Einführung in die Gesundheitspsychologie PDF
Document Details
Uploaded by DesirableTantalum
FernUniversität Hagen
Tags
Related
Summary
This document provides an introduction to health psychology, covering learning objectives, the relevance of health as an individual and societal value, and the presence and societal relevance of health. It also discusses the reasons for the high individual and social appreciation of health.
Full Transcript
B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 1 1 Einführung in die Gesundheitspsychologie Lernziele Nach der Lektüre dieses Kapitels haben Sie sich mit Gründen für die hohe gesellschaftliche Relevanz von Gesundheit auseinandergesetzt, können...
B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 1 1 Einführung in die Gesundheitspsychologie Lernziele Nach der Lektüre dieses Kapitels haben Sie sich mit Gründen für die hohe gesellschaftliche Relevanz von Gesundheit auseinandergesetzt, können Sie unterschiedliche Paradigmen von Gesundheit und Krankheit benennen und voneinander abgrenzen, kennen Sie die Grundhaltungen, die das Selbstverständnis der Gesundheitspsychologie ausmachen, können Sie die Gesundheitspsychologie in den Kanon der psychologischen Fächer einordnen und ihre Bezüge zu Nachbardisziplinen benennen, ist für Sie nachvollziehbar, dass in der Gesundheitspsychologie die Berücksichtigung von Diversitätsaspekten relevant ist. Die Gesundheitspsychologie ist ein noch recht junges Fach. Sie etablierte sich 1978 zuerst in den USA mit der Gründung der Division of Health Psychology in der American Psychological Association (APA). Es folgten 1986 die Gründung der European Health Psychology Society (EHPS) sowie 1992 der Fachgruppe Gesundheitspsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs). Mit der Einführung der psychologischen Bachelor- und Masterstudiengänge in Deutschland wird die Gesundheitspsychologie auch als Fach an Universitäten und Hochschulen zunehmend sichtbar und gewinnt vermehrte Aufmerksamkeit. Die Begründung der eigenständigen Disziplin Gesundheitspsychologie ist somit Ausdruck der Bedeutsamkeit des Themas „Gesundheit“. 1.1 Gesundheit als individueller und gesellschaftlicher Wert Dass Gesundheit sowohl für den persönlichen Lebensweg relevant ist als auch für die Gesellschaft – etwa in Form der Leistungsfähigkeit von Personen –, macht sie zu einem der zentralen Themen in Alltag, Öffentlichkeit und Politik. 1.1.1 Präsenz und gesellschaftliche Relevanz von Gesundheit Wie präsent das Thema Gesundheit ist, zeigt sich unter anderem daran, wie häufig gesundheitsbezogene Inhalte in Print- oder anderen Medien als Aufmacher oder alleiniger Inhalt verwendet werden (siehe Abbildung 1.1). Weiterhin gibt es regelmäßige Sendungen zu gesundheitsbezogenen Themen in Fernsehen und Rundfunk sowie unzählige Seiten im Internet, die bei Fragen zur Gesundheit oder mit dem Ziel der Information über Krankheiten aufgesucht werden. Gesundheitserziehung und gesundheitliche Aufklärung findet bereits im Kindergarten statt, Betriebe machen gesundheitsfördernde Angebote, wellness- und fitnessfördernde Urlaubsangebote erfreuen sich großer Beliebtheit. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 2 Abbildung 1.1 Auswahl gesundheitsbezogener Themen in deutschsprachigen Printmedien Gesundheit und ihre Gefährdungen sind so allgegenwärtig, dass von einer gesellschaftlichen und kulturellen Dominanz des Gesundheitsthemas gesprochen werden kann (Kickbusch, 2006). Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD, 2015) zeigen, wie relevant Gesundheit für die Lebensqualität und das Wohlbefinden ist. Eine Befragung von Menschen in den seinerzeit 34 Mitgliedstaaten der OECD (seit 2020 sind es 37 Staaten) ergab, dass Gesundheit den höchsten Stellenwert für Wohlbefinden und ein gutes Leben besitzt (siehe Abbildung 1.2). Abbildung 1.2 Indikatoren für Lebensqualität und Wohlbefinden 2015 in den OECD-Staaten. Aus Organisation for Economic Co-operation and Development, 2015, S. 37 1.1.2 Gründe für die Relevanz des Themas „Gesundheit“ Im Folgenden werden eine Reihe von Entwicklungslinien diskutiert, die zu dem Status Quo einer hohen individuellen und gesellschaftlichen Wertschätzung von Gesundheit beigetragen B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 3 haben. Diese Entwicklungslinien sind nicht unabhängig voneinander zu betrachten und stehen in verschiedenen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zueinander. Ein wesentlicher Ausgangspunkt waren die Bemühungen um die Sicherung der öffentlichen Gesundheit. Den damals neuen Erkenntnissen über krankheitsförderliche Umgebungsfaktoren wurde im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert mit Maßnahmen wie der Installierung von Trink- und Abwasserversorgung, der Einführung der Krankenversicherung und der Schaffung immer umfassenderer medizinischer Versorgungssysteme Rechnung getragen (Diederichs et al., 2008; siehe auch Kurs 2, Kapitel 2 „Krankheitsprävention“). Damit wurden die Grundlagen für Lebensbedingungen geschaffen, die schwerwiegende und weitreichende Gesundheitsrisiken wie Seuchen unwahrscheinlicher machten und im Fall einer Krankheit umfassende medizinische Behandlungen gewährleisteten. Auch befördert durch diese Verbesserung der öffentlichen Gesundheit kam es im Verlauf der letzten 100 bis 150 Jahren zu einer deutlichen Veränderung der vorherrschenden Krankheits- und Todesursachen. Während zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch Infektionskrankheiten die häufigsten Todesursachen waren, sind es heute chronisch-degenerative Erkrankungen (Maaz et al., 2006; siehe Kasten 1.1). Eine wichtige grundsätzliche Unterscheidung in Bezug auf Krankheiten ist diejenige zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Während akute Krankheiten plötzlich beginnen, sich eventuell verschlimmern und schließlich wieder abklingen können, entstehen chronische Krankheiten oftmals schleichend oder schubweise, dauern über einen längeren Zeitraum an oder können auch