2007). Die übrigen Entscheidungsstrategien hingegen stellen Vereinfachungen, die sogenannten heuristischen Strategien, dar (Moser 2015, S. 35). So bestimmt beispielsweise die additive Kompensationsregel nicht das Gewicht der Merkmale, sondern es werden nur die positi- ven Eigenschaften der Produkte gezählt. In der lexikografischen Strategie werden fast alle Produkteigenschaften außer Acht gelassen und nur die wichtigsten Eigenschaften berück- sichtigt. Wann Verbraucher bestimmte Strategien präferieren, wird im Folgenden näher erläutert. 3.4 Kaufentscheidungen als zielorientiertes Handeln Die diskutierten Entscheidungsstrategien verdeutlichen, dass die Suche nach Informatio- nen und deren Integration über verschiedene Strategien erfolgen kann. Daher ergibt sich die Fragestellung, wann die Verbraucher welche Strategien nutzen. Nach dem Contin- gency-Ansatz von Bettman/Luce/Payne (1998) bestimmen insbesondere zwei Faktoren diese Entscheidung. Erstens spielen die Ziele, die die Verbraucher in einer Kaufsituation verfolgen, eine wichtige Rolle. Diese stehen im Mittelpunkt des Ansatzes von Bettman/ Luce/Payne. Die Autoren heben vier Ziele hervor, die im Folgenden näher erläutert wer- den. Ein zweiter Aspekt, der die Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflusst, sind die Besonderheiten des jeweiligen Kontextes, wie die Präsentation des Produkts oder die Eigenschaften der Verkaufsstelle. Kontextfaktoren spielen bei Bettman/Luce/Payne (1998) eine nachrangige Rolle und treten besonders dann hervor, wenn sie die Wahl einer Entscheidungsstrategie mitbestimmen. Ein erstes Ziel, das in den Wirtschaftstheorien eine herausragende Rolle spielt, ist es, die korrekte Entscheidung zu treffen (Moser 2015, S. 35ff.). Daher sind die Verbraucher besorgt darüber, das beste Produkt für ihre Bedürfnisse auszuwählen. Die Multiplikationsstrategie, also die Verknüpfung aller Merkmale, ist der beste Weg, um in jedem Fall das beste Pro- dukt zu finden, wenn mögliche Fehler bei der Bewertung und Gewichtung von Eigenschaf- ten nicht berücksichtigt werden, so Moser (2015) weiter. Mit den anderen Strategien kön- nen suboptimale Lösungen erzielt werden, da manche Informationen nicht berücksichtigt oder nicht ausreichend gegeneinander abgewogen werden. So kann beispielsweise die Anwendung der konjunktiven Strategie zur Auswahl eines Produkts mit wenigen, aber schwerwiegenden negativen Eigenschaften führen, und je nach Reihenfolge der Präsenta- tion kann es zur Auswahl eines zufriedenstellenden, aber nicht des besten Produkts füh- ren. 44 Die Verbraucher nutzen dennoch diese „suboptimalen“ heuristischen Strategien. Laut Bettman/Luce/Payne (1998) liegt der Grund dafür darin, dass Käufer andere Ziele verfol- gen, die dem Ziel einer genauen Entscheidung widersprechen. Bei der Wahl einer Ent- scheidungsstrategie müssen die Einkäufer auch Folgendes berücksichtigen (Moser 2015): die Vermeidung von Aufwand, die Vermeidung von negativen Emotionen und die Begründung von Kaufentscheidungen. Dabei führt die Abwägung dieser Ziele dazu, dass der Käufer nicht immer eine multiplika- tive Strategie, sondern auch heuristische Strategien anwendet. Was das Kaufentschei- dungsverhalten angeht, gibt es in der einschlägigen Fachliteratur zahlreiche Modelle. Eines der bekanntesten ist eben jenes von Bettman (1979). Basierend auf den oben genannten Entscheidungsstrategien zeigen Bettman/Luce/Payne (1998), dass Verbraucher ihre Entscheidungsstrategien in der Einkaufssituation flexibel und zielorientiert wählen. Durch die Einbeziehung von Zielen kann dieser Ansatz Phäno- mene erklären, an denen wirtschaftlich-rationale Entscheidungstheorien scheitern. Bett- mann/Luce/Payne (1998) sind der Ansicht, dass die vier vorgestellten Metaziele die meis- ten Verbraucherziele abdecken. Es bleibt jedoch unklar, ob es weitere Ziele gibt, und selbst wenn es sich um ein relevantes Ziel handelt, wird es nur rudimentär erklärt, wenn beispielsweise externe Einflüsse nachgewiesen werden. Abbildung 6: Modell von Bettman Quelle: Balderjahn/Scholderer 