Ethik PDF
Document Details
Uploaded by LegendarySalmon
Tags
Summary
This document discusses the concept of digital transformation and its ethical implications; it touches upon the concept of "digitalization" and related notions. It aims to be a thoughtful analysis.
Full Transcript
Ethik 1 Einleitung Die Digitale Transformation konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellun- gen, die bereits in der Wortfolge angedeutet werden. ‚Digital‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang die fortschreitende Technolo- gisierung vermehrter Lebensräume. Als einfaches Schlagwort bezeichnet ‚Dig...
Ethik 1 Einleitung Die Digitale Transformation konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellun- gen, die bereits in der Wortfolge angedeutet werden. ‚Digital‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang die fortschreitende Technolo- gisierung vermehrter Lebensräume. Als einfaches Schlagwort bezeichnet ‚Digitalität‘ die Technologisierung realer Lebenswelten und Alltagserfahrun- gen. Der Begriff erfasst eine Entwicklung, die sich selbstverständlich nicht auf kommerzielles oder unternehmerisches Handeln beschränkt. Stattdes- sen verändern sich als Folgewirkung der Digitalität die allgemeinen und um- fassenden Lebensverhältnisse radikal und rasant. Was zur zweiten Dimension führt, die in der Bezeichnung ‚Digitale Transfor- mation‘ zum Ausdruck kommt. Der Ursprung des Worts Transformation fin- det sich im Lateinischen. Im Wort Transformation findet sich die Idee von Formation mitbezeichnet. Formation bedeutet in der lateinischen Wortwur- zel sinngemäß etwas zu bilden, zu gestalten, zu formen. Transformation meint dann die Umwandlung des davor Bestehenden, die Verwandlung, die Veränderung des bereits Geformten. Jede Transformation symbolisiert kon- sequenterweise den Wandel des Seienden. Transformation meint im Wort- sinn also nicht die Schaffung von Neuem, sondern die Veränderung von Vor- handenen. Digitale Transformation führt immer diese beiden Dimensionen und Bedeu- tungsstränge zusammen, die sich wirkungsvoll verknüpfen. Digitalität ver- antwortet Veränderung und zeitgemäßer Wandel denkt sich immer digital. Die wahrnehmbaren Folgen dieser Verbindung gehen nun über den Bedeu- tungsrahmen hinaus, der für strategische Organisationsentscheidungen al- lein relevant erschienen. Oder anspruchsvoller gedacht: Nur wer die gesell- schaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung konzeptionell zu begreifen sucht, kann die Herausforderungen für die eigene Organisation angemessen erkennen. Drei Begriffsdefinitionen lassen sich unterscheiden: Digitalisierung meint schlicht den Vorgang, Informationen in Bits und Bytes Merksatz abzulegen, damit sie von Computern gelesen werden. Digitalität meint die Technologisierung unserer Lebenswelt. Digitale Transformation bezeichnet die unternehmerischen, organisatori- schen und gesellschaftlichen Folgewirkungen, die durch diese breitenwirk- samen Phänomene veranlasst werden. 