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University of St. Gallen

Oliver Strijbis

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political science government systems governance political theory

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These lecture notes cover comparative political science, focusing on government systems and their applications. The document details topics such as multilevel governance, presidentialism versus parliamentarism, and the formation of cabinets, specifically focusing on the German context. The document appears to be course lecture notes for graduate-level study.

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Vergleichende Politikwissenschaft Regierungssysteme: Anwendungen Prof. Oliver Strijbis 1 Inhalte heute: 1. Nachtrag: Regieren im Mehrebenensystem 2. Präsidentialismus vs. Parlamentarismus: Zusammenstellung des Kabinetts 3. Wer wird Deutschland r...

Vergleichende Politikwissenschaft Regierungssysteme: Anwendungen Prof. Oliver Strijbis 1 Inhalte heute: 1. Nachtrag: Regieren im Mehrebenensystem 2. Präsidentialismus vs. Parlamentarismus: Zusammenstellung des Kabinetts 3. Wer wird Deutschland regieren? 2 Lernziele Die Studierenden verstehen das Konzept des Mehrebenensystems (multilevel governance). Die Studierenden können Theorie der Regierungssysteme anwenden Die Studierenden können Theorien der Regierungsbildung in parlamentarischen Systemen anwenden 3 3. Regieren im Mehrebenensystem Einheitsstaaten Unitarismus vs. Föderalismus: Klassische Unterscheidung zwischen Zentralstaaten (z.B. Frankreich) und Föderationen (USA, Schweiz, Deutschland) Bsp: Regionen mit grösster Autonomie subnationaler Einheiten Autonomie: Südtirol, Kantone in der Schweiz, Katalonien - Symmetrischer vs. asymmetrischer Föderalismus (=> autonome Regionen) Macht der subnationalen Polities auf nationale Entscheidungen: - Eine vs. zwei Parlamentskammern - Macht der ersten (territorialen) Parlamentskammer 4 3. Regieren im Mehrebenensystem Regieren ist nicht nur auf Nationaleben, sondern auch ausserhalb des Nationalstaats Mehrebenensysteme: Es gibt noch weitere relevante subnationale Polities (z.B. Gemeinden) Es gibt auch relevante supranationale Polities (v.a. EU) Mehrebenenregierung («multilevel governance») ist die Verteilung von Entscheidungsgewalt auf Polities innerhalb und ausserhalb des Nationalstaates Je ausgeprägter das Mehrebenensystem desto stärker die Machtverteilung (z.B. Premierminister Spaniens (fälschlicherweise «Präsident») hat vergleichsmässig weniger Macht als jener Portugals -> desto weiter weg des Regierens im Nationalstaat Supranationale Integration führt aber auch zu grösserer Macht ausserhalb des Nationalstaates (z.B. Ungarn in der EU) Relativ ist der Machtzuwachs von kleineren 5 Ländern grösser (Veto in Ungarn) 3. Regieren im Mehrebenensystem Dezentralisierung führt zu E zienz -> globale Probleme, die der Nationalstaat nicht lösen kann und somit ein Koordinationsproblem besteht (prisoners dilemma) -> keine Lösung nden, die für die Gesamtheit besser wäre Supranationale Beziehungen : Anreize die bestehen, damit man ein Problem in den Gri kriegt Wieso Mehrebenensysteme? 1. Steigerung von Effizienz (funktionalistische Erklärung): Annahme, dass für die Herstellung eines öffentlichen Gutes gibt es immer eine ideale geographische Einheit Wenn Nutzen und Kosten auf lokaler Ebene liegen, lokale Behörden, da diese über bessere Informationen über die lokalen Bedingungen verfügen (z.B. Nutzung öffentlichen Grundes) Öffentliche Güter mit externen Effekten, die über die nationalen Grenzen hinausgehen, erfordern eine Governance auf kontinentaler oder globaler Ebene (z.B. Klimaerwärmung) 6 3. Regieren im Mehrebenensystem Abbildung: Bevölkerungsgrösse und Anzahl Governance- Ebenen (Hooghe et al. 2016) Auf wievielen Ebenen werden Entscheide getro en, die für ein Land relevant sind. Je grösser ein Land, desto mehr Regierungsebenen kennt das Land. 7 3. Regieren im Mehrebenensystem Dezentralisierung und supranationale Integration ist ein Schritt gegen Verteilungskon ikte Dezentralisierung wirkt kon iktlösend Wieso Mehrebenensysteme? 