Ethik - Technologie und Freiheit - PDF
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This document discusses the concept of freedom in the context of technology. The author examines issues of freedom, technology, and political implications. The analysis explores historical perspectives related to freedom with a focus on the absence of constraints.
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Ethik 5 Technologie und Freiheit – das liberale Di- lemma Der Begriff Freiheit hat eine etymologisch interessante Entwicklungsge- schichte. Das Wort stammt vom Gotischen freihals und dem Alt- bzw. Mit- telhochdeutschen frihals ab. Beide Begriffe standen für Rechtsbezeichnun- gen. Denn im Mittelal...
Ethik 5 Technologie und Freiheit – das liberale Di- lemma Der Begriff Freiheit hat eine etymologisch interessante Entwicklungsge- schichte. Das Wort stammt vom Gotischen freihals und dem Alt- bzw. Mit- telhochdeutschen frihals ab. Beide Begriffe standen für Rechtsbezeichnun- gen. Denn im Mittelalter waren Sklaven verpflichtet, Ringe um den Hals zu tragen. Das war zuerst Instrument der Unterdrückung, dann als Erkennungs- merkmal Symbol ihres Status. Wenn sie freigelassen wurden, dann legten sie diesen Ring ab. Freie waren eben durch den freien Hals gekennzeichnet. Der freie Hals war das Merkmal des freien Bürgers. Er war frei der Einschränkung und Brandmarkung, der andere unterlagen. Freiheit meint in diesem Zusam- menhang das Ablegen von äußeren Zwängen. Die Wortwurzel zeigt also an, dass Freiheit ursprünglich die Abwesenheit ei- ner Einschränkung meinte, die ein Herr gegenüber Sklaven ausüben konnte. Im heutigen Begriffsverständnis erscheint dieses Kriterium wie ein Mindest- standard, um Freiheit denken und ausmachen zu können. Es gilt in diesem Sinne, dass niemand, der unter der Kuratel einer anderen Person stünde, sich als frei bezeichnen ließe. Aber das allein genügt nicht, wie ein Rück- schluss beweist. Jeden allein dann als frei zu erachten, wenn er nicht unter der Kuratel einer Person stünde, wäre dem Anspruch der Sache nicht ge- recht. Es lässt sich also ausmachen, dass Freiheit im heute gängigen Verständnis über mehrere Wesenszüge und Definitionsmerkmale verfügt. Allein das Feh- len eines Ringes um den Hals wirkt als keine ausreichende und erschöpfende Vorbedingung, um Freiheit zu erfahren. Die Ansprüche sind höher, weitrei- chender, substanzieller. Auf dieser Verständnisgrundlage zeigt sich auch, dass der Begriff Freiheit mehrere Facetten impliziert. Freiheit im politischen Sinne meint essenziell etwas anderes als persönliche Freiheit oder die Wahl- freiheit, die ein Konsument vor einem Supermarktregal erfährt. Politische Freiheit basiert nach heute gängiger Auffassung beispielsweise auf dem Grundgedanken demokratischer Einhegungen von institutioneller Macht. Diese Bedingung, die sich im Rahmen des historischen Verlaufs der letzten Jahrhunderte herausbildete, besagt, dass keine politische Institution so viel Macht auf sich vereinigen darf, dass sie diese unkontrolliert und re- gellos ausüben kann. Die Idee von politischen Institutionen, die sich gegen- seitig ausbalancieren, sich in der Ausübung und Anwendung von Macht kon- trollieren und beschränken, fußt exakt auf diesen Grundlagen. Unabhängige Organisationen kontrollieren die an Gesetze gebundene Machtausübung von einzelnen Institutionen. Dass die Gesetzgebung (Legislative) von der ausführenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) 65 Ethik jeweils in Form von eigenständigen Organen getrennt wurde, diese Entwick- lung gründet exakt in der Überlegung, die unbestrittene Dominanz einer In- stitution zu unterbinden. Wenn die Erlaubnis, Gesetze zu beschließen, diese auszuführen und diese zu kontrollieren, nur einer einzigen Institution über- tragen werden würde, hätte diese unbegrenzte Macht zur legitimen Anwen- dung von Willkür. Ein Grundsatz, auf dem die Demokratie folglich fußt, be- steht darin, dass institutionelle Macht so verteilt werden muss, dass keine Institution legitimerweise gesetzlos und übergriffig handeln kann. Zum ei- nen basieren also demokratische