das gesamte weitere Leben begleiten (Dowrick et al., 2005). Chronische Erkrankungen umfassen ein breites Spektrum. Manche dieser Erkrankungen können medikamentös oder durch Veränderungen in der Lebensführung (z. B. durch eine bestimmte Ernährung) gelindert werden (siehe auch Kurs 2, Kapitel 2 „Krankheitsprävention“ und Kurs 2, Kapitel 9 „Patientenschulungen“), eine vollständige Heilung ist jedoch häufig nicht oder noch nicht möglich. Die langandauernde oder lebenslange Behandlung einer chronischen Erkrankung geht mit vielfältigen Anpassungsleistungen auf Seiten der Betroffenen und mit zumeist hohen materiellen und immateriellen Behandlungskosten einher. Kasten 1.1. Kennzeichen chronischer Erkrankungen und ihre Abgrenzung zu akuten Erkrankungen. Herz- und Kreislauferkrankungen, Krebs, Rheuma, Magen-Darmerkrankungen, Allergien, Diabetes mellitus und psychische Störungen (wie z. B. chronifizierte Formen von Depression) dominieren das heutige Krankheitsspektrum (Maske et al., 2013). Chronisch-degenerative Erkrankungen sind auch die häufigsten Todesursachen (Statistisches Bundesamt, 2022). Die Veränderung des Krankheitsspektrums wird durch demographische Entwicklungen und die Verbesserung der medizinischen Versorgung mitbedingt. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Lebensalter; da aber mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit für chronische Erkrankungen steigt, gibt es in einer älter werdenden Gesellschaft auch mehr chronisch Kranke (Nowossadeck & Nowossadeck, 2011). Durch die Fortschritte in der medizinischen Versorgung können immer mehr Menschen trotz einer schwerwiegenden Erkrankung lange leben, was sich ebenfalls in den höheren Prävalenzraten chronisch-degenerativer Erkrankungen niederschlägt. Neben diesen Entwicklungen werden individuelle und umweltbedingte Faktoren maßgeblich für die Entstehung chronischer Erkrankungen verantwortlich gemacht. Auf der Umweltseite sind dies Risikofaktoren wie Luftverschmutzung oder gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, auf der individuellen Seite spielen Verhaltensweisen wie das Rauchen, Ernährungsgewohnheiten oder körperliche B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 4 Inaktivität eine wesentliche Rolle bei der Entstehung und im Verlauf von Krankheiten (siehe Kurs 1, Kapitel 2 „Gesundheitsbezogenes Verhalten“). Die Zunahme chronisch-degenerativer Krankheiten verweist zum einen auf die Grenzen einer kurativ ausgerichteten Medizin, zum anderen werden durch sie die Kosten für Krankheitsversorgung und Pflege drastisch erhöht. So betrugen die Gesundheitsausgaben in Deutschland im Jahr 2021 474.1 Milliarden Euro, was einem Anteil von 13.2 % des Bruttoinlandproduktes entspricht. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Gesundheitsausgaben um 7.5 % (Statistisches Bundesamt, 2023). Dieser finanzielle Aspekt zeigt, dass die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit nicht nur ein individuell wichtiger Wert, sondern auch gesamtgesellschaftlich in hohem Maße relevant ist. Die Senkung krankheitsbedingter Kosten ist dementsprechend ein wichtiges Ziel gesundheitspolitischer Bemühungen. 1.2 Verständnis von Gesundheit und Krankheit Die oben skizzierten, sich wandelnden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen gingen auch mit einer Veränderung des Verständnisses von Krankheit und Gesundheit einher. 1.2.1 Krankheitsparadigmen Krankheit bezieht sich im medizinischen Sinne auf die Behandlungs- und/oder Pflegebedürftigkeit einer Person und ist definiert über körperliche, geistige oder seelische Veränderungen oder Störungen, welche objektiv feststellbar sind und das subjektive Wohlbefinden sowie die Leistungsfähigkeit einer Person einschränken (Franzkowiak, 2015). Alle anerkannten Krankheiten werden heute anhand körperlicher oder psychischer Beschwerden unterschiedlichen Krankheitskategorien zugeordnet. Die bekanntesten und international normierten aktuellen Klassifikationssysteme sind die International Classification of Diseases (ICD- 10 1; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI] im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit [BMG] unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD-10 des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen [KKG], 2017) und das Diagnostic and Statistical Manual (DSM-5; Falkai & Wittchen, 2015). Faltermaier (2005) hebt drei grundlegende Dimensionen von Krankheiten hervor. Krankheit impliziert zum einen eine Störung und Normabweichung im Organismus, die objektiv messbar ist. Zum anderen ist sie oftmals mit sozialen Konsequenzen verbunden, da sie mit Einschränkungen in der Funktions- und Leistungsfähigkeit von Personen verbunden sein kann. Zum Dritten betont er, dass Krankheit immer auch psychisch bedeutsam und erlebbar sei, etwa über den wahrgenommenen Schmerz oder über mit der Krankheit verbundene Ängste und Belastungen, die Bewältigungsbemühungen erforderlich machen. Biomedizinisches Krankheitsmodell Das Verständnis von Krankheit wurde lange durch eine biomedizinische Sichtweise geprägt (Franke, 2012). Das biomedizinische Krankheitsmodell verfolgt einen naturwissenschaftlich orientierten Erklärungsansatz, der Krankheit als Störung eines sonst normal funktionierenden Organismus auffasst. Die Störung beruht auf spezifischen biologischen Ursachen, die genetisch bedingt oder auf externe Faktoren (Viren, Bakterien) zurückzuführen sind. Sie rufen jeweils spezifische körperliche Reaktionen als Krankheitssymptome hervor und haben einen vorhersehbaren Krankheitsverlauf zur Folge (siehe Abbildung 1.3). Psychische Faktoren oder der 1 Zum 1.1.22 ist die ICD-11 in Kraft getreten, jedoch ist eine flexible Übergangszeit von 5 Jahren eingeräumt (https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html). B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 5 soziale Kontext werden nicht einbezogen. Vielmehr gilt es, mithilfe objektiver Messungen und Methoden kausale Erklärungen zu finden, um eine Krankheit behandeln zu