2. Konfliktlösung: Supranationale Integration zur Sicherung von Frieden => EU als Friedensprojekt nach dem 2. Weltkrieg Föderalismus als Kompromiss nach Konflikten (z.B. USA) Dezentralisierung zur Abschwächung von Konflikten (z.B. Belgien) Doch wirkt Verteilung von Macht auf mehrere Ebenen überhaupt konfliktlösend? 8 3. Regieren im Mehrebenensystem Effekte des Föderalismus auf ethnische Konflikte: 1. Pro: Dezentralisierung/Föderalisierung erfüllt (teilweise) die Forderungen der nationalistischen Minderheit Sie schafft eine Form der Machtteilung, die Anreize für die Eliten zur Zusammenarbeit schafft (Consociationalism) Zentralisierung («indirect rule») stärkt den Nationalismus von Minderheiten Konfliktstudien zeigen vor allem für Entwicklungsländer, dass Machtteilung ethnische Konflikte verringert 9 3. Regieren im Mehrebenensystem Problem für Minderheitsparteien darauf einzulassen und einzusehen, dass sie weniger Autonomie haben und nicht so viel fordern können Effekte des Föderalismus auf ethnische Konflikte: 2. Kontra: Dezentralisierung/Föderalisierung gibt den Minderheiten-Nationalisten mehr Ressourcen geben, wenn sie an der Macht sind. Forderungen nach (Sezession) sind der Grund für die Existenz von nationalistischen Minderheitenbewegungen (einschliesslich Parteien). Sie können nicht aufhören, radikalere Forderungen zu stellen. Ziemlich starke Belege für negative Auswirkungen auf Parteien in entwickelten Ländern 10 Inhalte heute: 1. Nachtrag: Regieren im Mehrebenensystem 2. Zusammenstellung des Kabinetts 3. Wer wird Deutschland regieren? 11 2. Zusammenstellung des Kabinetts 1. Regierungsbildung im Präsidentialismus, Beispiel USA: Kabinett setzt sich zusammen aus: - Präsident - Vizepräsident - 14 Ministern (engl. Secretaries) mit Kabinettsrang - dem United States Attorney General -> Staatsanwalt - einige weitere ranghohe Beamte von US-Bundesbehörden Executive Office: Beraterbüro des Präsidenten - Mitglieder beraten direkt den Präsidenten - Geleitet von Stabschef des Weissen Hauses (Chief of Staff) Überschneidung mit dem Kabinett Nationaler Sicherheitsrat: über die äussere Sicherheit beratendes Gremium 2. Zusammenstellung des Kabinetts 1. Regierungsbildung im Präsidentialismus, Beispiel USA (kont.): Der Präsident ernennt die Sekretäre mit Zustimmung des Senats. Ausnahme sind «Recess Appointments»: Ämter können während einer Senatspause von 10 Tagen für ein Jahr besetzt werden. Amerikanische Sekretäre sind direkt dem Präsidenten untergeordnet und können durch ihn jederzeit des Amtes enthoben werden. Der Vizepräsident kann zusammen mit einer Mehrzahl der Hauptmitglieder des Kabinetts dem Kongress eine Mitteilung übermitteln, dass der Präsident nicht in der Lage ist, sein Amt auszuüben. typisch checks and balances: man kann es nicht direkt machen sondern es erfordert zusammenarbeit (Exekutive und Legislative hier) 2. Zusammenstellung des Kabinetts 2. Zusammenstellung des Kabinetts 2. Regierungsbildung im Parlamentarismus, Beispiel Deutschland: Mehrheitsregierung oder Koalitionsbildung Teil der Koalitionsverhandlung ist, … - … wie viele (bzw. welchen Anteil an) Ministerien welche Partei erhält - … welche Partei welche Ministerien erhält (siehe Portfolio-Allokationsmodell) Parteien versuchen sich vor allem jene Ministerien zu sichern, die für Themen zuständig sind, bei denen sie Themenführerschaft haben Totale Anzahl und Verantwortungsbereich der Ministerien können ebenfalls Teil der Verhandlung sein => z.B. “Superministerium” für grossen Koalitionspartner typischerweise um den grössten Koalitionspartner zu entschädigen z.B. Wirtschafsbereich wird normalerweise in 4 Teile aufgeteilt und jetzt ist es ein Ganzes 2. Zusammenstellung