2007. Auch andere Studien machen deutlich, dass Verbraucher nicht nur bewusst Ziele auswäh- len oder festlegen, sondern dass Ziele auch unbewusst aktiviert werden können. Chart- rand et al. (2008) zeigen z. B., dass Prestige oder Sparsamkeit (Tiffany vs. Wal Mart) die Produktwahl beeinflussen (Prestigemarke vs. Low-Cost Private Label). Das sogenannte „Priming“ erhöht die mentale Zugänglichkeit (durch sogenannte Bahnungsprozesse) der 45 damit verbundenen Konzepte, sodass sie die bewusste Verarbeitung der Informationen beeinflussen können. So ist beispielsweise davon auszugehen, dass das Prestige bei der bewussten Wahl eines Produktes den mit dem Premiumprodukt (Markenprodukt) verbun- denen Eigenschaften mehr Gewicht verleiht als anderen, deren Zugänglichkeit durch Pri- ming nicht erhöht wurde (Moser 2015, S. 44). 3.5 Rationale Kaufentscheidungen Die meisten der oben genannten Beispiele vermitteln den Eindruck, dass die Verbraucher nicht immer rationale Kaufentscheidungen treffen. Impulsivität beim Kauf, die Einhaltung von Gewohnheiten oder das Phänomen der asymmetrisch dominierten Wirkung beschrei- ben „suboptimale“ Entscheidungen. Es wird daher immer wieder betont, dass eine Viel- zahl von Kaufentscheidungen nicht auf der Grundlage rein wirtschaftlicher Prinzipien getroffen werden (Moser 2015, S. 45). Die Frage, was genau unter Rationalität zu verstehen ist, ist jedoch kaum zu klären und bleibt in der Forschung kontrovers. In der Ökonomie gilt eine Kaufentscheidung als wirt- schaftlich rational, wenn sie den subjektiven Nutzen optimiert (Neumann/Morgenstern 1961), was in der Praxis den Rückgriff auf die multiplikative Entscheidungsstrategie voraussetzt. Derartige Theorien gehen davon aus, dass rationale Entscheidungen zumin- dest einigen Regeln entsprechen müssen, wie beispielsweise der ständigen Wahl einer Alternative, wenn schlechtere Varianten hinzugefügt werden (Moser 2015). Beispiele wie der asymmetrisch dominierte Effekt verstoßen gegen diese Regel, in diesem Sinne han- deln Verbraucher nicht immer rational (und die klassischen Wirtschaftstheorien können die menschliche Entscheidungsfindung nicht widerspiegeln). Häufig gehen diese Theorien auch davon aus, dass Produkte und ihre Eigenschaften grundsätzlich und prinzipiell bekannt und bewertungsfähig sind, was nicht immer der Fall ist (Moser 2015). Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass Kosten-Nutzen-Überlegungen auch einen Verzicht auf die Multiplikatorstrategie nahelegen. So wurde bereits oben erwähnt, dass die multi- plikative Strategie Zeit braucht und unter Zeitdruck zu suboptimalen Ergebnissen führen kann oder dass der Kauf eines Produkts mit unbedeutenden Folgen den Aufwand der mul- tiplikativen Strategie kaum rechtfertigt. Andere Autoren (beispielsweise Becker 1993) neh- men an, dass Kaufentscheidungen i. d. R. rational getroffen werden. Ausgehend von der individuellen mentalen Repräsentation der Produkte, ihrer Vor- und Nachteile sowie den Zielen der Käufer kann jede Kaufentscheidung rational begründet werden. Dieses Argu- ment würde jedoch das Rationalitätskriterium entbehrlich machen. Ein Ansatz, der hier Orientierung verspricht, ist der von O'Shaugnessy (1987), der den Begriff der Rationalität umgeht und sich vielmehr mit der Frage beschäftigt, wann die Ver- braucher keine sinnvollen Entscheidungen treffen. Laut O'Shaugnessy (1987) gibt es vier Faktoren, die zu solchen leichtsinnigen Entscheidungen beitragen: Der erste Faktor ist die Rationalität der Notwendigkeit zu kaufen, z. B. wenn sich die Verbraucher nicht über ihre eigenen Bedürfnisse im Klaren sind, sodass sie nicht wis- sen, was sie brauchen, welche Attribute besonders wichtig sind usw. O'Shaugnessy geht davon aus, dass Bedürfnisse im Prinzip rational sind, aber nicht die Prioritäten, die 46 ihnen gegeben werden. Daher können Verbraucher ein Produkt aussuchen, das ihren Bedürfnissen weniger entspricht als ein anderes Produkt. Die Wahl eines Mobilfunktarifs könnte ein Beispiel dafür sein. Hier kann der Verbraucher zwischen Tarifen mit