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Deutsche Hochschule für angewandte Wissenschaften
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This document explores the concept of ethics, focusing on the ethical implications of the digital transformation and the underlying philosophical principles associated with various historical periods. It describes how digital transformations of a society influence our lives and the importance of considering the impact of technology on society.
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Ethik 1 Einleitung Die Digitale Transformation konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellun- gen, die bereits in der Wortfolge angedeutet werden. ‚Digital‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang die fortschreitende Technolo- gisierung vermehrter Lebensräume. Als einfaches Schlagwort bezeichnet ‚Dig...
Ethik 1 Einleitung Die Digitale Transformation konzentriert sich auf zwei zentrale Fragestellun- gen, die bereits in der Wortfolge angedeutet werden. ‚Digital‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang die fortschreitende Technolo- gisierung vermehrter Lebensräume. Als einfaches Schlagwort bezeichnet ‚Digitalität‘ die Technologisierung realer Lebenswelten und Alltagserfahrun- gen. Der Begriff erfasst eine Entwicklung, die sich selbstverständlich nicht auf kommerzielles oder unternehmerisches Handeln beschränkt. Stattdes- sen verändern sich als Folgewirkung der Digitalität die allgemeinen und um- fassenden Lebensverhältnisse radikal und rasant. Was zur zweiten Dimension führt, die in der Bezeichnung ‚Digitale Transfor- mation‘ zum Ausdruck kommt. Der Ursprung des Worts Transformation fin- det sich im Lateinischen. Im Wort Transformation findet sich die Idee von Formation mitbezeichnet. Formation bedeutet in der lateinischen Wortwur- zel sinngemäß etwas zu bilden, zu gestalten, zu formen. Transformation meint dann die Umwandlung des davor Bestehenden, die Verwandlung, die Veränderung des bereits Geformten. Jede Transformation symbolisiert kon- sequenterweise den Wandel des Seienden. Transformation meint im Wort- sinn also nicht die Schaffung von Neuem, sondern die Veränderung von Vor- handenen. Digitale Transformation führt immer diese beiden Dimensionen und Bedeu- tungsstränge zusammen, die sich wirkungsvoll verknüpfen. Digitalität ver- antwortet Veränderung und zeitgemäßer Wandel denkt sich immer digital. Die wahrnehmbaren Folgen dieser Verbindung gehen nun über den Bedeu- tungsrahmen hinaus, der für strategische Organisationsentscheidungen al- lein relevant erschienen. Oder anspruchsvoller gedacht: Nur wer die gesell- schaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung konzeptionell zu begreifen sucht, kann die Herausforderungen für die eigene Organisation angemessen erkennen. Drei Begriffsdefinitionen lassen sich unterscheiden: Digitalisierung meint schlicht den Vorgang, Informationen in Bits und Bytes Merksatz abzulegen, damit sie von Computern gelesen werden. Digitalität meint die Technologisierung unserer Lebenswelt. Digitale Transformation bezeichnet die unternehmerischen, organisatori- schen und gesellschaftlichen Folgewirkungen, die durch diese breitenwirk- samen Phänomene veranlasst werden. 1 Ethik Die tiefgreifenden Umbrüche, die einer verunsicherten Gesellschaft gegen- wärtig Gestalt geben, verlangen nach vernünftiger Reflexion. Sie bedingen seitens engagierter Bürgerinnen ein Verantwortungsbewusstsein und Inte- resse an der Materie, die über den nur scheinbar begrenzten Bezugspunkt des eigenen Tätigkeitsbereichs hinausreichen. Wesen und Ausmaß der digi- talen Transformation begründen neue Seins- und Wesensformen der Gesell- schaft an sich. Die Veränderung aktiv zu gestalten, ihre Wirkweise verständ- nisvoll zu erfassen, um Chancen und Risiken zu ermessen, das bildet den es- senziellen Auftrag an jene Personen, die tätig an der Zukunft wirken. Es leitet ein grundsätzliches Verständnis: Fortschritt bündelt sich nicht in ei- nem Gesamtpaket. Technologischer Fortschritt, der sich so umfassend ab- zeichnet, übersetzt sich weder zwangsweise noch notwendigerweise in po- litischen oder gesellschaftlichen Fortschritt. Vielmehr bedarf es einer gewis- sen Art von Übersetzungsleistung und eines unabhängigen Engagements in allen Bereichen, damit technologischer Progress zur gesellschaftlichen Wei- terentwicklung führt. Die Philosophie des aufgeklärten Konservatismus basiert auf der Überzeu- gung, dass nicht jede Veränderung an sich immer Fortschritt bedeuten muss. Progressives Denken hingegen sieht in der Zukunft immer ein Versprechen, dass sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit überflügeln wird – allein schon weil die Zukunft jener zeitliche Horizont ist, der das Resultat eigenen Engagements ausmacht. Beide Positionen, die aus der Einsicht in historische Verläufe und Erfahrungen geboren wurden, können dem Nachdenken über die gesellschaftlichen Umbrüche im Rahmen der digitalen Transformation Orientierung liefern. Denn es gilt von den Chancen mutig Gebrauch zu machen, ohne auf naive Weise die vorhandenen Risiken zu ignorieren, zu übertünchen oder zu ver- nachlässigen. Vor allem darf das Bewusstsein und die Überzeugung leiten, dass die digitale Transformation vielversprechende Potenziale für eine bes- sere Zukunft in sich trägt, wenn ihre vorhandenen Schattenseiten aufrichtig erkannt werden – und Personen mit aufgeklärtem Geist und abgeklärtem Verantwortungsbewusstsein sich sinnvoll dafür einsetzen, dass greifbare Verbesserung realisiert wird. Dieses Skriptum beabsichtigt diesbezüglich keine abschließenden oder ganz- heitlichen Antworten zu liefern. Es möchte vielmehr und stattdessen Denk- anstöße aufzeigen, welche Herausforderungen sich aus ethischer Perspek- tive nachweislich aufdrängen und wie diese im Geiste humanen Denkens an- gegangen werden können. Im Zuge einer Lehrveranstaltung, die Inhalte wie diese zu vermitteln beab- sichtigt, lässt sich keine Trennschärfe zwischen wissenschaftlicher 2 Ethik Objektivität und persönlicher Präferenz ziehen. Allein die Auswahl der The- men aus einer Fülle von Themenvarianten spiegelt individuelle Gewichtun- gen selbst dann ab, wenn die allgemeine Relevanz den eigentlichen Maßstab bilden soll. Die Deskription solcher Sachverhalte vermittelt immer eine nor- mative Position mit – die Beschreibung von brisanten Sachlagen transpor- tiert eine immanente Werthaltung. Die wissenschaftliche Belastbarkeit der Argumente wird durch Datenmate- rial garantiert. Quellen werden dabei nachvollziehbar offengelegt, wie es der Standard wissenschaftlicher Verfahren verlangt. Die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, müssen jedoch nicht unbedingt geteilt werden. Eine wich- tige Unterscheidung: Über statistisches Material kann es keinen Zweifel ge- ben, es beschreibt die Quantifizierung von objektivierbaren Sachverhalten. Die Rückschlüsse hingegen, die auf dieser Grundlage getroffen werden, ver- suchen sich im logischen Denken und müssen jedoch nicht zwangsweise gut- geheißen werden. Es gilt sinngemäß die Wahrheit, die der US-Senator Daniel Patrick Moynihan einst ausgesprochen hat: „Jeder ist berechtigt, seine ei- gene Meinung zu haben. Keiner ist berechtigt seine eigenen Fakten zu erfin- den.“ Erkenntnis wächst durch Widerspruch und Diskussion. Fakten bilden dafür die unerlässliche Grundlage, sofern der Diskurs den Mindestanspruch aufge- klärter Vernunft verfolgt. Eine Anregung für einen faktensatten und zivilen Diskurs über gesellschaftliche Zukunftsthemen soll diese Lehrveranstaltung liefern, darin besteht ihr Zweck. 1.1 Rekapitulation: Der Begriff Ethik Die Lehrveranstaltung Ethik baut als besondere Voraussetzung auf den in- haltlichen Grundlagen auf, die bereits in der Lehrveranstaltung Gesellschaft- liche, soziale und ökologische Verantwortung vermittelt wurden. Dort wurden einführend die Grundlagen erklärt, was als Ethik faktisch zu ver- stehen sei. An dieser Stelle kann deshalb eine prägnante Rekapitulation ge- nügen, um zu erinnern, was Ethik eigentlich meint. Eine historische Perspek- tive kann helfen: Den ersten Versuch, ein konzises Verständnis von Ethik zu systematisieren, unternimmt der griechische Philosoph Aristoteles. Seine wichtigste Studie zum Thema markiert das Werk Nikomachische Ethik. Aristoteles widmet den bedeutsamen Text seinem Sohn Nikomachos - daher der ungewöhnliche Name. Die Darstellung lässt sich als Handreichung des Vaters an den Sohn betrachten, wie gut zu wirken sei. 3 Ethik Was erachtet Aristoteles als richtiges Tun? Seiner Meinung nach findet es sich immer dort, wo Tugend anzutreffen sei. Tugend repräsentiert, so seine Analyse, immer den Ausgleich zweier Laster. Sie steht mittig zwischen Über- maß und Mangel. Tugend findet sich beispielsweise zwischen den Extremen Verschwendung und Geiz. Sie sitzt dort, wo wir auf Freigiebigkeit treffen. Sie bildet das Zentrum zwischen Schmeichelei und Streitsucht, wird dort ent- deckt, wo Freundlichkeit herrscht. Ethisches Handeln besteht nach Auffas- sung von Aristoteles im Ausgleich zweier Gegenpole, in der Mäßigung, in der Unterlassung des absolut Machbaren. Die Erkenntnis zeigt bereits ein Prinzip, das für die nachfolgenden Diskussi- onsgegenstände relevant erscheint. Um den Gesichtspunkt umzumünzen: Nicht alles was (technologisch) machbar wäre, sollte getan werden. Ein ähn- licher Ansatz regelt vergleichsweise den Umgang unserer Zivilisation mit Atomwaffen. Die internationale Gemeinschaft würde über die Handlungsop- tion der atomaren Apokalypse verfügen, ohne bisher von ihr Gebrauch zu machen. Eine klare, vernünftige, freiwillige, ethische Selbstbeschränkung unserer technologischen Möglichkeiten wird hier abgesichert durch interna- tionale Verträge und eine transnationale Institution. Um ethisch zu handeln, verlangt es nach den Grundsätzen von Aristoteles, also Vernunft und Erkenntnis. Nur durch reflektiertes Begreifen lässt sich das eigene Verhalten gestalten und zur balancierenden Mitte hin orientieren. Bei all dem lässt Aristoteles über eine Einschätzung keinen Zweifel: Ethik bil- det seiner Meinung nach den einzigen Weg, ein guter Mensch zu werden, um ein glückliches Leben zu führen. Seit der griechischen Antike gilt nun auch das Verständnis, dass Ethik eine bewusste Entscheidung voraussetzt und sich von unethischen Handlungen abgrenzen lässt. Das Mittelalter befördert anschließend ein anderes Konzept im Verständnis der Ethik. Es gilt in dieser Epoche, das Leben auf die Gefälligkeit Gottes hin auszurichten. Ethisch handelt, wer durch sich selbst die Werke Gottes voll- bringt. Ethisch agiert, wer sich selbst zum Werkzeug eines göttlichen Prinzips macht, als Instrument einer höheren Instanz arbeitet, finale Rechenschaft ablegen wird. Auch dieser Zugang zur Ethik basiert auf der Überzeugung, dass der Mensch eigene Entscheidungen trifft, doch agiert er nicht im Namen seiner selbst, sondern hinsichtlich göttlicher Wirkung. Von dieser Ausgangsposition kommt schließlich die Aufklärung ab. Sie er- kennt im Menschen ein autonomes Wesen, das über ein wahrnehmbares Bewusstsein für einen sittlichen Kodex verfügt. Das Motiv, ethisch zu 4 Ethik handeln, existiert, weil der Mensch mit Würde ausgestattet ist, weil wir Rechte und Pflichten haben, die uns zu richtigem Verhalten anleiten, weil wir auf Grundlage von Freiheit entscheiden. Wir agieren ethisch, weil auf diese Weise der eigenen und der universellen Würde des Anderen entspro- chen wird. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat uns genau diesen Zusammen- hang bewusst gemacht. Er hat als Erster entdeckt und begriffen, dass wir ethisch handeln sollen, um der universellen Würde des Menschen zu ent- sprechen. Wenn wir ethisch handeln, dann geschieht dies aus freien Stü- cken, weil wir mit Vernunft ausgestattet sind, die uns richtiges Verhalten er- kennen lässt. Zusammenfassend: Wir können ethisch handeln, weil uns Vernunft leitet, und wir sollten ethisch handeln, um der Würde des Menschen zu entspre- chen. Beides lässt sich begreifen, weil wir als Menschen über die Fähigkeit Zusammenfassung der Erkenntnis verfügen. Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet, wie sich ethisches Handeln ergrün- den lässt. Was gibt den entscheidenden Hinweis darauf? Für Immanuel Kant lässt sich der moralische Wert einer Handlung ermessen, wenn die Intention bewertet wird, die eine Handlung veranlasst. Immanuel Kant schreibt in sei- ner Abhandlung Metapyhsik der Sitten: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet [...] sondern allein durch das Wollen [...] an sich gut [...].“ 1 Ethisch verhalten sich Menschen dann, wenn die Motive, die eine Handlung veranlassen, lauter wären. Nur die Intentionen, die anstoßen, geben Aufschluss über den moralischen Wert von Taten. Da Entscheidungen in Handlungsmotiven gründen, müssen diese Handlungsmotive allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen, um ethisch zu sein. Nur wenn universellen Prinzipen genügt wird, wird richtigen Veranlassungen gefolgt. Immanuel Kant geht in seinem Argument so weit, dass er keine Ausnahme von der Re- gel akzeptiert. Sein Rigorismus wird von Kritikern durch ein exemplarisches Beispiel heraus- gefordert: Angenommen ein Freund verstecke sich im eigenen Haus, weil er vor einem Mörder flieht. Der Mörder klopft an die Tür und fragt, ob man wisse, wo sich der Freund aufhalte. In diesem Fall wäre es doch zweifellos eine ethische Handlung, den Mörder zu belügen und von der Vorgabe, die Unwahrheit zu verpönen, abzuweichen. Immanuel Kant verneint. Er behauptet, es brauche moralische Bedingungs- losigkeit. Kein Ausnahmefall kann es erlauben, von grundsätzlichen Devisen 1 Kant, 2018 5 Ethik abzuweichen. Wird nur in einem einzigen Fall die Lüge als legitim erachtet, dann verabschieden wir uns von unumstößlichen Standpunkten und wissen in Folge nicht mehr, wann gelogen und wann die Wahrheit gesagt wird. Da die Essenz der Ethik im Grundmotiv des Vorgehens zu eruieren sei, wirken keine Abweichungen von diesem Prinzip zulässig oder begründbar. Nachvollziehbar, dass sich in der philosophischen Auseinandersetzung ab- weichende Haltungen von der Position Immanuel Kants finden. Einen mas- siven Widerspruch formuliert der Konsequentialismus. Die Idee besagt: Der moralische Wert einer Handlung bemisst sich nicht nach der Intention, son- dern der Konsequenz einer Tat. Die Wirkung und nicht der Ausgangspunkt müssen Entscheidungskriterium sein, um zu ermessen, ob ethisch gehandelt wird. Ethik wird durch einen Duopol bestimmt. Intentionalismus steht der Überzeugung des Konsequentialismus entgegen, wie im Skriptum zur Lehr- veranstaltung Gesellschaftliche, soziale und ökologische Verantwortung ausführlicher dokumentiert ist. Fassen wir den Unterschied der Ansätze anhand von zwei illustrativen Bei- spielen zusammen: Beispiel Angenommen wir wären Chirurginnen in der Notaufnahme eines Kranken- hauses und es kommt zu einem tragischen Autounfall. Fünf schwer verletzte Personen werden ins Spital gebracht. Eine Person erleidet extrem tragische Verletzungen, sie zu operieren würde den ganzen Tag in Anspruch nehmen und die anderen vier Personen würden, während wir operieren, mit Sicher- heit ihr Leben verlieren. Oder aber wir operieren die anderen vier Personen und akzeptieren, dass wir damit die eine Person sterben lassen. Wie würde man entscheiden? Nun verändern sich die Bedingungen. Jemand arbeitet als Transplantations- chirurgin, ein kerngesunder Patient kommt im Nachbarzimmer zum regel- mäßigen Check-up und schläft dort auf der Bank für ein kurzes Nickerchen ein. Die Transplantationschirurgin sorgt sich in diesem Moment um vier Ver- letze des Autounfalls, die dringend eine Organspende brauchen, weil ihr Zu- stand äußerst kritisch ist und sich zusehends verschlechtert. Nun ließe sich, da sich eine Person im Tiefschlaf befindet, Nutzen daraus ziehen. Der Person ließe sich Herz, Lunge, Leber, Niere entwenden, um sie den anderen Patien- ten zu implantieren. Der Tod einer Person wird in Kauf genommen, um das Leben von den anderen vier zu retten. Übung: Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, die eigene Position zu ordnen. Wie Übung 6 Ethik würden Sie entscheiden, wenn Sie ihren eigenen ethischen Überzeugungen folgen wollen? Wie entscheiden sich andere im Vergleich, wenn sie ihren ethischen Über- zeugungen folgen? Erfahrungen zeigen ein eindeutiges, aber kein einstimmi- ges Bild. Im ersten Fall tendiert eine Mehrheit befragter Personen dazu, die vier ver- letzten Personen zu operieren und zu akzeptieren, dass die tragisch schwer- verletzte Person sterben würde. Im zweiten Beispiel hingegen nimmt die Mehrheit der Personen davon Ab- stand, dem kerngesunden Menschen die Organe zu entwenden, um das Le- ben der anderen vier zu retten. Wie lässt sich im analytischen Rahmen dieser Unterschied reflektieren? Im ersten Beispiel stehen die tatsächlichen Konsequenzen der Entscheidung im Vordergrund. Das eigene Handeln wird durch die Rettung der vier begrün- det. Im zweiten Fall leiten andere moralische Prinzipien, die kategorisch gelten und als Begründung vorab Entscheidungen anstoßen. Man müsste bereit sein, den Tod eines anderen Menschen willentlich herbeizuführen, um vier andere zu retten. Vor der Handlung wird zurückgeschreckt, weil sie einen Entschluss voraussetzt, der als unethisch betrachten wird. Im dem einen Fall motiviert die Konsequenz, in der anderen Situation führt die anfängliche Intention. Intentionalismus und Konsequentialismus bilden also keine unumstößlichen Direktiven, sondern sie begründen Verhalten si- tuationsabhängig und haben beide ihre Berechtigung. Wo treffen ähnliche Zusammenhänge abseits der theoretischen Überlegung auf? Das deutsche Innenministerium hat vor einigen Jahren einen Gesetzesent- wurf vorbereitet, der vorsieht, dass entführte Passagiermaschinen abge- schossen werden dürfen, wenn davon auszugehen ist, dass ein Flugzeug als terroristische Waffe gegen von Menschen frequentierte Einrichtungen ge- steuert wird. Der Bundestag hat das Gesetz verabschiedet, das Bundesver- fassungsgericht es jedoch für nichtig erklärt. Aufgrund der Würde des Men- schen, die als Grundprinzip im deutschen Grundgesetz verankert ist, kann nicht Menschenleben mit Menschenleben aufgerechnet werden. Das Bun- desinnenministerium reflektierte also auf einer konsequentialistischen 7 Ethik Basis, indem es mathematisch kalkuliert. Es muss der Tod von Menschen herbeigeführt werden, um andere Menschen zu retten. Das Bundesverfas- sungsgericht hält eine intentionalistische dagegen, indem es argumentiert, Menschenleben lässt sich nicht gegen Menschenleben subtrahieren. So funktioniert unser Verständnis von Würde nicht. Die Idee von menschlicher Würde wäre laut Grundgesetz kein mathematisches Modell, sondern Würde wäre immer unteilbar und ihre Bewahrung muss oberstes Prinzip staatlichen Handelns sein. Das Massachusetts Institute of Technology führt aktuell eine großangelegte Studie online durch, an der sich jeder ohne Vorbedingung beteiligen kann. Die Untersuchung möchte querschnittsartig herausfinden, was beispiels- weise von selbstfahrenden Autos erwartet wird, wenn es zu brenzligen Situ- ationen kommt. Wie soll ethisch entschieden werden? Das ganze Model baut auf einem konsequentialistischen Fundament auf. Das Experiment ver- handelt ähnliche Fragen, wie die oben gestellte. Gerade bei der Fragestellung hinsichtlich des gewünschten Verhaltens von autonomen Vehikeln zeigt sich die Komplexität der Fragestellung, wie mit autonomisierten Entscheidungen umzugehen wäre. Um ein Beispiel direkt aus dem Fragebogen zu entwenden, der vom Massachusetts Institute of Technology konzipiert wurde, sei folgende Situation dargestellt: Ein selbstfahrendes Auto kann einen Zusammenprall mit tödlichem Ausgang nicht abwenden. Es stehen nun zwei Optionen offen. Entweder rammt das Auto einen Block, der mitten auf der Straße steht und die Insassin verliert das Leben, oder das Auto wechselt intentional die Fahrspur, um dem Block auszuweichen, überfährt jedoch einen Fußgänger, der die Straße auf dem Zebrastreifen überquert. 8 Ethik What should the self-driving car do? Show Description Show Description Abbildung 1: Beispiel des Moral Machine Fragebogens 2 Die Situation impliziert faktisch mehrere zentrale Herausforderungen. Neben der vordringlichen Entscheidung, ob die Fahrspur gewechselt werden soll oder nicht, stellt sich auch die Frage, wer dies festlegen darf. Sollen Ge- sellschaften in Form eines gesetzlichen Regelwerks beschließen, wie ein au- tonomes Fahrzeug in diesem Fall zu reagieren hat? Braucht es also gesetzli- che Bestimmungen? Wenn ja, dann müssen konsequenterweise nationale Parlamente darüber befinden und verbindliche Entscheidungen treffen. Das könnte bedeuten, dass bei einer knapp vierstündigen Fahrt von Wilna nach Riga auf litauischem Gebiet andere Regelwerke gelten könnten als in Lett- land. Also braucht es eher internationale Standards. Oder wird es den Autoherstellern selbst überlassen, als Unternehmen, ei- genständige Festlegungen über das Verhalten ihres Autos zu treffen und diese dann zu bewerben? Wie würden dann Autokäufer darauf reagieren, dass bei einem Hersteller die Insassen, bei anderen die Fußgänger geschützt würden? Wird das plötzlich zum Wesensgehalt der Kaufentscheidung? Oder aber wird den Konsumenten die Entscheidung autonom anheimge- stellt? Wird heute beim Autokauf beispielsweise darüber befunden, welche Innenausstattung gefällt, dann könnte zukünftig beim Erwerb eines Autos die individualisierte Ausführung so wählbar sein, dass die Fahrzeughalter 2 Quelle: http://moralmachine.mit.edu/ 9 Ethik darüber bestimmen, wie ihr Wagen in einer kritischen Situation weiterver- fahren würde. Würde sich die Einschätzung ändern, wenn die Besitzerinnen eines Fahrzeugs beispielsweise als Eltern das Kleinkind mit dem Auto zum Kindergarten bringen? Wie steht es im Falle von Haftbarkeiten bei selbstverschuldeten Unfällen? Wer trägt dann die Verantwortung – die Fahrenden, die Herstellenden, die Programmierenden? Es zeigt sich, welche komplexe Folgewirkungen ethische Fragestellungen un- ter technologischen Zukunftsbedingungen annehmen. Übung: Nehmen Sie sich bitte die Zeit, um den Moral Machine Test zu absolvieren: Wie soll Ihrer persönlichen Auffassung nach, ein autonom fahrendes Auto Übung entscheiden? http://moralmachine.mit.edu/ Das System des autonomen Fahrens zeigt einen weiteren Entwicklungs- schritt. Beim regulären Autoverkehr treffen bisher Individuen eigenständige Entscheidungen. Diese Organisationsgrundlage wird durch die Wirkweise von autonom agierenden Fahrzeugen vollkommen überholt. Anstatt der Entscheidungen von Individuen, auf denen das System heute beruht, trans- formiert sich der Personenverkehr zu einem selbstständig denkenden und organisierenden Gesamtsystem, operierend mit permanentem Datenaus- tausch. Die digitale Transformation begründet auch hier einen systemischen Wandel. Während bisher Einzelpersonen, die hinter dem Lenkrad saßen, Informatio- nen durch Sinneseindrücke aufgenommen, kognitiv verarbeitet und dem- entsprechende Entscheidungen getroffen haben, wird durch vernetzte Tech- nologie ein verknüpftes Netz zwischen selbstständig agierenden Maschinen in einem sich selbst denkenden Gesamtsystem etabliert. Vernetzung und Datenverarbeitung ermöglichen es in diesem Zusammenhang, separierte Einzelentscheidungen zugunsten eines abstrahierten und algorithmisch kal- kulierbaren Gesamtinteresses aufzulösen. Technologie befähigt folglich dazu, disparate Informationen in der Form zu aggregieren, dass sie der Ent- scheidungsgrundlage für maschinelle Aktionen im kollektiven Interesse die- nen. Die Welt operiert systemischer, weil mehr Daten aufgezeichnet und diese durch Algorithmen ausgewertet werden. Das ist ein ganz anderes Prin- zip, als wenn Einzelpersonen aufgefordert sind, eigenständige Entschlüsse im fließenden Straßenverkehr zu treffen. Diese Betrachtungsweise führt schließlich auch zum spezifischen Gegen- stand des Exzerpts zurück. 