Verfahrensweisen auf der Autonomie von Institutionen, die im Geiste ihre eigenen Auftrags-Kontrollfunktionen ausü- ben. Dieses Prinzip der gegenseitigen Kontrolle und der institutionellen Aus- gewogenheit wird als Checks and Balances bezeichnet. Zum anderen besit- zen Bürger unumgängliche Rechte, die sie unter keinen Umständen verwir- ken. Die Bürgerrechte konstituieren die zivile Basis eines demokratischen Gemeinwesens. Sie definieren, welche unabkömmlichen Garantien die Bür- ger eines Staates kennzeichnen und wo sich legitime Grenzen staatlichen Handelns befinden. Ein praktisches Beispiel diesbezüglich: Das Recht auf freie und geheime Wahl bildet ein solches Bürgerrecht, es ist unabkömmlich. Was meint, es wäre un- zulässig in geheimer und freier Wahl darüber abzustimmen, ob dieses Wahl- Beispiel recht schlicht aufgehoben wird. Da die Demokratie auf der Anerkennung von Bürgerrechten beruht, diese Bürgerrechte gar im Wesentlichen den Kern des demokratischen Gedankens bilden, wäre es selbst bei Einstimmigkeit unde- mokratisch, das Wahlrecht einfach aufzuheben. Freiheit bedeutet also in einer gesellschaftlichen Rahmensetzung, dass Will- kür durch machtvolle aber eingehegte Institutionen unterbunden wird. Zum einen, weil die Gewaltenteilung wirksam wird. Zum anderen, weil sich alle handelnden Akteure an geltende Regeln zu halten haben. Zum Weiteren, weil Bürger mit unabdingbaren Rechten ausgestattet sind, die ihnen nicht streitig gemacht werden können. Diese Grundrechte bilden das eigentliche und wirksame Fundament demokratischer Zivilität. Die universelle Überzeu- gung würde nun besagen, dass nur in jenen Zusammenhängen die Bedingun- gen der Freiheit erwirkt werden, wo diese legalistischen Grundsätze erfahr- bar sind und einklagbar wären. Dieser Ansatz steht im radikalen Gegensatz zur Annahme, dass sich immer dort ein größeres Ausmaß an Freiheit findet, wo möglichst wenig Regeln gel- ten. Diese Auffassung von Freiheit meint, dass jedes wirksame Gesetz fak- tisch und unumstößlich eine Einschränkung darstelle und damit konsequent die Freiheit begrenzt werde. Das Problem dieser Auffassung besteht schlicht darin, dass die vollkommene Regellosigkeit im Regelfall dann nicht zur 66 Ethik letzten Expansion der Freiheit führt, sondern diese Form der Anarchie die Vorbedingung dafür bildet, dass sich die Herrschaft des Stärkeren herausbil- det. Aus diesem Grund lässt sich Freiheit nicht als einfaches Nullsummen- spiel denken: Mehr Gesetz gleich weniger Freiheit – oder anders, mehr Frei- heit verlangt nach weniger Gesetz. Vielmehr gründen moderne und aufge- klärte Auffassungen von Freiheit darin, dass ein spezifisches Arrangement an Institutionen und Gesetzen die Bedingungen gesellschaftlicher Freiheit er- öffnet. Ist also Freiheit, weil sie teils politisch zu denken wäre, nur in Gemeinschaft erlebbar? Das wäre ein irrender Ansatz. Freiheit konzentriert sich stattdes- sen immer auf das Individuum. Nur als Individuum lässt sich Freiheit erfah- ren, im Rahmen der Ausschöpfung der eigenen Möglichkeiten und Veranla- gungen. Aber damit dies wirksam werden kann, braucht es eine geteilte und gesicherte gesellschaftliche Basis und an dieser Grundlage lässt sich perma- nent progressiv fortwirken. Ihre Entwicklung bildet sogar wesentlich den Prozess des Fortschritts der Moderne ab. Denn das moderne Zeitalter bildet genaugenommen einen kontinuierlichen, nicht bruchlosen, aber stetigen Prozess, der es versteht, die Wirkung der Freiheit auszuweiten. Im 18. Jahrhundert wird gegen die absolutistischen Herrscher ein Kanon an liberalen Grundrechten erstritten. Ganz im Geiste der Aufklärung wird den absolutistischen Herrschern abverlangt, ihre Macht zu beschränken, um die Freiheit der Bürger anzuerkennen. Im 19. Jahrhun- dert wird entdeckt, dass diese erzielten liberalen Grundrechte erst Sinn er- geben, wenn sie durch politische ergänzt werden. Das Recht auf freie Mei- nungsäußerung führt konsequent zum gleichen Stimmrecht. Im 20. Jahrhun- dert folgt dann die Ergänzung um die sozialen Grundrechte. Fortschritt liegt also in der permanenten Ausweitung von Bürgerrechten