1 Ethik Die tiefgreifenden Umbrüche, die einer verunsicherten Gesellschaft gegen- wärtig Gestalt geben, verlangen nach vernünftiger Reflexion. Sie bedingen seitens engagierter Bürgerinnen ein Verantwortungsbewusstsein und Inte- resse an der Materie, die über den nur scheinbar begrenzten Bezugspunkt des eigenen Tätigkeitsbereichs hinausreichen. Wesen und Ausmaß der digi- talen Transformation begründen neue Seins- und Wesensformen der Gesell- schaft an sich. Die Veränderung aktiv zu gestalten, ihre Wirkweise verständ- nisvoll zu erfassen, um Chancen und Risiken zu ermessen, das bildet den es- senziellen Auftrag an jene Personen, die tätig an der Zukunft wirken. Es leitet ein grundsätzliches Verständnis: Fortschritt bündelt sich nicht in ei- nem Gesamtpaket. Technologischer Fortschritt, der sich so umfassend ab- zeichnet, übersetzt sich weder zwangsweise noch notwendigerweise in po- litischen oder gesellschaftlichen Fortschritt. Vielmehr bedarf es einer gewis- sen Art von Übersetzungsleistung und eines unabhängigen Engagements in allen Bereichen, damit technologischer Progress zur gesellschaftlichen Wei- terentwicklung führt. Die Philosophie des aufgeklärten Konservatismus basiert auf der Überzeu- gung, dass nicht jede Veränderung an sich immer Fortschritt bedeuten muss. Progressives Denken hingegen sieht in der Zukunft immer ein Versprechen, dass sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit überflügeln wird – allein schon weil die Zukunft jener zeitliche Horizont ist, der das Resultat eigenen Engagements ausmacht. Beide Positionen, die aus der Einsicht in historische Verläufe und Erfahrungen geboren wurden, können dem Nachdenken über die gesellschaftlichen Umbrüche im Rahmen der digitalen Transformation Orientierung liefern. Denn es gilt von den Chancen mutig Gebrauch zu machen, ohne auf naive Weise die vorhandenen Risiken zu ignorieren, zu übertünchen oder zu ver- nachlässigen. Vor allem darf das Bewusstsein und die Überzeugung leiten, dass die digitale Transformation vielversprechende Potenziale für eine bes- sere Zukunft in sich trägt, wenn ihre vorhandenen Schattenseiten aufrichtig erkannt werden – und Personen mit aufgeklärtem Geist und abgeklärtem Verantwortungsbewusstsein sich sinnvoll dafür einsetzen, dass greifbare Verbesserung realisiert wird. Dieses Skriptum beabsichtigt diesbezüglich keine abschließenden oder ganz- heitlichen Antworten zu liefern. Es möchte vielmehr und stattdessen Denk- anstöße aufzeigen, welche Herausforderungen sich aus ethischer Perspek- tive nachweislich aufdrängen und wie diese im Geiste humanen Denkens an- gegangen werden können. Im Zuge einer Lehrveranstaltung, die Inhalte wie diese zu vermitteln beab- sichtigt, lässt sich keine Trennschärfe zwischen wissenschaftlicher 2 Ethik Objektivität und persönlicher Präferenz ziehen. Allein die Auswahl der The- men aus einer Fülle von Themenvarianten spiegelt individuelle Gewichtun- gen selbst dann ab, wenn die allgemeine Relevanz den eigentlichen Maßstab bilden soll. Die Deskription solcher Sachverhalte vermittelt immer eine nor- mative Position mit – die Beschreibung von brisanten Sachlagen transpor- tiert eine immanente Werthaltung. Die wissenschaftliche Belastbarkeit der Argumente wird durch Datenmate- rial garantiert. Quellen werden dabei nachvollziehbar offengelegt, wie es der Standard wissenschaftlicher Verfahren verlangt. Die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, müssen jedoch nicht unbedingt geteilt werden. Eine wich- tige Unterscheidung: Über statistisches Material kann es keinen Zweifel ge- ben, es beschreibt die Quantifizierung von objektivierbaren Sachverhalten. Die Rückschlüsse hingegen, die auf dieser Grundlage getroffen werden, ver- suchen sich im logischen Denken und müssen jedoch nicht zwangsweise gut- geheißen werden. Es gilt sinngemäß die Wahrheit, die der US-Senator Daniel Patrick Moynihan einst ausgesprochen hat: „Jeder ist berechtigt, seine ei- gene Meinung zu haben. Keiner ist berechtigt seine eigenen Fakten zu erfin- den.