10 Ethik Ethik begrenzte bisher immer einen humanen Begriff, ausschließlich einge- grenzt auf den Menschen. Es erschiene sinnlos, das Benehmen eines Fisches, Hunds, einer Schnecke, eines Bleistifts, Zebrastreifens oder Autoradios als sittlich zu betrachten. Diese Festlegung basiert auf dem Standpunkt, dass die kognitiven Fähigkeiten, die es zur Reflexion voraussetzt, nur dem Menschen eignen. Gegenwärtig sehen wir uns mit einem gravierenden Sprung in der Debatte konfrontiert. Eine Überlegung, die seit ihrem Beginn vor ungefähr 2400 Jah- ren im antiken Griechenland immer auf den Menschen konzentriert, wird nun womöglich auf eine andere Intelligenz ausgeweitet: Die Technologie. Dabei scheint bezeichnend, dass Technologie eine Form von Intelligenz ma- nifestiert, die ohne Bewusstsein agieren kann. Bisher waren Bewusstsein und Intelligenz gekoppelt und immanent verbunden. Nun entsteht eine Art von technologischer Intelligenz, die es versteht, ohne Bewusstsein zu ope- rieren. Dieser monumentale Bruch mag einer der zentralen Gründe dafür sein, warum es aktuell so schwierig zu begreifen scheint, welche Verände- rung der Menschheit hier gerade durch eigene Gestaltung widerfährt. Wie damit umgehen? Wie lässt sich die Idee der Selbstbestimmung und in- dividueller Entscheidungsfreiheit in Zeiten prognostizierter und kalkulierter Verhaltensweisen verteidigen? Wie wirkt Freiheit, die es für ein Konzept von Ethik braucht, im digitalen Zeitalter? Diese Fragestellungen sollen systema- tisch untersucht werden. Welche Themenschwerpunkte dafür gewählt wer- den, erklärt das nächste Kapitel. 1.2 Inhaltliche Themensetzung der Lehrveranstaltung Fragestellungen zur Informationsethik kennen keine letzten Rückschlüsse. Nicht nur weil das Prinzip von Ethik keine Eindeutigkeit zulässt, da hier be- reits zwischen konsequentialistischen und intentionalistischen Ansätzen entschieden werden muss, sondern weil eigenständige Untersuchungsge- genstände aufgrund ihrer Besonderheit unterschieden werden müssen. In Folge untersuchen also die anschließenden Kapitel konkrete Aspekte, die hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung im Rahmen der digitalen Transformation zu bewerten wären. Kapitel 2 bewertet die geschehenden Umbrüche vor einer historischen Ver- ständnisgrundlage, dabei dokumentiert sich vor allem eine Chronologie der permanenten Beschleunigung. Kapitel 3 unternimmt den Versuch, die technologische und ökologische De- batte zu verknüpfen. Ein gesonderter Fokus wird auf die zentrale Herausfor- derung durch die potenzielle Klimakatastrophe gelegt. Es wird die 11 Ethik Fragestellung verfolgt, wie die digitale Transformation für die Milderung der Problematik genutzt werden kann. Ökologie und die digitale Transformation bilden die zentralen gesellschaftli- chen Seinsbestimmungen und Seinsformen im 21. Jahrhundert. Merksatz Kapitel 4 überlegt, wie die soziale Schieflage, die durch moderne Produkti- onsmethoden verschärft wird, sich ausgleichen oder wenigstens angemes- sen denken ließe. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die aktuellen Differenzen bemessen, sondern die Gegenwart wird in eine historische Per- spektive gesetzt. Eine soziale Perspektive gesellschaftlicher Veränderung zeigt sich oder präziser formuliert: Es wird nachvollzogen, wie Technologie als Triebkraft sozialen Wandels auf einer sehr fundamentalen Ebene wirkt und warum staatlichen Organisationen bei diesen Fortschrittsprozessen eine zentrale Rolle zukommt. Kapitel 5 analysiert, dass technologische Entwicklungen, wie sie durch Pre- dictive Analytics erfahrbar werden, das liberale Freiheitsverständnis heraus- fordern. Kapitel 6 untersucht abschließend die Fragestellung, welche kritische Ge- sichtspunkte sich rund um die Wirkweise von disruptiven Geschäftsmodel- len identifizieren lassen. Welche legalen und legalistischen Implikationen finden sich hinter den aggressiven Geschäftsmodellen entscheidender Marktakteure und wie reagieren öffentliche Institutionen darauf? Ist Disrup- tion also weniger eine Wirkweise als vielmehr eine Ideologie? All diese unterschiedlichen Ansätze sollen zusammenwirken, um eine solide Basis dafür zu schaffen, final nochmals die gesellschaftlichen Implikationen dieses Wandels zu bestimmen. 12 Ethik 2 Permanente Veränderung aufgrund histori- scher Beschleunigung Speziell die deutsche Geschichtsphilosophie, die im Zeitalter der Aufklärung ansetzt und nach klassischer Auffassung mit Karl Marx schließt, geht von der Prämisse aus, dass die Geschichte unumwunden und immanent einem inhä- renten Ziel zuschreitet. Wie in der Lehrveranstaltung Change Management bereits dargelegt, zeigt sich der Philosoph Immanuel Kant überzeugt, dass der menschlichen Natur erfahrbare Konfliktpotenziale im sozialen Zusammenleben eingewoben wä- ren. Denn erst störrischer Widerwille am Bestehenden setzt den Gestal- tungswillen frei, der jeder Verbesserung vorangeht. Es braucht Missmut mit dem Vorhandenen, um die Intention zu kreieren, den Stand der Dinge zu wandeln. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der zeitlich nach Kant wirkte, sah hingegen nicht eine Eigenart der menschlichen Natur am Wirken, die den Gang der Geschichte vorantreibe. Stattdessen vermutete er einen metaphysischen Weltgeist, der in der Geschichte wirksam wäre. Fortschritt erkannte er als unumgänglich, weil die Geschichte als Instrument der Vernunft wirke. Die Vernunft wiederum wird durch die Geschichte selbst zur Wirklichkeit. Alles was damit Wirklichkeit wird, materialisiert den Fortschritt. Karl Marx erkennt die Grundlage der wirksamen Veränderungskräfte statt- dessen weder in individuellen Persönlichkeitsmerkmalen noch in einem me- taphysischen Konzept wie jenem des Weltgeists. Der Philosoph dachte viel- mehr, dass ein antagonistischer Klassenkampf den Fortschritt von Gesell- schaften begründe. Die letzte Stufe vor dem zielführenden Abschluss der his- torischen Entwicklung machte Karl Marx konsequenterweise im Kapitalis- mus fest. Denn jede Form von Gesellschaft zeichnet bisher immer eine Dua- lität zweier gesellschaftlicher Pole aus, die als herrschende und beherrschte Klasse im strukturellen Widerstreit stehen. Der Kapitalismus bildet insofern die vorletzte Stufe dieser Entwicklung, als in seiner Ära Produktivitätskräfte geschaffen werden, die den Menschen von den Gängelungen durch Entbeh- rungen befreien. Erstmalig in der Geschichte der Menschheit werden pro- duktive Kräfte geschaffen, die es erlauben, Mangel zu überwinden. Durch den Kapitalismus entwickelt sich konsequent ein Wohlstandsniveau, das es ermöglicht, bisherigen Entsagungen abzuschwören. Nach Auffassung von Karl Marx wird, von diesem Standard ausgehend, eine unumwundene kom- munistische Revolution zur Abschaffung der Dialektik aus Herrschenden und Beherrschten führen. Erstmal Überfluss erzielt, verlangt es seiner Auffas- sung nach, keine Trennung mehr zwischen Herrschenden und Beherrschten, 13 Ethik denn bei Marx ist gesellschaftliche Macht immer direkt an die Verfügungs- gewalt über ökonomischen Wohlstand gekoppelt. Die kommunistische Re- volution führt also seiner Auffassung nach nicht zum Austausch der Herr- schenden, sondern zur Abschaffung der Herrschaft an sich, weil unter den Bedingungen des Überflusses auch die Modalitäten von konventioneller Herrschaft überflüssig werden. Alle Denker, die im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert davon ausgingen, dass Fortschritt unumgänglich wäre, strafte das 20. Jahrhundert Lügen. An- statt eines Fortschritts hin zu einem größeren Humanismus und finaler Frei- heit, führte die totalitäre Ideologie des Faschismus in den menschlichen Ab- grund und der real existierende Kommunismus entpuppte sich nicht als Reich der Herrschaftslosigkeit sondern als Großgefängnis und Unterdrü- ckungsmechanismus. Diese gemachten Erfahrungen helfen dabei, die gegenwärtige Situation in einen reflektierten Kontext zu setzen: Auch das 20. Jahrhundert zeigt we- sentliche technologische Durchbrüche, die nicht unumwunden und automa- tisch zu politischen und sozialen Verbesserungen wurden. Fortschritt in ei- nem Bereich begründet nicht zwangsweise Fortschritte in anderen Berei- chen. Wie sich technologischer Fortschritt in sozialen, politischen, ökologi- schen Fortschritt übersetzen lässt, bleibt eine gesondert zu erzielende und bedeutsame Aufgabe. Was in diesem Kapitel interessiert, ist weniger das Wesen des Fortschritts als solches, sondern die permanente Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der Veränderung wirksam wird. Veränderung ist dem modernen Zeitalter imma- nent, denn Wandel wirkt als Konstante. Bereits das Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg lässt sich frappierend mit der Jetztzeit vergleichen. Die Neuerungen in der Telekommunikation durch die Erfindung und Verbreitung des Telefons, die intensive Verflechtung des in- ternationalen Handels, Jahrzehnte der internationalen politischen Stabilität und eine damit einhergehende fatale Unterschätzung von Kriegsrisiken bei zwischenstaatlichen Konflikten, Neuerungen im Transportwesen, das Gefühl der technologischen Veränderung und des sozialen bzw. politischen Still- stands führten zu einem gesellschaftlichen Mix, der schließlich den Nährbo- den für die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs bildete. Das Neuartige an der Jetztzeit liegt folglich nicht in der Technologisierung der Lebensumstände, auch weniger in der Digitalisierung der vorhandenen Technologien – der massive Unterschied lässt sich in der Rasanz des Wandels bestimmen und durch die Folgewirkungen dieser Umbrüche ausmachen. 14 Ethik Nicht dass Wandel stattfindet, ist also die Besonderheit der Gegenwart, son- dern wie schnell er agiert. Tiefgreifende Erneuerungen führen häufig zu nachhaltigen Machtverschiebungen, Hierarchien geraten ins Wanken. Anhand vergangener Entwicklungen lässt sich diese Wirkweise dokumentie- ren. Die I. Industrielle Revolution, deren operative Grundsätze bereits in anderen Lehrveranstaltungen dieses Studiums dokumentiert wurden, baute auf der Durchsetzung der Dampfmaschine auf. Diese technische Veränderung führte in Folge nicht nur dazu, dass England zur führenden Weltmacht auf- stieg, auch die kontinentalen Wege verkürzten sich durch die Durchsetzung der Dampfeisenbahn zeitlich. Die Dampfeisenbahn ersetzte mühsame Über- landreisen in Kutschen. Im ersten Dow Jones Index, der noch vor der II. In- dustriellen Revolution gemessen wurde, fanden sich aufgrund der Populari- tät dieser Reisemethode und ihrer wirtschaftlichen Signifikanz fast aus- schließlich Dampfeisenbahnen – nur das Telegraphenunternehmen Western Union bildete diesbezüglich eine Ausnahme. Der Dow Jones Index selbst erfasst einen Aktienindex, der über die Kursent- wicklung des Aktienmarkts Aufschluss geben soll, indem die Performance der Leitaktien von 30 Unternehmen mit Gewichtung zusammengefasst wird und diese führenden Unternehmen symptomatisch für die Entwicklung der amerikanischen Gesamtindustrie selbst gelten. Berücksichtigt werden also für den Dow Jones Index vor allem Unternehmen, deren Tätigkeit als maß- geblich und beispielhaft für die Entwicklung der amerikanische Volkswirt- schaft erscheinen. Dass der Dow Jones Index maßgeblich durch Dampfunternehmen bestimmt wurde, war beispielsweise zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall. In der kurzen Ära zwischen Jahrhundertwende und vor dem Ersten Weltkrieg, der 1914 beginnt, setzte dann eine Dynamik unterschiedlicher Entwicklung ein, die durch