unter- schiedlichen Grundtarifen, Telefonkosten, Vertragsbedingungen und Freiminuten wäh- len und so die für sich beste Entscheidung treffen. Die Verbraucher können jedoch Schwierigkeiten haben, ihren genauen Bedarf zu ermitteln, und dieser kann sich wäh- rend der Laufzeit des Vertrages ändern, was zu Unsicherheit über die Bedürfnisse führt. Die Wahl der besten Tarife wird wahrscheinlich sehr schwierig sein. Ein zweiter Faktor, so O'Shaugnessy, ist die Kenntnis der relevanten Alternativen. Selbst wenn die Verbraucher denken, dass sie einen „Überblick über den Markt“ haben, übersehen sie vielleicht das beste Produkt, da es nur in einem entfernten Geschäft ver- fügbar ist. Auch der Einsatz selektiver Strategien mit zunehmender Komplexität des Produktangebots kann dazu führen, dass Alternativen übersehen oder nicht richtig bewertet werden. Daher können Verbraucher keine klugen Entscheidungen treffen, wenn sie nur über sehr wenige Informationen verfügen. Dies ist auf die Bewertung von Produktunterschieden zurückzuführen. Wenn die Schlussfolgerung gezogen wird, dass alle Produkte sehr ähnlich sind, neigt der Mensch weniger dazu, andere Produkte zu überprüfen. Andererseits lohnt es sich auch nicht, die großen Unterschiede, die als vor- handen vermutet werden, sehr genau zu betrachten, da man die Unterschiede auf den ersten Blick sieht. Ein dritter Faktor betrifft die richtige Wahrnehmung der Fakten. Die Verbraucher verfü- gen nicht immer über das notwendige Wissen, um Produkteigenschaften und deren Relevanz für ihre Bedürfnisse zu klassifizieren. Tatsächlich hat sich ein ganzer For- schungszweig mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Verbraucher die Informationen, die sie von bestimmten Medien bekommen, nicht verstehen oder falsch interpretieren. Informationen werden oft verzerrt oder selektiv ignoriert, weil sie nicht den Wünschen des Käufers entsprechen. So können beispielsweise reale und nicht vorhandene Unter- schiede zwischen Markenprodukten und No-Name-Artikeln ignoriert oder neu interpre- tiert werden. Ebenso können Erwartungen die Wahrnehmung von Fakten beeinflussen. Der vierte Faktor bezieht sich auf die korrekte Behandlung der Informationen. O'S- haugnessy behandelt diverse Punkte, die zu einer verzerrten Verarbeitung von Informa- tionen führen können. Wenn es beispielsweise an Wettbewerb mangelt, kann aus den genannten Fakten ein falscher Schluss gezogen werden, oder die Verbraucher können beim Vergleich der Preise pro Mengeneinheit falsche Berechnungen anstellen. Denkge- wohnheiten können auch zu Fehlschlüssen führen, wenn z. B. der erste Eindruck einer Produktverpackung überbewertet wird oder wenn man sich darauf verlässt, dass grö- ßere Verpackungen mehr brauchbare Inhalte bieten. Darüber hinaus gehen die Verbrau- cher Illusionen nach, insbesondere das wird durch Werbebotschaften angesprochen, z. B. dass besondere Cremes zu einem attraktiven Partner führen oder dass ein bestimm- tes Bier mehr Spaß und Spannung bringt. Verzerrungen können auch durch komplexere Überzeugungssysteme entstehen, die der ordnungsgemäßen Verarbeitung von Fakten widersprechen. Wenn z. B. allen Produkten aus einem Ursprungsland grundsätzlich arg- wöhnisch begegnet wird, werden zumindest einige gute Produkte übersehen. Schließ- lich können auch Emotionen zu Verzerrungen führen. 47 Abbildung 7: Vier Faktoren, die rationales Entscheiden beeinflussen Quelle: Moser 2015, S. 46. ZUSAMMENFASSUNG Im Gegensatz zur „klassischen“ Theorie der Entscheidung nach dem rationalen Prinzip versucht die verhaltensorientierte Entscheidungsana- lyse, die Aktivierung und Kontrolle von tatsächlichen Entscheidungen zu erklären. So wird die Entscheidung zu einem Thema der Informations- verarbeitung im erweiterten Sinne. So gibt beispielsweise die mentale Aktivierung den Anstoß für die Verarbeitung kognitiver Informationen (Beispiel: „Je höher die Aktivierung, umso mehr Information wird nach- gefragt“). Manche Autoren unterstreichen, dass ein Verbraucherentscheidungspro- zess immer konstruiert ist und glauben, dass