“ Erkenntnis wächst durch Widerspruch und Diskussion. Fakten bilden dafür die unerlässliche Grundlage, sofern der Diskurs den Mindestanspruch aufge- klärter Vernunft verfolgt. Eine Anregung für einen faktensatten und zivilen Diskurs über gesellschaftliche Zukunftsthemen soll diese Lehrveranstaltung liefern, darin besteht ihr Zweck. 1.1 Rekapitulation: Der Begriff Ethik Die Lehrveranstaltung Ethik baut als besondere Voraussetzung auf den in- haltlichen Grundlagen auf, die bereits in der Lehrveranstaltung Gesellschaft- liche, soziale und ökologische Verantwortung vermittelt wurden. Dort wurden einführend die Grundlagen erklärt, was als Ethik faktisch zu ver- stehen sei. An dieser Stelle kann deshalb eine prägnante Rekapitulation ge- nügen, um zu erinnern, was Ethik eigentlich meint. Eine historische Perspek- tive kann helfen: Den ersten Versuch, ein konzises Verständnis von Ethik zu systematisieren, unternimmt der griechische Philosoph Aristoteles. Seine wichtigste Studie zum Thema markiert das Werk Nikomachische Ethik. Aristoteles widmet den bedeutsamen Text seinem Sohn Nikomachos - daher der ungewöhnliche Name. Die Darstellung lässt sich als Handreichung des Vaters an den Sohn betrachten, wie gut zu wirken sei. 3 Ethik Was erachtet Aristoteles als richtiges Tun? Seiner Meinung nach findet es sich immer dort, wo Tugend anzutreffen sei. Tugend repräsentiert, so seine Analyse, immer den Ausgleich zweier Laster. Sie steht mittig zwischen Über- maß und Mangel. Tugend findet sich beispielsweise zwischen den Extremen Verschwendung und Geiz. Sie sitzt dort, wo wir auf Freigiebigkeit treffen. Sie bildet das Zentrum zwischen Schmeichelei und Streitsucht, wird dort ent- deckt, wo Freundlichkeit herrscht. Ethisches Handeln besteht nach Auffas- sung von Aristoteles im Ausgleich zweier Gegenpole, in der Mäßigung, in der Unterlassung des absolut Machbaren. Die Erkenntnis zeigt bereits ein Prinzip, das für die nachfolgenden Diskussi- onsgegenstände relevant erscheint. Um den Gesichtspunkt umzumünzen: Nicht alles was (technologisch) machbar wäre, sollte getan werden. Ein ähn- licher Ansatz regelt, vergleichsweise den Umgang unserer Zivilisation mit Atomwaffen. Die internationale Gemeinschaft würde über die Handlungsop- tion der atomaren Apokalypse verfügen, ohne bisher von ihr Gebrauch zu machen. Eine klare, vernünftige, freiwillige, ethische Selbstbeschränkung unserer technologischen Möglichkeiten wird hier abgesichert durch interna- tionale Verträge und eine transnationale Institution. Um ethisch zu handeln, verlangt es nach den Grundsätzen von Aristoteles, also Vernunft und Erkenntnis. Nur durch reflektiertes Begreifen lässt sich das eigene Verhalten gestalten und zur balancierenden Mitte hin orientieren. Bei all dem lässt Aristoteles über eine Einschätzung keinen Zweifel: Ethik bil- det seiner Meinung nach den einzigen Weg, ein guter Mensch zu werden, um ein glückliches Leben zu führen. Seit der griechischen Antike gilt nun auch das Verständnis, dass Ethik eine bewusste Entscheidung voraussetzt und sich von unethischen Handlungen abgrenzen lässt. Das Mittelalter befördert anschließend ein anderes Konzept im Verständnis der Ethik. Es gilt in dieser Epoche, das Leben auf die Gefälligkeit Gottes hin auszurichten. Ethisch handelt, wer durch sich selbst die Werke Gottes voll- bringt. Ethisch agiert, wer sich selbst zum Werkzeug eines göttlichen Prinzips macht, als Instrument einer höheren Instanz arbeitet, finale Rechenschaft ablegen wird. Auch dieser