können. Damit wird eine dichotome Vorstellung von Gesundheit und Krankheit verfolgt, wobei Gesundheit als die Abwesenheit einer Krankheit aufgefasst wird. Der Fokus liegt auf der Krankheit, während die erkrankte Person lediglich als passiver Träger einer Krankheit und somit als Objekt ärztlicher Behandlung betrachtet wird (Faltermaier, 2005). Die Behandlung setzt am Körper an (z. B. Operationen, Medikamente). Abbildung 1.3 Biomedizinisches Krankheitsparadigma Das biomedizinische Modell konnte sich insbesondere durch große Erfolge bei der Behandlung von Infektionskrankheiten etablieren und ist noch immer vorherrschend in der Medizin und Bereichen der Gesundheitsversorgung (Franke, 2012). Ab den 1970er Jahren mehrte sich jedoch die Kritik an dem Modell, welche unter anderem von Engel (1977) vorgebracht wurde. Die Hauptkritikpunkte lauteten, dass das Modell reduktionistisch ist, da es keinen Raum für soziale, psychologische und behaviorale Krankheitsdimensionen lässt und vor allem das subjektive Erleben der Betroffenen, ihre Krankheitswahrnehmung sowie ihr Krankheitsverhalten bei der Erklärung des Krankheitsgeschehens nicht einbezieht. Zudem wurde die fehlende Berücksichtigung von Erkenntnissen zur multifaktoriell bedingten Entstehung von Krankheiten (z. B. durch ein Zusammenwirken von genetischen und Verhaltensfaktoren) bemängelt. Risikofaktorenmodelle Risikofaktorenmodelle wurden in den 1960er Jahren als Erweiterung des biomedizinischen Modells entwickelt, um die Besonderheiten chronischer und degenerativer Erkrankungen besser erfassen zu können (Schaefer & Blohmke, 1978). Sie haben ihren Ursprung in der epidemiologischen Forschung, die sich mit der Morbiditäts- und Mortalitätsverteilung in der Bevölkerung befasst. Als Risikofaktoren werden alle Variablen bezeichnet, die die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten bestimmter Krankheiten erhöhen. Hierzu zählen zum Beispiel das Rauchen, falsche Ernährung oder Bewegungsmangel. Erforscht wurden hierbei vor allem Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes mellitus oder Rheuma. Es gibt mehrere Unterschiede zwischen Risikofaktorenmodellen und dem biomedizinischen Modell: Während das biomedizinische Modell eher auf vorübergehende Krankheitszustände B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 6 ausgerichtet ist, fokussiert das Risikofaktorenmodell auf chronische Erkrankungen. Zudem wird im Risikofaktorenmodell im Gegensatz zum biomedizinischen Modell nicht von einem kausalen Zusammenhang zwischen Auslösern und Erkrankung ausgegangen. Stattdessen wird ein multifaktorielles Krankheitsgeschehen angenommen, in dem Risikofaktoren gemeinsam mit anderen Variablen zum Krankheitsgeschehen beitragen können. Risikofaktoren sind also nicht mit Ursachen von Krankheiten gleichzusetzen, sondern als Determinanten, die das Risiko zu erkranken erhöhen können. Die längsschnittliche Framingham-Studie, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts in den USA durchgeführt wurde (Haynes et al., 1980), konnte beispielsweise unter anderem einen erhöhten Blutdruck, erhöhtes Cholesterin und Übergewicht als Risikofaktoren für Herz- und Kreislauferkrankungen identifizieren. Video 1.1 gibt einen Einblick in das Design und einige Ergebnisse der Framingham-Studie. Video 1.1. The Framingham Heart Study. Verfügbar unter https://youtu.be/jkUnV5Cw7W0 Biopsychosoziales Krankheitsmodell Empirische Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass bei den Prozessen, die Gesundheit und Krankheit beeinflussen, von einer noch höheren Komplexität auszugehen ist (Egger, 2005). Dies wird im biopsychosozialen Modell von Engel (1977) berücksichtigt. Es geht davon aus, dass Krankheitsentstehung und -verlauf nur aus dem Wechselspiel zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zu verstehen sind. Zu den psychologischen Faktoren zählen Emotionen (z. B. Ärger, Angst), Kognitionen (z. B. Annahmen über den Krankheitsverlauf und Gesundheitsverhaltensweisen), motivationale Aspekte und das Verhalten einer Person. Zu den sozialen Faktoren zählen zum Beispiel die gesellschaftlichen Bedingungen und das soziale Umfeld. Aus einer so umfassend angelegten Sicht auf Krankheit ergeben sich verschiedene Konsequenzen: Gesundheit und Krankheit werden nicht als dichotome Kategorien verstanden, sondern als ein Kontinuum aufgefasst, auf dem sich eine Person bewegt (siehe Kurs 2, Kapitel 1 „Gesundheitsförderung“). Zudem wird die aktive Rolle des Individuums bei Erhalt, Wiederherstellung und Förderung von Gesundheit betont (Abbildung 1.4). Abbildung 1.4 Biopsychosoziales Krankheitsparadigma B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 7 1.2.2 Paradigmen und Begriffsbestimmungen von Gesundheit Krankheit und Gesundheit sind untrennbar miteinander verbunden. Dazu jedoch, wie Gesundheit im Verhältnis zu Krankheit verstanden und ob beziehungsweise wie sie auch als eigenständiges Konstrukt definiert werden kann, gibt es verschiedene Grundpositionen. Diese sind naturgemäß nicht unabhängig von dem jeweils herrschenden Krankheitsverständnis. Ein biomedizinisches Grundverständnis oder auch die Perspektive des Risikofaktoren-Ansatzes legen es nahe, Gesundheit ausschließlich als die Abwesenheit von Krankheit zu verstehen. Gesundheit ist dann der Ausgangszustand, der durch Krankheit gestört wird. Ist die Krankheit erfolgreich durch medizinische Maßnahmen beseitigt, ist der Zustand der Gesundheit wiederhergestellt. Positives Gesundheitsverständnis Eine alternative Sichtweise dazu orientiert sich an einem positiven Gesundheitsverständnis. Einen Orientierungspunkt dafür bietet die politisch motivierte Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die sowohl im wissenschaftlichen wie auch im politischen Bereich eine große Resonanz erfahren hat. Die WHO definierte Gesundheit 1946 als „…a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease and infirmity” (Grad, 2002, S. 984). Positiv hervorgehoben wird an dieser Definition, dass Gesundheit nicht nur