im Geiste der Frei- heit. Über die Entwicklungsgeschichte zeigt sich auch, dass diese Form der Frei- heit kein finales Stadium erreichen kann. Es gilt als gesellschaftlicher Auftrag, permanent an ihr fortzuwirken, die Freiheit in ihrer Unvollkommenheit fort- laufend zu verbessern. All diese Prozesse sind aber ohne eine grundsätzliche Einsicht nicht denkbar, die von der Aufklärung erkannt wurde: Es handelt sich um das autonome Individuum, dessen Würde sich nur in Freiheit realisiert. Freiheit ist laut die- ser Logik der entsprechende Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung. Diese Autonomie lässt sich nur vor dem Hintergrund der Überzeugung den- ken, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen besitzt. Durch Logik, 67 Ethik Argument, Sinneswahrnehmung begründet sich die Selbstbestimmung des Menschen, die Fähigkeit und die Verpflichtung frei zu agieren. Analyse, Er- fahrung, Versuch führen zur Erkenntnis der Welt, in der Absicht, den Wis- senshorizont zu erweitern. Genau dafür braucht es die Stimmen abweichen- der Meinungen und selbst irrender Positionen, damit der Fortschritt weiter- hin wirksam wird, Argumente sich schärfen und die besseren Erklärungen entdeckt werden. Deshalb sind auch gerade Gespräche zwischen abwei- chenden Meinungen und Diskussionen zwischen gegensätzlichen Positionen ertragreicher, solange sie der Grundlage vernunftbasierter Akzeptanz objek- tiver Fakten folgen und einem unvoreingenommenen Erkenntnisinteresse gehorchen. Worauf gründet nun Erkenntnis? Wie in anderen Lehrveranstaltungen be- reits reflektiert, meint Erkenntnis vorrangig die Einsicht in den eigenen Irr- tum bzw. die Korrektur von Fehlannahmen. Wissen entsteht aufgrund der Auflösungen falscher Vorstellungen, wenn bessere Einsichten erschlossen werden. Neues Wissen bricht also überholte Überzeugungen auf. Es verändert die Wahrnehmung und korrigiert falsche Gewissheiten. Wissen bewirkt Verän- derung, denn durch Einsicht werden neue Überzeugungen gewonnen, Mei- nungen ändern sich. Das Prinzip von Freiheit meint genau in diesem Zusam- menhang, dass reflektierte Entscheidungen von autonom handelnden Per- sonen getroffen werden. Bedeutsam scheint in diesem Zusammenhang jene Wirkbeziehung, dass durch neue Erfahrung und andere Einsichten reflektiertes Wissen entsteht, voreingenommene Überzeugungen sich auflösen und in logischer Folge sich persönliche Meinungen ändern. Eine Grundlage aufgeklärten Denkens be- steht exakt in dem Zusammenhang, dass sich vernunftbetontes Wissen ver- ändert und der Mensch willens sei, auf Grundlage eines besseren Verständ- nisses seine eigenen Ansichten zu ändern. Da Wissen kein fixiertes und ab- schließendes Stadium an Erkenntnis meint, sondern sich anhand besserer Erklärungen adaptiert, verändern sich persönliche Gewissheiten durch ein- gehenderes Verständnis eines Sachverhalts. Dieser Reflexionszusammen- hang determiniert ein aufgeklärtes Verständnis der Überzeugungen, die den Menschen prägen und sein Handeln leiten. In dieser Wirkung entfaltet sich die autonome Freiheit des Menschen. Dieser Zusammenhang wird nun je- doch durch den aktuellen Aufbau von Technologie fundamental herausge- fordert. Vor allem die sozialen Netzwerke manifestieren ein illustratives Beispiel da- für, wie diese Prinzipien durch die gegenwärtige Funktionslogik und 68 Ethik wirksame Zweckbestimmung von sozialen Netzwerken herausgefordert werden. Warum? Zum einen gründet das ökonomische Fundament der sozialen Netzwerke auf dem Verkauf von Werbung. Die Werbebotschaften lassen sich dabei denk- bar ideal platzieren, als exakt jene Personenkreise adressiert werden kön- nen, die vom Marketing als die relevanten Zielgruppen identifiziert werden. Denkbar vielfältige sozio-ökonomische Kriterien lassen sich als Identifikati- onsmerkmal wählen, um eine relevante Personengruppe zu konstituieren. Die präzise Segmentierung der Nutzerinnen von sozialen Netzwerken ge- schieht anhand der Analyse von Interessen, die individuell auf den Plattfor- men verfolgt werden, und den Persönlichkeitsmerkmalen, die preisgegeben werden. Diese Informationen