Summary

This chapter discusses ethics in the context of digital transformation and disruption. It examines how digital technologies are changing societal structures and relationships. The author uses examples from various industries, such as media and music, to illustrate the effects of disruption.

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Ethik menschliche Verstand fungiert somit nicht mehr als alleinige und entschei- dende Richtinstanz der Analyse weltlicher Prozesse, sondern er stützt seine Einschätzung auf computergestützten Operationen. Big Data meint die Auf- zeichnung von einer Fülle an Datenbeständen, die nur noch dann inform...

Ethik menschliche Verstand fungiert somit nicht mehr als alleinige und entschei- dende Richtinstanz der Analyse weltlicher Prozesse, sondern er stützt seine Einschätzung auf computergestützten Operationen. Big Data meint die Auf- zeichnung von einer Fülle an Datenbeständen, die nur noch dann informativ verarbeitet werden können, wenn auch dafür computergestützte Verfahren zur Anwendung kommen. Das Wissen, das aktuell dokumentiert wird, zeigt Ausmaß und Fülle, die sich nur noch dann gewinnbringend auswerten lassen, wenn technologische Ver- fahren zur Anwendung kommen. Die aussagekräftige Aufbereitung von In- Merksatz formation benötigt bereits technologische Unterstützung. Danach werden dann Kreativität, Einschätzung und Interpretation durch den menschlichen Geist verlangt. Dieser Einschnitt markiert eine Zäsur. Das 21. Jahrhundert dokumentiert also den Übergang in ein neues Zeitalter, das dem Menschen neue Rollen zudenkt. Für den Bruch überholter Konven- tionen zeigen sich zwei zentrale Faktoren entscheidend: Die digitale Transformation bewirkt, dass Gegenstände, die wir nutzen, in konkreter Hinsicht intelligenter agieren können als der Mensch selbst. Das Verhältnis zwischen Menschen und Gegenständen, die genutzt werden, ver- ändert sich damit nachhaltig. Nicht nur das: Bisher war der Weiterentwick- lung jedes Gegenstands menschlichem Erfindungsgeist zuzuschreiben, Künstliche Intelligenz hingegen trainiert sich selbst und wird eigentätig schlauer. Der Klimawandel redefiniert zusätzlich das Verhältnis zwischen Menschen und Natur. Die ältesten fossilen Funde, die die Existenz der Spezies Homo Sapiens belegen, finden sich in Afrika und lassen sich 300.000 Jahre rückda- tieren. Der Klimawandel ändert nun die thermischen und klimatischen Be- dingungen im natürlichen Lebensraum des Menschen, wie es innerhalb die- ses Zeitraums vergleichbar nicht vorgekommen ist. Beides wird nachhaltige Veränderungen bewirken. 6 Die Moral der Disruption Wird über Veränderung im Rahmen der digitalen Transformation nachge- dacht, dann fällt regelmäßig der Begriff Disruption. Das Schlagwort stammt aus dem Englischen, auf Deutsch übertragen bezeichnet disruption Zusam- menbruch, Störung, Diskontinuität. 77 Ethik In Verbindung mit der digitalen Transformation meint Disruption den Um- bruch und die Erneuerung von konventionellen Geschäftsmodellen durch den Einsatz neuer Technologien. Merksatz In der Verlagsbranche wurde durch neue Mechanismen der Informationsbe- schaffung die Relevanz der gedruckten Tageszeitung oder konventioneller Nachrichtensendungen gesenkt. Bedeutungen haben sich radikal verscho- ben. Der Anzeigenmarkt, der für Tageszeitungen und Magazine neben den Vertriebserlösen die bedeutsamste Einkommensquelle bildete, erfuhr radi- kale Umwälzungen. Soziale Medien und Suchmaschinen verdienen mittler- weile eindrücklich an den Umbrüchen und Abstürzen der anderen. Facebook veröffentlicht Kennzahlen, die belegen, dass im Jahr 2018 rund 55 Milliarden Dollar an Werbeumsätzen erzielt wurden. Google kassierte im selben Jahr 116 Milliarden Dollar an Werbeeinnahmen. 