auf die körperliche Ebene beschränkt wird, sondern psychische und soziale Faktoren einbindet. Kritisch wird hingegen gesehen, dass auch diese Definition dem dynamischen Charakter von Gesundheit nicht gerecht wird und zudem, dass ein ‘Zustand vollkommenen Wohlbefindens‘ nicht erreichbar ist. Außerdem muss mangelndes Wohlbefinden, dem Hauptkriterium für Gesundheit in der WHO-Definition, nicht immer durch den Gesundheitszustand einer Person bedingt sein, sondern es kann auch aufgrund anderer Ursachen, wie zum Beispiel ein Arbeitsplatzverlust, beeinträchtigt werden (Becker, 2006). In der Ottawa Charta von 1986 (siehe Kurs 2, Kapitel 1 „Gesundheitsförderung“) stellte die WHO einen Gesundheitsbegriff vor, in dem der dynamische Charakter von Gesundheit stärker betont wird: Health is created and lived by people within the settings of their everyday life; where they learn, work, play and love. Health is created by caring for oneself and others, by being able to take decisions and have control over one’s life circumstances, and by ensuring that the society one lives in creates conditions that allow the attainment of health by all its members. (WHO, 1986, S. 7) Im Zusammenhang mit einem positiven Gesundheitsbegriff steht auch das Konzept der Salutogenese. Der Begriff der Salutogenese wurde von Antonovsky (1979, 1987) eingeführt und bedeutet übersetzt „Entstehung von Gesundheit“ (genese, griech.: Entstehung, Entwicklung; salus lat.: Unverletztheit, Heil, Gesundheit). Salutogenetische Modelle lenken den Blick auf Faktoren und Prozesse, die zu Erhalt und Förderung von Gesundheit beitragen können (siehe Kurs 2, Kapitel 1 „Gesundheitsförderung“). Damit stehen sie im Gegensatz zu pathogenetischen Modellen, die auf Krankheit und deren Entstehung fokussieren. Das Modell von Antonovsky gilt als eines der ersten theoretisch ausgearbeiteten Gesundheitsmodelle (Bengel et al., 2001) und geht der Frage nach, was zur Gesunderhaltung eines Menschen beiträgt. Es beruht auf zwei zentralen Annahmen. Zum einen geht es davon aus, dass Krankheiten keine Abweichung von der Normalität darstellen, sondern vielmehr integrale Bestandteile des Lebens sind. Zum anderen betont Antonovsky (1987), dass Gesundheit und Krankheit zwei Pole eines Kontinuums sind, da ein Mensch immer sowohl gesunde als auch kranke Anteile in sich trägt. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 8 Dimensionen von Gesundheit Insgesamt gibt es jedoch kein allgemein geteiltes Gesundheitsverständnis, sondern es existieren viele unterschiedliche Definitionen, die oftmals an einen bestimmten Forschungskontext geknüpft sind. Anstelle einer Definition lassen sich einzelne Bestimmungsstücke von Gesundheit ausmachen. Franke (2012) benennt unter anderem die folgenden Dimensionen von Gesundheit, die einander ergänzen können: Störungsfreiheit. Dieser Aspekt bestimmt Gesundheit negativ über die Abwesenheit von Krankheit und ist maßgeblich im westlichen (biomedizinisch orientierten) Medizinsystem. Die Einschätzung, ob eine Person gesund oder krank ist, erfolgt durch Fachleute anhand normierter Grenzwerte und objektiver Parameter. Wohlbefinden. Dieser Aspekt hebt auf die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustands durch die betroffene Person ab. Er erweitert damit die Perspektive auf Gesundheit um Dimensionen, die in der biomedizinischen Perspektive im Allgemeinen vernachlässigt werden. Leistungsfähigkeit und Rollenerfüllung. Gesundheit stellt eine Voraussetzung dar, um eigenen und fremden Anforderungen (z. B. beruflichen und familiären Aufgaben) dauerhaft gerecht werden zu können. Diese Perspektive stammt aus dem psychologischen und soziologischen Bereich und geht somit über das biomedizinische Verständnis hinaus (siehe Kurs 2, Kapitel 9 „Patientenschulungen“). Gesundheit als Gleichgewicht (Homöostase). Hinter dem Begriff der Homöostase verbirgt sich die Idee, dass Menschen danach streben, psychische oder physische Ungleichgewichte auszubalancieren. So sollten auf körperliche und geistige Anstrengungsphasen Ruhephasen zur Regeneration erfolgen, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Gesundheit als Flexibilität und Anpassung. Hiermit ist die Fähigkeit gemeint, mit Störungen aktiv umgehen zu können, diese zu überwinden oder sich daran anzupassen. Damit erweist sich diese Fähigkeit als entscheidend, um Homöostase aktiv herzustellen und aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne definieren zum Beispiel Hurrelmann und Franzkowiak (2015) Gesundheit als gelungene Anpassung an beziehungsweise Bewältigung von inneren und äußeren Anforderungen. Insgesamt gesehen bestimmt sich Gesundheit anhand dieser Merkmale über das Wohlbefinden einer Person und ihre Handlungs- und Leistungsfähigkeit, und zwar auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene, was mit (körperlicher) Störungsfreiheit einhergeht sowie eine flexible Anpassung an äußere und innere Stimuli ermöglicht. 1.3 Aufgaben, Grundhaltungen und Themenfelder der Gesundheitspsychologie Aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Institutionen des Gesundheitswesens, politische Entscheidungsinstanzen, allgemeine Bevölkerung) wurde in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt der Auftrag an die Psychologie herangetragen, für die gesundheits- und krankheitsbezogenen aktuellen Fragen psychologische Erkenntnisse und Veränderungswissen bereitzustellen. Die Psychologie hat diesen gesellschaftlichen Auftrag wahrgenommen und als eine Konsequenz die Gesundheitspsychologie als neues Gebiet in ihren Fächerkanon aufgenommen. Typische Fragen, die durch gesundheitspsychologische Forschung und Anwendung beantwortet werden sollen, lauten etwa: Wie können Menschen in einer Anschlussheilbehandlung nach Herzinfarkt darin unterstützt werden, gesundheitsförderndes Ess- und Bewegungsverhalten zu erlernen? Welche Faktoren nehmen auf die Stresswahrnehmung von Menschen in psychosozialen Berufen Einfluss? B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 9 Welchen