Kapitel 1: Angst- und Zwangsstörungen PDF
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LMU München
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Dieses Kapitel behandelt Angst- und Zwangsstörungen. Es definiert Realangst und pathologische Angst und beschreibt deren Symptome. Der Text beschreibt auch irrationale Ängste und Panikattacken.
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# Kapitel 1: Angst- und Zwangsstörungen ## 1.1. Fachbegriffe ### 1.1.1. Realangst oder pathologische Angst? Evolutionsgeschichtlich hat die Angst eine wichtige Funktion: sie ist ein Schutzmechanismus, eine Art "Alarmanlage", die es uns ermöglicht, in Gefahrensituationen so zu reagieren, dass unse...
# Kapitel 1: Angst- und Zwangsstörungen ## 1.1. Fachbegriffe ### 1.1.1. Realangst oder pathologische Angst? Evolutionsgeschichtlich hat die Angst eine wichtige Funktion: sie ist ein Schutzmechanismus, eine Art "Alarmanlage", die es uns ermöglicht, in Gefahrensituationen so zu reagieren, dass unser Überleben gesichert ist. Diese normale Angst, die jeder von uns kennt, wird auch als Realangst bezeichnet. Die "normale Angst" verschwindet i. d. R., wenn die Gefahr vorüber ist. ### 1.1.2. Merkmale von Angst Viele Angstsymptome sind normale physische Reaktionen, die bei einer Realangst auf eine Kampf- oder Fluchtsituation (engl. fight or flight) vorbereiten sollen oder – wenn Kampf oder Flucht nicht möglich sind – den Totstellreflex (Schreckstarre) auslösen (➤ Abb. 1.1) * **Verstärkung der Energiezufuhr:** erhöhte Herzfrequenz, erhöhter Blutdruck, schnellere Atmung. Die Blutgefäße der Haut verengen sich, die Skelettmuskeln hingegen werden stärker durchblutet und spannen sich an, sodass wir für Kampf oder Flucht bereit sind. * **Verringerte Blutversorgung der inneren Organe und der Geschlechtsorgane:** (kein Hunger, evtl. Übelkeit, kein sexuelles Verlangen, Hemmung der Blasen-, Darm- und Magentätigkeit). * **Erhöhte Alarmbereitschaft:** erhöhte Muskelspannung, erhöhte Reaktionsgeschwindigkeit, geschärftes Sehen und Hören (Pupillen weiten sich, Seh- und Hörnerven werden empfindlicher). * **Ausschalten des Verstands:** Intellektuelle Funktionen wie das Analysieren der vermeintlichen Gefahr („Ist das überhaupt gefährlich?" – „Wie reagiere ich am sinnvollsten?") werden ausgeschaltet, da Nachdenken und Analysieren die Reaktion unweigerlich verzögern. * **Totstellreflex:** In einer gravierenden Gefahrensituation, in der weder Kampf- noch Fluchtverhalten möglich sind, reagiert unser Körper zunächst mit Lähmung, Erstarrung, Gefühllosigkeit (engl. freeze). Diese „Schreckstarre“ ist ein angeborener Mechanismus, der in frühen führte, dass Raubtiere ihr Opfer nicht bemerkten und es so auch nicht angreifen konnten (denn viele Raubtiere reagieren au Bewegung) In den meisten Fällen löst sich die Schreckstarre nach einiger Zeit und wir von Flucht- oder Angriffsverhalten abgelösten K **Abb. 1.1**: Von Angstsymptomen betroffene Körperorgane/-systeme [L138] ## 1.1.3. Irrationale Ängste Viele Menschen leiden allerdings an Ängsten, auch wenn eine real vorhandene Gefahrensituation nicht oder nicht mehr besteht: Manche haben z. B. unerklärliche, oft panikartige Ängste vor Menschenansammlungen, Plätzen, engen Räumen, hohen Gebäuden, Spinnen, Hunden, Vögeln, Mäusen, spitzen Gegenständen. Andere wiederum leiden an unvorhersehbaren Panikattacken (→ Merke-Kasten) oder haben Angst vor Bloßstellung in sozialen Situationen. Wieder andere befürchten ständig, ihnen oder ihren Eltern/Kindern/Verwandten könne etwas Schlimmes zustoßen. Bei all den hier genannten Beispielen – und davon gibt es noch viele mehr – ist die z. T. panikartige Angst nicht real begründbar, sondern irrational, krankhaft, pathologisch. Früher bezeichnete man diese "pathologische Angst" in Anlehnung an Freud auch als "neurotische" Angst. ### Merke: ### Was ist eine Panikattacke? * Es handelt sich um eine einzelne Episode intensiver Angst. * Der Angstanfall beginnt abrupt. * Die Panikattacke erreicht in wenigen Minuten ein Maximum und ebbt dann innerhalb kurzer Zeit wieder ab. * Dauer: einige Minuten bis maximal 20–30 Minuten. * Mindestens vier der in ➤ Kap. 1.2 aufgeführten Angstsymptome müssen vorliegen, davon mindestens ein vegetatives Symptom (1-4) ## 1.2 Angstsymptome im Überblick (nach ICD-10) Um nach ICD-10 eine Phobie oder sonstige Angststörung zu diagnostizieren, müssen von den nachfolgend aufgeführten Angstsymptomen meist mindestens zwei, manchmal auch vier oder mehr nachweisbar sein. In einigen Fällen – z. B. bei der sozialen Phobie – werden sie durch zusätzliche Merkmale ergänzt. **A. Vegetative Symptome:** 1. Palpitationen (= bewusste Wahrnehmung des eigenen Herzschlags) mit Herzklopfen, Herzrasen, Herzstolpern etc. 2. Schweißausbrüche 3. Fein- oder grobschlägiger Tremor 4. Mundtrockenheit **B. Sonstige Symptome:** 1. Atembeschwerden 2. Beklemmungsgefühl, Kloß im Hals 3. Schmerzen/Missempfindungen im Brustbereich 4. Übelkeit/Missempfindungen im Magen-/Darmbereich 5. Gefühl von Schwindel, Benommenheit, Schwäche 6. Hitzewallungen oder Kälteschauer 7. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle 8. Angst vor Kontrollverlust (z. B. verrückt zu werden oder auszuflinnen") 9. Angst zu sterben 10. Derealisation: Gefühl, dass die Umwelt unwirklich, fremd, weit entfernt ist 11. Depersonalisation: Gefühl, selbst weit entfernt, nicht wirklich hier zu sein Auf die in dieser Liste aufgeführten Symptome wird in der Folge immer wieder Bezug genommen, ebenso auf die Merkmale einer Panikattacke, falls dies für die Diagnose wichtig ist. Panikattacken „wie aus heiterem Himmel“ sind z. B. ein wesentliches Merkmal der in ➤ Kap. 1.3 beschriebenen (anhaltenden) Panikstörung.