Notfall: Gefährliche Blutzuckerentgleisungen PDF
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Patrick Ristau
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This document provides an overview of severe blood sugar fluctuations, highlighting the anatomical and physiological foundations, pathophysiological processes associated with diabetes mellitus, and the identification and management of its acute complications.
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SOMATIK Notfall: Gefährliche Blutzuckerentgleisungen Der Diabetes mellitus stellt ein globales Gesundheitsproblem dar – allein in Deutschland sind 9,5 Millionen Men- schen erkrankt. Neben Langzeitschäden wie Durchblutungsstörungen, Schlaganfällen, Nierenerkrankungen oder verschlechterter Sehleistun...
SOMATIK Notfall: Gefährliche Blutzuckerentgleisungen Der Diabetes mellitus stellt ein globales Gesundheitsproblem dar – allein in Deutschland sind 9,5 Millionen Men- schen erkrankt. Neben Langzeitschäden wie Durchblutungsstörungen, Schlaganfällen, Nierenerkrankungen oder verschlechterter Sehleistung können auch akute, lebensgefährliche Komplikationen auftreten. Hierzu gehören sowohl die Hypoglykämie als auch das hyperglykämische Koma, das Coma diabeticum. Dieser Artikel beleuchtet die anatomischen und physiologischen Grundlagen der Blutzuckerregulation, beschreibt die patho- physiologischen Vorgänge, die im Rahmen eines Diabetes mellitus ablaufen, und zeigt, wie akute Komplikatio- nen erkannt und behandelt werden. Autor: Patrick Ristau, M.A., Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, Praxisanleiter für Notfallsanitäter Anatomische und physiologische Grund- Abbildung 1) und vor den großen Bauchgefäßen (Aorta abdominalis, Vena cava inferior) bzw. den Lendenwirbel- lagen körpern 1 bis 3. (1, 2) Die keilförmige, ca. 13 bis 15 cm lange Bauchspeichel- drüse, auch Pankreas genannt, liegt ungefähr mittig im Anatomisch werden Bauchspeicheldrüsenkopf, -körper und Oberbauch. Sie befindet sich hinter Magen und Bauchfell -schwanz unterschieden. Diese werden vom Bauchspeichel- (retroperitoneal), zwischen Zwölffingerdarm und Milz (vgl. drüsengang (Ductus pancreaticus) durchzogen. Er mündet gemeinsam mit dem Hauptgallengang (Ductus choledochus) über die Vater’sche Papille (Papilla Vateri) in den Zwölffin- gerdarm. Bei etwa einem Fünftel der Menschen existiert ein LERNZIELE zusätzlicher kleinerer Gang, der Ductus pancreaticus acces- Wenn Sie diese Fortbildungseinheit gelesen sorius, der in die Papilla duodeni minor mündet. (1, 2) haben, kennen Sie … – die physiologischen Funktionen der Bauch- Physiologisch lässt sich eine größerer exokriner von einem speicheldrüse. kleineren endokrinen Anteil unterscheiden: – die pathophysiologischen Hintergründe des Diabetes mellitus. Der exokrine Anteil des Pankreas macht etwa 98 % der – die Ursachen und Symptome der verschiede- Bauchspeicheldrüse aus: Er bildet pro Tag ca. 1,5 l ei- nen hypo- und hyperglykämischen Notfälle. nes enyzmreichen, stark alkalischen Sekrets, dem sog. Bauchspeichel. Diesem kommen bei der Verdauung von – die lebensrettenden Maßnahmen bei Klienten Nahrungsmitteln 2 wichtige Aufgaben zu: Zum einen neu mit einem diabetischen Notfall. tralisiert der Pankreassaft im Zwölffingerdarm den durch – das weitere diagnostische und therapeutische die Magensäure stark sauren Speisebrei und zum anderen Vorgehen. enthält der Bauchspeichel eine Vielzahl von Verdauungsen- zymen, darunter Proteasen, Glykosidasen und Lipasen, die