werden nicht nur eingehend analysiert und ausgewertet, sie lassen sich auch zu dezidierten und wahlweisen Personen- gruppen zusammenfassen. Den Werbekunden werden also exakte Interes- sentinnen angeboten, die mit präzis platzierten Botschaften erreicht wer- den. Der Ansatz, dezidierte Personengruppen mit passenden Schlüsselbotschaf- ten in sozialen Netzwerken zu erreichen, wird mit dem Begriff Mikrotarge- ting umschrieben. Dieses Verfahren erlaubt es, eng begrenzte Mittel der Öf- Merksatz fentlichkeitsarbeit möglichst effektiv einzusetzen und einen eingrenzbaren Interessentenkreis mit abgestimmten Nachrichten zu adressieren. Bei weitgehend sprachbasierten Netzwerken, wie es beispielweise Facebook darstellt, lässt sich die Analyse von Persönlichkeitsprofilen sehr direkt und einfach gestalten. Komplizierter gestaltet sich das Verfahren, wenn bei- spielsweise das Netzwerk rein bildbasiert operiert – Instagram, rechtlich zu Facebook gehörend, ist diesbezüglich ein ansehnliches Beispiel. Verstärkte Investitionen in Bilderkennung erklären sich auch genau vor diesem Hinter- grund. Erst wenn sich effektive Software dafür einsetzen lässt, den Inhalt von Bildern zu erkennen, dann können tiefgreifende und datenbasierte Analysen über Vorlieben und Verbindungen wirksam werden, die auf Plattformen wie Instagram zur Schau gestellt sind. Dafür müssen Programme über die Fähig- keit verfügen, einzelne Pixel im Zusammenhang mit den umliegenden Pixeln zu verknüpfen. Auf diese Weise werden Zusammengehörigkeiten erkannt und die dargestellte Abbildung digital analysiert. Dieser Informationswert erlaubt es, intensive Persönlichkeitsprofile anzulegen. Wie schwierig das teilweise ist und wie präzise die Datenanalysen arbeiten müssen, zeigt das Schaubild unten. Es ist gegenwärtig enorm aufwändig, bei Softwarepro- grammen jene Exaktheit zu erreichen, die es braucht, um wesentliche Un- terscheidungsmerkmale anhand von Bildmaterialien zu treffen. Das Bild un- ten, das Muffins oder Chihuahuas zeigt, illustriert die Diffizilität. 69 Ethik Abbildung 11: Muffins oder Chihuahuas, Yao (2017) Darüberhinausgehend lässt sich auch die Reaktion auf konkrete Maßnah- men oder Stellungnahmen exakt bestimmen, testen und gegebenenfalls die eigene Message nachadaptieren. Damit diese Funktion nun denkbar ausge- reift und interessant angeboten werden könnte, setzt es manche Vorbedin- gungen voraus: Ein Netzwerk sollte möglichst viele Nutzerinnen auf die ei- genen Plattformen locken. Im Zuge von marketingbasierten Wertschöp- fungsketten wächst investierte Aufmerksamkeit zu einem entscheidenden Kennwert. Auf den Plattformen sollte deshalb denkbar viel Zeit verbracht und persönliche Informationen preisgegeben werden. Das geschieht vor al- lem dann, wenn persönlicher Austausch gefördert wird, Verbindungen ent- stehen und persönliche Vorlieben freiwillig dokumentiert werden. Was erscheint also als wirksames, theoretisches und ideelles Prinzip hinter den erfolgreichen Netzwerken? Um folglich die gewünschten Verhaltens- weisen von Nutzerinnen zu befördern und zu initiieren, reflektieren soziale Netzwerke die intellektuellen Grundlagen des Behaviorismus. Behaviorismus verfolgt den Ansatz, dass menschliches und tierisches Verhal- ten das Ergebnis von verstärkenden und abschwächenden Faktoren sei. Ge- wünschtes Verhalten lässt sich also methodisch durch gezielte, manipulative Merksatz Anreize schaffen. Diese Anreize werden in den sozialen Netzwerken durch die kalkulierte An- zeige von Informationen geschaffen. Algorithmen treffen diesbezüglich Ent- scheidungen, was in den persönlichen Feeds angezeigt wird, wie das indivi- duelle Interesse geweckt und Interaktion motiviert wird. Das bedeutet die Logik der gängigen Netzwerke basiert nicht vorrangig auf der Verknüpfung von Einzelpersonen, sondern auf der Beobachtung von individuellem Verhal- ten, das gezielt moduliert wird, um möglichst viel ökonomischen Nutzen zu generieren. Diese Wirkung wird erzielt, indem ein ausgeklügeltes System aus 70 Ethik Strafe und Anerkennung etabliert wurde, dass die individuelle Verhaltens- weise formt. Anerkennung