Joppke's Lecture Notes on Political Sociology - PDF
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Christian Joppke
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These lecture notes cover various aspects of political sociology, delving into topics like power, state, and democracy through the works of key figures like Weber and Schmitt. The lecture notes also touches upon important concepts in political theory and provide perspectives on the relationships among different actors in shaping political environments.
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V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 7 Politik, Herrschaft, Staat: Themen der politischen Soziologie Christian Joppke 1 • Text: `Staat, Demokratie und Krieg` (Kapitel 19, H.Joas, ed. Lehrbuch der Soziologie, 2007) (im folgenden zitiert als `Offe`) • Autor: Prof. Claus Offe (Emeritus, Hertie...
V: Einführung in die Soziologie Vorlesung 7 Politik, Herrschaft, Staat: Themen der politischen Soziologie Christian Joppke 1 • Text: `Staat, Demokratie und Krieg` (Kapitel 19, H.Joas, ed. Lehrbuch der Soziologie, 2007) (im folgenden zitiert als `Offe`) • Autor: Prof. Claus Offe (Emeritus, Hertie School of Governance, Berlin) • Bemerkung: das entsprechende Kapitel 20 in der Neuausgabe des Lehrbuchs (2020) (Ko-Autor: S.Lessenich) ist weniger kompakt und deshalb nicht empfohlen. 2 Uebersicht 1.Politische Soziologie 2.Normale Politik u. politische Gemeinschaft 3.Herrschaft 4.Macht 5.Staat 6.Demokratie 3 1.Politische Soziologie • Politische Soziologie untersucht die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft • Genauer: Gegenstand der politischen Soziologie sind die sozialen Bedingungen politischer Herrschaft, und ihre Rückwirkungen auf die Gesellschaft (doppelte Kausalität!) • Interdisziplinär: Politologie, Soziologie, Rechtswissenschaft (vormals Staatswissenschaft), Zeitgeschichte 4 2.Normale Politik u. politische Gemeinschaft • • • M.Weber: `Politik (ist)…Streben nach Machtanteil…, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates` (Politik als Beruf, 1926, 8). politics (normale Politik): `regelgebundenes (institutionalisiertes) Konflikthandeln mit dem Ziel der Kontrolle öffentlich relevanter Entscheidungsprozesse` (Offe, 508) Eine konträre Definition: Politik als Freund-Feind Beziehung (C.Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, 27), d.h. am `Ernstfall` orientiert. Daraus folgt: →`In Wahrheit gibt es keine politische Gesellschaft oder Assoziation, es gibt nur eine politische Einheit, eine politische Gemeinschaft` (Schmitt, 45); →`Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt` (denn politische Einheit setzt die Möglichkeit des Feindes, d.h. andere politische Einheiten voraus) (Schmitt, 54). 5 2. Normale Politik • politics (normale Politik): – andere Menschen sind Mitbürger, höchstens Gegner; – Verbot nicht-staatlicher Gewalt; – who gets what, when, how? (Harold Lasswell) • Bedingung von politics: `Einigkeit zweiter Ordnung` (Offe), d.h. a. Regeln sind fair u. unparteiisch b. Integration der politischen Gemeinschaft 6 2.Normale Politik • Drei Bruchlinien (cleavages) der Integration: a. ökonomisch • arm vs. reich b. politische Programme • rechts vs. links • heute: schliessen vs. öffnen (Nationalismus v. Globalismus) c. kulturelle Spaltungen (Religion, Sprache, Ethnizität) • territorial konzentriert (nationale Minderheiten) • verstreut (Migranten) 7 2.Normale Politik • Staaten (Offe, 609): – `Agenturen` der normalen Politik (sie `verbürgen` Einheit und friedliche Konfliktausübung); – aber mittels `Gewalt und Unterdrückung` (Staaten als `potentielle Urheber von Grossverbrechen`) • 2 Methoden der politischen Einheitsbildung: – Konflikte/Spaltungen stillstellen, z.B. durch Feindbildung (C.Schmitt) – Konflikten freien Lauf lassen, aber durch Pluralisierung neutralisieren (J.Madison, Federalist Paper no. 10, 1787): • `There are two methods of curing the mischiefs of faction: the one, by removing its causes; the other, by controlling its effects` • besonders gefährlich: Mehrheit als `faction` (tyranny of majority) • Abhilfe durch republic (im Gegensatz zu democracy), d.h. Repräsentativdemokratie und Grossflächenstaat 8 3. Herrschaft • 2 Spannungsverhältnisse des politischen Lebens: – horizontal (Bürger v. Bürger) (siehe oben); – vertikal (Eliten v. Nicht-Eliten) • Herrschaft: `die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden` (M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1926:28) • Gehorsam gründet auf Legitimitätsglauben (Glaube an die Rechtmässigkeit der Herrschaft) • 3 Typen legitimer Herrschaft (Weber 1922): – traditional – charismatisch – rational-legal 9 3. Herrschaft • • Traditionale Herrschaft: `Alltagsglaube an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen` (Weber, 124) Charismatische Herrschaft: `ausseralltägliche Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenmacht oder die Vorbildlichkeit einer Person` (Weber, 124) – `Veralltäglichung des Charisma`: Herrschaft wird traditional oder rational-legal • Rational-legale Herrschaft: `Glaube an die Legalität gesatzter Ordnungen` (Weber, 124) – Bürokratie: `Keimzelle des modernen Staats` (Weber) – Spannung zwischen Bürokratie und politischer Führerschaft • • • • • sine ira et studio (Bürokratie) vs. Charisma (polit. Führerschaft); Expertise (Bürokratie) vs. Dilettantismus (polit. Führerschaft); Dienstgeheimnis (Bürokratie) vs. demokratische Transparenz (polit. Führerschaft); Funktion der parlamentarischen Demokratie: Führerauslese Denn: entweder führerlose Demokratie oder Führerdemokratie mit Maschine (Weber) 10 4. Macht • Macht: `jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruh` (Weber 1922, 28) • Macht vs. Herrschaft (letztere ist stets legitim) • Macht ist `soziologisch amorph`: `alle denkbaren Qualitäten eines Menschen…können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen…durchzusetzen` (Weber 1922, 15) • Macht ist nicht immer politisch: Arbeitgeber v. Arbeitnehmer, Käufer v. Verkäufer, Arzt v. Patient, Vater v. Sohn, Mann v. Frau, etc. 11 4. Macht • Macht und Wissen: Kann Macht durch A auch ausgeübt werden, wenn A oder B es nicht wissen? • Ja, wenn A es nicht weiss (`Machtinhaber tun immer gut daran, ihre Macht zu dissimulieren u. sich so von Legitimitätsfragen frei zu halten` (Offe, 515) • Und wenn B es nicht weiss, dass Macht über ihn/sie fällt? – Ja, sagt M.Foucault (Gouvernementalität bzw. Disziplinarmacht: Macht ist anonym und dezentral; sie findet auch statt, ohne dass sie bewusst ausgeübt, erlebt oder beurteilt wird) – Nein, sagt Offe (`Macht` würde so ununterscheidbar von `Einfluss`: `Einfluss übt jemand aus, der zwar keine Sanktionsmittel hat, aber mein Handeln durch Kommunikation von dem Pfad abweichen lässt, den es sonst nicht genommen hätte`) (515) – Ergo: für Offe gehört Widerstreben zur Macht (ebenso wie für Weber!) 12 4. Macht • Macht nicht nur negativ (Macht über) sondern auch positiv (Macht zu) (=Erreichung kollektiver Ziele) (H.Arendt, T.Parsons) • Positive Macht: – staatliche Macht (Bau von Pyramiden) – erzieherische Macht – betriebliche Gegenmacht (via Mitbestimmung) • Macht v. Gewalt: letztere vernichtet `Handlungsfreiheit des Adressaten` (Offe, 517) • Paradox: Staat illegalisiert Gewalt durch Private, was nur durch Monopolisierung der Gewalt durch den Staat erreichbar ist (Gewalt verschwindet nicht; als Möglichkeit ist sie stets präsent) • Semantische Verschiebungen des Gewaltbegriffs (Offe) – `strukturelle Gewalt` (J.Galtung) – `symbolische Gewalt` (P.Bourdieu) 13 4. Macht • 4 Machttheorien in der politischen Soziologie: – 1. Marxismus: Klassentheorie (wirtschaftliche ist politische Macht) – 2. Elitentheorie: die `politische Klasse` herrscht, nicht `das Volk` (Mosca); `power elite` (C.W.Mills 1956): ein wirtschaftlich-politischmilitärisches Elitenkartell – 3. Pluralismus: verschiedene Gruppen dominieren in verschiedenen Politikbereichen, bsd. auf kommunaler Ebene (R.Dahl, Who Governs? 1961) – 4. kritische Machttheorie (S.Lukes) • `non-decisions`, stehen vorgängig fest (P.Bachrach, 1963) • `ideological power` (S.Lukes, Power: A Radical View, 1974): `power to influence people`s wishes and thoughts, even making them want things opposed to their own self-interest` (`non-behavioral` concept of power; setzt voraus: Individuen haben `objektive Interessen`) • ein Marxistischer, nicht ein Weberianischer Machtbegriff! 