STICHWÖRTER für die Nahrungszersetzung wichtig sind (vgl. Tab. 1). (1–3) Bauchspeicheldrüse, Pankreas, Insulin, Gluka- gon, Diabetes mellitus, Hypoglykämie, Hyper- Der endokrine Anteil – die übrigen 2 % der Bauchspei- glykämie, Coma diabeticum, Ketoazidose, Erste cheldrüse – umfasst das sogenannte Inselorgan. Es setzt Hilfe, Notfallmanagement sich aus ca. 0,5–2 Millionen hormonbildenden Langerhans- Inseln zusammen, die überall in der Bauchspeicheldrüse EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 1 SOMATIK Aorta abdominalis V. cava inferior Leber (hochgeklappt) Magen Gallenblase Hauptgallengang Bauchspeicheldrüsengang Vater‘sche Papille Bauchspeicheldrüsenschwanz Zwölffingerdarm Bauchspeicheldrüsenkörper Bauchspeicheldrüsenkopf Abbildung 1: Bauchspeicheldrüse und umgebende Organe Enzym Aufgaben verteilt liegen. Die Langerhans-Inseln produzieren mittels verschiedener spezialisierter Zellen unter anderem Insulin Proteasen Proteinspaltung, Aminosäureabspaltung und Glukagon. Die Hormone gelangen über das Blut zu Glykosidasen Spaltung von Glykogen und Stärke ihren Zielorganen. (1, 2) Lipasen Spaltung von Fetten Blutzucker Tabelle 1: Ausgewählte Enzyme des Bauchspeichels und ihre Aufgaben (nach 1) Bei gesunden Menschen beträgt der Blutzuckerspiegel nüchtern etwa 50–100 mg/dl (2,8–5,6 mmol/l), nach dem Essen bis zu 140 mg/dl (7,8 mmol/l). Bei Blutzuckerwer- Hormon Produktionsort Vereinfachte Funktion ten von weniger als 50 mg/dl (2,8 mmol/l) spricht man Insulin B-Zellen Senkung des Blutzucker- von einer Hypoglykämie. Liegt der Blutzuckerwert beim spiegels Nüchternen bei Werten über 100mg/dl (5,6 mmol/l) bzw. Glukagon A-Zellen Bereitstellung von Glukose 2 Stunden nach dem Essen über 140 mg/dl (7,8 mmol/l), spricht man von einer Hyperglykämie. Ab einem Blutzu- Somato- D-Zellen Hemmung von ckerspiegel von 180 mg/dl (10,0 mmol/l) beginnt die Niere, statin Verdauungsprozessen Zucker auszuscheiden (Glukosurie). Aufgrund der hohen Tabelle 2: Hormone der Bauchspeicheldrüse, Produktionsorte Osmolarität des Zuckers führt dies im Verlauf zu einem und Funktion (nach 1) hohen Wasserverlust (Polyurie). (2) 2 EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 Regulation des Blutzuckerspiegels mmol/l mg/dl Die beiden wichtigsten Hormone zur Regulation des Blut- Plasma Plasma diabetisches zuckerspiegels sind Insulin und Glukagon. Zu beachten ist, Koma dass Insulin das einzige Hormon ist, welches den Blutzu- Über- ckerspiegel senkt, wohingegen ihn verschiedene Hormone zuckerung ansteigen lassen können (vgl. Abb. 2). Beim Gesunden wird die Sekretion von Insulin und Glukagon durch den Blutzu- ckerspiegel gesteuert. (1, 2) Nieren- Insulin senkt den Blutzuckerspiegel, indem es vor allem schwelle 10.0 180 die Zellwände der Muskel- und Leberzellen für Glukose durchgängiger macht und dort für eine schnellere Verstoff- wechslung der Glukose bzw. für eine Umwandlung in die Speicherform Glykogen sorgt. Glukagon hingegen hebt den } Blutzuckerspiegel, indem es den Glykogenabbau und die 7.8 140 Glukoseneubildung (Glukoneogenese) aus anderen Stoffen physiologischer fördert. (2) Bereich nach dem Essen } 5.5 100 Epidemiologie des Diabetes mellitus physiologischer Diabetes mellitus (lat. „honigsüßer Durchfluss“) ist die mit Nüchtern- Bereich Abstand häufigste Erkrankung der Bauchspeicheldrüse 2.8 50 und stellt weltweit ein großes Gesundheitsproblem dar, das mittlerweile ein alarmierendes Ausmaß erreicht hat: Rund Unter- hypoglykämi- um den Globus leben etwa eine halbe