verschiedene Innovationen begründet wird. Die Dynamiken füh- ren dazu, dass am Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1918 nur noch ein Unternehmen im Aktienindex erfasst wird, das bereits zum Jahrhundertbe- ginn dazu gezählt wurde: Das Telegraphenunternehmen Western Union, auch damals schon bekannt für Geldüberweisungen, die sich mittels des Un- ternehmens organisieren lassen. Die Dampfunternehmen hingegen waren mittlerweile allesamt aussortiert. Innovation agiert folglich gnaden- und rücksichtlos. Sie besorgt nicht nur, dass Neues entsteht, sondern auch das Bestehendes obsolet wird und unwiederbringlich vergeht, als sich die Be- dürfnisse einer Gesellschaft ändern. Waren im Jahr 1900 also Eisenbahnen 15 Ethik noch die bedeutsamsten Unternehmen in den USA, war das knappe zwei Jahrzehnte später bereits nicht mehr der Fall. Wird das 20. Jahrhundert durch den Blickwinkel eines anderen US-amerika- nischen Aktienindexes betrachtet, zeigen sich ähnliche Muster und Auffällig- keiten. Der S & P 500 erfasst als instruktiver und auskunftsstarker Leitindex die 500 größten börsennotierten US-Unternehmen, ausgewählt anhand ihrer Marktkapitalisierung. Dabei wirkt es aussagekräftig, wie lange die durch- schnittliche Erwartungshaltung besagte, dass die Aktie eines Unternehmens als Teil des S & P 500 registriert werden konnte. Im Jahr 1935 waren es durchschnittlich 90 Jahre, die als Erwartungshaltung galten, wie lange ein Unternehmen im S & P 500 Index gelistet blieb. Im Jahr 1955 reduzierte sich dieser Wert bereits auf 45 Jahre. Im Jahr 1975 sank er auf 30 Jahre. Im Jahr 1995 waren es nunmehr 22 Jahre. Im Jahr 2005 sind es dann schließlich noch 15 Jahre, die der Aktie eines Un- ternehmens als Verweildauer im S & P 500 zugemessen wird. Der Bedeutungszeitraum der Relevanz eines Unternehmens sinkt kontinu- ierlich. Kräfteverhältnisse und Bedeutungsverschiebungen im Online-Bereich er- scheinen dabei noch gravierender und rasanter als diese Vergleichswerte nahelegen. Die untere Abbildung zeigt an, welche 20 Unternehmen in den USA die häufigsten Internetaufrufe über den Verlauf von zwei Jahrzehnten auf sich vereinigen. Es handelt sich dabei selbstverständlich um einen ande- ren Referenzwert als durch die Marktkapitalisierung erfasst. Doch besitzen unter volkswirtschaftlichen Umständen, die Aufmerksamkeit zu kapitalisie- ren versteht, diese Referenzwerte entscheidende Bedeutung. 16 Ethik Das Internet Abbildung 2: Zeitachse der 20 Unternehmen mit den meisten Internetaufrufen in USA 3 Die permanente Beschleunigung, denen der Wandel der Gesellschaften in größeren Zyklen als diesen unterliegt, zeigt sich auch in der Abfolge der in- dustriellen Revolutionen. Die unterschiedlichen Zyklen, die einer konkreten Entwicklungsstufe der industriellen Revolution zugeschrieben werden kön- nen, verkürzen sich sukzessive. Oder anders formuliert: Die Abfolge der Ent- wicklungsschritte beschleunigt sich. Eine Grafik, entnommen aus der Lehrveranstaltung Digital Business und In- novationsmanagement, zeigt exakt die immanente Verkürzung dieser Zyklen an. 3 Quelle: Duden, 2019 17 Ethik Entwicklungsschri e der industriellen Revolu on Kompa bilität der Technologie I. PHASE II. PHASE III. PHASE IV. PHASE Dampfmaschine Elektrizität EDV-Automa sierung Blockchain, Big Data / KI 1750 1900 1970 2020 Chronologie der Produk vitätssteigerung Abbildung 3: Abfolge der Industriellen Revolution Die technischen Grundlagen der I. Industriellen Revolution bildeten über ei- nen konstanten und beachtlichen Zeitraum hinweg die federführenden Standards im Hinblick auf die Praxis industrieller Fertigung. Die II. Industrielle Revolution repräsentiert demgemäß eine Effizienzsteige- rung, verursacht durch den flächendeckenden Einsatz von Fließbändern und der Elektrifizierung von Anlagen. Zwischen den beiden Ansätzen liegt jedoch mehr als ein Jahrhundert. Es benötigte dann den ungefähren Zeitraum von sieben kurzen Jahrzehnten, bevor sich die die gängigen Produktionsbedingungen der II. Industriellen Re- volution durch den Einsatz von EDV erneuerten und die III. Industrielle Re- volution anbricht. Weniger als fünf Jahrzehnte, wenn großzügig bemessen, brauchte es dann schließlich, bevor die Grundlagen der III. Industriellen Revolution sich als gleichermaßen überholt und veraltet beweisen. Die Zeiträume zwischen den einzelnen industriellen Entwicklungsschritten werden zunehmend kürzer. Es lässt sich antizipieren, dass der Sprung von der IV. Industriellen Revolution zur V. Industriellen Revolution kürzer sein wird, als jener von der III. zur IV. Der wiederum war kürzer als jener von der II. zur III. Der wiederum war merklich schneller als jener von der I. zur II. Im- manente Beschleunigung markiert das verbindliche Wirkprinzip. Worin liegt nun die ethische Komponente dieser zunehmenden Rasanz? Der Soziologe Hartmut Rosa diagnostiziert der Gesellschaft eine Dichotomie aus Beschleunigung und Entfremdung. 18 Ethik Hartmut Rosa referiert, dass es vor allem der Faktor Zeit sei, der unsere ge- genwärtige Gesellschaft prägt. Zeit wird persönlich jedoch nur noch als per- manente Beschleunigung erfahren. Hartmut Rosa formuliert entsprechend, dass nicht nur der fortlaufende Wandel die definitive Konstante der Mo- derne sei. Er erkennt auch, dass sich Zyklen des Wandels permanent verkür- zen. Joseph Schumpeter analysiert, dass die Marktwirtschaft keine Stabilität er- wirken kann, als ihr der Modus permanenter Erneuerung eingewoben sei. Innovation wirkt als kontinuierliches Manifest marktwirtschaftlicher Logik. Hartmut Rosa präzisiert dieses Verständnis, als er nicht nur das Wesen der Erneuerung ergründet, sondern auch die Dimension von Zeitlichkeit mitbe- denkt. Nicht nur dass Innovation die stetige Veränderung des Markts be- wirkt, sondern die Innovationszyklen verdichten sich. Es lässt sich eine stei- gende Rasanz des Wandels ausmachen, unaufhaltsam. Das bedeutet, die Veränderung agierte noch nie so schnell wie in der Gegenwart, wird aber in Zukunft nie wieder so langsam sein wie heute. Hartmut Rosa vermerkt hin- sichtlich der definitorischen Eigenart der Moderne: „Eine moderne Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag. Was bedeutet, die heutige Gesellschaft ist strukturell auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung Merksatz angewiesen, um sich zu erhalten und zu reproduzieren.“ 4 Hierin besteht die Paradoxie der gängigen Veränderung: Eine beschleunigende Dynamik durch Innovation verändert radikal Angebot, Struktur und Produktionserfahrung des Markts. Simultan erfüllt der Wandel jedoch die Funktion, dass die Grundprinzipien, auf denen die Gesellschaft aufbaut, überdauern. Die Fortdauer der politi- schen Ökonomie der Verhältnisse verlangt nach Veränderung. Prägnanter ausgedrückt: Es muss sich alles wandeln, um die Erwartung zu erfüllen, dass substanziell alles gleichbleibt. Das immer schnellere In-Bewegung-Setzen der materiellen, sozialen und geistigen Welt zielt darauf, die bestehenden Verhältnisse durch Wandel zu stabilisieren. Die Paradoxie liegt darin, dass die eigentlichen Verhältnisse erst durch rasante Veränderung überdauern werden. Es mögen zwar vier Abfolgen der industriellen Revolution gezählt werden. Doch sie alle bestärken die Rahmenbedingungen der industriellen Revolution fortlaufend und unverändert. Sie basieren auf marktwirtschaftli- chem Handel, Unternehmertum, moderner Staatlichkeit, Kapitalakkumula- tion, Konsumlogik. Diese Konstanten überdauern in veränderter Form. 4 Zit. nach Kienzler, 2018, S. 25 19 Ethik Der demokratische Imperativ liegt nun darin, diese immanente Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene ausgleichend mitzugestalten. Demokratisch verfasste Gesellschaften verstehen es, die Konsequenzen ertragreicher In- vestitionen und marktwirtschaftlicher Tätigkeit durch Ansprüche auszuglei- chen, zu korrigieren, zu verändern und sie als unumgängliche und legitime Interessen des Gemeinwohls darzustellen. Im Zusammenhang mit der permanenten Beschleunigung der Jetztzeit stellt sich also die Aufgabe, eine nunmehr unleugbare und denkbare Konkurrenz- situation im Geiste der zivilen Humanität aufzulösen: Es handelt sich dabei um das präsente Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. Wenn Mensch und Maschine gegeneinander in einem direkten Konkurrenz- verhältnis stehen, verliert der Mensch, weil er keine ähnlichen Leistungen und Produktivitätssteigerungen erwirken kann, wie es der Maschine gelingt. Ein solches Verhältnis macht aber auch wenig Sinn und denkt die Bezüge falsch. Ein kopfrechnender Kassier im Supermarkt wird gegen den Laserscan- ner permanent den Kürzeren ziehen. Wenn aber solche Verhältnisse ge- schaffen werden, die diese abstrusen Konkurrenzsituationen in allerlei Um- feldern determinieren, dann wurde schlicht der Zweck von Maschinen ver- kannt. Vielmehr braucht es ein Abhängigkeitsverhältnis, dass die Maschine zum Er- füllungsgehilfen menschlicher Ambitionen degradiert. Nicht im maschinel- len Funktionieren des Menschen, aber auch nicht in der Vermenschlichung der Maschine liegt das humanistische Gebot der Zukunft – vielmehr in der zweckmäßigen und bedarfsgerechten Nutzung von Maschinen durch den Menschen. Dieses Zusammenwirken zeigt gegenwärtig bereits vielverspre- chende Potenziale im Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Die Produktivität wird gehoben durch das ertragreiche Zusammenwirken von Mensch und Maschine. Wie das funktionieren könnte, beweist beispielsweise die gegenwärtige Weltspitze der Schachspieler. Sie repräsentieren die erste Generation an Spielern, deren Fähigkeiten seit den Anfängen auch von Computern trainiert wurden. Auf diese Weise wurden Intelligenz und Spielstärke im Vergleich zu den alten Großmeistern markant gesteigert. Die zentrale Fragestellung besteht also darin, ein kooperatives Verhältnis zwischen Mensch und Maschine zu etablieren, wobei die rechtlichen Rah- menbedingungen und gesellschaftlichen Bedingungen so zu konstituieren sind, dass maschinelle Arbeit zum unzweifelhaften Nutzen der Menschen ge- schehen sollte. Wie folglich der maschinell oder digital erwirkte Wohlstand sich ansprechend verteilen ließe und welche Redistributionsmechanismen dabei sinnvoll wirksam werden könnten, bleibt eine gesellschaftlich zu 20 Ethik treffende Entscheidung, Ideen und Vorschläge dazu folgen im Rahmen die- ses Skriptums noch. Bevor jedoch der Fokus immanent auf Veränderungspo- tenziale und diesbezügliche Konzepte gelegt wird, soll vorab eine andere Ur- sache gesellschaftlicher Veränderung skizziert werden und ein Zusammen- hang mit der digitalen Transformation mitbedacht werden. Das nächste Ka- pitel konzentriert sich auf die Wirkmacht und die Massivität des Klimawan- dels und erläutert, wie die Wissensgesellschaft zur Milderung der sich ab- zeichnenden Klimakrise beitragen kann. 21 Ethik 3 Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie – die Existenzbedingung im 21. Jahrhundert Um die Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels zu verstehen, setzt es ein Verständnis über das natürliche Phänomen des Treibhauseffekts voraus. Erst wenn dieser verstanden wird, lässt sich nachvollziehen, wie menschliches Handeln dazu beiträgt, diese Wirkung massiv zu verstärken und damit eine natürliche Balance radikal sowie dauerhaft aus dem Gleich- gewicht bringt. Die schlichte Physik, die dem Treibhauseffekt zugrunde liegt, lässt sich ein- fach und unkompliziert erklären. Sonnenstrahlung passiert in der Form von Lichtwellen die Atmosphäre. Die Erde absorbiert diese Energie und strahlt sie in Form von Infrarot wieder zurück in die Atmosphäre. Ein Teil der Ener- gie wird jedoch durch die Atmosphäre gespeichert, damit wird die Erdat- mosphäre aufgeheizt. Ohne diesen Treibhauseffekt, ohne die Funktion der Atmosphäre würde die mittlere Temperatur auf unserem Planeten bei mi- nus 18 Grad liegen, anstatt bei der globalen und bodennahen Durchschnitts- temperatur von 15 Grad. 5 Beim natürlichen Treibhauseffekt handelt es sich also um eine Wirkung, die für die Entwicklung organischen Lebens auf der Erde unerlässlich zeichnet. Er erlaubt, dass Wasser in flüssiger Form in na- türlicher Umgebung vorkommt und auf diese Weise organisches Leben ent- stehen konnte. Der Treibhauseffekt schafft die Voraussetzungen für jene kli- matischen Bedingungen, die unsere Lebenswelt formen. Ein Gas, das auf natürliche Weise zum Treibhauseffekt beiträgt, ist Kohlen- dioxid (CO2). Es handelt sich bei diesem farb- und geruchlosen Molekül um eine chemische Verbindung aus den Elementen Kohlenstoff und Sauerstoff. Das Molekül besitzt als solches die Eigenschaft, Wärmestrahlungen zu ab- sorbieren. Genau diese Fähigkeit sorgt dafür, dass CO2 als Treibhausgas wirkt. Es speichert solare Wärmeenergie und strahlt sie ab. CO2 kommt schlicht in der Biosphäre vor. Es stabilisiert als solches nicht nur den Temperaturhaushalt der Erde, sondern gestaltet organisches Leben selbst. Beispielsweise wird es vom Menschen als Abfallprodukt des Stoff- wechsels ausgeatmet. Es stabilisiert aber auch den pH-Wert im Blut, hilft der menschlichen Physis und wird durch die pflanzliche Photosynthese wieder in Sauerstoff umgewandelt. Der Prozess der Evolution hat diesbezüglich ein austariertes und harmonisches System aufgebaut, einen biologischen Kreis- lauf geschaffen. 