Zugang zur Ethik basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch eigene Entscheidungen trifft, doch agiert er nicht im Namen seiner selbst, sondern hinsichtlich göttlicher Wirkung. Von dieser Ausgangsposition kommt schließlich die Aufklärung ab. Sie er- kennt im Menschen ein autonomes Wesen, das über ein wahrnehmbares Bewusstsein für einen sittlichen Kodex verfügt. Das Motiv, ethisch zu 4 Ethik handeln, existiert, weil der Mensch mit Würde ausgestattet ist, weil wir Rechte und Pflichten haben, die uns zu richtigem Verhalten anleiten, weil wir auf Grundlage von Freiheit entscheiden. Wir agieren ethisch, weil auf diese Weise der eigenen und der universellen Würde des Anderen entspro- chen wird. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat uns genau diesen Zusammen- hang bewusst gemacht. Er hat als Erster entdeckt und begriffen, dass wir ethisch handeln sollen, um der universellen Würde des Menschen zu ent- sprechen. Wenn wir ethisch handeln, dann geschieht dies aus freien Stü- cken, weil wir mit Vernunft ausgestattet sind, die uns richtiges Verhalten er- kennen lässt. Zusammenfassend: Wir können ethisch handeln, weil uns Vernunft leitet, und wir sollten ethisch handeln, um der Würde des Menschen zu entspre- chen. Beides lässt sich begreifen, weil wir als Menschen über die Fähigkeit Zusammenfassung der Erkenntnis verfügen. Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet, wie sich ethisches Handeln ergrün- den lässt. Was gibt den entscheidenden Hinweis darauf? Für Immanuel Kant lässt sich der moralische Wert einer Handlung ermessen, wenn die Intention bewertet wird, die eine Handlung veranlasst. Immanuel Kant schreibt in sei- ner Abhandlung Metapyhsik der Sitten: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet [...] sondern allein durch das Wollen [...] an sich gut [...].“ 1 Ethisch verhalten sich Menschen dann, wenn die Motive, die eine Handlung veranlassen, lauter wären. Nur die Intentionen, die anstoßen, geben Aufschluss über den moralischen Wert von Taten. Da Entscheidungen in Handlungsmotiven gründen, müssen diese Handlungsmotive allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen, um ethisch zu sein. Nur wenn universellen Prinzipen genügt wird, wird richtigen Veranlassungen gefolgt. Immanuel Kant geht in seinem Argument so weit, dass er keine Ausnahme von der Re- gel akzeptiert. Sein Rigorismus wird von Kritikern durch ein exemplarisches Beispiel heraus- gefordert: Angenommen ein Freund verstecke sich im eigenen Haus, weil er vor einem Mörder flieht. Der Mörder klopft an die Tür und fragt, ob man wisse, wo sich der Freund aufhalte. In diesem Fall wäre es doch zweifellos eine ethische Handlung, den Mörder zu belügen und von der Vorgabe, die Unwahrheit zu verpönen, abzuweichen. Immanuel Kant verneint. Er behauptet, es brauche moralische Bedingungs- losigkeit. Kein Ausnahmefall kann es erlauben, von grundsätzlichen Devisen 1 Kant, 2018 5 Ethik abzuweichen. Wird nur in einem einzigen Fall die Lüge als legitim erachtet, dann verabschieden wir uns von unumstößlichen Standpunkten und wissen in Folge nicht mehr, wann gelogen und wann die Wahrheit gesagt wird. Da die Essenz der Ethik im Grundmotiv des Vorgehens zu eruieren sei, wirken keine Abweichungen von diesem Prinzip zulässig oder begründbar. Nachvollziehbar, dass sich in der philosophischen Auseinandersetzung ab- weichende Haltungen von der Position Immanuel Kants finden. Einen mas- siven Widerspruch formuliert der Konsequentialismus. Die Idee besagt: Der moralische Wert einer Handlung bemisst sich nicht nach der Intention, son- dern der Konsequenz einer Tat. Die Wirkung und nicht der Ausgangspunkt müssen Entscheidungskriterium sein, um zu ermessen, ob ethisch gehandelt wird. Ethik wird durch einen Duopol bestimmt. Intentionalismus steht der Überzeugung des Konsequentialismus entgegen, wie im Skriptum zur Lehr- veranstaltung Gesellschaftliche, soziale und ökologische Verantwortung ausführlicher dokumentiert ist. Fassen wir den Unterschied der Ansätze anhand von zwei illustrativen Bei- spielen zusammen: Beispiel Angenommen wir wären Chirurginnen in der Notaufnahme eines Kranken- hauses und es kommt zu einem tragischen Autounfall. Fünf schwer verletzte Personen werden ins Spital gebracht. Eine Person erleidet extrem tragische Verletzungen, sie zu operieren würde den ganzen Tag in Anspruch nehmen und die anderen vier Personen würden, während wir operieren, mit Sicher- heit ihr Leben verlieren. Oder aber wir operieren die anderen vier Personen und akzeptieren, dass wir damit die eine Person sterben lassen. Wie würde man entscheiden? Nun verändern sich die Bedingungen. Jemand arbeitet als Transplantations- chirurgin, ein kerngesunder Patient kommt im Nachbarzimmer zum regel- mäßigen Check-up und schläft dort auf der Bank für ein kurzes Nickerchen ein. Die Transplantationschirurgin sorgt sich in diesem Moment um vier Ver- letze des Autounfalls, die dringend eine Organspende brauchen, weil ihr Zu- stand äußerst kritisch ist und sich zusehends verschlechtert. Nun ließe sich, da sich eine Person im Tiefschlaf befindet, Nutzen daraus ziehen. Der Person ließe sich Herz, Lunge, Leber, Niere entwenden, um sie den anderen Patien- ten zu implantieren. Der Tod einer Person wird in Kauf genommen, um das Leben von den anderen vier zu retten. Übung: Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, die eigene Position zu ordnen. Wie Übung 6 Ethik würden Sie entscheiden, wenn Sie ihren eigenen ethischen Überzeugungen folgen wollen? Wie entscheiden sich andere im Vergleich, wenn sie ihren ethischen Über- zeugungen folgen? Erfahrungen zeigen ein eindeutiges, aber kein einstimmi- ges Bild. Im ersten Fall tendiert eine Mehrheit befragter Personen dazu, die vier ver- letzten Personen zu operieren und zu akzeptieren, dass die tragisch schwer- verletzte Person sterben würde. Im zweiten Beispiel hingegen nimmt die Mehrheit der Personen davon Ab- stand, dem kerngesunden Menschen die Organe zu entwenden, um das Le- ben der anderen vier zu retten. Wie lässt sich im analytischen Rahmen dieser Unterschied reflektieren? Im ersten Beispiel stehen die tatsächlichen Konsequenzen der Entscheidung im Vordergrund. Das eigene Handeln wird durch die Rettung der vier begrün- det. Im zweiten Fall leiten andere moralische Prinzipien, die kategorisch gelten und als Begründung vorab Entscheidungen anstoßen. Man müsste bereit sein, den Tod eines anderen Menschen willentlich herbeizuführen, um vier andere zu retten. Vor der Handlung wird zurückgeschreckt, weil sie einen Entschluss voraussetzt, der als unethisch betrachten wird. Im dem einen Fall motiviert die Konsequenz, in der anderen Situation führt die anfängliche Intention. Intentionalismus und Konsequentialismus bilden also keine unumstößlichen Direktiven, sondern sie begründen Verhalten si- tuationsabhängig und haben beide ihre Berechtigung. Wo treffen ähnliche Zusammenhänge abseits der theoretischen Überlegung auf? Das deutsche Innenministerium hat vor einigen Jahren einen