31 Bei beiden Unternehmen muss berücksichtigt werden, dass sie, anders als Verlagshäuser, keine eigenen In- halte produzieren. Sie verstehen sich auch nicht als solche, sondern agieren ihrem Rechtscharakter nach als reine Plattformen, die für Inhalte nicht haft- bar zu machen sind. Vielmehr sind es die Nutzer, die Inhalte zur Verfügung stellen, die entweder das soziale Netzwerk beleben oder auf Suchmaschinen hinweisen können. Das Prinzip, dass Nutzer Inhalte kostenlos produzieren und zur Verfügung stellen, Inhalte, die dann von den Plattformen selbst kommerzialisiert wer- den, nutzen beispielsweise einige Denkerinnen als einen Begründungszu- sammenhang für eine Art des bedingungslosen Grundeinkommens. 32 Durch effizientes Steuerregime und der Redistribution mittels Grundeinkommen würden die Verfasserinnen von Inhalten für ihre Aktivitäten entlohnt. Das Verfassen von Inhalten wäre die anzuerkennende entlohnende Arbeit, die Netzwerke vermarkten. Die Plattformen würden dementsprechend als Ver- werter der Inhalte zu einem Medium werden, das die Beiträge effektiv mo- netarisiert, bevor die erzielten Einnahmen dann weiterverteilt werden. Wie in einer anderen Lehrveranstaltung bereits vermerkt, eignet sich auch die Musikindustrie als Sinnbild eines Marktes, der durch die Logik der Dis- ruption essenziell erneuert wurde: In der zweiten Januarwoche 2019 schaffte es der New Yorker Musiker A Boogie wit da Hoodie auf Platz 1 der amerikanischen Album Charts Billboard 200 mit gerade einmal 823 verkauf- ten Tonträgern. Die Spitzenposition erhielt er insofern, als seine Popularität bei den Streamingdiensten sich in Albumäquivalente übertragen lässt. 31 Vgl. Fidler, 2018 32 Vgl. Lobe, 2017 78 Ethik Billboard verbuchte für das Album Hoodie SZN in der besagten Woche 58.000 Albumäquivalente in den Streamingdiensten und 823 verkaufte Ton- träger.33 Disruption wird also dann wirksam, wenn sich innovative Technologien mit neuartigen Geschäftsmodellen so verbinden, dass bestehende Prozesse und Absatzwege nahezu schlagartig obsolet werden. Ein Unternehmen, das vielen als Inbegriff disruptiver Geschäftspraktiken gilt, ist Uber. Doch was verbirgt sich hinter dem Erfolg des einstigen Startups und was erzählt die Entwicklungsgeschichte über die Moral der Disruption? Beispiel Die Geschichte von Uber fängt gemäß dem eigenen Narrativ damit an, dass die beiden Freunde Travis Kalanick und Garrett Camp zusammen die Le Web Konferenz in Paris im Jahr 2008 besuchen. Beide sind zu diesem Zeitpunkt bereits aufgrund des Verkaufs erster Startups vermögend. Das nutzt an ei- nem Konferenzabend jedoch denkbar wenig, denn es finden sich nach Ende eines Veranstaltungstages keine Taxis, die sie hätten nutzen können, um ins Zentrum der Stadt zurückzukehren. Diese Erfahrung veranlasst die Beiden darüber nachzudenken, wie sich denn eine App aufsetzen ließe, die Fahrten mit Limousinenservices teilt. Diese Idee führte auch zum ursprünglichen Geschäftsfeld des Unterneh- mens. Es sollten damit ausschließlich Fahrten an Fahrer vermittelt werden, die üblicherweise in schwarzen, eleganten Personenwagen Flugpassagiere von Flughäfen in ein Stadtzentrum bringen. Diese Tätigkeit ist normaler- weise mit langen Wartezeiten verbunden. Um also höhere Effizienz zu erwir- ken, war es angedacht, diesen Limousinenfahrern weitere Fahrgäste weiter- zuvermitteln. Der Rechtsrahmen war abgesteckt, die Standards gesetzt, das Optimierungspotenzial klar ersichtlich. Die Leerläufe und Stehzeiten von Flughafenlimousinen zu verkürzen, indem zusätzliche Fahrten vermittelt werden, darin bestand anfänglich das Ge- schäftsmodell von Uber. Diese Idee wurde dann auch präsentiert, um Inves- toren zu gewinnen, die den Aufbau und die Geschäftstätigkeit des Unterneh- mens finanzieren sollten. Die Schwierigkeit fand sich darin, dass nahezu parallel und simultan ein an- deres Startup eine Idee zu vermarkten begann, das weit ambitionierter als Uber wirkte. Das Unternehmen nennt sich Lyft