geschieht in dieser Form vor allem durch anspre- chende Reaktionen von anderen, die erfahren werden. Strafe besteht darin, dass unangenehme Reaktionen in Gestalt von Gegenantworten hervorgeru- fen werden. Diese intendierten Reaktionen wirken wie Stimuli, die bewusst gesucht und durch die Modifikation des Verhaltens von Nutzerinnen herbei- geführt werden. Sie erzeugen ein konkretes Verhalten, das dann von den Plattformen selbst kommerzialisiert wird. Deshalb lässt sich die Wirkweise von sozialen Netzwerken nicht als reine Werbeplattform verstehen. Viel- mehr muss die Tiefenwirkung begriffen werden, dass individuelles Verhalten tendenziös und inkrementell moduliert wird. Der Virtual Reality Pionier und Technikphilosoph Jaron Lanier argumentiert mittlerweile vor diesem Ver- ständnishintergrund dafür, dass sich Nutzerinnen von den bestehenden Plattformen lösen müssen, weil die manipulativen Verfahren zur Erosion ge- sellschaftlichen Ausgleichs und zur Manipulation von Individuen führen.29 Die bedeutsame Idee von sozialen Netzwerken und der Verbindung von In- dividuen über das konventionelle Internet wurde durch dieses Geschäftsmo- dell überdeckt. Jaron Lanier bezeichnet deshalb Unternehmen wie Facebook nicht als soziale Plattformen. Er erkennt in ihnen auch keine Anzeigenver- käufer, deren Geschäftsmodell schlicht im Vertrieb von Werbeflächen beste- hen würde. Vielmehr qualifiziert er die Praxis dieser multinationalen Kon- zerne als „Imperien zur Verhaltensänderung“.30 In Referenz auf das Freiheitsverständnis, das sich seit Beginn der Aufklärung herauszubilden begann, zeigt sich eine vehemente Schwierigkeit, die Mikrotargeting bei der politischen Bewusstseinsbildung verursacht. Die Idee, dass wenn persönliche Vorlieben einer Person erstmal entziffert wur- den, diese dann durch Anzeigen und Informationen gezielt bedient und ver- stärkt werden können, widerspricht in letzter Konsequenz dem Prinzip neuer Einsichten. Nachdem Einstellungen und ideelle Merkmale einer Person ent- schlüsselt sind, werden jene Nachrichten eingeblendet und dargestellt, die der eigenen Auffassung entsprechen oder radikal andere Ansichten präsen- tieren, die zur Widerrede aufrufen. So entsteht eine Bipolarität, die vor al- lem bezweckt, dass im Netzwerk affirmative Aktion und aggressive Reaktion entsteht, Zeit in den Netzwerken verbracht wird, die Plattformen mit Inhal- ten gefüllt werden, Stimuli in Form von Bestätigung oder Ablehnung erhal- ten werden. All das geschieht, um den ökonomischen Wert einer Plattform steigen zu lassen, je mehr Zeit darauf verbracht wird, je mehr Informationen 29 Lanier, 2018, S. 8 ff. 30 Versai, 2018 71 Ethik preisgegeben werden, je größer die Zahl der Nutzerinnen, umso interessan- ter wirkt ein soziales Netzwerk für potenzielle Anzeigenkunden. Was diese Logik nicht zu berücksichtigen versteht, ist die Wirkweise der au- tonomen Entscheidungsfindung, wie sie konzeptionell von aufgeklärten Menschen getroffen wird. Auf Grundlage von besserer Einsicht verändern sich Meinungen und Überzeugungen. Wissen agiert transformativ, vertieftes Verständnis ändert Auffassungen, neue Perspektiven führen zu neuen An- sichten. Diese Logik der Veränderung und des besseren Verständnisses be- gründet aufgeklärtes Denken, dass dem freien Menschen eigen ist. Die Funk- tionsweise von sozialen Netzwerken hingegen rückt die bestehende Auffas- sung in den Mittelpunkt und entsprechend werden für Nutzerinnen Beiträge bzw. Werbebotschaften arrangiert, die diese vorgefassten Meinungstenden- zen verstärken. Die Netzwerke zerfallen in sich selbst als abgrenzende Kam- mern. Nicht durch neue, weitere oder andere Erkenntnisse wird das eigene Bewusstsein herausgefordert, sondern durch die Einblendung von geneh- men Positionen entstehen Echokammern, schlicht daraufhin ausgerichtet, vorgefasste Meinungen zu bestärken, radikale Gegenstandpunkte aufeinan- derprallen zu lassen, Auffassungen zu zementieren, anstatt sie zivil heraus- zufordern und inkrementell zu verändern. Darin liegt eine wesentliche Her- ausforderung für das Bild eines autonom agierenden Menschen, der fähig wäre