5 Vgl. Umweltbundesamt, 2014 22 Ethik In der Atmosphäre machen die Treibhausgase Kohlendioxid (CO2), Ozon (O3), Lachgas (N2O) und Methan (CH4) nur einen Bruchteil der vorhandenen Be- standteile aus. Sie repräsentierten insgesamt nur knapp 0,04 % aller Stoffe. Den weitaus größten Anteil der Bestandteile der Atmosphäre bilden zusam- mengenommen Stickstoff und Sauerstoff. Sie bündeln mehr als 99 % aller atmosphärischen Komponenten, haben aber auf das Klima keine weitere Auswirkung. Sie sind weder fähig, Wärme zu speichern noch diese zu absor- bieren. Ein äußerst fragiles Gleichgewicht und eine filigrane Zusammensetzung der Atmosphäre zeichnen also für die zyklische Stabilität des Klimas verantwort- lich und begründen die bodennahen Temperaturverhältnisse. Die massive Problematik setzt an, als dieses natürliche Gleichgewicht durch menschliche Aktivität rasant und wirkmächtig zum Kippen kommt, sie aus der Balance gebracht wurde. Dabei ist das Klima als solches weder dauerhaft stabil noch gleichbleibend, sondern es ändert sich zyklisch. Die Zyklen jedoch, die dabei beschritten werden, vollziehen sich in planeta- rischen Intervallen. Diese sind schlicht anders als zivilisatorische oder gar kulturelle Zeithorizonte. Natürliche Klimaveränderungen bilden sich im Laufe von Jahrtausenden. Das Muster von fallendem und steigendem CO2-Gehalt in der Atmosphäre, dass sich weit zurückliegend nachweisen lässt, vollzieht sich als natürliches Phä- nomen über den Spielraum von Jahrtausenden. Weil CO2 wesentlich bei der Speicherung und Verteilung von Hitze wirkt, kor- respondiert die Konzentration von CO2 unmittelbar mit der globalen Durch- schnittstemperatur. Die genaue Rückdatierung und Rückberechnung verän- derlicher Klimaszenarien lässt sich mittels Bestimmung der Auswertung von Sauerstoff-Isotopenstufen im Rahmen von Eiskernbohrungen errechnen, die im antarktischen Eis vorgenommen wurden. Analysen, die auf Grundlage der gehobenen Materie durchgeführt werden, lassen mittlerweile präzise Kalku- lationen über die klimatischen Entwicklungen der letzten 800.000 Jahre zu und die ermittelten Temperaturen zeigen den unmittelbaren Zusammen- hang mit der nachweisbaren Konzentration an CO2 an. Für den Zeithorizont der letzten 800.000 Jahre erweisen sich nachfolgende Trendkurven. Es darf bei der Betrachtung der Grafik auf der nächsten Seite mitbedacht werden, dass die ältesten Fossilien, die über die Ursprünge des Homo Sapiens informieren, knapp 300.000 Jahre alt wären. Die Dokumentation der klimatischen Bedingungen reicht also weit vor den Beginn unserer menschlichen Spezies zurück. Es ergibt sich eine recht simpel 23 Ethik verständliche Äquivalenz. Je mehr CO2 sich in der Atmosphäre konzentriert findet, umso höher die gemessene bzw. erforschte Durchschnittstempera- tur. Je kleiner die CO2 Menge in der Atmosphäre, desto geringer die Durch- schnittstemperatur. An diesen Abhängigkeiten und Entsprechungen gibt es keinen relevanten wissenschaftlichen Zweifel. Die Rückschlüsse selbst sind deshalb möglich, weil sich in der Antarktis Schneemengen befinden, die den gesamten Zeitraum rückeruieren und überbrücken lassen. Anhand dieser Bestände lassen sich die wechselhaften Zusammenhänge zwischen CO2 und Temperatur aufgrund von Sauerstoff- Isotopen und Schneeeigenschaften mittels ausgereifter wissenschaftlicher Verfahren bestimmen. Wie also wirken die Trends? Die Grafik gibt Antwort darauf. Abbildung 4: Entwicklung Durchschnittstemperatur, CO2, Meeresspiegel, Eigene Darstellung (2023) nach Nelles/Serrer (2018, S.33) Es zeigt sich nahezu eine Gleichförmigkeit der Verläufe zwischen CO2, der Durchschnittstemperatur und der Höhe des Meeresspiegels. Seit Beginn der industriellen Revolution wurde dieser Trend durch den Men- schen nun mächtig verschoben. Dafür verantwortlich zeichnet die Verbren- nung von fossilen Energieträgern wie Erdöl, Erdgas und Kohle. Diese Vor- gangsweise veränderte die chemische Konstitution der Atmosphäre binnen kurzer Jahrhunderte. Denn Erdöl, Erdgas und Kohle enthalten überproporti- onal viel CO2, das durch Verbrennung freigesetzt wird. 24 Ethik Fast 80 % des globalen Primärenergieverbrauchs wird gegenwärtig durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern gedeckt. Das führt nicht nur zur Freisetzung von CO2, das vorher in den unterirdischen Lagerstätten der Res- sourcen gebunden war, sondern auch zur Ablagerung von CO2 in der Atmo- sphäre. Jeden Tag verursacht menschliches Handeln, dass 110.000 Millionen Tonnen an hitzeabsorbierender und treibhausaktiver Verschmutzung in die Atmo- sphäre gepustet werden und dort verbleiben. In Konsequenz führt das zu massiven Folgewirkungen. Heute bereits misst sich eine Dichte und Menge an CO2 in der Atmosphäre, wie sie im Verlauf der letzten 800.000 Jahre nicht festgestellt werden konnte. Die Grafik unten, publiziert von der NASA, die als Organisation eine eindrückliche Forschung zum Sachverhalt des Klima- wandels leistet, zeigt einen Zeithorizont von 400.000 Jahren auf: Abbildung 5: CO2 Konzentration in der Atmosphäre, Eigene Darstellung (2023) nach NASA (2019) Die gegenwärtige Konzentration von CO2 in der Atmosphäre zeigt eine Dichte, die für die letzten 400.000 Jahre nicht einmal nachgewiesen werden kann. Seit Beginn der menschlichen Spezies lässt sich kein ähnlicher hoher Merksatz Wert nachprüfen. Hauptursache dieser Tendenz: Die Verbrennung von koh- lenstoffhaltigen fossilen Energieträgern durch den Menschen. Bei diesem nachweisbaren Effekt handelt es sich weder um eine Laune der Natur noch um einen ungewöhnlichen Ausreißer, der chemische Gesetzmä- ßigkeiten in Frage stellt. Stattdessen lässt sich die Folge davon beobachten, wie die wachsende Verbrennung von fossilen Energieträgern seit Beginn der industriellen Revolution zur zunehmenden Ablagerung von CO2 in der Atmo- sphäre führte. Wie wird denn CO2 eigentlich gemessen? Die Konzentration wird in Referenz gesetzt: wenn eine Million durchschnittlicher Bestandteile aus der 25 Ethik Atmosphäre genommen werden, wie viele davon sind CO2 Moleküle? Daher der Ausdruck parts per million (ppm) – Bestandteile pro Million. Laut Auskunft der NASA bemisst sich der Stand mit Januar 2019 auf 410 ppm. Im Verlauf der Erdgeschichte der letzten 800.000 Jahre und innerhalb der entsprechenden natürlichen Zyklen, die für langfristige Klimaveränderungen verantwortlich zeichnen, wurde nach Erkenntnissen wissenschaftlicher For- schung nie der Wert von 300 ppm überstiegen. Eine natürliche Veränderung um 100 ppm benötigt normalerweise zwischen 5.000 und 20.000 Jahren. Der aktuelle Anstieg um 100 ppm hat hingegen nur 120 Jahre benötigt, der An- stieg von 408 auf 409 hat dann nur noch 26 Wochen gebraucht – auf natür- liche Weise würde eine solche Veränderung den Zeitrahmen zwischen 50 und 200 Jahren beanspruchen. Die Brisanz der Entwicklung besteht darin, in welch kurzem Zeitraum ein Teil der Menschheit es erwirkt hat, die zyklische Konstanz klimatischer Trends aus der langfristigen Balance zu stürzen. Seit Beginn der industriellen Revo- lution intensiviert sich der Energiebedarf, der weitreichend auf der Verbren- nung fossiler Energieträger beruht. Die Moderne gründet bisher auf einer direkten Proportionalität: Durch ansteigendes Wirtschaftswachstum wächst der Energiehunger von Volkswirtschaften. Die bedeutsame Aufgabe besteht jetzt darin, diese Tendenzen und Wirkmechanismen voneinander zu entkop- peln. Warum liegt darin ein gesellschaftlicher Auftrag? Der Anstieg der CO2 Konzentration in der Atmosphäre führt zwangsläufig zu einem Temperaturanstieg mit fatalen Konsequenzen. Steigende Temperatu- ren verursachen den Anstieg des Meeresspiegels, Küstenlagen drohen un- bewohnbar zu werden. Der Meeresspiegel steigt aufgrund unterschiedlicher Faktoren: Zum einen wirkt das thermodynamische Gesetz, dass sich wärmende Gegenstände schlicht ausdehnen. Wird also das Ozeanwasser wärmer, dehnt es sich aus. Merksatz Zum anderen führen das Abschmelzen von Gletschern und der Arktis durch die Erwärmung zur Verflüssigung von Wassermengen, die bisher als Eis ge- bunden waren. Je intensiver die Erderwärmung voranschreitet, umso vehe- menter wird sich diese Folgewirkung zeigen. Einige amerikanische Banken weigern sich bereits, Hypothekarkredite für Immobilien in Miami Beach zu gewähren. Das Risiko, dass sich die belehnten Grundstücke innerhalb der Laufzeit der Kredite einfach in Sumpfland ver- wandeln, wirkt zu wahrscheinlich und unvermeidlich. Wetterkapriolen wer- den extremer, Schäden durch Schlechtwetterfronten nehmen signifikant zu. Land, das sich zum landwirtschaftlichen Anbau eignet, nimmt ab. Wüsten dehnen sich aus. Klimatische Extremsituationen belasten die menschliche 26 Ethik Physis. Viren und Krankheitsträger können in Regionen ausgemacht werden, die bisher nicht davon berührt waren. Die beschleunigte Veränderung der klimatischen Umstände geschieht in ei- nem Tempo, sodass die Evolution darauf nicht angemessen reagieren kann. Für die Artenvielfalt zeitigt die Wirkung der globalen Erwärmung enorme Konsequenzen. Manche Tierarten verlieren ihr natürliches Habitat, das er- laubt, Futter zu finden und sich fortzupflanzen. Manche können sich retten, indem sie entlang der Verschiebung von Klimazonen weiterwandern. Für Pflanzen und auf dem Land lebende Tiere kann beispielsweise belegt wer- den, dass sie mittlerweile innerhalb eines Jahrzehnts elf Meter in die Höhe und etwa siebzehn Kilometer Richtung Pole wandern. Sie folgen also den kli- matischen Bedingungen und Klimaregionen. Nicht alle schaffen diese Wan- derung oder können sie antreten, vorhersehbare Folge wäre ein Artsterben, wie es in den letzten 540 Millionen Jahren der Evolutionsgeschichte schlicht fünf Mal geschehen ist. Nur wenige Organismen können sich an unterschied- liche klimatische Bedingungen adaptieren – unter anderem die Ratte, der Mensch, die Kellerassel und der Rabe.6 Über die nächsten acht Jahrzehnte könnte die Hälfte aller existierenden Spe- zies aussterben, die heute den Planeten bewohnen. Evolutionsgeschichtlich gilt es als erforscht, dass über den Verlauf der großen Erdzeitalter mittler- weile 99,5 % aller Spezies ausgestorben sind. Das Ende von Lebensarten ist also nicht nur vorstellbare, es ist evolutionsgeschichtliche Erfahrung. For- scherinnen sprechen mittlerweile vom sechsten großen Massenaussterben, das in diesem Jahrhundert erlebt wird. Das letzte Artensterben einer