und das Geschäftsmodell da- hinter bestand darin, dass eine Software programmiert wurde, die Personen schlicht erlaubt hat, eine Fahrt bei anderen Personen zu buchen. Lyft 33 Vgl. Sokolov, 2019 79 Ethik erneuerte den Mobilitätssektor, da das Unternehmen nicht nur Personen, welche Limousinen fahren, als Service-Provider in die Plattform miteinbe- zog, sondern es jeder Person freistellte, sich nicht nur als Kunde sondern auch als Fahrer zu registrieren. Der Ansatz besagte also, dass sich Mobilität so neu denken lassen müsste, dass Fahrten schlicht miteinander geteilt wer- den, jeder unkompliziert sowohl Anbieter als auch Nutzer solcher Dienste sein solle. Lyft verstand es als Unternehmen folglich, bestehende Hardware in Form der genutzten Autos gleich zu belassen, doch diese anders und in- tensiver durch vernetzende Software zu nutzen. Die operative Auslastung der vorhandenen Bestände wurde durch den Einsatz neuer Software umge- staltet. Was bisher Taxameter, Call-Center und eigene Fahrzeugflotten be- sorgen, ließe sich durch bestehende Fahrzeuge, einfach bedienbare Apps und kooperativ agierende Personen ersetzen. Das essenzielle Problem dieser Geschäftsidee bestand darin, dass es sich fak- tisch um Rechtsbruch handelt. Das Beförderungswesen unterliegt komple- xen legalistischen Regelungen, die deshalb Sinn ergeben, weil Passagiere be- sondere Versicherungsstandards genießen. Insofern zeigen sich im Taxiwe- sen ausdifferenzierte juristische Regelungen für welche Schäden die fahren- den Personen, wann das Taxisunternehmen und wann die Passagiere selbst haften würden. Es ist schwierig aber notwendig, rechtlich aufzuschlüsseln, wann und ab welchem Zeitpunkt im Falle von Verletzungen oder Unfällen der Passagier selbst haftet, ob es im Verantwortungsbereich des Lenkers lie- gen würde oder ob eine potenzielle Versicherungsleistung durch das Taxiun- ternehmen selbst zu decken wäre. Geschieht es beispielsweise beim Einstei- gen oder Verlassen des Fahrzeugs oder erst wenn sich das Auto in Bewegung setzt? Aus diesen Gründen war das Mobilitätsgewerbe reglementiert – teils auch zweifellos überreglementiert. Lyft begründete also eine Geschäftspraxis, die einen bewussten Rechtsbruch darstellte. Uber erkannte, dass das eigene Geschäftsmodell dagegen nicht erfolgreich konkurrieren konnte und folgte der Praxis von Lyft. Der Unter- schied bestand darin, dass Uber noch aggressiver und konsequenter im Auf- bau des eigenen Geschäftsmodells vorging, als es Lyft jemals getan hat. Die Frage, die sich nun stellt, um diese Vorgänge zu bewerten, lautet: War sich Uber der Tatsache bewusst, dass mit dem eigenen Geschäftsmodell ge- gen rechtliche Regelungen verstoßen wird? Benjamin Edelman, ein in Harvard lehrender Jurist und Ökonom, belegt in seiner Arbeit, dass Uber die Illegalität des eigenen Handelns nicht nur be- wusst war, sondern dass sie auch offen im Zuge interner Kommunikation thematisiert wurde. Die Illegalität des eigenen Handels wurde sogar als 80 Ethik Vorteil verstanden. Aufwändige Prüfungen für die lenkende Person, geson- derte Registrierungen, die Taxiautos verlangen, Unternehmensversicherun- gen, die verschärften Inspektionen für Fahrzeuge, die zur kommerziellen Be- förderung von Passagieren genutzt werden, all das konnte Uber umgehen. Die Ignoranz gegenüber verbindlichen Standards erlaubte im Preiskampf mit bestehenden Unternehmen, die gängigen Tarife zu unterbieten. Der Rechts- bruch führte zu strategischen Vorteilen im Wettbewerb. Der US-amerikanische Ökonom Peter Drucker hielt für Organisationen und Unternehmen eine entscheidende Wahrheit fest: „Cultur eats strategy for breakfast.