Verbraucher bewusst eine Entscheidungsstrategie verfolgen, die auf den Anforderungen der Situa- tion basiert. Die Verbraucher suchen intensiv nach Informationen, nicht nur auf der Grundlage ihrer eigenen Kenntnisse und Erfahrungen, son- dern auch aus externen Quellen (z. B. Werbung, Fachzeitschriften, Wis- sen). Andere Autoren beschreiben beispielsweise nur extensive, limitierte und habitualisierte Käufe, die sich nach ihrer kognitiven Anstrengung unter- scheiden lassen, ohne reaktive und emotionale Merkmale zu unterschei- den. Um diesen Ansatz zu erklären, werden zunächst die Entschei- dungsstrategien beschrieben und vorgestellt. Diese Prüfanordnung macht nachvollziehbar, welche Eigenschaften in welcher Reihenfolge von den Verbrauchern wahrgenommen werden, z. B. ob zuerst alle Eigenschaften eines Produkts oder alle Ausprägungen einer Eigenschaft usw. 48 Die Anwendung der multiplikativen Strategie setzt indes voraus, dass die Bedeutung der Merkmale des Produkts ermittelt und die Qualität der Merkmale jedes Produkts bewertet wird. So bestimmt beispielsweise die additive Kompensationsregel nicht das Gewicht der Merkmale, sondern es werden nur die positiven Eigenschaften der Produkte gezählt. Insge- samt bestimmen unterschiedliche Faktoren eine Kaufentscheidung. Dabei spielen die Ziele, die die Verbraucher in einer Kaufsituation verfol- gen, eine wichtige Rolle. Diese stehen im Mittelpunkt des Ansatzes von Bettman/Luce/Payne. Die Multiplikationsstrategie, also die Verknüpfung aller Merkmale, ist der beste Weg, um in jedem Fall das beste Produkt zu finden, wenn mögliche Fehler bei der Bewertung und Gewichtung von Eigenschaften nicht berücksichtigt werden. Es bleibt jedoch unklar, ob es weitere Ziele gibt, und selbst wenn es sich um ein relevantes Ziel handelt, wird es nur rudi- mentär erklärt, wenn beispielsweise externe Einflüsse nachgewiesen werden. Auch andere Studien machen deutlich, dass Verbraucher nicht nur bewusst Ziele auswählen oder festlegen, sondern dass Ziele auch unbewusst aktiviert werden können. Die Verbraucher können jedoch Schwierigkeiten haben, ihren genauen Bedarf zu ermitteln, was zu Unsi- cherheit über ihre Bedürfnisse führt. 49 LEKTION 4 MARKTPSYCHOLOGISCHE WIRKUNGSMODELLE LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – welche Arten von Wirkungsmodellen in der Marktpsychologie betrachtet werden. – wie diese Modelle die Praxis abbilden. – welche Forschungsrichtung mit „Neuromarketing“ bezeichnet wird. – was unter viralem Marketing zu verstehen ist. 4. MARKTPSYCHOLOGISCHE WIRKUNGSMODELLE Einführung Menschen kaufen jeden Tag bestimmte Produkte zum wiederholten Male, z. B. Lebensmit- tel wie Brot oder Kaffee. Sie fällen also jeden Tag eine Vielzahl von Kaufentscheidungen (Moser 2015, S. 30). Andere Käufe hingegen tätigen sie nur wenige Male im Leben, wie z. B. den Kauf eines Hauses oder eines Toasters. Solche Kaufentscheidungen laufen nicht immer „nach dem gleichen Muster“ ab. Über manche Entscheidungen denkt man kaum nach, man geht in einen Laden und findet gleich das „richtige Produkt“. Andere Käufe beschäftigen eine Person über mehrere Wochen, und manchmal kann das Ergebnis auch im Verzicht auf einen Kauf liegen. In wieder anderen Fällen kommt man mit einem Pro- dukt nach Hause, dessen Kauf man gar nicht beabsichtigt hatte. Zudem verfolgen Konsu- menten bestimmte Ziele mit einem Kauf: Sie können kaufen, um unmittelbar zu konsu- mieren, um etwas zu verschenken, aber auch, um übermäßigen Konsum zu begrenzen, weil man zukünftigen Bedarf antizipiert (z. B. der Abschluss einer privaten Rentenversiche- rung). Und schließlich sind Kaufentscheidungen oft Bestandteil einer Rolle, also eines Bündels von standardisierten Verhaltenserwartungen, die andere an eine Person richten und welche diese zu erfüllen sucht (z. B. als professioneller Einkäufer, Vater, beste Freun- din etc.). 4.1 Kaufentscheidungen als spezifische Aktivierung Die Erforschung des Konsumverhaltens basiert auf sogenannten Paradigmen. Paradigmen sind aut

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