14 5. Staat • Staat: `diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes…das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht` (M. Weber 1922, 8). • G.Jellinek: Staat als Einheit von Staatsgewalt u. Staatsgebiet u. Staatsvolk • Innenverhältnis: Staatsapparat (Exekutive, Parlament, Justiz) vs. Zivilgesellschaft (Markt, Familie, Assoziationen etc.); verrechtlicht (qua Verfassung) • Aussenverhältnis: Staat (als Einheit) vs. andere Staaten; anarchisch 15 5. Staat • moderne Staaten sind Verfassungsstaaten • Verfassungen regeln: – 1. individuelle Grundrechte (Rechtsstaat) – 2. Beziehung zwischen Gesellschaft u. Staat (demokratischer Staat) – 3. Staatsaufbau (Gewaltenteilung, Föderalismus, etc.) – 4. Staats- u. Politikziele (z.B. Sozialstaat); die älteste Staatsfunktion: Schutz v. Eigentum u. Freiheit (Hobbes u. Vertragstheorien des 17.Jhdt.) – 5. Metaregeln • Verfassungen sind schwerer veränderbar als normales Recht (Supermehrheiten, Ewigkeitsklauseln etc.) 16 5. Staat • Wie kommunizieren Staat und Gesellschaft? – vom Staat zum Bürger: • Macht (Rechtsbefehle u. Rechtsdurchsetzung) • Geld (Transferleistungen u. Umverteilung) • Einfluss (Pädagogik) – vom Bürger zum Staat: • Personen (Ausnahmefall) • Kollektivakteure 17 5. Staat • 4 Kollektivakteure (Offe 520f): – Parteien (territoriale Repräsentation) • greifen sämtliche Themen flächendeckend auf; • nach Wahlerfolg: Teil des Staates (halb-staatlich); • Funktion: `Katalysatoren des Volkswillens` (Volkswille hat `Antwortcharakter`, Böckenförde) – Verbände (funktionale Repräsentation), • sachlich begrenzte Domänen u. Interessen; • Korporatismus (staatlich anerkannte Verhandlungssysteme); • Mittel der Staatsentlastung u. Entpolitisierung (z.B., Tarifautonomie) – Soziale Bewegungen • punktuell (single issue); • wenig formalisiert u. unkonventionelle Mittel (Protest, Blockaden etc.) – Öffentlichkeit (Medien) 18 5. Staat • Wohlfahrtsstaat: `The essence of the welfare state is governmentprotected minimum standards of income, nutrition, health, housing, and education, assured to every citizen as a political right, not as charity` (H.Wilensky, The Welfare State and Equality, 1975, 1) • Wohlfahrt als Recht (v. als Stigma) (engl. Poor Law, 19.Jhdt.: Arme wurden entrechtet und stigmatisiert) • Hintergrund: Arbeitskraft ist `fictitious commodity`, also keine Ware (K.Polanyi, The Great Transformation, 1944) • Logik der `Dekommodifizierung`: `citizens can freely, and without political loss of job, income, or general welfare, opt out of work when they themselves consider it necessary` (G.Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990, 23) 19 5. Staat • 3 Typen des Wohlfahrtsstaats (Esping-Andersen, 1990): – 1.liberal (USA)—minimale Armutsfürsorge – 2.konservativ (Deutschland)—Absicherung des (männlichen) Geldverdieners – 3.sozialdemokratisch (Skandinavien)—universelle Absicherung – Logik 1-3: ansteigende Dekommodifizierung • Krise des Wohlfahrtsstaats (WS) (ab 1973, u. wieder 1989): – WS schafft negative Anreize zu investieren (qua Inflation) u. zu arbeiten – Globalisierung schwächt den Staat (die Wirtschaft wandert ab) – Antworten: • `Standort Deutschland` (Senkung der Lohnkosten, etc.); • workfare (Re-Kommodifizierung); • social investment 20 6. Demokratie • Liberale Demokratie (vs. Volksdemokratie): – prozedural, nicht inhaltlich definiert: `die Ergebnisse der Herrschaftsausübung (sind) ungewiss, die Prozeduren dagegen (stehen fest)` (Offe 528) • Repräsentative (vs. direkte) Demokratie: – Methode der politischen Entscheidungsfindung via Konkurrenzkampf um die Stimmen des Volkes (J.Schumpeter 1944) – Repräsentation: `to refine and enlarge the public views, by passing them through the medium of a chosen body of citizens` (J.Madison, Federalist No. 10); elitär u. anti-demokratisch – technisch unumgänglich in Flächenstaaten • inhaltlicher Vorteil von Demokratie: keine Angriffskriege (Kant, Montesquieu, Tocqueville: douce commerce) 21