Gesetzesent- wurf vorbereitet, der vorsieht, dass entführte Passagiermaschinen abge- schossen werden dürfen, wenn davon auszugehen ist, dass ein Flugzeug als terroristische Waffe gegen von Menschen frequentierte Einrichtungen ge- steuert wird. Der Bundestag hat das Gesetz verabschiedet, das Bundesver- fassungsgericht es jedoch für nichtig erklärt. Aufgrund der Würde des Men- schen, die als Grundprinzip im deutschen Grundgesetz verankert ist, kann nicht Menschenleben mit Menschenleben aufgerechnet werden. Das Bun- desinnenministerium reflektierte also auf einer konsequentialistischen 7 Ethik Basis, indem es mathematisch kalkuliert. Es muss der Tod von Menschen herbeigeführt werden, um andere Menschen zu retten. Das Bundesverfas- sungsgericht hält eine intentionalistische dagegen, indem es argumentiert, Menschenleben lässt sich nicht gegen Menschenleben subtrahieren. So funktioniert unser Verständnis von Würde nicht. Die Idee von menschlicher Würde wäre laut Grundgesetz kein mathematisches Modell, sondern Würde wäre immer unteilbar und ihre Bewahrung muss oberstes Prinzip staatlichen Handelns sein. Das Massachusetts Institute of Technology führt aktuell eine großangelegte Studie online durch, an der sich jeder ohne Vorbedingung beteiligen kann. Die Untersuchung möchte querschnittsartig herausfinden, was beispiels- weise von selbstfahrenden Autos erwartet wird, wenn es zu brenzligen Situ- ationen kommt. Wie soll ethisch entschieden werden? Das ganze Model baut auf einem konsequentialistischen Fundament auf. Das Experiment ver- handelt ähnliche Fragen, wie die oben gestellte. Gerade bei der Fragestellung hinsichtlich des gewünschten Verhaltens von autonomen Vehikeln zeigt sich die Komplexität der Fragestellung, wie mit autonomisierten Entscheidungen umzugehen wäre. Um ein Beispiel direkt aus dem Fragebogen zu entwenden, der vom Massachusetts Institute of Technology konzipiert wurde, sei folgende Situation dargestellt: Ein selbstfahrendes Auto kann einen Zusammenprall mit tödlichem Ausgang nicht abwenden. Es stehen nun zwei Optionen offen. Entweder rammt das Auto einen Block, der mitten auf der Straße steht und die Insassin verliert das Leben, oder das Auto wechselt intentional die Fahrspur, um dem Block auszuweichen, überfährt jedoch einen Fußgänger, der die Straße auf dem Zebrastreifen überquert. 8 Ethik What should the self-driving car do? Show Description Show Description Abbildung 1: Beispiel des Moral Machine Fragebogens 2 Die Situation impliziert faktisch mehrere zentrale Herausforderungen. Neben der vordringlichen Entscheidung, ob die Fahrspur gewechselt werden soll oder nicht, stellt sich auch die Frage, wer dies festlegen darf. Sollen Ge- sellschaften in Form eines gesetzlichen Regelwerks beschließen, wie ein au- tonomes Fahrzeug in diesem Fall zu reagieren hat? Braucht es also gesetzli- che Bestimmungen? Wenn ja, dann müssen konsequenterweise nationale Parlamente darüber befinden und verbindliche Entscheidungen treffen. Das könnte bedeuten, dass bei einer knapp vierstündigen Fahrt von Wilna nach Riga auf litauischem Gebiet andere Regelwerke gelten könnten als in Lett- land. Also braucht es eher internationale Standards. Oder wird es den Autoherstellern selbst überlassen, als Unternehmen, ei- genständige Festlegungen über das Verhalten ihres Autos zu treffen und diese dann zu bewerben? Wie würden dann Autokäufer darauf reagieren, dass bei einem Hersteller die Insassen, bei anderen die Fußgänger geschützt würden? Wird das plötzlich zum