ver- gleichbaren Größenordnung fand vor 66 Millionen Jahren statt, als die Krei- dezeit zu Ende ging. Damals schlug ein zehn bis fünfzehn Kilometer großer Asteroid auf der Halbinsel Yukatan ein. Dieser Vorfall zerstörte eine ganze ökologische Welt, als unmittelbare Folge davon gilt beispielsweise das Aus- sterben der Saurier. Von einer ähnlichen Wirkung für die Ökologie sprechen aktuell Wissenschaftlerinnen, wenn das Ausmaß des durch den Menschen verursachten Klimawandels auf die Biosphäre begriffen werden soll. Besonders betroffen von den klimatischen Verheerungen zeigen sich dabei die Ozeane. Sie sind es, die den Großteil der zusätzlichen Energie, die durch den menschverursachten Klimawandel auf der Erde gehalten wurde, aufge- nommen haben. Das sind nur einige Folgewirkungen, die im Rahmen der globalen Erwärmung bereits vorfallen. Das einflussreiche Think Tank World Economic Forum ana- lysiert vor der Jahrestagung in Davos sowohl im Jahr 2017 als auch im Jahr 6 Blom, 2017 27 Ethik 2018, dass das größte Risiko für die Weltwirtschaft und die Menschheit von Wetterkapriolen ausgehen würde, die der Klimawandel verantwortet. Die- ses Phänomen wirkt in seiner Gesamtheit bedrohlicher als zwischenstaatli- che Konflikte oder Cyberangriffe. Das sind nur einige Aspekte, die durch den Klimawandel hervorgerufen wur- den. Die voraussehbaren Verheerungen sind umfassender, komplexer, uni- verseller und gleichermaßen radikaler. Der Klimawandel bildet ein Univer- salphänomen, der vielfältige gesellschaftliche und biologische Bereiche be- rührt, verändert, herausfordert. Wie also handeln und weiterdenken im Angesicht dieses Szenarios? Ein un- gebremster CO2 Ausstoß, die schonungslose Verbrennung fossiler Energien, beschleunigt durch das rasante Wachstum der Weltwirtschaft, das vor allem durch den Aufstieg der Entwicklungsländer verstärkt wird, könnte bis zum Ende des 21. Jahrhunderts einen Temperaturanstieg um 5 Grad Celsius ver- antworten. Die Massivität des Temperaturunterschieds lässt ein bezeich- nender Vergleichswert begreifen. Der Unterschied zwischen dem heutigen Klima und der letzten natürlichen Eiszeit, die ungefähr vor 115.000 Jahren begann und vor 15.000 Jahren endete, bemisst sich durchschnittlich auf 6 Grad. Darin beweist sich mittlerweile der Extremismus der Normalität. Zur Pragmatik wird, was dem 1,5 Grad Ziel dient. Das oft zitierte 1,5 Grad Ziel wurde im Pariser Klimaabkommen festgelegt. Das 1,5 Grad Ziel im Pariser Klimaabkommen besagt, dass die durchschnitt- liche Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad Celsius ge- genüber dem vorindustriellen Zeitalter eingedämmt werden soll. Das wäre Merksatz Idealziel. Falls das nicht erreicht wird, dann müssen als letzte Obergrenze 2 Grad gelten. Der Weltklimarat, dessen nobelpreisgekrönte Arbeit darin besteht, für poli- tische Entscheidungsträger auf internationaler Ebene den Stand der wissen- schaftlichen Forschung zum Klimawandel zusammenzufassen, errechnet, dass noch ein Zeitfenster bis ins Jahr 2030 offen wäre, um die extremen Fol- geschäden präventiv zu verhindern und das 1,5 Grad Ziel zu erreichen. Dafür braucht es jedoch eine grundlegende Umkehr. Seit Beginn der industriellen Revolution wurde also der Anteil an CO2 in der Atmosphäre durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern markant ge- steigert, vor allem seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat der globale Ausstoß an von Menschen verursachten CO2 radikal zugenommen. Dabei sollte immer reflektiert werden, dass nur ein Bruchteil des freigesetz- ten CO2 vom Menschen verursacht wird. Den weitaus größten Teil setzt die Natur selbst frei. Die Menge, die aber durch natürliche Prozesse freigesetzt 28 Ethik wird, versteht die Natur wieder zu absorbieren und aufzubereiten. Es hat sich hier ein Gleichgewicht etabliert, das nun durch die menschliche Aktivität aus der Balance gebracht wird. Der zusätzliche CO2 Ausstoß, der vom Men- schen zu verantworten ist, lässt sich nicht durch den etablierten Kohlenstoff- kreislauf verarbeiten, ein Großteil davon verbleibt also in der Atmosphäre, da die Kapazitäten der natürlichen Absorption überfordert werden. Den na- türlichen CO2 Ausstoß kompensiert die Natur durch pflanzliche Photosyn- these und Absorption in den Ozeanen. Faktisch absorbiert sich auf natürliche Weise sogar mehr CO2 als auf natürliche Weise emittiert wird. Was aber vom natürlichen Kohlenstoffkreislauf nicht mehr vollkommen verarbeitet wer- den kann, ist die schlichte Menge an anthropogenen, also menschverursach- ten Treibhausgasen. Folglich: Die Atmosphäre wird vom Menschen zur Müll- halde für CO2 Ablagerungen degradiert, die sein eigenes Handeln verantwor- tet. Die unmittelbare Reaktion besteht darin, dass auf größere CO2 Konzentrati- onen ein Temperaturanstieg zwangsweise folgt. Das geschieht unvermeid- bar, doch für das menschliche Zeitverständnis mit Verzögerung, denn Un- mittelbarkeit bezeichnet in diesem Fall planetarische Zyklen. Wie die Abbil- dung 4 oben anzeigt, folgt der Trendentwicklung von CO2 die Tendenz der Durchschnittstemperatur. Das ökologische System agiert jedoch mit verlän- gerten Reaktionszeiten. Das bedeutet, die konsequenten und unausweichli- chen Folgewirkungen des bereits jetzt vorhandenen CO2 werden noch in Jahrhunderten und Jahrtausenden eine verschärfte Erderwärmung zu ver- antworten haben. Diese Reaktionszeit sorgt auch dafür, dass nicht die un- mittelbaren Verursacher von den massivsten Verheerungen betroffen sind, sondern die nachfolgenden Generationen den Schaden tragen werden. Diese Zeitverzögerung erhöht die Komplexität des Problems um ein weiteres ethisches Dilemma. Um die bedrohliche Entwicklung zu verlangsamen und ihr schließlich Einhalt zu gebieten, einigte sich die Weltgemeinschaft beim Klimagipfel in Paris im Jahr 2015 darauf, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad gegenüber dem Beginn des Industriezeitalters zu begrenzen. Wenn die 1,5 Grad nicht erreicht werden, dann wird als zweites Ziel eine Grenze von 2 Grad Erwär- mung alternativ angeführt. Eine Erwärmung um 2 Grad würde laut Einschät- zung zu Verheerungen und Umbrüchen im merklichen, doch überschauba- ren Ausmaß führen. Jede weitere Erwärmung wäre mit sich exponentielle Risiken für die Weltgemeinschaft, die internationale Entwicklung und die Na- tur behaftet. In diesem Wissen gründet der ratifizierte Versuch und die Ver- pflichtung, die Erderwärmung zu begrenzen. Dabei gilt es auch zu verstehen, dass eine globale Erwärmung um 1,5 Grad nicht statisch bedeutet, dass sie in allen Weltregionen gleichermaßen erwartet werden kann, dass es schlicht 29 Ethik 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter wärmer würde. Eine Er- wärmung um 1 Grad im Bereich des Äquators bedeutet faktisch eine Erwär- mung um 3 Grad in der Arktis, denn das globale Klima konstituiert sich durch unterschiedliche Zusammenhänge und komplexe Abhängigkeiten. Eine Schwierigkeit in der Berechnung und Vorhersage der weiteren Folgen zeigt sich genau darin, dass es eine wesentliche Herausforderung symbolisiert, wie die existierende klimatische Systematik durch Trendveränderungen sich wandeln wird. Gerade Big Data und die Anwendung Künstlicher Intelligenz tragen zum besseren Verständnis bei, liefern immer akkuratere Berechnun- gen und Prognosen. Wenn also der immanente Zusammenhang zwischen Digitalisierung und dem Klimawandel bedacht wird, zeigt sich hier bereits eine wesentliche Ver- knüpfung. Das beweist Wirksamkeit nicht nur für Vorhersagen über perspek- tivische Entwicklungen, sondern es hilft beispielsweise im Verständnis von drohenden Wetterkapriolen. Wie genau wird der Kurs eines Hurrikans sein? Welche Regenmengen sind in einer Region zu erwarten? Das alles lässt sich aufgrund der verfügbaren Datenverarbeitung mit viel exakterer Präzision vorherbestimmen als dies lange der Fall war. Diese computergestützten Analysemethoden retten Leben. Die materiellen Schäden durch Naturkata- strophen nehmen kontinuierlich zu. Der Verlust an Menschenleben kann je- doch aufgrund präziser, datenbasierter Berechnungen, die zum besseren und antizipativen Verständnis von Wetterereignissen entscheidend beitra- gen, minimiert werden und durch das Handeln staatlicher Organe effektiv eingeschränkt werden. Ein anderer Zusammenhang, der sich zwischen moderner Technologie und dem Klimawandel ausmachen lässt, besteht in einer sehr grundlegenden Re- flexion über das Thema: Der Klimawandel repräsentiert eine nicht inten- dierte, doch unmittelbare und konsequente Folgewirkung der Industriege- sellschaft. Der massenhafte Ausstoß von CO2 reflektiert die Art und Weise, wie die Industriegesellschaft produziert, sich fortbewegt, Energie konsu- miert, Waren verbraucht, Produktionsprozesse organisiert, sich ernährt, so- zial interagiert. All diese Faktoren begründen das Phänomen. Wenn also die Industriegesellschaft die Ursache für den ungebremsten Klimawandel bildet, dann könnte ein progressiver Weg vorwärts in der Überholung der Indust- riegesellschaft selbst liegen. Der Ausweg mag in einer radikalen Verände- rung hin zu einer innovationsgetriebenen Wissensgesellschaft liegen. Tech- nologischer Fortschritt geht im Regelfall mit weniger Energieverschwen- dung, besserer Nutzung von vorhandenen Wertschöpfungspotenzialen und intelligenteren Technologien zusammen. Im Rahmen der digitalen Transfor- mation ökonomischer Prozesse und sozialer Interaktion stellt sich genau diese Frage, wie die Neuerungen zur ökologischen Trendumkehr effektiv 30 Ethik beitragen können. Alles würde selbstverständlich auf der Voraussetzung ba- sieren, dass Gesellschaften den willentlichen und demokratischen Ent- schluss fassen, Veränderung zu gestalten, um Nachhaltigkeit zu erwirken. Die technologischen Entwicklungen und die freigesetzten Innovationspoten- ziale gerade bei der alternativen Energiegewinnung verantworten verstärkt, dass auf fossile Energieträger kontinuierlich verzichtet werden kann. Die Produktionskosten von alternativen Energien sinken rapide, die Kosten- struktur von fossilen Energieträgern erscheint dabei nicht mehr kompetitiv. Im Jahr 2018 analysiert das deutsche Finanzunternehmen Wermuth Asset Management, dass eine Kilowattstunde Solarenergie mittlerweile in Dubai 2 Cent kostet, in der Bundesrepublik kostet sie 6 Cent. Bei diesem Preisniveau wäre Erdöl faktisch nur bei einer Kostenstruktur von 4 Dollar/Barrel kompe- titiv. 7 Auf für den Energiemarkt gilt, was bereits für den Bereich der Produk- tion und des Handels festgestellt werden durfte: Der intelligente Einsatz mo- derner Technologien führt zu tiefgreifenden Umbrüchen. Tradierte Verfah- rensmuster und Produktionsmechanismen, die ein Marktsegment bisher strukturierten, werden erneuert. Die technischen und wissensbasierten Grundlagen, um folglich von den fossilen Energien abzukehren, sind vorhan- den. Diese grundlegende Transformation des Energiesektors wirkt weder simpel noch geradlinig, aber sie erscheint möglich und vor allem geboten. Der Wandel lässt sich auch nicht isoliert betrachten. Er repräsentiert einen Bestandteil der umfassenderen Transformation, die sich gesamtgesell- schaftlich vollzieht. Nur wenn der Umbau in den größeren Zusammenhang selbstdenkender Systeme, interagierender Netze und automatisierter Kom- munikation eingebettet wird, erschließt sich die Relevanz und eigentliche Größenordnung der absehbaren Veränderung. Es sind mittlerweile entscheidende Kräfte im Markt, die den Prozess zur nachhaltigen Trendumkehr voranbringen und auf die wahrnehmbaren Ent- wicklungen reagieren. Dieser Zugang eröffnet auch eine legitime Interpreta- tion, um Signifikanz und Funktion des Klimaabkommens von Paris zu erklä- ren. Denn zweifellos lässt sich die gegenwärtige Epoche als kybernetisches Zeitalter begreifen. Durch die Verarbeitung und Übermittlung von Informa- tion werden Soll-Zustände herbeigeführt. Bewusste Kommunikation veran- lasst gewünschtes soziales Handeln. Der Markt agiert dabei als Instanz, der Information verarbeitet und Reaktionen gemäß eigener Erkenntnis initiiert. Er veranlasst Reaktionen und Handlungsweisen entsprechend vorhandener Kenntnisse. Wie Friedrich August von Hayek analysiert hat, agieren Märkte als Aggregate, um Information prozessual zu verarbeiten. Aus holistischer Perspektive werden isolierte Entscheidungen Einzelner durch strukturelle 7 Erdöl wird in der Mengenangabe „Barrel“ gehandelt. Barrel steht für Fass und entspricht einer Quantität von 159 Litern Rohöl. 