Milliarde Menschen zuckerung ches Koma mit Diabetes – 68 Millionen davon in Europa. Bis zum Jahr 2045 rechnen Experten mit einem weiteren Anstieg von Blutzuckerspiegel: Der grün hinterlegte Bereich entspricht den derzeit 463 Millionen auf dann 700 Millionen Betroffene. physiologischen Blutzuckerschwankungen. Die Überzuckerung (4) bis hin zum diabetischen Koma ist gelb, die Unterzuckerung rot unterlegt. Tritt Glukose im Urin auf, entspricht dies einer Über- schreitung der Glukoseschwelle in der Niere. Deutschland ist mit 9,5 Millionen Erkrankten im europa- weiten Vergleich an der Spitze und steht mit einer Präva- Abbildung 2: Blutzuckerspiegel (nach 2) lenz (also der Krankheitshäufigkeit) von 10,4 % auf Platz 2 hinter der Türkei. Hinzu kommen ca. 4,5 Millionen Men- schen, bei denen die Krankheit bisher nicht diagnostiziert UMRECHNUNG DER BLUTZUCKER-EINHEITEN wurde! Die jährlichen Krankheitskosten betragen etwa 39,5 Milliarden Euro (43.8 Billionen USD). (4) Der Blutzucker-Wert wird regional unterschiedlich entweder in mg/dl oder in mmol/l angegeben. Da bei- Verschiedene Diabetes-Typen de Einheiten grundsätzlich denselben Wert angeben, nämlich eine gewisse Konzentration Glukose in einer Je nach Ätiologie werden verschiedene Diabetes-Typen bestimmten Menge Blut, ist eine Umrechnung mög- unterschieden. lich. Diabetes mellitus Typ 1 Um von mg/dl auf mmol/l zu kommen, teilt man den Beim Diabetes mellitus Typ 1 handelt es sich um eine ersten Wert hilfsweise durch 18 (der exakte Faktor Autoimmunerkrankung, bei der sich das körpereigene wäre 18,0182), umgekehrt nimmt man ihn mal 18. Abwehrsystem gegen die B-Zellen des Pankreas richtet. Hieraus resultiert ein absoluter Insulinmangel. Dieser muss Beispiel: 110 mg/dl ~ 6,1 mmol/l zwingend und lebenslang mittels Insulininjektionen subs- 6,0 mmol/l ~ 108 mg/dl tituiert werden. Das klinische Bild manifestiert sich in der Insulineinheiten hingegen werden immer in inter- Regel bis zum 30. Lebensjahr. Symptome sind Glukosurie nationalen Einheiten (abgekürzt I.E., IE) angegeben (Zuckerausscheidung über den Urin) und osmotisch be- (müssen nicht umgerechnet werden). dingte Polyurie (gesteigerte Harnmenge) bei gleichzeitiger EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 3 SOMATIK blutzuckererhöhend: blutzuckersenkend: Polydipsie (gesteigerter Durst) und Exsikkose (Austrock- nung). Schreitet die Stoffwechselentgleisung fort, können Nahrungs- Übelkeit, Erbrechen und Bewusstseinsstörungen auftreten. zufuhr Insulin Bei manchen Patienten zeigt sich der Diabetes Typ 1 erst- malig durch ein Coma diabeticum (siehe unten). Jährlich erkranken etwa 2.600 Kinder unter 14 Jahren in Deutsch- Gluko- Bewegung kortikoide land neu an Diabetes mellitus Typ 1, insgesamt leben etwa 300.000 Typ-1-Diabetiker in der Bundesrepublik. (2, 4) Wachstums- Diabetes mellitus Typ 2 hormon Mit ca. 95 % der Erkrankten stellt der Diabetes mellitus Typ 2 die größte Gruppe der Betroffenen dar. Das entspricht ca. Adrenalin 9 Millionen Menschen in Deutschland. (2, 4) Glukagon Betroffen sind vor allem Erwachsene mittleren und Blut-Glukose 50–100 mg/dl höheren Alters, in den letzten Jahren jedoch auch zuneh- (2,8–5,6 mmol/l) mend Kinder und Heranwachsende. Beim Typ-2-Diabetes handelt es sich um eine Zivilisationskrankheit, die durch Abbildung 3: Regulationsmechanismen des Blutzuckerspie- Übergewicht, ungesunde Ernährung und Bewegungsman- gels (2) gel hervorgerufen wird. (2, 3) Pathophysiologisch bildet sich durch Überernährung und einem daraus