“ Die Kultur, die in einem Unternehmen oder einer Organisation gepflegt wird, ist also die entscheidende Richtgröße, um Verhaltensnormen zu definieren. Werden Strategien definiert, die im Gegensatz zur Kultur ste- hen, gilt es als sicher, dass ihnen wenig Erfolg beschieden sein wird. Die Kul- tur repräsentiert gemäß dieser Auffassung das kollektive Selbstverständnis einer Organisation. Bei Uber war und ist diese Verständnisgrundlage des ei- genen Tuns davon grundlegend mitbestimmt, dass die eigene Geschäftstä- tigkeit sich in der Illegalität bewegt. Benjamin Edelman fast seine Forschung über Uber in knappen Sätzen zusammen: Darüber hinaus konzentrierten sich Ubers ausgeprägtesten Fähigkeiten auf die Verteidigung der Rechtswidrigkeit. U- ber baute Personal, Verfahren und Softwaresysteme auf, deren Zweck es war, Passagiere und Fahrer zu befähigen und zu mobilisieren, Regulatoren und Gesetzgeber zu be- einflussen – eine politische Katastrophe für jeden, der U- bers Ansatz in Frage stellte. Die Phalanx der Anwälte des Unternehmens brachte Argumente [in unterschiedlichen Gerichtsverfahren und Anhörungen, Anm.] vor, die aus früheren Streitigkeiten perfektioniert wurden, während jede Gerichtsbarkeit Uber unabhängig und von einer leeren Tafel aus ansprach, meist mit einem bescheidenen Prozess- team. Uber-Publizisten präsentierten das Unternehmen als Inbegriff von Innovation und stilisierten Kritiker zu etablier- ten Marionetten, die in der Vergangenheit stecken geblie- ben waren. 34 Die Intention der Geschäftsstrategie baut auf einer stringenten Logik auf: Das Geschäftsmodell steht zwar geltenden Regularien entgegen, ignoriert und bricht diese, aber der Rechtsbruch selbst gilt insofern als 34 Edelman, 2017 81 Ethik vernachlässigenswert, als Regulatoren und öffentlichen Autoritäten eine ge- ballte und erprobte Verteidigung entgegengehalten wird. Neben diesem wirkmächtigen Vorgehen vervollständigt sich die Vorgehens- weise um eine zweite Erfahrung: Kunden selbst beginnen die Dienste wert- zuschätzen. Die illegale oder dubiose Geschäftspraxis erfährt Popularität, weil eine wachsende Anzahl an Personen, die Services zu nutzen beginnen. Jene Behörden, die also die Achtung von Gesetzen einfordern, sehen sich plötzlich nicht nur einem erfolgreichen Konzern gegenüber, sondern sie er- leben auch Widerspruch seitens einer partikularen Öffentlichkeit, die sich mittlerweile an die angebotenen Dienstleistungen gewöhnt hat und in Zu- kunft nicht mehr darauf verzichten möchte. Aus dieser Position der populä- ren Stärke agiert das Unternehmen dann gegen öffentliche Regulatoren, diese wiederum werden dafür angegriffen, dass sie bestehendem Recht Gel- tung verschaffen. Disruption meint im Falle von Uber, ein Geschäftsmodell zu initiieren, das faktisch bewusst gegen Gesetze verstößt und diesen praktizierten Unterneh- mensgeist als disruptive Avantgarde sowohl in der internen wie externen Kommunikation darstellt. Je größer der erzielte Erfolg, als umso unwahr- scheinlicher wird es in strategischer Folge erachtet, dass die Regulatoren nicht darauf hinwirken könnten, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen und die Geschäftstätigkeiten einschränken oder gar einstellen würden. Disruption wird häufig als Synonym für kreatives, gewagtes, innovatives, vielversprechendes Unternehmertum verstanden. Der Fall Uber zeigt, wie verwegen die faktischen Hintergründe jedoch auch sein können. Wenn das Merksatz Prinzip von Disruption zur Ideologie verkommt, die nicht mehr hinterfragt wird, lassen sich selbst zweifelhafte und illegale Maßnahmen legitimieren und die Effektivität vernünftiger Regulierungen unterminieren. Uber ist in diesem Fall Symbol für ein ideelles Phänomen. Vor diesem Verständnishintergrund lassen sich vermutlich bereits die nächs- ten Schritte antizipieren, die das Unternehmen perspektivisch setzen wird. Uber ist weitestgehend ein defizitäres Unternehmen. Im Jahr 2016 wurde ein Bilanzverlust von drei Milliarden Dollar ausgewiesen. Nur in einigen we- nigen Städten konnte ein operativer Profit erwirtschaftet werden. Markt- analysten sagen, dass die Geschäftstätigkeit von Uber nur dann Gewinn er- zielen könnte, wenn sich die technologische Entwicklung des autonomen Fahrens in naher Zukunft realisieren ließe. Nur durch eine veränderte Kos- tenstruktur, die mittels Einsatzes dieser Technologie wirksam werden würde, ließe sich Profitabilität bei Uber erwirken und der Fahrpreis um 80 % 82 Ethik senken. 