Gemeinwesenarbeit und Raumwahrnehmung

Gemeinwesenarbeit und sozialraumorientierte Arbeit

• Gemeinwesenarbeit und sozialraumorientierte Arbeit sind neben Einzelfall- und Gruppenarbeit die dritte klassische Methode der Sozialen Arbeit.
• Diese Methoden konzentrieren sich methodisch auf unterschiedliche Adressatengruppen: Einzelpersonen, Gruppen oder ein Gemeinwesen bzw. Sozialraum.

Das Verhältnis von Mensch und Raum

• Der Roman "Nachtzug nach Lissabon" von Peter Bieri (Pseudonym Pascal Mercier) beschreibt das Verhältnis von Mensch und Raum. Der Geist ist ein Ort der Selbsttäuschung, geprägt von Worten, die eine fehlerfreie Vertrautheit mit uns selbst suggerieren. Diese scheinbare Vertrautheit verhindert, dass wir von uns selbst überrascht werden.
• Räume prägen unser Bewusstsein und Handeln.
• Unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen von Räumen beeinflussen unsere Handlungsmöglichkeiten.
• Menschen nehmen die Räume selektiv wahr, was zu Vertrautheit mit der Umgebung führt.
• Hans Thiersch beschreibt in seiner "lebensweltorientierten sozialen Arbeit" unbewusste Routinen im Alltag, die die Wahrnehmung von Veränderungsmöglichkeiten vermindern.

Historische Vorläufer der Gemeinwesenarbeit

• Settlementbewegung: Bürger siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts in Armenvierteln an, um dort Menschen in Not zu helfen.
• Jane Addams: Gründete in Chicago ein Haus, ähnlich der "Toynbee Hall" in London, das Hilfestellung in Bereichen wie Hygiene, Kochen und Nähen bot.
• Chicagoer Schule: Soziologische und sozialarbeiterische Ursprünge der Gemeinwesenarbeit, die sich mit abweichendem Verhalten auseinandersetzten.
• George Herbert Mead: Betonung der Bedeutung symbolischer Interaktionen und Sprachvermittlung für die individuelle Entwicklung.
• Community Organizing: Amerikanische Bewegung der 1920er Jahre, die Menschen zur politischen Beteiligung und Selbstvertretung befähigte.
• Psychiatrie-Reform: Bewegung ab den 1970er Jahren, die die Schließung großer Anstalten und die Integration psychisch Kranker in das Gemeinwesen forderte.

Begriffliche Definitionen

• Gemeinwesenarbeit: Entstand in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland, fokussiert auf gemeinsam gestaltete Lebensräume für alle.
• Sozialraumorientierte Arbeit: Entstand in den 1980er und 1990er Jahren, betont den Raum als relationalen Raum und die individuellen Beziehungsräume von Bewohner*innen.
• Quartierarbeit: Entstand Ende der 1990er/Anfang 2000er, zielt auf Verwaltungsmodernisierung und Gestaltung der Infrastruktur im Quartier.
• Quartiermanagement: Ziel ist die Verbesserung der Lebensverhältnisse, insbesondere für pflegebedürftige Menschen, um den Verbleib in der eigenen Wohnung zu ermöglichen.

Theoretische Grundlagen

• Aneignung von Räumen: Räume werden von Menschen geformt und beeinflussen deren Bewusstsein und Handlungsmöglichkeiten.
• Sozialraumorientierung: Konzentriert sich auf die Wahrnehmung des Lebensraums durch Adressatengruppen und die Optimierung der Raumgestaltung, um den Bedürfnissen zu entsprechen.
• Gegenständlicher und sozialer Raum: Gegenständlicher Raum umfasst die physische Umgebung, der soziale Raum die Beziehungen und Interaktionen darin.

Kritische Betrachtung

• Sicherheitsbedürfnis & Gleichheit vs. Pluralität: Der Wunsch nach Sicherheit, Gleichheit und Verlässlichkeit steht im Gegensatz zur Anerkennung der Rechte unterschiedlicher Gruppen im sozialen Raum.
• Regulierung & Überforderung: Kulturell verankerte Regulierungen können Menschen überfordern.
• Wettbewerb & Ungleichheit: Wettbewerb und Konkurrenz verstärken soziale Ungleichheit im sozialen Raum.