auf Basis qualifizierter Analysen und umsichtiger Informationsverarbei- tung, ethisch zu agieren. Die Anzeige von Beiträgen in den sozialen Netzwerken repräsentiert folglich einen kalkulierten und berechneten Ausschnitt an verfügbaren Informatio- nen in den sozialen Netzen, darauf zielend, konkrete Verhaltensweisen der Nutzerinnen zu befördern. All das geschieht in der Absicht, Nutzerinnen an die Plattform zu binden, um im Rahmen einer digitalen und Algorithmus ba- sierten Aufmerksamkeitsökonomie, Wertsteigerungen zu erwirken. Nicht nur, dass persönliches Verhalten modifiziert wird und gefasste Vorurteile ge- konnt bespielt werden, auch gründen darauf Geschäftsmodelle. Darin be- steht eine enorme Herausforderung erwirkter Freiheit. Die ethische Herausforderung liegt also darin, dass die Prinzipien reflektier- ter Wissensbildung der gängigen Funktionslogik von sozialen Netzwerken entgegenstehen. Verständnis für einen Sachverhalt wächst dann, wenn sich Merksatz durch verbesserte Einsichten Meinungen ändern. Die kommunikative Rou- tine auf den sozialen Plattformen hingegen baut auf der Deduktion vorhan- dener Auffassungen und der entsprechenden Verstärkung dieser durch ein Schema, das auf Anerkennung und radikaler Konfrontation aufbaut, auf. 72 Ethik Das Setup ist also kein Zufall, nicht der Technologie per se zuzuschreiben, die bestimmbaren Folgewirkungen nicht zwangsläufig oder unvermeidbar, wenn soziale Medien genützt werden sollen. Es handelt sich stattdessen, um eine bewusste Entscheidung seitens der Technologiekonzerne, im Interesse des eigenen Marktwerts getroffen. Als fatale Kettenreaktion wirkt die ra- sante Verbreitung von Falschmeldungen oder ungeprüfter Gerüchte, die Un- unterscheidbarkeit zwischen verifizierbaren Tatsachenberichten und haltlo- sen Behauptungen, die Entstehung von diskursiven Parallelgesellschaften. Soziale Netzwerke, die einst die öffentlichkeitswirksame Mission für sich selbst definierten, die Menschheit zu vernetzen, zerfallen zusehends in starre Kleinverbindungen. Plattformen strukturieren also nicht ein gemein- sames Netzwerk, sondern erscheinen vielmehr als die operative Grundlage für segregierte und thematisch abgekapselte Subnetze, zerfallen in zahllose Echokammern. Ein entscheidender Aspekt, wenn über diese Eigenheit nachgedacht wird, besteht darin, dieses Merkmal nicht als einen unumgänglichen Makel der technologischen Entwicklung zu betrachten, sondern die ökonomische Ver- wertungslogik zu reflektieren, die das Setup begründete. Anfänglich war es eine rasante Wachstumslogik, die dazu führte, Nutzer anzuhalten, möglichst viel ihrer begrenzten Zeit auf Aktivitäten in den sozialen Medien zu verwen- den. Dafür mussten Anreize wie ein Belohnungssystem in Form von der wahrnehmbaren Eigenwirkung geschaffen werden – sei es in Form von ver- dienten Likes. Als dann die Business-Modelle intensiviert und verbessert wurden, verstärkte sich die bewährte Logik zusätzlich. Auch aktuell zeigt sich ein Wachstumstrend, wenn die durchschnittliche Zeit ermessen wird, die Nutzer von sozialen Medien auf den unterschiedlichen Plattformen verbringen. 73 Ethik Abbildung 12: Minuten, die Nutzer auf sozialen Netzwerken täglich verbringen (Bezug: Android Nutzer in den USA), Molla/Wagner (2018) Eine der essenziellen und wunderbaren Dienstleistungen, die das konventi- onelle Internet ermöglicht, besteht darin, Personen in flexiblen Netzwerken über globale Distanzen zu verbinden. Gemeinsame Interessen lassen sich teilen, Informationen übertragen, mono- oder multithematische Gruppen können sich konstituieren, die Reichweite erlaubt es, von der lokalen Ebene bis zur interkontinentalen Distanz soziale Einheiten zu integrieren. Diese Schlüsselfunktion wirkt als ein fortschrittliches und attraktives Wesensmerk- mal, dass der Nutzung des Internets eignet. Form, Verfahren und Strukturen, wie diese Prozesse gegenwärtig abgewickelt werden, entsprechen einer ge- wissen Form der Kommerzialisierung und der politischen Ökonomie der be- stehenden Verhältnisse. Es ließe sich auch anders denken und realisieren. Das nächste Kapitel zeigt