des Kabinetts 2. Regierungsbildung im Parlamentarismus, Beispiel Deutschland (kont.): Ressortverteilung: Wer bekommt was in einer Koalitionsregierung? Das eiserne Gesetz der Proportionalität: - Annahme, dass jeder Koalitionspartner einen Anteil an den Ressorts entsprechend seiner Grösse (in der Regel Sitzanteil) erhält -> Premier geht an die grösste Partei - Kleinere Parteien erhalten einen etwas höheren Anteil, wenn sie notwendig sind, um dritte Parteien auszuschliessen - Das Gesetz wurde in der Vergangenheit in hohem Masse bestätigt - Aus Sicht der Verhandlungstheorie, die davon ausgeht, dass die strategische Position wichtiger ist als die Größe der Partei, ist dies rätselhaft. aus rational choice recht überraschend 2. Zusammenstellung des Kabinetts 2. Regierungsbildung im Parlamentarismus, Beispiel Deutschland (kont.): Welche Partei erhält welche Art von Portfolio? - Nach der Proportionalitätsregel: Premierminister erhält die grösste Partei - Aus dem räumlichen Modell: Die mittlere Partei in der jeweiligen politischen Dimension erhält ein Portfolio (siehe räumliches Modell, nächste Sitzung) - Parteien erhalten ein Portfolio zu Themen, bei denen sie die Themenführerschaft haben - (Informelle) Regeln zur soziodemografischen Proportionalität (z.B. Geschlecht, regionaler Hintergrund, etc.) - Aber auch innerparteiliche Regeln und Parteikohäsion 2. Zusammenstellung des Kabinetts Abbildung: Das Kabinett der deutschen Regierung von 2021 bis 2024 Soziales Prädikatoren: ! Proportionalität ! Kleinster notwendiger Partner erhält Umweltschutz / überproportional viele Klima ! Grösste erhält Premier (Kanzler) ! “Superministerium” (Habek) für grössten Koalitionspartner ! Portfolio nach Themenführerschaft Finanzen - Portfolio nach Median Inhalte heute: 1. Nachtrag: Regieren im Mehrebenensystem 2. Zusammenstellung des Kabinetts 3. Wer wird Deutschland regieren? 19 3. Wer wird Deutschland regieren? Vorhersage von Sitzanteilen mittels Prognosemarkt 20 3. Wer wird Deutschland regieren? Erststimme: Mehrheitssystems bei dem Kanditat von Partei gewählt wird Zweitstimme: Listenstimme Wahlsystem in Deutschland Mixed: 299 Direktmandate und mindestens 299 Zweitstimmen Die Zweitstimmen entscheiden über Sitzanteile im Bundestag Das erfolgt nach dem Verhältniswahlrecht (Hare/Niemeyer-Verfahren, Details in nächster Sitzung!) 5% Wahlhürde Damit eine Partei Sitze erhält, muss sie mindestens 5% der Zweitstime erhalten Überhangmandate 21 3. Wer wird Deutschland regieren? 22 3. Wer wird Deutschland regieren? Links-rechts Positionierung der deutschen Parteien Schwierig die Parteien auf eine Dimension zu verordnen Quelle: Thomeczek, Jan Philipp et al. 2024: Die Parteienlandschaft zur Europawahl 2024. DVPW-Blog 23 3. Wer wird Deutschland regieren? Abbildung: Wähleranteile in etwa gemäss Prognosemarkt Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP) G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 proportional mehr Sitze als Wähleranteile Legende G = Grüne S = SPD B = Bündnis Sarah Wagenknecht C = CDU/CSU A = AfD Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimal winning G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 52 G S A 55 G C 57 S C 63 C A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimum / minimal size G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 52 G S A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimum / minimal size nach Parteien G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 55 G C 57 S C 63 C A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimal range kleinster ideologischer Abstand G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 57 S C 63 C A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimal range connected G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 Es würde nicht darauf ankommen wenn B auch noch dazukommt 57 S B C 63 C A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): median