Wesensgehalt der Kaufentscheidung? Oder aber wird den Konsumenten die Entscheidung autonom anheimge- stellt? Wird heute beim Autokauf beispielsweise darüber befunden, welche Innenausstattung gefällt, dann könnte zukünftig beim Erwerb eines Autos die individualisierte Ausführung so wählbar sein, dass die Fahrzeughalter 2 Quelle: http://moralmachine.mit.edu/ 9 Ethik darüber bestimmen, wie ihr Wagen in einer kritischen Situation weiterver- fahren würde. Würde sich die Einschätzung ändern, wenn die Besitzerinnen eines Fahrzeugs beispielsweise als Eltern das Kleinkind mit dem Auto zum Kindergarten bringen? Wie steht es im Falle von Haftbarkeiten bei selbstverschuldeten Unfällen? Wer trägt dann die Verantwortung – die Fahrenden, die Herstellenden, die Programmierenden? Es zeigt sich, welche komplexe Folgewirkungen ethische Fragestellungen un- ter technologischen Zukunftsbedingungen annehmen. Übung: Nehmen Sie sich bitte die Zeit, um den Moral Machine Test zu absolvieren: Wie soll Ihrer persönlichen Auffassung nach, ein autonom fahrendes Auto Übung entscheiden? http://moralmachine.mit.edu/ Das System des autonomen Fahrens zeigt einen weiteren Entwicklungs- schritt. Beim regulären Autoverkehr treffen bisher Individuen eigenständige Entscheidungen. Diese Organisationsgrundlage wird durch die Wirkweise von autonom agierenden Fahrzeugen vollkommen überholt. Anstatt der Entscheidungen von Individuen, auf denen das System heute beruht, trans- formiert sich der Personenverkehr zu einem selbstständig denkenden und organisierenden Gesamtsystem, operierend mit permanentem Datenaus- tausch. Die digitale Transformation begründet auch hier einen systemischen Wandel. Während bisher Einzelpersonen, die hinter dem Lenkrad saßen, Informatio- nen durch Sinneseindrücke aufgenommen, kognitiv verarbeitet und dem- entsprechende Entscheidungen getroffen haben, wird durch vernetzte Tech- nologie ein verknüpftes Netz zwischen selbstständig agierenden Maschinen in einem sich selbst denkenden Gesamtsystem etabliert. Vernetzung und Datenverarbeitung ermöglichen es in diesem Zusammenhang, separierte Einzelentscheidungen zugunsten eines abstrahierten und algorithmisch kal- kulierbaren Gesamtinteresses aufzulösen. Technologie befähigt folglich dazu, disparate Informationen in der Form zu aggregieren, dass sie der Ent- scheidungsgrundlage für maschinelle Aktionen im kollektiven Interesse die- nen. Die Welt operiert systemischer, weil mehr Daten aufgezeichnet und diese durch Algorithmen ausgewertet werden. Das ist ein ganz anderes Prin- zip, als wenn Einzelpersonen aufgefordert sind, eigenständige Entschlüsse im fließenden Straßenverkehr zu treffen. Diese Betrachtungsweise führt schließlich auch zum spezifischen Gegen- stand des Exzerpts zurück. 10 Ethik Ethik begrenzte bisher immer einen humanen Begriff, ausschließlich einge- grenzt auf den Menschen. Es erschiene sinnlos, das Benehmen eines Fisches, Hunds, einer Schnecke, eines Bleistifts, Zebrastreifens oder Autoradios als sittlich zu betrachten. Diese Festlegung basiert auf dem Standpunkt, dass die kognitiven Fähigkeiten, die es zur Reflexion voraussetzt, nur dem Menschen eignen. Gegenwärtig sehen wir uns mit einem gravierenden Sprung in der Debatte konfrontiert. Eine Überlegung, die seit ihrem Beginn vor ungefähr 2400 Jah- ren im antiken Griechenland immer auf den Menschen konzentriert, wird nun womöglich auf eine andere Intelligenz ausgeweitet: Die Technologie. Dabei scheint bezeichnend, dass Technologie eine Form von Intelligenz