diesbezüglich eine vergleichbare Vorgehensweise im Hinblick auf die Geschäftspraktiken maßgeblicher Startup-Konzerne, die gerne als Sinnbild für disruptive Geschäftsmodelle in einer Branche verstan- den werden. Abschließend: Die Darstellung von Inhalten in den sozialen Netzwerken, die Einzelpersonen angezeigt bekommen, basiert auf der Kalkulation von Algo- rithmen, die einfach versuchen, persönlichen Erwartungshaltungen zu ent- sprechen. Die Funktionsweise der Algorithmen zielt darauf, jene Beiträge zu erkennen, die eine Person bevorzugt lesen möchte. Es werden also Muster erkannt und dann plausible Vorhersagen abgeleitet, Vorlieben und vorge- fasste Meinungen werden extrapoliert. Dieser Erkenntniszusammenhang wirkt nun nicht nur im Umfeld der sozialen Medien. Auch andere Big Data Analysen zielen genau darauf ab, anhand von empirischen Datenbeständen, 74 Ethik konkrete Handlungsweisen in der Zukunft vorherzusagen. Diese Entwicklung wird mit dem Schlagwort Predictive Analytics umschrieben. Was genau meint Predictive Analytics? Predictive Analytics umfasst eine Vielzahl von statistischen Techniken aus den Bereichen Data Mining, Predic- tive Modelling und Machine Learning. Aktuelle und historische Fakten bzw. Merksatz vergangene Verhalten werden analysiert, um Vorhersagen über zukünftige oder sonst unbekannte prognostizierbare Ereignisse zu treffen. Predictive Analytics erlaubt also auf Grundlage einer umfassenden Daten- auswertung, Muster zu deduzieren, die mit gewisser Plausibilität zukünftige Verhaltensmuster antizipieren lassen. Dieses Wissen lässt sich nun beispielsweise dafür nutzen, dass Kundinnen individualisierte Angebote gemacht werden, da das weitere Konsumverhal- ten von Einzelpersonen sich anhand vergangenen Benehmens eruiert lässt. Es lässt sich dafür nutzen, politische Präferenzen zu bestimmen und diese geschickt zu adressieren. Predictive Analytics wird häufig gerade dann kri- tisch thematisiert, wenn es in Verbindung mit dem Vorschlag von Predictive Policing auftritt. Statistische Datenauswertungen werden in diesem Zusam- menhang dafür genutzt, um potenzielle Verbrechen zu verhindern. Predic- tive Policing analysiert individuelles Benehmen, kombiniert dieses mit mo- dernen GPS-Daten und anderen dokumentierten Verstößen von Einzelper- sonen, um die Wahrscheinlichkeiten von anstehenden Gesetzesübertritten zu ermessen. Die Polizeiarbeit wandelt sich also von der Ahndung von Ver- brechen hin zur Verhinderung derselben. Es wird folglich anhand von mul- tiplen Datenbeständen die Wahrscheinlichkeit von Zwangsläufigkeiten de- terminiert, um auf dieser Grundlage dem Sicherheitsbedürfnis moderner Gesellschaften genüge zu leisten. Speziell Predictive Policing zeigt nun immanente Konsequenzen für die Auf- fassungen davon, wie Menschen eigentlich agieren. Wenn sich aus aufge- zeichneten Verhaltensmustern denkbar exakte Vorhersagen treffen lassen, dann wird das Rollenbild eines autonom agierenden Menschen entschei- dend herausgefordert. Wenn sich aufgrund vergangenen Verhaltens zukünf- tiges Benehmen abstrahieren lässt, dann wird die wesentliche Auffassung manifest herausgefordert, die ein liberales Menschenbild begründet – näm- lich der Sachverhalt, dass ein Mensch selbstbestimmt und frei auf Basis ei- gener und ungezwungener Entscheidungen agiert. Predictive Analytics operiert zwar in Wahrscheinlichkeiten, aber oft wird dem Phänomen speziell im öffentlichen Diskurs ein gewisses Maß an Deter- minismus zuerkannt. 75 Ethik Determinismus meint die Auffassung von der kausalen Vorbestimmtheit al- len Geschehens und Handelns. Als solche steht diese Überzeugung quer zum Ansatz der Willensfreiheit. Merksatz Freier Wille, freie Entscheidung, die Überzeugung, dass menschliches Han- deln auf diesen Paradigmen beruht, bildet die theoretische und praktizierte Voraussetzung dafür, dass Demokratien realisierbar werden. Eine freie Ge- sellschaft baut auf dem Grundton, dass mündige Bürgerinnen autonome und vernünftige Entscheidungen treffen werden. Wird dieser gedankliche Grundsatz nun durch die Praxis von vortrefflichen Predictive Analytics zunehmend