Stellenwert hat soziale Unterstützung für Gesundheit und Wohlbefinden? Anhand welcher Theorien lässt sich Abstinenzverhalten am zuverlässigsten vorhersagen? Was sind wirksame Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht bei Kindern? Wie lässt sich die Wirksamkeit öffentlicher Gesundheitskampagnen steigern? Wie können bei Interventionen zur Stressbewältigung die Möglichkeiten moderner Kommunikationstechnologien genutzt werden? Welche Persönlichkeitsmerkmale nehmen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit? Diese beispielhaft genannten gesundheitspsychologischen Fragestellungen ließen sich lange fortsetzen und weiter spezifizieren. Die Kernaufgabe der Gesundheitspsychologie charakterisiert Schwarzer (2002) als die Beschäftigung „… mit dem menschlichen Erleben und Verhalten angesichts gesundheitlicher Risiken und Beeinträchtigungen sowie mit der Optimierung von Gesundheit.“ (S. 175). 1.3.1 Grundhaltungen der Gesundheitspsychologie Die Etablierung der neuen psychologischen Disziplin Gesundheitspsychologie wurde von einer Reihe von Grundhaltungen geprägt. Von ihrem Selbstverständnis her ist die Gesundheitspsychologie sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientiert. Sie ist grundlagenorientiert, da die Theorien und Methoden anderer Fächer genutzt und an die Inhalte der Gesundheitspsychologie angepasst werden, aber ebenso neue Grundlagenerkenntnisse generiert werden, die in andere Bereiche zurückfließen. Die Anwendungsorientierung zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den Fragen aus der Praxis, für die gesundheitspsychologische Erklärungen und Interventionen benötigt werden. Ganz im Sinne der beschriebenen Paradigmenwechsel im Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist das Selbstverständnis der Gesundheitspsychologie außerdem auf eine positive Definition von Gesundheit gerichtet. Sie versteht sich daher als ressourcenorientiert, schwerpunktmäßig auf die Verhinderung gesundheitlicher Beeinträchtigungen ausgelegt und ganzheitlich. Ein weiterer Aspekt ist die Systemorientierung der Gesundheitspsychologie. In Abbildung 1.5 werden die Grundlagen einer systemorientierten Haltung veranschaulicht (nach Bronfenbrenner, z. B. 1986). Abbildung 1.5 Ökologisch-systemische Sichtweise von Menschen und ihren Umwelten B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 10 Im Mittelpunkt steht die einzelne Person mit ihren Merkmalen, also Alter, Geschlecht, biologischer Ausstattung und Persönlichkeitseigenschaften. Die Person ist keine in sich geschlossene Einheit, sondern steht im Austausch mit ihrem sozialen Nahfeld, das auch als Mikrosystem bezeichnet wird. Hierzu zählen Partner, Freunde und engere Familienangehörige. Das Mikrosystem ist eingebettet in das Meso- und das Exosystem. Letzteres besteht aus den erweiterten sozialen Beziehungen und Kontexten sowie den Massenmedien. Das Mesosystem umfasst die Gesamtheit der Beziehungen eines Menschen, also die Summe der Mikrosysteme und die Beziehung zwischen ihnen. Diese Systeme stehen untereinander, aber auch mit dem Makrosystem in Wechselwirkung, also den konkreten Gegebenheiten (z. B. der sozialen Absicherung) und kulturellen Werten und Normen einer Gesellschaft. Eine Systemorientierung der Gesundheitspsychologie erscheint besonders wichtig, da gesundheits- und krankheitsbezogene Prozesse häufig nicht ausschließlich im Individuum, sondern eben auch in den sozialen, kulturellen und ökonomischen Umgebungsbedingungen angesiedelt sind. Und schließlich wird durch den Einbezug der zeitlichen Komponente, die hier als Chronosystem bezeichnet wird, der Dynamik menschlicher Einwicklung und der Veränderbarkeit von Rahmenbedingungen über die Zeit Rechnung getragen. 1.3.2 Themenfelder der Gesundheitspsychologie Ausgehend von den gesellschaftlich und individuell relevanten Fragestellungen zu Gesundheit und Krankheit leiten sich die zentralen Themenfelder der Gesundheitspsychologie ab. Die Fachgruppe Gesundheitspsychologie der DGPs (2013) definiert als wichtige Inhalte gesundheitspsychologischer Grundlagen- und Anwendungsforschung: Förderung und Erhaltung von Gesundheit Prävention und Behandlung von Krankheiten Förderung der Rehabilitation Identifikation von psychischen Faktoren, die zur Entstehung von Krankheiten beitragen Identifikation von Determinanten des Krankheitsbewältigungs- und Genesungsprozesses Erforschung des Einflusses des Zusammenwirkens zwischen Gesundheitssystem und Patient:in auf das individuelle Gesundheitsverhalten. Die Gesundheitspsychologie befasst sich somit mit personalen, sozialen und strukturellen Faktoren, die gesundheits- oder krankheitsrelevant sein können. Sie hat das Ziel, Theorien und Modelle zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung von gesundheitsbeeinträchtigenden und gesundheitsförderlichen Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln oder bereits bewährte Theorien und Modelle auf Gesundheit und Krankheit anzuwenden. Damit einher geht die Konstruktion von Verfahren zur Diagnostik gesundheitsrelevanter Konstrukte und Prozesse. Die entwickelten Theorien und diagnostischen Verfahren werden eingesetzt, um Interventionen zu entwerfen und zu evaluieren, die der Prävention von Krankheit, der Förderung von Gesundheit sowie der Behandlung und Rehabilitation dienen. Diese können auf der individuellen oder der strukturellen Ebene angesiedelt sein. 1.4 Einbettung der Gesundheitspsychologie als wissenschaftliches Fach Auch wenn die Gesundheitspsychologie als eigenständiges Fach noch recht jung ist, so ist sie doch aus einer langen Tradition von Wissenschaftsdisziplinen hervorgegangen, die sich mit Aspekten von Gesundheit und Krankheit befassen. Abbildung 1.6 veranschaulicht die Bezüge zwischen der Gesundheitspsychologie und den genuin psychologischen Disziplinen auf der einen Seite und inhaltlichen verwandten Nachbardisziplinen auf der anderen Seite. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 11 Abbildung 1.6 Gesundheitspsychologie im Kontext der psychologischen Grundlagen- und Anwendungsfächer sowie exemplarischer verwandter Nachbardisziplinen 1.4.1 Gesundheitspsychologie im Kontext der psychologischen Grundlagen- und Anwendungsfächer Wie bereits angesprochen versteht sich die Gesundheitspsychologie sowohl als Grundlagen- als auch als Anwendungsfach, wenn auch die Anwendungsorientierung im Allgemeinen etwas stärker ausgeprägt ist. Sie entlehnt aus nahezu allen anderen Grundlagenfächern der Psychologie einschlägiges Theorie- und Methodenwissen (siehe Video 1.2). Video 1.2. A brief history of health psychology. Verfügbar unter https://youtu.be/VoKZKLlfRcs Sehr viele der theoretischen Zugänge, die der Erklärung gesundheitsbezogenen Verhaltens dienen, wurden aus der Sozialpsychologie übernommen und unter Berücksichtigung der Besonderheiten dieses Verhaltensbereichs weiterentwickelt. Weitere wichtige Themen, die in der Gesundheitspsychologie bearbeitet werden, sind die Vermittlung und die Wirkung von Informationen über gesundheitliche Risiken. Auch hier hat die Sozialpsychologie wichtige Erklärungsansätze bereitgestellt, die Eingang in die Gesundheitspsychologie gefunden haben. Gleiches gilt für Theorien über Gruppen und Verhalten innerhalb und zwischen Gruppen. Wesentliche Erkenntnisse über Persönlichkeitsmerkmale, die im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit bedeutsam sein können (z. B. Selbstwirksamkeit, Optimismus, negative Affektivität), sind persönlichkeitspsychologischen Ursprungs. Die grundlegenden Wissensbestände der Allgemeinen Psychologie über Kognition, Emotion und Motivation finden sich naturgemäß auch in gesundheitspsychologischer Forschung und Anwendung wieder. Da Gesundheit und Krankheit in jeder Lebensphase wichtig sind, aber auch jede Lebensphase unterschiedliche Arten der Auseinandersetzung mit diesen Themen erfordert, sind entsprechende entwicklungspsychologische Inhalte unabdingbar für die Gesundheitspsychologie. Gesundheit und Krankheit werden von neuronalen, hormonellen und biochemischen Vorgängen begleitet B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 12 beziehungsweise manifestieren sich in ihnen; dementsprechende Erkenntnisse der Biologischen Psychologie werden daher in der Gesundheitspsychologie intensiv rezipiert. Auch alle für die Psychologie einschlägigen Diagnostik- und Forschungsmethoden (z. B. Befragung, Beobachtung, Experiment, Erfassung nicht-bewusster Vorgänge, Labor- und Felduntersuchung) finden in der Gesundheitspsychologie Anwendung. Mit den klassischen Anwendungsfächern der Psychologie (Klinische Psychologie, Pädagogische Psychologie, Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie) und neueren Anwendungsfächern (z. B. Community Psychology, Medienpsychologie) gibt es eine Vielzahl von gemeinsamen Themen, wie beispielsweise die Gesundheitsförderung in Betrieben, Schulen und Gemeinden oder die Implementierung und Evaluation von öffentlichen Gesundheitskampagnen. Zu der Klinischen Psychologie existieren dabei besonders starke Bezüge, da in dieser psychologischen Disziplin schon seit langer Zeit Ätiologie- und Veränderungswissen für psychische Störungen geschaffen wurde, das in Teilen direkt auf gesundheitspsychologische Fragestellungen übertragen werden kann. 1.4.2 Gesundheitspsychologie und relevante Nachbardisziplinen Mit einer Reihe von weiteren Wissenschaftsbereichen, die sich mit Gesundheit und Krankheiten beschäftigen, gibt es bedeutsame inhaltliche Überschneidungen, so dass Friedman und Adler (2011) in ihnen die intellektuellen Wurzeln der Gesundheitspsychologie verorten. Die teilweise etwas anderen theoretischen (z. B. in der Soziologie) oder methodischen (z. B. in der Public Health) Perspektiven lassen sich im Idealfall im Sinne von Synergien nutzen. Zu den relevanten Nachbardisziplinen zählen unter anderem: Medizinische Psychologie. Sie ist auf die medizinischen Versorgungsstrukturen ausgerichtet und untersucht schwerpunktmäßig psychische Aspekte von Erkrankungen, deren Ursachen und Folgen sowie das Erleben und Verhalten von Patient:innen im Umgang mit dem medizinischen Fachpersonal. Epidemiologie. Hier steht die Gewinnung von Erkenntnissen zur Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in Bevölkerungen oder Populationen im Vordergrund. Sozialmedizin. Gesundheit und Krankheit, Risiko- und protektive Faktoren werden in der Sozialmedizin unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (z. B. versorgungsrechtlicher oder wirtschaftlicher Perspektiven) betrachtet. Rehabilitationspsychologie. Sie hat einen starken Fokus auf präventive Prozesse, durch die das Auftreten einer gesundheitlichen Beeinträchtigung verhindert werden kann. Weiterhin betrachtet sie die Bedingungen, die das Gelingen einer Rehabilitation (v. a. im medizinischen Bereich) unterstützen oder gefährden. Public Health. Die Forschung in der Public Health dient dem Verständnis und der Förderung der öffentlichen Gesundheit, zum Beispiel dahingehend, wie sich Krankheiten in Bevölkerungen ausbreiten und wie wirksame Mittel zu ihrer Bekämpfung entwickelt werden können. Medizinische Soziologie. Diese Disziplin leistet einen Beitrag zum Verstehen der sozialen und kulturellen Aspekte von Krankheit und den sozialen Rollen von Erkrankten und Mitgliedern der Berufsgruppen im medizinischen System. Die Berücksichtigung der Erkenntnisse aus diesen (und weiteren) wissenschaftlichen Fächern ermöglicht einen breiten gesundheitspsychologischen Zugang zu relevanten Themen. Dies ist mit der Notwendigkeit zu multi-, inter- und transdisziplinärem Denken in der Gesundheitspsychologie verbunden. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 13 1.5 Gesundheitspsychologie und Diversität Von einer Disziplin, die aktuelle gesundheits- und krankheitsbezogene Fragen adressiert, müssen bei deren Bearbeitung die Charakteristika und Besonderheiten der betrachteten Personen und die sie umgebenden konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen berücksichtigt werden, das heißt die oben angesprochene ökologisch-systemische Grundhaltung eingenommen werden. Nur so können tragfähige Erklärungen und Vorhersagen des gesundheitsbezogenen Erlebens und Verhaltens resultieren. Wie die Psychologie insgesamt gibt es dabei auch in der Gesundheitspsychologie noch Entwicklungsbedarf. Typischerweise werden zwar diversitätsbezogene Variablen, wie beispielsweise die Geschlechtszugehörigkeit, als Kontrollvariablen bei der Datenauswertung von Studien zu gesundheitspsychologischen Fragestellungen einbezogen. Dabei aufgefundene Unterschiede werden aber im Allgemeinen jedoch nicht dazu genutzt, um der Frage nachzugehen, inwieweit sich Gesundheit und Krankheit bei Frauen und Männern substanziell unterscheiden und wie solche Unterschiede theoretisch abgebildet werden können (Rieker & Bird, 2005). Beispielsweise wurden viele der Erkenntnisse der Stressforschung überwiegend an Stichproben von Männern gewonnen (Taylor et al., 2000). Aufgrund der neuroendokrinen Schwankungen des weiblichen Zyklus können die Daten von Frauen sehr variationsreich und damit schwer zu interpretieren sein; daher wurden häufig eher Männer als Frauen in die Studien einbezogen, die physiologische Stressreaktionen untersuchten, um diese Störvariablen zu verhindern. Es stellt sich allerdings dann die berechtigte Frage, ob die Theorien, die neuroendokrine Prozesse des Stressprozesses beschreiben, überhaupt auf Frauen zutreffen, da ihre Gültigkeit nur für Männer geprüft wurde. In Bezug auf Geschlecht lässt sich jedoch auch konstatieren, dass es für andere gesundheitsrelevante Erlebens- und Verhaltensbereiche Forschungsansätze gibt, die Geschlechtsunterschiede explizit thematisieren (Courtenay, 2000). Daher gibt es mittlerweile empirisch begründete Erklärungsansätze dazu, warum Männer seltener Hilfe- und Vorsorgemaßnahmen wahrnehmen und in stärkerem Maße als Frauen Risikoverhalten zeigen, wie etwa Drogengebrauch, kriminelles Verhalten oder gefährliche Sportarten (Lee & Owens, 2002). Andere Diversitätsaspekte wie die sexuelle Orientierung werden dagegen bisher etwas seltener oder nur in Bezug auf bestimmte Aspekte bei gesundheitspsychologischen Fragestellungen einbezogen. Homosexuelle Männer wurden beispielsweise ab den frühen 1990er Jahre die Zielgruppe von Untersuchungen zur Erhöhung von Verhaltensweisen, die vor HIV- Infektionen und Aids schützen (z. B. Fisher et al., 1994). Gesundheitsbezogene Merkmale und Bedarfe von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen werden dagegen erst seit Kurzem zunehmend gewürdigt (Fredriksen-Goldsen et al., 2014) und dürften in den nächsten Jahren verstärkt Gegenstand gesundheitspsychologischer Forschungsbemühungen werden. Ethnizität und damit einhergehende sichtbare und nicht-sichtbare Merkmale wie Hautfarbe und Kultur werden immer wieder in der gesundheitspsychologischen Literatur thematisiert. Ebenso wie bei der sexuellen Orientierung werden häufig Stigmatisierungsprozesse und Diskriminierungserfahrungen, die mit der Zugehörigkeit zu einer nicht-weißen Ethnie beziehungsweise nicht-westlichen Kultur einhergehen, und das damit zusammenhängende erhöhte Stresserleben in Bezug auf Gesundheitseinschränkungen untersucht (z. B. Dressler et al., 2005). Es gibt außerdem vielfältige Bezüge zwischen Ethnizität beziehungsweise Kultur und weiteren Diversitätsaspekten, wie zum Beispiel dem sozioökonomischen Status, die gesundheitsgefährdend wirken können. Gerade die letztgenannten Belastungsaspekte kumulieren, wenn Menschen unfreiwillig aus ihrem Herkunftsland in eine neue kulturelle Umgebung wechseln (Kirkcaldy et al., 2006). B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 14 Migration und ihre gesundheitliche Bedeutung ist daher auch hinsichtlich der Berücksichtigung von Diversität eine aktuelle gesellschaftliche Herausforderung, zu der die Gesundheitspsychologie Beiträge liefern kann und muss (siehe Kurs 3, Kapitel 7 „Migration und Gesundheit“). Dies betrifft Wissen über kulturelle Unterschiede im Verständnis von Gesundheit, Krankheit und dem Gesundheitssystem sowie Kenntnis von kulturell geprägten gesundheitsbezogenen Praktiken und wie sich daraus Konsequenzen für die Behandlung von Migrant:innen ergeben. Die genannten Punkte bilden die Gesamtheit von Diversität und deren Bezüge zu Gesundheit und Krankheit in Ausschnitten ab. Durch sie soll vor allem veranschaulicht werden, dass gesundheitspsychologische Forschung und Anwendung nur unter Berücksichtigung der spezifischen Merkmale von einzelnen Personen und von Gruppen zu aussagekräftigen Erkenntnissen über die Ursachen und die Veränderbarkeit des gesundheitsbezogenen Erlebens und Verhaltens gelangen kann. Literaturverzeichnis Antonovsky, A. (1979). Health, stress and coping – New perspectives on mental and physical well-being. Jossey-Bass. Antonovsky, A. (1987). Unraveling the mystery of health: How people manage stress and stay well. Jossey- Bass. Becker, P. (2006). Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Hogrefe. Bengel, J., Strittmacher, R., & Willmann, H. (2001). Was erhält Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Bronfenbrenner, U. (1986). Recent advances in research on the ecology of human development. In R.-K. Silbereisen, K. Eyferth, & G. Rudinger (Eds.), Development as action in context - Problem behaviour and normal youth development (pp. 287-310). Springer. Courtenay, W. H. (2000). Constructions of masculinity and their influence on men's well-being: A theory of gender and health. Social Science & Medicine, 50(10), 1385-1401. https://doi.org/10.1016/s0277- 9536(99)00390-1 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung der Arbeitsgruppe ICD des Kuratoriums für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen (KKG) (Ed.) (2017). ICD-10-GM Version 2017. Systematisches Verzeichnis Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (10th Revision, German Modification). https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/ Diederichs, C., Klotmann, K., & Schwartz, F. W. (2008). Zur historischen Entwicklung der deutschen Gesundheitsversorgung und ihrer Reformansätze. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung- Gesundheitsschutz, 51(5), 547-551. https://doi.org/10.1007/s00103-008-0526-5 Dowrick, C., Dixon-Woods, M., Holman, H., & Weinman, J. (2005). What is chronic illness? Chronic Illness, 1(1), 1-6. https://doi.org/10.1177/17423953050010010801 Dressler, W. W., Oths, K. S., & Gravlee, C. C. (2005). Race and ethnicity in public health research: Models to explain health disparities. Annual Review of Anthropology, 34, 231-252. https://doi.org/10.1146/annurev.anthro.34.081804.120505 Egger, J. W. (2005). Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. Psychologische Medizin, 16(2), 3-12. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 15 Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science, 196(4286), 129-136. https://doi.org/10.1126/science.847460 Fachgruppe Gesundheitspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (2013). Gesundheitspsychologie als wissenschaftliche Disziplin. http://www.gesundheitspsychologie.net/index.php/de/fachgruppe Falkai, P., & Wittchen, H.-U. (Eds.) (2015). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. Hogrefe. Faltermaier, T. (2005). Gesundheitspsychologie. Kohlhammer. Fisher, J. D., Fisher, W. A., Williams, S. S., & Malloy, T. E. (1994). Empirical tests of an information- motivation-behavioral skills model of AIDS-preventive behavior with gay men and heterosexual university students. Health Psychology, 13(3), 238-250. https://doi.org/10.1037//0278-6133.13.3.238 Franke, A. (2012). Modelle von Gesundheit und Krankheit. Hans Huber. Franzkowiak, P. (2015). Krankheit. In Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Ed.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. https://www.leitbegriffe.bzga.de/systematisches- verzeichnis/allgemeine-grundbegriffe/krankheit Fredriksen-Goldsen, K. I., Simoni, J. M., Kim, H.-J., Lehavot, K., Walters, K. L., Yang, J., & Hoy-Ellis, C. P. (2014). The Health Equity Promotion Model: Reconceptualization of Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender (LGBT) Health Disparities. The American Journal of Orthopsychiatry, 84(6), 653-663. https://doi.org/10.1037/ort0000030 Friedman, H. S., & Adler, N. E. (2011). The intellectual roots of Health Psychology. In H. S. Friedman (Ed.), The Oxford handbook of Health Psychology (pp. 1-14). University Press. Grad, F. P. (2002). The Preamble of the Constitution of the World Health Organization. Bulletin of the World Health Organization, 80(12), 981-984. Haynes, S. G., Feinleib, M., & Kannel, W. B. (1980). The relationship of psychosocial factors to coronary heart disease in the Framingham study: 3. Eight years incidence of coronary heart disease. American Journal of Epidemiology, 111(1), 37-58. https://doi.org/10.1093/oxfordjournals.aje.a112873 Hurrelmann, K., & Franzkowiak, P. (2015). Gesundheit. In Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (Ed.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. https://www.leitbegriffe.bzga.de/systematisches-verzeichnis/allgemeine-grundbegriffe/gesundheit Kickbusch, I. (2006). Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrend der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft. Verlag für Gesundheitsförderung. Kirkcaldy, B., Wittig, U., Furnham, A., Merbach, M., & Siefen, R. G. (2006). Migration und Gesundheit. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 49(9), 873-883. https://doi.org/10.1007/s00103-006-0021-9 Lee, C., & Owens, G. (2002). Issues for a psychology of men’s health. Journal of Health Psychology, 7(3), 209-217. https://doi.org/10.1177/1359105302007003215 Maaz, A., Winter, M. H.-J., &. Kuhlmey, A. (2006). Der Wandel des Krankheitspanoramas und die Bedeutung chronischer Erkrankungen (Epidemiologie, Kosten). In B. Badura, H. Schellschmidt, & C. Vetter (Eds.), Fehlzeiten-Report 2006. Chronische Krankheiten (pp. 5-23). Springer. Maske, U., Busch, M., Jacobi, F., Riedel-Heller, S., Scheidt-Nave, C., & Hapke, U. (2013). Chronische somatische Erkrankungen und Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit bei Erwachsenen in Deutschland: Ergebnisse der bevölkerungsrepräsentativen Querschnittsstudie Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA) 2010. Psychiatrische Praxis, 40(4), 207-213. https://doi.org/10.25646/1787 B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 1, Kapitel 1 16 Nowossadeck, S., & Nowossadeck, E. (2011). Krankheitsspektrum und Sterblichkeit im Alter. Report Altersdaten 1-2/2011. Deutsches Zentrum für Altersfragen. Organisation for Economic Co-operation and Development (Ed.) (2015). How’s life? 2015 Measuring well- being. OECD Publishing. https://doi.org/10.1787/how_life-2015-en Rieker, P. P., & Bird, C. E. (2005). Rethinking gender differences in health: Why we need to integrate social and biological perspectives. The Journals of Gerontology, 60, S40-S47. https://doi.org/10.1093/geronb/60.special_issue_2.s40 Schaefer, H., & Blohmke, M. (1978). Sozialmedizin. Einführung in die Ergebnisse und Probleme der Medizin- Soziologie und Sozialmedizin. Thieme. Schwarzer, R. (2002). Gesundheitspsychologie. In R. Schwarzer, M. Jerusalem, & H. Weber (Eds.), Gesundheitspsychologie von A bis Z (pp. 175-179). Hogrefe. Statistisches Bundesamt. (2022). Todesursachen. Statistisches Bundesamt. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html Statistisches Bundesamt (2023). Pressemitteilung Nr. 136 vom 05.04.2023: Gesundheitsausgaben im Jahr 2021 auf über 474 Milliarden Euro gestiegen. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_136_236.html Taylor, S. E., Klein, L. C., Lewis, B. P., Gruenewald, T. L., Gurung, R. A., & Updegraff, J. A. (2000). Biobehavioral responses to stress in females: Tend-and-befriend, not fight-or-flight. Psychological Review, 107(3), 411-429. https://doi.org/10.1037/0033-295X.107.3.411 World Health Organization (Ed.) (1986). The Ottawa Charter for Health Promotion. Genf.