ma- nifestiert, die ohne Bewusstsein agieren kann. Bisher waren Bewusstsein und Intelligenz gekoppelt und immanent verbunden. Nun entsteht eine Art von technologischer Intelligenz, die es versteht, ohne Bewusstsein zu ope- rieren. Dieser monumentale Bruch mag einer der zentralen Gründe dafür sein, warum es aktuell so schwierig zu begreifen scheint, welche Verände- rung der Menschheit hier gerade durch eigene Gestaltung widerfährt. Wie damit umgehen? Wie lässt sich die Idee der Selbstbestimmung und in- dividueller Entscheidungsfreiheit in Zeiten prognostizierter und kalkulierter Verhaltensweisen verteidigen? Wie wirkt Freiheit, die es für ein Konzept von Ethik braucht, im digitalen Zeitalter? Diese Fragestellungen sollen systema- tisch untersucht werden. Welche Themenschwerpunkte dafür gewählt wer- den, erklärt das nächste Kapitel. 1.2 Inhaltliche Themensetzung der Lehrveranstaltung Fragestellungen zur Informationsethik kennen keine letzten Rückschlüsse. Nicht nur weil das Prinzip von Ethik keine Eindeutigkeit zulässt, da hier be- reits zwischen konsequentialistischen und intentionalistischen Ansätzen entschieden werden muss, sondern weil eigenständige Untersuchungsge- genstände aufgrund ihrer Besonderheit unterschieden werden müssen. In Folge untersuchen also die anschließenden Kapitel konkrete Aspekte, die hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung im Rahmen der digitalen Transformation zu bewerten wären. Kapitel 2 bewertet die geschehenden Umbrüche vor einer historischen Ver- ständnisgrundlage, dabei dokumentiert sich vor allem eine Chronologie der permanenten Beschleunigung. Kapitel 3 unternimmt den Versuch, die technologische und ökologische De- batte zu verknüpfen. Ein gesonderter Fokus wird auf die zentrale Herausfor- derung durch die potenzielle Klimakatastrophe gelegt. Es wird die 11 Ethik Fragestellung verfolgt, wie die digitale Transformation für die Milderung der Problematik genutzt werden kann. Ökologie und die digitale Transformation bilden die zentralen gesellschaftli- chen Seinsbestimmungen und Seinsformen im 21. Jahrhundert. Merksatz Kapitel 4 überlegt, wie die soziale Schieflage, die durch moderne Produkti- onsmethoden verschärft wird, sich ausgleichen oder wenigstens angemes- sen denken ließe. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die aktuellen Differenzen bemessen, sondern die Gegenwart wird in eine historische Per- spektive gesetzt. Eine soziale Perspektive gesellschaftlicher Veränderung zeigt sich oder präziser formuliert: Es wird nachvollzogen, wie Technologie als Triebkraft sozialen Wandels auf einer sehr fundamentalen Ebene wirkt und warum staatlichen Organisationen bei diesen Fortschrittsprozessen eine zentrale Rolle zukommt. Kapitel 5 analysiert, dass technologische Entwicklungen, wie sie durch Pre- dictive Analytics erfahrbar werden, das liberale Freiheitsverständnis heraus- fordern. Kapitel 6 untersucht abschließend die Fragestellung, welche kritische Ge- sichtspunkte sich rund um die Wirkweise von disruptiven Geschäftsmodel- len identifizieren lassen. Welche legalen und legalistischen Implikationen finden sich hinter den aggressiven Geschäftsmodellen entscheidender Marktakteure und wie reagieren öffentliche Institutionen darauf? Ist Disrup- tion also weniger eine Wirkweise als vielmehr eine Ideologie? All diese unterschiedlichen Ansätze sollen zusammenwirken, um eine solide Basis dafür zu schaffen, final nochmals die gesellschaftlichen Implikationen dieses Wandels zu bestimmen. 12