bedrängt oder gar widersprüchlich zur er- fahrbaren Welt, dann könnten Grundsätze des aufgeklärten Weltbilds zu erodieren beginnen. Deshalb sei an dieser Stelle eines vermerkt: Freiheit im essenziellen Sinne meint vor allem die Anerkennung der Fähigkeit des Menschen, das eigene Leben vernunftbasiert, individuell und eigenständig zu gestalten. Es meint nicht, aus einem vorgegebenen Sortiment von Produkten eine bevorzugte Auswahl zu treffen. Wird Freiheit darauf reduziert, dann sind ideelle Umbrü- che zu erwarten. Überspitzt formuliert: Predictive Analytics mag dabei helfen, Konsumverhal- ten zu entschlüsseln. Wenn also eine Zeit lang Windeln für Säuglinge gekauft werden, dann ist daraufhin zu erkennen, dass bald die Nachfrage nach Holz- spielzeug entsteht, das lässt sich mit Big Data erwirken. Wie aber ein moder- nes, ethisches, vernünftiges, nachhaltiges Leben im 21. Jahrhundert geführt werden kann, dafür bedingt es der autonomen Entscheidungen aufgeklärter Individuen. Wenn Big Data nun dabei hilft, komplexe Entscheidungsgrundla- gen aufzubereiten, um neue und ergänzende, auch gewinnträchtige Per- spektiven zu erschließen, dann hat bereits eine Technologie effektiv zum zi- vilen Fortschritt beitragen können. Doch die Autonomie der Entscheidung obliegt dem Menschen, auch weil er sich aus der Verantwortung für die Welt nicht stehlen kann. Doch nicht nur Predictive Analytics zeigt diesbezüglich vehemente Konse- quenzen für die Selbstwahrnehmung des Menschen betreffend Gestaltung und Erfahrung von Wirklichkeit. Predictive Analytics nutzt Big Data, umfas- sende und disparate Datenbestände werden also darauf verwandt, konkrete Aussagen zu treffen. Die Schwierigkeit für das menschliche Selbstbewusstsein wartet nun darin, dass Maschinen Aussagen über die Wirklichkeit treffen können, die den kog- nitiven Erkenntniswegen des Menschen schlicht verschlossen bleiben. Der 76 Ethik menschliche Verstand fungiert somit nicht mehr als alleinige und entschei- dende Richtinstanz der Analyse weltlicher Prozesse, sondern er stützt seine Einschätzung auf computergestützten Operationen. Big Data meint die Auf- zeichnung von einer Fülle an Datenbeständen, die nur noch dann informativ verarbeitet werden können, wenn auch dafür computergestützte Verfahren zur Anwendung kommen. Das Wissen, das aktuell dokumentiert wird, zeigt Ausmaß und Fülle, die sich nur noch dann gewinnbringend auswerten lassen, wenn technologische Ver- fahren zur Anwendung kommen. Die aussagekräftige Aufbereitung von In- Merksatz formation benötigt bereits technologische Unterstützung. Danach werden dann Kreativität, Einschätzung und Interpretation durch den menschlichen Geist verlangt. Dieser Einschnitt markiert eine Zäsur. Das 21. Jahrhundert dokumentiert also den Übergang in ein neues Zeitalter, das dem Menschen neue Rollen zudenkt. Für den Bruch überholter Konven- tionen zeigen sich zwei zentrale Faktoren entscheidend: Die digitale Transformation bewirkt, dass Gegenstände, die wir nutzen, in konkreter Hinsicht intelligenter agieren können als der Mensch selbst. Das Verhältnis zwischen Menschen und Gegenständen, die genutzt werden, ver- ändert sich damit nachhaltig. Nicht nur das: Bisher war der Weiterentwick- lung jedes Gegenstands menschlichem Erfindungsgeist zuzuschreiben, Künstliche Intelligenz hingegen trainiert sich selbst und wird eigentätig schlauer. Der Klimawandel redefiniert zusätzlich das Verhältnis zwischen Menschen und Natur. Die ältesten fossilen Funde, die die Existenz der Spezies Homo Sapiens belegen, finden sich in Afrika und lassen sich 300.000 Jahre rückda- tieren. Der Klimawandel ändert nun die thermischen und klimatischen Be- dingungen im natürlichen Lebensraum des Menschen, wie es innerhalb die- ses Zeitraums vergleichbar nicht vorgekommen ist. Beides wird nachhaltige Veränderungen bewirken. 6 Die Moral der Disruption Wird über Veränderung im Rahmen der digitalen Transformation nachge- dacht, dann fällt regelmäßig der Begriff Disruption. Das Schlagwort stammt aus dem Englischen, auf Deutsch übertragen bezeichnet disruption Zusam- menbruch, Störung, Diskontinuität. 77