35 Weil es die Nutzung dieser Technologie benötigt, um eine profi- table Existenz des Unternehmens zu sichern, lässt sich unter Kenntnisnahme vergangener Verhaltensweisen vermuten, dass der Konzern illegale Praxis auch dann einsetzen wird, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen für das autonome Fahren noch vage oder ungenügend erscheinen. Auch im Hinblick auf einen anderen Trend wird Uber als disruptive Macht erachtet: Es handelt sich dabei um die Transformation der Arbeitswelt, noch bevor die absehbaren Konsequenzen des autonomen Fahrens schlagend werden. Der praktizierte Ansatz besagt, dass jede Person faktisch ungebun- den ins Mobilitätsgeschäft einsteigen kann und sei es auch nur, um Fahrten anderen anzubieten, die sowieso absolviert werden müssen. Diese Form der Flexibilität soll es sowohl Anbieterinnen als aus Nutzerinnen von Diensten flexibel erlauben, vorhandene Ressourcen effektiv zu teilen – im Falle von Uber wären das nun die Zeitressource, ein Vehikel, Geld oder Wege, die zu bewältigen wären. Bei Airbnb, das den Nächtigungsmarkt umkrempelt und eine ähnliche disruptive Strategie in Europa wie Uber verfolgt, wären es dann Wohnraum, Geld und Übernachtungsmöglichkeit. Beide Unternehmen, wie unzählige andere auch, betrachten sich als reine Plattformen. Ihrem Argument nach agieren sie als schlichte Vermittler von Dienstleistungen. Das geschieht deshalb, weil sie sonst, wenn sie wie andere Branchenreisen erschienen, anderen Branchenregulierungen Folge leisten müssten und in den USA andere Steuertarife wirksam wären. Entscheidend wirkt es, den Erfolg dieser Plattformen auch vor dem Hinter- grund sozialer Entwicklungen zu sehen. Bereits in Kapitel 4 dieser Lehrver- anstaltung wurde dargestellt, wie im Verlauf des letzten Jahrzehnts der so- ziale Ausgleich abgenommen hat, Lohneinkommen gegenüber Kapitalerträ- gen markant zurückgehen. Diese gesellschaftliche Disparität verstärkte zwei- fellos die erwiesenen Erfolgspotenziale der Plattformen: Airbnb bietet als willkommener Service viele Vorteile. Es flexibilisiert Reisen und modernes Wohnen, setzt gerade der zyklischen Preisentwicklung im Hotelsektor bei beliebten Destinationen eine wirksame Kraft im Interesse der Touristen ent- gegen. Doch sollte diese Perspektive nicht übersehen, dass für viele Airbnb schlicht eine notwendige Lösung dafür darstellt, mit stagnierenden Löhnen und steigenden Mietpreisen in Ballungszentren umzugehen. Wenn ein Zim- mer nicht aus freien Stücken vermietet wird, sondern deshalb, weil sonst die Kosten für die eigene Wohnung nicht mehr bestritten werden können, dann zeigt sich ein ganz anderes Bild: Soziale Schieflagen und verschobene politi- sche Machtverhältnisse würden nicht mehr als gesellschaftliche Unzuläng- lichkeiten erkannt, die offen diskutiert werden sollten, sondern schlicht als 35 Coren, 2018 83 Ethik eine unternehmerische Chance genutzt, der disruptiv entgegengewirkt wer- den muss. Darin besteht die Kommerzialisierung aller gesellschaftlichen Her- ausforderungen in Form einer Business-Opportunity und die Entpolitisierung sozialer Schieflagen. Der Erfolg von Plattformen zeigt sich beispielsweise in den USA gerade darin, „angesichts stagnierender Einkommen und einer Beschrän- kung der Konsumentenkredite nach erschwinglichen Mög- lichkeiten zu suchen. Die Reallöhne der amerikanischen Ar- beiter sind seit 1979 niedrig. Ein beträchtlicher Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die Auslage- rung der Produktion im Rahmen der Globalisierung und die Verringerung des Anteils der Arbeitseinkommen sind Fak- toren, die zu dieser Stagnation beigetragen haben. [Weiters, Anm.] […] gibt es ein auf Abruf verfügbares Ar- beitskräftepotential. In Amerika sind 37 Prozent der arbei- tenden Bevölkerung, also 92 Millionen Menschen, ohne dauerhafte Beschäftigung und scheinen die Suche nach Vollzeitjobs aufgegeben zu haben. Daneben gibt es viele andere, die von einem einzigen Job nicht leben können.