steigenden Insulinbedarf eine Insulinresis- tenz im Gewebe. Hierdurch wird eine fatale Kettenreaktion Insulin Glukagon in Gang gesetzt: Die B-Zellen müssen mit der Zeit immer senkt den Blutzucker- steigert den Blutzucker- mehr Insulin produzieren. Gleichzeitig werden die Insulin- spiegel spiegel verbessert die Glukose- stellt dem Körper Energie rezeptoren in den Zellen immer unempfindlicher. Irgend- aufnahmen in Muskel-, bereit wann sind die B-Zellen nicht mehr in der Lage, ausrei- Leber- und Fettzellen steigert den Abbau von chend Insulin zu produzieren. Erschwerend kommt hinzu, steigert die Produktion Glukosespeicherstoffen dass die B-Zellen im Verlauf der Erkrankung teilweise von Glukosespeicherstof- steigert die Glukoneoge- absterben und der Körper nach der Nahrungsaufnahme fen (Glykogen, Proteine, nese Fette) irrtümlicherweise Glukagon ausschüttet, was die Hypergly- hemmt den Abbau von kämie nach dem Essen zusätzlich verstärkt. (2, 3) Glykogen, Proteinen und Fetten Folge ist ein relativer Insulinmangel. Dieser Prozess läuft über Jahre ab, sodass die Krankheit häufig zufällig oder erst spät entdeckt wird – teilweise sogar erst dann, wenn schon Folgeschäden aufgetreten sind. Neben allgemeiner Abbildung 4: Wechselspiel von Insulin und Glukagon Schwäche können gehäufte Harnwegsinfekte bzw. Pilz- infektionen der Haut oder der Scheide sowie Juckreiz 1. Symptome sein. Anders als beim Typ-1-Diabetes treten Polydipsie und Polyurie erst zu einem späteren Zeitpunkt VERALTETE BEZEICHNUNGEN NICHT MEHR auf. Zur Diagnosestellung können beispielsweise ein oraler VERWENDEN Glukosetoleranztest mit im Verlauf mehrmaliger Blutzu- Seit einigen Jahren gilt: Begriffe wie juveniler, insu- ckermessung durchgeführt oder Glykohämoglobinwerte linabhängiger oder nicht-insulinabhängiger Diabetes (HbA1c) gemessen werden. Der Diabetes Typ 2 wird durch (IDDM, NIDDM) sind veraltet und teilweise irrefüh- angepasste Ernährung mittels oraler Antidiabetika oder rend. Daher sollten sie nicht mehr verwendet werden. Insulinsubstitution behandelt. (2, 3) Weiterhin ist die Art der Behandlung („Diät“, Tablet- ten oder Insulin) kein Einteilungskriterium, da bei- Diabetes mellitus Typ 3 – andere spezifische spielsweise bei jeder Form des Diabetes eine Behand- Diabetes-Typen lung mit Insulin erforderlich sein kann. Der Diabetes mellitus Typ 3 kann viele unterschiedliche Ursachen haben: So kommen neben genetischen Defekten 4 EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 der B-Zellen genetische Defekte der Insulinwirkung in PFLEGE VON MENSCHEN MIT DIABETES MELLITUS TYP 3 Betracht. Daneben können beispielsweise Pankreaserkran- kungen wie die chronische Pankreatitis, Verletzungen des Aus Kapazitätsgründen kann hier nicht näher auf die Pankreas (z. B. Whipple-Operation) oder Infektionen zu einzelnen Subtypen A bis H des Typ-3-Diabetes ein- diesem insgesamt seltenen Krankheitsbild führen. (3) gegangen werden. Da sich die einzelnen Subtypen teilweise stark – auch in ihrer Therapie und Pflege – Gestationsdiabetes sowohl im Vergleich zum Typ-1- als auch zum Typ- Der Schwangerschaftsdiabetes, auch als Typ-4-Diabetes be- 2-Diabetes sowie untereinander unterscheiden, sollten zeichnet, ist eine erstmals während einer Schwangerschaft Sie sich über den jeweiligen Subtypen informieren, so- diagnostizierte Glukosetoleranzstörung und zählt zu den bald Sie einen Menschen mit Typ-3-Diabetes pflegen häufigsten schwangerschaftsbegleitenden Erkrankungen. oder versorgen. Weitere Informationen