31 Ethik und komplexe Verflechtungen zu einem konsequenten Gesamtprozess zu- sammengeführt, der als Ganzes den Markt konstituiert. Auf diese Weise, mittels Verbindung von Einzelakten, erzeugt die Gesellschaft Wissen über vorhandene Bedürfnisse und entsprechende Reaktionen werden diesbezüg- lich veranlasst. Angesichts dieser Verständnisperspektive lässt sich das Klimaabkommen von Paris auf Grundlage des folgenden Interpretationsansatzes verstehen: Es handelt sich um eine bewusst gesetzte Botschaft, formuliert von der in- ternationalen Staatengemeinschaft, adressiert an die Finanzmärkte, dass die Erdöl- und Erdgasindustrie sukzessive abgewickelt werde. Die kodifizierten Ziele, die in diesem internationalen Vertrag klar definiert werden, lassen sich quantifizieren und rückrechnen. Wenn folglich der Verpflichtung entspro- chen werden soll, dass bis zum Ende des Jahrhunderts die maximale Erder- wärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter begrenzt wird, dann wird die Menge an Treibhausgasen, die der Mensch noch aussto- ßen darf, signifikant limitiert. Auch eine Begrenzung der Erwärmung um 2 Grad würde dem möglichen Treibhausgasausstoß enge Grenzen setzen. Der potenzielle Treibhausgasausstoß lässt sich direkt in Verbindung setzen zur Menge an fossilen Energieträgern, die verbrannt und anschließend in der Atmosphäre abgelagert werden können. Ein Großteil der heute bekannten Merksatz Reserven an fossilen Energieträgern muss deshalb ungenutzt bleiben. Wird also die Vorgabe von 1,5 Grad eingehalten, dann dürfen beispielsweise nur noch 2 % der vorhandenen Reserven faktisch verbrannt werden. Sollen die weit kritischeren 2 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts erreicht werden, dann dürfen insgesamt nur rund 20 % der gegenwärtig vorhandenen fossilen Energieträger zur treibhausgasemittierenden Energiegewinnung herangezo- gen werden. Beim 1,5 Grad Ziel erscheinen also 98 % aller fossilen Energiereserven als gegenstandslos. Beim 2 Grad Ziel kalkulieren sich 80 % aller fossilen Energiereserven als wert- los. Der Sachverhalt, auf den seitens unterschiedlicher Analysten und öffentli- cher Institutionen aufmerksam gemacht wird, besteht darin, dass die mo- mentane Kapitalisierung in diesen Märkten auf Annahmen und Berechnun- gen baut, die sich nicht als realisierbare erweisen lassen. Warum? Die Marktkapitalisierung von Erdöl- und Erdgaskonzernen hängt im Wesentli- chen mit der Menge an Ressourcen und Reserven zusammen, die durch 32 Ethik vertragliche Ansprüche als Eigentum der jeweiligen Unternehmen gelten. 8 Nur ein Bruchteil dieser Reserven lässt sich jedoch in Zukunft tatsächlich för- dern und verbrennen, wenn der internationalen Klimavereinbarung von Pa- ris entsprochen werden soll. Die faktischen Kosten, wenn sich die heutigen Investitionen im Erdöl- und Erdgasmarkt als Gewinne realisieren sollen, wä- ren die ökologische Verheerung der Erde für die nächsten Generationen. Im Zuge der letzten Finanzkrise, die ihren Ausgang damit nahm, dass unhalt- bare Immobilienpreise im US-Häusermarkt abgeschrieben werden mussten, kam es zu einer Wertberichtigung von 4 Billionen US-Dollar. Die Krise be- stand essenziell in der Vernichtung dieser Vermögenswerte und den Folge- wirkungen, die sich in fataler Zwangsläufigkeit daraufhin einstellten. Die Überbewertung des Erdöl- und Erdgasmarktes, basierend auf den Kalku- lationen rund um das Pariser Klimaabkommen, werden beispielsweise von der Nachrichtenseite ThinkProgress im Jahr 2012 auf 22 Billionen Dollar be- ziffert.9 Das wäre die zu erwartende Größenordnung der anstehenden Wert- berichtigung. Die Summe berechnet sich anhand der verfügbaren Menge ei- nes Carbonbudgets, dass in die Atmosphäre geblasen werden kann, um die definierten Klimaziele zu erreichen. Dieser Wert lässt sich dezidiert auf die Größenordnung umrechnen, wieviel Erdöl und Erdgas folglich noch ver- brannt werden dürfen. Im Jahr 2012 zeigt sich folgendes Bild: Geschätzte Abschreibungen auf Rohstoffreserven: 22 Billionen $ 2795 GigaT CO2 davon eigentlich nur 1812 GigaT CO2 565 GigaT CO2 rechtlich erlaubt 1850-2010 insgesamt verbrannt Reserven aktuell Abbildung 6: Größenordnung des Carbonbudgets, Eigene Darstellung (2023) 8 Der Unterschied zwischen Reserven und Ressourcen besteht darin, dass Reserven alle Mengen an fossilen Energieträgern sind, die sich gegenwärtig kostendeckend fördern las- sen. Ressourcen hingegen bemessen die Größe aller vorhandenen und bekannten Vor- kommen, die ein Erdöl- und Erdgaskonzern in den natürlichen Lagerstätten vermutet. Es werden also auch jene Mengen in diese Kennzahlen miteingeschlossen, die sich nicht kos- tendeckend fördern lassen. 9 Vgl. Johnson, 2012 33 Ethik Der Großteil dieser vorhandenen Ressourcen zeigt sich nun substanzlos. Auf- grund eng begrenzter Nutzmöglichkeiten sind sie faktisch wertlos und damit erheblich überbewertet. Eine massive Wertberichtigung darf erwartet und existierende Vermögenswerte müssen entsprechend vernichtet werden. Der damalige Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, erklärte bereits im Jahr 2014 im Rahmen eines Seminars bei der Weltbank, dass „die große Mehrheit der fossilen Energieträger nicht verbrannt werden kann.“ 10 Er for- muliert eine ausdrückliche Botschaft, die von relevanten Marktteilnehmern leicht angemessen interpretiert werden kann. Die Stadt New York City, ein entscheidendes globales Finanzzentrum, hat mittlerweile den Entschluss ge- fasst, öffentliche Pensionsgelder nicht mehr in fossilen Energiewerten zu binden und die Investments sukzessive zu reduzieren. Die Stadtregierung von London hat einen ähnlichen Beschluss gefasst. Beide Städte fordern auch offen alle anderen Städte auf, die gleiche Entscheidung zu treffen. 11 Die beiden maßgeblichen Bankenzentren der Welt verständigen sich also da- rauf, ihre öffentlichen Investments in fossile Energieträger abzuziehen und neu zu veranlagen. Das geschieht nicht nur aus moralischen Motiven und ethischen Impulsen, sondern auch aus nachvollziehbarem, finanziellem Kal- kül und einem sorgsamen Umgang mit öffentlichen Geldern. Das Finanzun- ternehmen Citigroup kalkuliert, dass Werte in der Höhe von 100 Billionen Dollar als Stranded Assets zu qualifizieren wären, wenn die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden. In diese Berechnung flie- ßen nicht nur die überhöhten Wertannahmen für die unbrauchbaren Res- sourcen ein, sondern auch die überflüssige Infrastruktur, die damit verbun- den ist, wertlose Patente und nutzlose Förderanlagen werden miteinkalku- liert. 12 Die Wirtschaftswissenschaft spricht mittlerweile von Stranded Assets, wenn die Überbewertungen im fossilen Energiemarkt schlagend werden. Stranded Assets sind Vermögenswerte, die unerwartete oder vorzeitige Abschreibun- Merksatz gen, Abwertungen oder Umwandlungen in Verbindlichkeiten erfahren, weil umweltbezogene Risiken zur Wertberichtigung führen. Die Citibank rechnet folglich mit der umfangreichsten Wertberichtigung der modernen Geschichte, die erwartet werden muss. Es handelt sich eben um Stranded Assets, also um Vermögenswerte, die sich durch unvorhergese- hene oder vorzeitige Abschreibungen, Abwertungen oder Umwandlungen in Verbindlichkeiten nicht amortisieren und einen beschleunigten Wertverlust aufgrund von Umweltrisiken erleiden. Ursache dieser Entwicklung kann 10 Zitiert nach Shankleman, 2014 11 Vgl. de Blasio/Khan, 2018 12 Vgl. Parkinson, 2015 34 Ethik maßgeblich die Wirkweise der schöpferischen Zerstörung sein, wie sie Jo- seph Schumpeter beschrieben hat. Das würde nun für den Energiemarkt an- sehnlich zutreffen. Durch innovative Lösungen werden bestehende Verfah- ren obsolet. Innovation erwirkt Erneuerung und Bestehendes wird wirkungs- los, die damit verbundenen vorhandenen Werte werden gegenstandslos. Bei der Abwicklung der Erdölindustrie stellt sich also die Frage, wie effektiv und rapide die Kräfte des Markts als Verfahren nachhaltiger Veränderung wirk- sam werden. Weil es sich hier um eine Auseinandersetzung handelt, an de- ren Ende entweder die Abwicklung der mächtigen Petrochemie steht oder die Fortsetzung einer industriellen Produktionsweise, die zum unvermeidba- ren ökologischen Kollaps führt, wird die Auseinandersetzung so intensiv zwi- schen den involvierten Parteien geführt. Die Menschheit hat eine massive Menge an CO2, Methan und anderen Treib- hausgasen durch Verbrennung in die Atmosphäre abgelagert, um die Le- bensweise auf Grundlage industrieller Produktion zu schaffen. Mittlerweile Merksatz findet sich ein solches Ausmaß an zusätzlichen Treibhausgasen in der Atmo- sphäre abgelagert, dass stetig mehr Sonnenenergie dort verbleibt. Das führt zum menschverursachten Klimawandel, der sich rapider verwirklicht, als wenn natürliche Klimazyklen wirksam wären. Der Zusammenhang aus moderner Technologie und der ökologischen De- batte liegt in einem anderen Zusammenhang darin, dass der technologische Fortschritt dafür benötigt wird, ausgediente Formen der Energiegewinnung radikal zu überholen. Nur technologisch ausgefeilte Verfahren, die neben der Energiegewinnung auch neue Formen der Mobilität und innovative Pro- duktionsverfahren einschließen, die in hochindustriellen Ländern gleicher- maßen angewandt werden, wie sie sich in Entwicklungsländern flächende- ckend durchsetzen, werden die Menschheit instand setzen, die schlimmsten und düstersten Auswirkungen dieses bedrohlichen Phänomens zu schmä- lern, teils sogar zu verhindern. Die Transformation wirkt maßgeblich und hat laut aktueller Berechnung rasant zu geschehen. Ein anderes Zusammenspiel zwischen Ökologie und digitaler Transformation zeigt sich in der faktischen Bedeutung neuer Technologie als Investitions- möglichkeit. Je schneller investiertes Kapital aus den fossilen Energiemärk- ten abzieht, weil sich die Gewinnaussichten schmälern, desto dringlicher verlangt es andere Veranlagungsformen, die ein Versprechen auf die Zu- kunft bilden. Exakt dieses Versprechen bündelt sich in moderner Technolo- gie. Sie repräsentiert ein Investitionsversprechen, das vernünftige Veranla- gungen rechtfertigt. Durch diese Bewegung wiederum werden die For- schungsbudgets neuer Technologien konstant erhöht, was die Entwicklung fortschrittlicher Innovationen wahrscheinlicher macht. 35 Ethik Ein letzter Aspekt findet sich im gesellschaftlichen Überbau verankert, der sich in der anstehenden Transformation abzeichnet. Die Möglichkeiten der IV. Industriellen Revolution kündigen die Wahrscheinlichkeit eines Wandels an, der seine eigentliche und substanzielle Ausgestaltung in Form der Wis- sensgesellschaft finden wird. Wertschöpfung basiert größtenteils auf wis- sensbasierter Arbeit. Selbst die Mehrheit der Tätigkeiten im industriellen Umfeld wandeln sich von klassischer, körperbetonter Industriearbeit hin zu Bürotätigkeiten. Produktionsverfahren wandeln sich radikal, die Arbeitswelt verändert sich, eine graduelle Entkopplung zwischen Erwerbstätigkeit und Einkommen lässt sich denken. Die Prinzipien, auf denen die Industriegesell- schaft gründet, überholen sich also und werden durch andere Grundlagen ersetzt. Das Versprechen wirkt gerade für Staaten, die bisher vom Import fossiler Energieträger abhängig waren, verlockend. Sie möchten die Trendumkehr schaffen. Speziell bei mächtigen Volkswirtschaften, wie jene des europäischen Binnenmarkts oder Japans, trägt der Energieimport merk- lich zum negativen Ergebnis der Leistungsbilanz bei. Es besteht also ein poli- tisches Interesse, diese Verhältnisse umzukehren. 