Handlungsorientiertes Vorgehen

• Wahrnehmung des sozialen Raums: Betrachtung des Raums aus der Sicht der Adressatengruppen.
• Veränderung des Raumes: Anpassung des Raums an die Bedürfnisse der Menschen zur Förderung von Bewegung und Gestaltung.
• Vernetzung von Dienstleistungen: Verbesserung der Lebensbedingungen im Sozialraum durch Vernetzung von Angeboten.
• Fachkonzept Sozialraumorientierung: Verbesserung der Lebensqualität aller im Sozialraum.
• Raumbezogene & subjektbezogene Ziele: Simultane Berücksichtigung der räumlichen Gestaltung und der Stärkung von Bewusstsein und Handlungsmöglichkeiten der Menschen.

Das SONY-Modell

• Das SONY-Modell analysiert Sozialraumorientierung anhand von Sozialstruktur, Organisation, Netzwerk und Individuum.

Techniken und Verfahren in der Sozialraumorientierung

• Empirische Methoden: Quantitative und qualitative Methoden zur Erfassung von Lebensbedingungen, Bedürfnissen und Strukturen.
• Subjektive Landkarten: Adressatengruppen beschreiben ihren Lebensraum mithilfe von Zeichnungen.
• Autofotografie: Adressatengruppen dokumentieren und analysieren Orte im Sozialraum.
• Weitwinkel Scan: Umfassende Betrachtung verschiedener Aspekte des Raums (z.B. Personen, Organisationen, Adressatengruppen).
• Nadelmethode: Wichtige Orte auf einer Landkarte markieren.
• Zeitbudget: Analyse des Zeitaufwands an verschiedenen Orten.
• Fremdbild-Erkundung: Wahrnehmungsunterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen bezüglich wichtiger Orte im Sozialraum.
• Aktivierende Methoden: Förderung von Teilhabe und selbstbestimmtem Handeln.

Zentrale Aspekte im Sozialraum

• Struktur aspekte: Öffentlicher Personennahverkehr, informelle Treffpunkte, Spielplätze.
• Vernetzung und Kooperation: Kooperation von Einrichtungen und Akteuren im Sozialraum.
• Konfliktlinien: Anerkennung und Lösung von Konflikten durch Dialog.
• Schlüsselpersonen: Personen mit Einfluss auf den Sozialraum.

Schrittfolge der Sozialraumorientierten Arbeit

• Datenerhebung & Fragestellung: Datenerhebung und Erfassung der Perspektiven der Adressatengruppen.
• Beschreibung & Erkundung des sozialen Raumes: Analyse aus verschiedenen Perspektiven.
• Austausch & Abgleich: Dialog zwischen Akteuren und Adressatengruppen.
• Projektentwicklung & Konzepterstellung: Gemeinsames Entwickeln von Projekten und Konzepten.
• Umsetzung & Ressourcenerhebung: Umsetzung von Projekten und Beschaffung von Ressourcen.
• Kontinuierliche Evaluation: Kontinuierliche Beurteilung der Ergebnisse und Anpassung des Prozesses.

Kritische Besprechung

• Instrumentalisierung: Mögliche politische Instrumentalisierung der Sozialraumorientierung, besonders bei Fokus auf Aktivierung unter Rückbau des Sozialstaates.
• Verfestigung sozialer Ungleichheit: Rückbau des Sozialstaates kann zu ungleicherer Verteilung führen.
• Kritik des Konzeptes: Kritik an der Fokussierung auf kommunale Planung gegenüber individuellen Bedürfnissen.

Literatur

• Internetseite sozialraum.de: Informationen zur Sozialraumorientierung.
• Ulrich Deinet, Frank Früchte, Wolfgang Kind, Fabian Kessel: Diverse Werke zur Sozialraumorientierung.
• Zeitschriften: Spezifische Ausgaben zu sozialraumorientierten Themen.