finden Sie zum Ursächlich scheint neben den häufig vorliegenden Risiko- Beispiel unter: https://menschen-mit-diabetes.de/rat- faktoren für den Typ-2-Diabetes das Zusammenspiel mit geber/diabetes-typ-3 oder unter https://www.netdok- den hormonellen Veränderungen während der Schwanger- tor.de/krankheiten/diabetes-mellitus/diabetes-typ-3/ schaft zu sein – in seltenen Fällen kann es sich jedoch auch um einen Typ-1- oder Typ-2-Diabetes handeln. Während der Schwangerschaft ist das Risiko für Komplikationen erhöht, nach der Schwangerschaft das Risiko, zu einem spä- teren Zeitpunkt einen Diabetes mellitus Typ 2 zu entwi- Erkennen der Hypoglykämie ckeln. (2, 5) Die Symptome einer Hypoglykämie können sich innerhalb von Minuten entwickeln. Generell lassen sich vegetative (autonome) von zentralnervösen Symptomen unterschei- Akute Komplikationen des Diabetes den. Erstere lassen sich mit dem Versuch des Körpers er- mellitus klären, den fehlenden Blutzucker zu kompensieren. Hierzu Der Blutzuckerspiegel wird beim Gesunden über die be- gehören beispielsweise Heißhunger, Schwitzen, Unruhe, schriebenen Mechanismen stets zwischen 50 und 100 (140) Tachykardie, Hypertonie und Tremor. Letztere begründen mg/dl (2,8–5,5 (7,8) mmol/l) gehalten. Durch verschiede- sich im Fehlen von Glukose im zentralen Nervensystem. ne Krankheiten und Störungen des Stoffwechsels kann es Hierzu gehören Kopfschmerzen, psychische Auffälligkei- jedoch zu einem niedrigeren Blutzuckerspiegel (Hypogly- ten, Krampfanfälle oder neurologische Defizite wie Läh- kämie, < 50 mg/dl (< 2,8 mmol/l)) oder zu einem höheren mungen oder Automatismen wie Schmatzen oder Grimas- Blutzuckerspiegel (Hyperglykämie, > 140 mg/dl (> 7,8 sieren, Bewusstseinsstörungen bis hin zur Bewusstlosigkeit mmol/l)) kommen. und zentrale Atem- und Kreislaufstörungen. (5) Hypoglykämie Achtung: Bei einer mehrstündigen Hypoglykämiedauer Die Hypoglykämie (ugs. „Zuckerschock“) entwickelt sich kann es zu irreversiblen Hirnschäden kommen! deutlich schneller als die Hyperglykämie. Sie stellt den häufigsten endokrinologischen Notfall überhaupt dar, zu deren Hauptursache die Überdosierung von Insulin oder oralen Antidiabetika gehören. In den meisten Fällen erfolgt die Überdosierung unabsichtlich, also akzidentiell. So Hypoglyklämie Normal Hyperglykämie kommt es beispielsweise dazu, dass eine Dosisreduktion bei < 50 mg/dl zwischen 50 und > 140 mg/dl Infekten, fehlender Nahrungsaufnahme oder gesteigerter 100 (140) mg/dl körperlicher Anstrengung ausbleibt oder eine Nahrungs- (< 2,8 mmol/l) (2,8–5,5 (7,8) mmol/l) (> 7,8 mmol/l) aufnahme nach bereits verabreichter Insulininjektion vergessen wird. Weiterhin können eine Verwechslung des Insulinpräparats oder der fehlerhafte Gebrauch von Insu- linpens oder -pumpen zur Hypoglykämie führen. Weitere Ursachen können Alkoholintoxikationen, Suizidversuche oder seltene Stoffwechselstörungen darstellen. (5) Achtung: Die Pflegefachkraft sollte bei Infekten zeitnah Rücksprache mit dem behandelnden Arzt bezüglich einer passageren Insulindosisreduktion halten! Abbildung 5: Hypo-, Normo- und Hyperglykämie schematisch EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 5 SOMATIK Frühe Zeichen Späte Zeichen Praxistipp: Hypoglykämie nicht versehentlich übersehen Konzentrationsstörungen Verlangsamung Auch wenn man definitionsgemäß bei einem Blutzucker- wert von unter 50 mg/dl (2,8 mmol/l) von einer Hypogly Auffälliges Verhalten Krampfanfälle kämie spricht, sollte man diesen Wert nicht als dogma- Schwitzen