party Dominanz der Medianpartei G S B C A links rechts 14 16 7 41 22 100 Sitze, Mehrheit ab 51 55 G C 57 S C 63 C A Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): minimal range im zweidimensionalen Raum gegen EU/gegen Einwanderung Gleiche Lösung wie im eindimensionalen Raum bei minimal range. (Aber kein minimal connected range, da BSW nicht genau zwischen CDU/CSU und SPD.) für EU/für Einwanderung 32 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Portfolio-Allokationsmodell Regierungsbildung gemäss Portfolio-Allokationsmodell: - Parteien handeln in erster Linie aus, wer wie viele und welche Ministerien übernehmen darf - Ministerinnen und Minister üben relativ unabhängig von den übrigen Kabinettsmitgliedern Einfluss auf Policies in ihrem Themenbereich aus - Die Parteien einigen sich also auf eine Regierungskoalition, bei welcher die durch die Minister definierten Policies auf mehreren inhaltlichen Dimensionen möglichst nahe bei ihren Präferenzen liegen 33 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Portfolio-Allokationsmodell Regierungsbildung gemäss Portfolio-Allokationsmodell: Mögliche Lösungen: - Grüne – SPD – AfD: Umwelt – Soziales - Einwanderung sie konkurrieren nicht bei den Themen - Grüne – CDU/CSU: Umwelt – Wirtschaft (?) - SPD – CDU/CSU: Soziales – Wirtschaft (?) - CDU/CSU – AfD: Wirtschaft (?) – Einwanderung Aber wie wird inhaltliche Nähe genau geschätzt? Sehr schwierig im n- dimensionalen Raum Unklar bei Catch-all Parteien wie CDU/CSU 34 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Vorhersagen Grüne - SPD - Grüne - SPD - BSW - AfD CDU/CSU SPD - CDU/CSU AfD - CDU/CSU CDU/CSU Minimal winning X X X X Minimum / minimal size X Minimum / minimal size nach Parteien X X X Minimal range X X Minimal connected range X X Minimal range 2dimensional X X Portfolio-Allokation X X X X 35 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Plausibilität 36 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Portfolio-Allokationsmodell Was für Theorien (mit Bezug auf ihre Vorhersagen) wollen wir? das schlechteste man will tiefes Kon denzintervall genaue Vorhersage und mit der auch tre en man will plausible Szenarien das beste 37 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Plausibilitätscheck Grüne - Grüne - SPD - AfD - SPD - BSW - Evaluation: ø SPD - AfD CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU Wahrscheinlichkeit Minimal winning X X X X mittel Minimum / minimal mittel size X X Minimum / minimal eher hoch size nach Parteien X X X Minimal range X X hoch Minimal connected tief range X X Minimal range hoch 2dimensional X X Portfolio-Allokation X X X X mittel Eine Theorie die rote Punkte vorhersagt ist nicht so gut wie die die eher grüne vorhersagt 38 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Evaluation Wie plausibel sind Theorien für Deutschland heute? - Minimum / minimal size nach Parteien und vor allem minimal range scheinen Regierungsbildung teilweise erklären zu können keine normale Partei: Tabu dass Partei in Deutschland eine Koalition mit AfD - Aber: AfD! eingehen würde → Wie idiosynkratisch ist cordon sanitaire gegenüber AfD? - Aber: BSW! Partei die geringe Wahscheinlichkeit hat in eine Koalition zu kommen → Was, wenn der politische Raum drei- oder mehrdimensional ist? dann würde alles komplizierter werden und man hat auch weniger genaue Vorhersagen 39 Theorien der Koalitionsbildung (ohne FDP): Wie plausibel sind Vorhersagen, wenn wir für cordon sanitaire kontrollieren? Grüne - Grüne - SPD - AfD - SPD - BSW - SPD - AfD CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU Evaluation Minimal winning X X X X hoch Minimum / minimal mittel size X X Minimum / minimal hoch size nach Parteien X X X Minimal range X X sehr hoch Minimal connected tief range X X Minimal range sehr hoch 2dimensional X X Portfolio-Allokation X X X X mittel 40

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