13 Sowohl die Realität des Klimawandels als auch die Fortschritte in der Tech- nologie manifestieren radikale Agenten des Wandels, sie erneuern die Grundstruktur der Gesellschaft fundamental. Aufgrund des technologischen Fortschritts steht die menschliche Zivilisation vor dem historischen Bruch, dass Gegenstände, die im Alltag genutzt werden, in konkreter und funktio- naler Hinsicht schlauer agieren, als es Menschen können. Das Verhältnis zwi- schen Mensch und Gegenstand ändert sich radikal. Durch den Klimawandel wird nun die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt neu ausverhandelt. Die Idee des Anthropozän wird stetig plausibler. Das Anthropozän meint die erdgeschichtliche Epoche, die sich gegenwärtig im Anbruch befindet, in der das menschliche Handeln einen entscheidenden Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Pro- Merksatz zesse manifestiert. Aus ethischer Perspektive erwächst den Menschen die Verantwortung, sich dieser Konsequenz des eigenen Handelns bewusst zu werden. Ethik wächst innerhalb des ökologischen Bedeutungsrahmens zu einem Verständnis, der einen erweiterten Verständniszusammenhang referieren wird. Diese Erwei- terung gilt es, im menschlichen Bewusstsein zu erwirken, um die Folgewir- kungen des eigenen Tuns zu begreifen. Eine weitere expansive Tendenz der Ethik liegt exakt darin, dass nun Maschi- nen Handlungen verantworten, die eine moralische Auswahl verantworten 13 Die Leistungsbilanz ist jene Kennziffer, die besagt, wie viele Exporte den Importen einer Volkswirtschaft gegenüberstehen. 36 Ethik können. Ethik braucht sowohl Eigenständigkeit für Entscheidungen als auch autonomes Handeln in kritischen Situationen auf Grundlage kritischer Refle- xion. Bei einem autonom fahrenden Auto treffen diese Voraussetzung zu, weil auf Basis sensorisch erfasster Daten und Rückschlüssen, durch einen wirksamen Algorithmus eine bewusste Auswahl an unterschiedlichen Mög- lichkeiten getroffen werden kann. Diese Entscheidung verlangt nun nach ei- nem moralischen Fundament und bewirkt die Fragestellung, wer für die Festlegung dieser moralischen Standards verantwortlich zeichnen soll. Mit dieser Transformation, die durch moderne technologische Entwicklung verantwortet wird, verbindet sich auch ein sozialer Umbruch, der sich ge- genwärtig gesellschaftlich statistisch ausmachen lässt. Was das nun genau besagt und wie möglicherweise darauf reagiert werden kann, soll ein nächs- tes Kapitel versuchen, komprimiert zu analysieren. Abschließend zu diesem Kapitel: Seit Beginn der industriellen Revolution bis zum Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft eine solches Ausmaß an fossilen Brennstoffen verbrannt, das vom ökologischen System nicht abgebaut wer- den konnte, sodass sich 365 Milliarden Tonnen an zusätzlichen Kohlenstof- fen in der Atmosphäre abgelagert haben. Hinzu kommen noch 180 Milliar- den Tonnen, die durch die Entwaldung verursacht werden. Für das Bezugs- jahr 2015 gilt, dass allein in diesem Jahr 9 Milliarden Tonnen an menschver- ursachten Kohlenstoffen in der Atmosphäre abgelagert werden, die jährliche Steigerungsrate liegt bei bis zu 6 Prozent. Wird der Trend ungebremst fortgesetzt, dann darf bis zur Mitte des Jahrhun- derts kalkuliert werden, dass der Anteil von CO2 in der Atmosphäre auf 500 ppm anwachsen wird. Dieser Wert ergäbe eine Verdoppelung gegenüber der vorindustriellen Epoche. Die Folgewirkungen lassen sich konsequent und logisch antizipieren: Ein rasanter Anstieg der Temperaturen führt zu Ver- schärfung natürlicher Kippeffekte, Gletscher und das arktische Eisschild schmelzen, der Meeresspiegel steigt, Wetterextreme nehmen zu. Was in dieser Aufzählung nur zu leichtfertig vergessen wird, wäre der Kausaleffekt dieser Tendenzen auf die Ozeane. Das Meer nimmt Gase aus der Atmosphäre auf und gibt dann im Wasser ge- löste Gase auch wieder ab. Sofern das in Balance geschieht, wird die gleiche Menge aufgenommen wie ausgestoßen. Wenn sich nun die chemische Zu- sammensetzung der Atmosphäre verändert, weil der Bestand an Kohlendi- oxid in der Atmosphäre steigt, dann gerät dieses Gleichgewicht in Schieflage. Die Ozeane nehmen in Folge mehr Kohlenstoffe auf, als sie abstoßen kön- nen. Damit verändert sich die Konsistenz des ozeanischen Wassers, der Säure-Basen-Haushalt gerät in Schieflage. 37 Ethik Durch diese zusätzliche Kohlendioxidzufuhr ist der durch- schnittliche pH-Wert des Oberflächenwassers der Meere bereits von 8,2 auf 8,1 gefallen. Da die pH-Skala logarith- misch ist, steht selbst eine so geringe Differenz des Zahlen- wertes für eine erhebliche Veränderung in der realen Welt. Eine Abnahme um 0,1 bedeutet, dass die Meere nun drei- ßig Prozent saurer sind als im Jahr 1800. Nach einem „Wei- ter-wie-bisher“ -Emissionsszenario […] werden die Meere [bis zur Jahrhundertmitte, Anm.] um hundertfünfzig Pro- zent saurer sein als zu Beginn der industriellen Revolu- tion. 14 Dieser Bruch hätte zur Folge, dass die Ozeane sich als Habitat des organi- schen Lebens massiv verändern und die neuen Bedingungen ein Umfeld bil- den, an das sich wenige Arten in der Rasanz werden anpassen können. Das hat natürlich auch kritische Folgewirkungen für Volkswirtschaften, deren Einkommen essenziell von den Ozeanen abhängt. Diesen düsteren Konse- quenzen ließe sich mittels grundlegender Transformation der Energiegewin- nung und einer anders operierenden Ökonomie entgegenwirken. Wie tiefgreifend sich der Wandel des Energiesektors realisieren muss, zeigt die Grafik unten, die den globalen Energieverbrauch auf die Energiequellen zurückführt. Die Angaben auf den Skalen entsprechen Terawatt-Stunden. Abbildung 7: Globaler Energieverbrauch und Energieträger, Ritchie/Roser (2019) 14 Kolbert, 2015, S. 119 f. 38 Ethik Dieser Energiemix, der die enorme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern anzeigt, übersetzt sich nun in den Ausstoß von CO2-Emissio-nen, die verursacht werden. Abbildung 8: CO2 Emissionen anhand von Energieträgern, Ritchie/Roser (2017) Es zeigt sich auf der Zeitachse, wie sehr die I. Industrielle Revolution noch nahezu ausschließlich auf der Nutzung von Kohle basierte, während im wei- teren Verlauf der II. Industriellen Revolution die Nutzung von Erdöl kontinu- ierlich ausgeweitet wurde. Worin liegt also die zentrale Verantwortung im Rahmen der digitalen Trans- formation im Hinblick auf eine mittelfristige Perspektive? Der Weltklimarat, kurz IPCC, hat diesbezüglich konkrete Berechnungen erwirkt, die Orientie- rung liefern. IPCC steht als Akronym für die Bezeichnung Intergovernmental Panel on Climate Change. Wie bereits oben erwähnt, aber hier nochmals zur Erinnerung: Der Weltklimarat bildet eine zwischenstaatliche Organisation, die unter dem Dach der Vereinten Nationen agiert. Der Auftrag, dem die Organisation nachzukommen hat, besteht darin, für politische Entscheidungsträgerinnen Merksatz den wissenschaftlichen Stand der Forschung bezüglich der Erkenntnisse des Klimawandels konzis zusammenzufassen. Im Jahr 2007 wurde dem Welt- klimarat in Anerkennung seiner Bemühungen der Friedensnobelpreis verlie- hen. In regelmäßigen Abständen veröffentlicht der Weltklimarat Studien, die prägnant den aktuellen Erkenntnisstand der Wissenschaft zusammenfassen, um damit auch eine breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, was über das Phänomen gewusst wird und wie ihm beizukommen wäre. 39 Ethik Die Berichte unterscheiden zwei Strategien, die jeweils andere Ansätze dar- stellen, aber erst in der Kombination eine angemessene Reaktion erlauben. Die zwei strategischen Ansätze, die helfen sollen, mit dem Klimawandel um- zugehen, werden mit den Schlagworten Vermeidung und Anpassung be- zeichnet. Merksatz Vermeidung (englisch: mitigation) meint in diesem Zusammenhang alle ef- fektiven Maßnahmen, die getroffen werden, um die Situation nicht weiter zu verschlimmern. Es handelt sich also um die notwendige Wende in unter- schiedlichen gesellschaftlichen Feldern, um die Klimaänderung zu begren- zen. Anpassung (englisch: adaption) bezeichnet alle konstruktiven Maßnahmen, die gesetzt werden, um auf unvermeidbare und eintretende Folgen des Kli- mawandels möglichst angemessen zu reagieren. Die Kosten für diese Maßnahmen lassen sich den Kosten gegenüberstellen, die ein ungebremster Klimawandel verursachen würde. Eine Studie, die ur- sprünglich von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen wurde und im Jahr 2006 unter Federführung des ehemaligen Chefökonomen der Welt- bank, Nicholas Stern, veröffentlicht wurde, beziffert den Gesamtaufwand, den der ungebremste Klimawandel verursachen würde im Extremfall auf 20 % des globalen Bruttoinlandsprodukts. Die Kosten der notwendigen Maß- nahmen, um die CO2 Emissionen zu begrenzen, werden mit rund 2 % des globalen Bruttoinlandsprodukts veranschlagt. Hinter den ökonomischen Kennziffern verbergen sich auch harte Fakten, die menschliche Lebensrealitäten formen und globale Umbrüche meinen. Die Ausdehnung von Wüsten, die Unbewohnbarkeit mancher Landstriche, die Zunahme von Dürreperioden, die Veränderung von Jahreszyklen und die un- bekannten Auswirkungen auf die Landwirtschaft, Ernteausfälle, die Zunah- men von schlagartigen Regenfällen und Überschwemmungen, die Überflu- tung von Küstengebieten, Gesundheitsrisiken durch Hitzeperioden, die Zu- nahmen von Wetterextremen, ökonomische Unsicherheiten, die Zunahme von Versicherungsschäden und ihre Auswirkungen auf volatile Finanz- märkte, das sind nur einige der tatsächlichen Konsequenzen, die sich hinter den Kennzahlen verbergen, die dem Klimawandel eigen sind. Was sich im Zuge der Begrenzung der Erwärmung erreichen lässt, wäre die Größenord- nung und Intensität dieser fatalen Phänomene. Das ist entscheidend. In Anbetracht der fortgeschrittenen Situation bedarf es beider Maßnahmen- pakete, also Mitigation und Adaption, um mit den fatalsten Folgen der Kli- makrise umzugehen. Die digitale Transformation, sofern intelligent ange- wandt, könnte für beide Weichenstellungen entscheidende Beiträge liefern. 40 Ethik Die Schritte, die in der Anpassung gesetzt werden, bedürfen belastbarer Mo- delle, die klimatische Entwicklungen prognostizieren. Bessere Rechenleis- tungen, umfassendere Rechenmodelle, Datenaustausch zwischen privaten und öffentlichen Organisationen liefern in diesem Zusammenhang sehr kon- krete Beiträge. Im Hinblick auf die Vermeidung verlangt es eine durchdachte Perspektive, die objektive Notwendigkeiten mit den vorhandenen Möglichkeiten in Ab- gleich zu bringen versteht. Der zeitlichen Rahmen, der dabei zur Verfügung steht, wird durch den IPCC Report klar abgegrenzt, der im Jahr 2018 veröf- fentlicht wurde. Wird der vertraglichen Verpflichtung des Pariser Abkom- mens Folge geleistet und das Ziel anerkannt, dass die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad beschränkt wird, dann müsste spä- testens im Jahr 2050 der menschverursachte CO2 Ausstoß nahezu auf Null reduziert sein. Das ist der Zeithorizont, den es anzuerkennen gilt, um die Prinzipien der Vermeidung effektvoll zu verfolgen. Das 1,5 Grad Ziel würde auch die Schritte hinsichtlich Anpassung innerhalb eines bewältigbaren, weil planbaren Rahmens halten. Wie lässt sich aber nun der Zielvorgabe entsprechen? Die akute Schwierig- keit besteht erfahrungsgemäß darin, Wirtschaftswachstum vom Treibhaus- gasausstoß zu entkoppeln. Der Weltgemeinschaft ist es in den letzten Jahr- zehnten nur im Zuge der letzten globalen Rezession gelungen, den globalen Treibhausgasausstoß gegenüber den Vorjahren zu reduzieren. Die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, absichtlich die Wel