Koma tische Grenze betrachten. Durch Messfehler kann die Schwankungsbreite bis zu 20 % betragen, daher sollte auch Sehstörungen Primitive Automatismen schon ein Messwert von 60 mg/dl (3,3 mmol/l) bei entspre- Kribbelgefühl chender Symptomatik zur Einleitung einer entsprechenden Therapie führen. Tachykardie Manche Betroffene bemerken 1. Symptome bereits bei einem Zuckerspiegel von etwa 70 mg/dl (3,9 mmol/l), an- dere sind an wiederkehrende niedrige Zuckerspiegel derart adaptiert, dass sie Werte um 30 mg/dl (1,7 mmol/l) noch Zittern ohne Bewusstseinsverlust tolerieren! Fokale Ausfälle (Hemiparese) Weiterhin können insbesondere Betablocker die sympatho- nergen Symptome (Tachykardie, Schwitzen, Hypertonie) unterdrücken, sodass betablockierte Patienten häufig erst spät oder gar keine Symptome verspüren, bevor sie be- wusstlos werden. Merke: Bei allen neurologischen Symptomen muss in jedem Fall eine zeitnahe Blutzuckerbestimmung durchge- Abbildung 6: Warnsymptome der Hypoglykämie (5) führt werden, da eine Hypoglykämie sämtliche neurologi- schen Symptome hervorrufen kann! Therapie der Hypoglykämie GLUKOSE SICHER VERABREICHEN Das therapeutische Vorgehen richtet sich danach, ob der Achtung: Zur initialen Blutzuckeranhebung darf nur Klient bei Bewusstsein ist und über ausreichend Schutzre- hochkonzentrierte Glukose (z. B. G20) verwendet wer- flexe verfügt oder ob er bewusstseinsgetrübt bzw. bewusst- den. Niedrigkonzentrierte Glukose (z. B. G5 oder G10) los ist. wird zu schnell vom Körper verbraucht, übrig bleibt freies Wasser. Dieses kann zu einem Hirnödem führen! Ersteren kann oral Glukose zugeführt werden. Hierfür eignen sich beispielsweise 15–30 g Traubenzucker (ent- Da Glukose stark venenreizend wirkt, sollte sie immer spricht 3 bis 6 Tafeln Dextro Energy®) oder Fruchtsäfte bzw. parallel zu einer laufenden Infusion, beispielsweise zuckerhaltige Limonaden. Es ist in jedem Fall darauf zu über einen Dreiwegehahn, injiziert werden. Paravasate achten, dass bei einer Hypoglykämie keinesfalls zuckerfreie sind unbedingt zu vermeiden – sie können Nekrosen „Light“-Produkte verabreicht werden! Kann der Betroffene verursachen. nicht oder nicht sicher schlucken, das heißt, droht eine Aspiration, sind Glukose oder Glukagon parenteral zu verabreichen (siehe Infokasten) und ist der Rettungsdienst unter der Telefonnummer 112 zu verständigen. GLUKAGON ZUKÜNFTIG ALS NASENSPRAY Sollte der Betroffene bewusstseinsgetrübt oder bewusstlos In Zukunft wird Glukagon auch als Nasenspray – ähn- sein, muss er bei suffizienter Eigenatmung in die stabile lich einem Schnupfenspray – verfügbar sein. Da die Seitenlage gelegt werden. Die Sicherung der Vitalfunktio- Zulassung bisher lediglich für den amerikanischen nen hat Vorrang vor allen weiteren Maßnahmen! Parallel Markt erfolgt ist, sollten sich Anwender zu gegebener dazu ist der Rettungsdienst zu verständigen. Im Weiteren Zeit mit dem Gebrauch vertraut machen. Weitere In- muss Glukose intravenös verabreicht werden. Hierzu sollte formationen unter: https://www.pharmazeutische-zei- ein möglichst großlumiger Zugang etabliert und die Lage tung.de/glucagon-nasenspray-erhaelt-us-zulassung/ mittels Rücklaufprobe verifiziert werden. Im Anschluss werden 10 bis 20 g Glukose intravenös verabreicht. Diese 6 EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 Gabe kann wiederholt werden, sollte der BZ-Wert auch erneuten Hypoglykämie vorgebeugt. Der Blutzuckerverlauf nach 5 Minuten noch erniedrigt und der Klient nicht aus- ist in den