“ 36 Die vermeintliche Flexibilität, die Plattformen bieten – oft auch Plattform- Ökonomie genannt - werden vor diesem Erklärungshintergrund zu einer Ökonomisierung des Umgangs mit gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Sharing Economy hätte zweifellos das Potenzial, unsere Gesellschaften nach- haltiger, ressourceneffizienter, egalitärer, flexibler, wohlhabender zu ma- chen. Die Idee würde auch mit der gelebten Einstellung von Personengrup- pen oder Generationen korrespondieren, die es für ein einleuchtendes Kon- zept halten, dass Gegenstände nicht unbedingt als Besitz benötigt werden, nur um sie zu brauchen. Doch markiert es einen bedeutsamen Unterschied, ob diese Entscheidung aus überlegten und freiwilligen Motiven heraus ge- schieht oder ob sie ein Anzeichen wachsender Bedrängnis ist. Vermietet jemand sein Gästezimmer, um mit Leuten aus aller Welt in Kon- takt zu kommen, einladend in der eigenen Stadt zu wirken, ein flexibles Zu- satzeinkommen nach Wunsch zu generieren, dann stellt sich die Situation radikal anders da, als wenn jemand den Schlafplatz deshalb regelmäßig an- bietet, weil sonst die eigenen Wohnkosten nicht mehr bestritten werden können. Die eine Entscheidung bildet eine Wahl in Freiheit, die andere wäre 36 Zuboff, 2015 84 Ethik Ausdruck einer objektiven Notwendigkeit und damit Gängelung der Unfrei- heit. Der weißrussische Publizist Evgeny Morozov definiert den Wesenszug, jede gesellschaftliche Schieflage vor allem als ein potenzielles Anwendungsfeld wirksamer Technologie zu erachten, als Solutionismus. Solutionismus meint dabei die ideologische Auffassung, dass allen existie- renden Problemen eine klar definierbare und eindeutige technologische Lö- sung zugedacht werden kann 37. Merksatz Dieser Ansatz verkennt, dass manche gesellschaftlichen Mechanismen schlicht vermeintliche und merkliche Ineffizienzen begründen. Nicht alle Phänomene, die schwerfällig wirken, können sinnvoll beschleunigt werden. Die Verfahrensweisen demokratischer Institutionen sind beispielsweise be- wusst auf Ausgleich und damit Verzögerung angelegt. Um es übertrieben, aber eindrücklich zu formulieren: Wenn Schnelligkeit also zum einzigen Ge- bot wird, dann macht die zweite und dritte Lesung eines Gesetzes in parla- mentarischen Kammern keinen Sinn. Insofern erscheint es wichtig, anzuer- kennen, warum manche Verfahren schlicht ihre eigene Logik durchlaufen und manche Ineffizienz durchaus ihre Berechtigung hätte und Bedeutung er- fährt. Das soll nun nicht dahin führen, dass alle existierenden Prozesse sich damit immunisieren lassen, dass sie bereits gelebte Praxis und somit erzielbares Optimum darstellen. Aber das andere Extrem liegt in dem technophilen An- satz des Solutionismus, dass sich alles radikal aufgrund von Technologie er- neuern muss, weil beispielsweise jede Prozessverzögerung ausgemerzt ge- hört. Warum Berufungsgerichte, wenn anhand einer Software bereits im ersten Verfahren, ein Urteil gefunden werden kann? Diese Art zu denken wäre fatal, ideologisch vernebelt und würde einen radikalen Rückbau ziviler Grundlagen unserer Gesellschaft bewirken. Wie gesagt, demokratische Ver- fahren benötigen ihre Reflexionszeit und wo Menschen gestalterisch wirken, da werden ihre Eigenarten erkenntlich. Das gilt es zu berücksichtigen. 37 Vgl. Morozov, 2013, S. 605 ff. 85

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