nächsten Stunden engmaschig zu kontrollieren, reichend wach sein, um weitere Glukose peroral aufzuneh- der Klientn darf nicht allein bleiben. men. Die weitere Therapie erfolgt im Anschluss durch den Notarzt bzw. Rettungsdienst. Achtung: Sollte der Klient trotz wiederhergestellter Nor- moglykämie nicht das Bewusstsein wiedererlangen, sind Alternativ können Glukagon-Pens subkutan oder intra- Hirnschäden, aber auch andere neurologische Ereignisse muskulär verabreicht werden. Mit einem Wirkeintritt ist wie beispielsweise ein Schlaganfall in Betracht zu ziehen. nach etwa 10 Minuten zu rechnen. Der Patient muss umgehend zur weitergehenden neurolo- gischen Abklärung in ein Krankenhaus gebracht werden! Sollte der Klient eine Insulinpumpe tragen, kann die Zu- fuhr auf zweierlei Arten unterbrochen werden: Entweder Hyperglykämie wird die Leitung mittels Klemme und Tupfer vorsichtig abgeklemmt oder die Injektionsnadel aus der Haut gezo- Eine notfallmedizinisch relevante Hyperglykämie kann bei gen, sodass das Insulin „ins Leere“ läuft. Keinesfalls ist die Menschen beispielsweise durch eine Unterbrechung der Pumpe zu zerstören oder die Leitung durchzuschneiden! Insulinzufuhr bei notwendiger Insulinsubstitution oder Parallel sollten die Anzeigewerte der Pumpe notiert wer- durch einen erhöhten Insulinbedarf, beispielsweise bei den. Infekten oder Stress, ausgelöst werden. Im Rahmen der Hyperglykämie kann es dann zu einem Coma diabeticum Dem durch die Erstmaßnahmen wach gewordenen Klient kommen. Dieses geht mit einem erheblich erhöhten Blut- sollten bis zum Eintreffen des Arztes weitere Kohlenhyd- zuckerspiegel und Störungen im Wasser-Elektrolyt-Haus- rate, beispielsweise in Form eines Marmeladenbrotes oder halt einher und bedarf sofortiger intensivmedizinischer einer Banane, zugeführt werden. Hierdurch wird einer Therapie und Pflege. (5) Insulinmangel Hyperglykämie Lipolyse Hyperosmolarität Ketose Azetongeruch, Erbrechen Metabolische Azidose Intrazelluläre Osmotische Diurese Kussmaul Atmung Dehydration Elektrolytverlust Bewusstseins- Extrazelluläre störungen Dehydration Hypovolämie Gefahr des Nierenversagens Volumenmangelschock Abbildung 7: Pathophysiologie des Coma diabeticum (nach 3) EINGLIEDERUNGSHILFE AKADEMIE 4/2023 7 SOMATIK Ketoazidotisches Hyperosmolares Abbildung 7 fasst die gemeinsame Pathophysiologie der Koma Koma beiden Formen des Coma diabeticum zusammen. Typische Typ-1-Diabetiker Typ-2-Diabetiker Patienten (absoluter Insulin- (relativer Insulinman- Erkennen des Coma diabeticums mangel) gel) Das Coma diabeticum entwickelt sich vergleichsweise langsam, in der Regel über Stunden bis hin zu Tagen. Frühe Blutzu- 250–500 mg/dl > 600 mg/dl (> 33,3 ckerwer- (13,9–27,8 mmol/l) mmol/l) Anzeichen können starker Durst (Polydipsie), vermehrtes te teilweise > 1.000 Wasserlassen (Polyurie) und Gewichtsverlust sein. Als mg/dl (> 55,6 mmol/l) Folge entwickelt sich ein Volumenmangel, der über eine Entwick- Stunden bis Tage Tage bis Wochen Verschiebung des Säure-Basen- und Wasser-Elektrolyt- lung Haushalts in eine Bewusstseinstrübung bis hin zur Be- wusstlosigkeit mündet. (5) Sympto- Polyurie, Polydipsie gestörtes Durstemp- me Gewichtsverlust finden abdominelle evtl. Fieber, Infektzei- Achtung: Der Flüssigkeitsmangel spielt sich überwiegend Schmerzen (> 50 % chen in den Zellzwischenräumen und den Zellen ab. Bedingt der Fälle) Nierenversagen durch die hohe Blutglukosekonzentration und deren os- motische Wirksamkeit verschiebt sich Körperwasser in die Sterblich-