Nichtige Willenserklärungen PDF
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Humboldt-Universität zu Berlin
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This document discusses the concept of voidable declarations of intent within German civil law. It explores different situations where a declaration of intent may be flawed, encompassing internal and external defects and their legal consequences. The text delves into topics like mental reservation, simulated transactions, and situations involving deception and duress.
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§ 40. Nichtige Willenserklärungen 28 § 40 4. Abschnitt. Willensmängel Eine Willenserklärung kann aus verschiedenen Gründen mangelhaft sein. Der Mangel kann ber...
§ 40. Nichtige Willenserklärungen 28 § 40 4. Abschnitt. Willensmängel Eine Willenserklärung kann aus verschiedenen Gründen mangelhaft sein. Der Mangel kann bereits aus dem Stadium vor der Erklärungshandlung herrühren, wenn die Entschlie- ßung und das Zustandekommen des Willens, zB aufgrund einer arglistigen Täuschung oder Drohung, gestört worden sind. Wurde der Wille innerlich zwar fehlerfrei gebildet, kann bei der nachfolgenden Kundgabe ebenfalls ein Mangel auftreten, falls der Erklärende objektiv etwas anderes sagt, als er subjektiv will. Der Gesetzgeber ist bei der Beurteilung dieser viel- fältigen Willensmängel weder der Willenstheorie gefolgt, nach der die Rechtsfolgen einer Willenserklärung nur dann eintreten, wenn die erklärten Rechtsfolgen mit dem wirklichen Willen inhaltlich voll übereinstimmen, noch der Erklärungstheorie, die umgekehrt das Ver- trauen des Erklärungsempfängers vollumfänglich schützt.1 Das Prinzip der Selbstbestim- mung einerseits sowie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Selbstverantwortung andererseits werden vielmehr je nach der Art des Willensmangels in den §§ 116 bis 123 unterschiedlich berücksichtigt. Die willenstheoretische Folge der Nichtigkeit gilt beim er- kannten Vorbehalt gem. § 116 S. 2, beim Scheingeschäft gem. § 117 Abs. 1 sowie der Scherz- erklärung gem. § 118. Die erklärungstheoretische Konsequenz der Wirksamkeit der Willens- erklärung tritt beim geheimen Vorbehalt gem. § 116 S. 1, bei beachtlichen Irrtümern gem. § 119, der falschen Übermittlung gem. § 120 sowie der Täuschung und Drohung gem. § 123 ein, allerdings relativiert durch die Möglichkeit der Anfechtung (außer bei der Mental- reservation gem. § 116 S. 1). Eine Anfechtung bewirkt gem. § 142 Abs. 1 zwar ebenfalls die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts ex tunc, setzt aber eine fristgerechte Gestaltungserklärung voraus. Im Übrigen sind Mängel in der Willensbildung als bloße Motivirrtümer grundsätzlich unbeachtlich.2 § 40. Nichtige Willenserklärungen Literatur: Baer, Scheingeschäfte, 1931; Benecke, Arbeitsvertrag und Scheingeschäft, RdA 2016, 65; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; Holzhauer, Dogmatik und Rechtsge- schichte der Mentalreservation, FS Gmür, 1983, 119; Kallimopoulos, Die Simulation im bürgerlichen Recht, 1966; Michaelis, Scheingeschäft, verdecktes Geschäft und verkleidetes Geschäft im Gesetz und in der Rechtspraxis, FS Wieacker, 1978, 444; Preuß, Geheimer Vorbehalt, Scherzerklärung und Schein- geschäft, Jura 2002, 815; Tscherwinka, Die Schmerzerklärung gem. § 118 BGB, NJW 1995, 308; Wacke, Mentalreservation und Simulation als antizipierte Konträrakte bei formbedürftigen Geschäften, FS Medicus, 1999, 651. § 40 Übersicht Rn. I. Geheimer Vorbehalt (§ 116)........................................................................... 1 1. Nicht erkannter Vorbehalt.......................................................................... 1 2. Erkannter Vorbehalt................................................................................... 4 II. Nicht ernstlich gemeinte Erklärung (§ 118)................................................... 8 1. Voraussetzungen........................................................................................ 8 2. Rechtsfolgen............................................................................................. 11 III. Scheingeschäft (§ 117)................................................................................... 14 1. Voraussetzungen........................................................................................ 15 2. Rechtsfolgen............................................................................................. 17 _______________________________________________________________________________________ 1 S. zu beiden Theorien sowie zur Geltungstheorie bereits näher → § 30 Rn. 2 ff. 2 Speziell zu beiderseitigen Fehlvorstellungen s. → § 42 Rn. 13 ff. 467 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40 1, 2 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte Rn. a) Nichtigkeit des Scheingeschäfts............................................................. 17 b) Geltung des verdeckten Rechtsgeschäfts................................................ 19 c) Schutz des getäuschten Dritten.............................................................. 21 3. Abgrenzungen........................................................................................... 26 a) Strohmann- und Treuhandgeschäfte....................................................... 27 b) Umgehungsgeschäfte............................................................................. 29 Die Nichtigkeit der Willenserklärung sieht das Gesetz bei den sog. Willensvorbehalten gem. §§ 116 bis 118 (mit Ausnahme der Mentalreservation gem. § 116 S. 1) vor. Bei diesen weicht der Wille bewusst von der Erklärung ab.3 I. Geheimer Vorbehalt (§ 116) Eine Willenserklärung ist nach § 116 S. 1 nicht deshalb nichtig, weil sich der Erklärende insgeheim vorbehält, das Erklärte nicht zu wollen.4 Sie ist jedoch nach § 116 S. 2 nichtig, wenn sie einem anderen gegenüber abzugeben ist und dieser den Vorbehalt durchschaut. 1 1. Nicht erkannter Vorbehalt. § 116 S. 1 setzt voraus, dass der Erklärende seine wahre Absicht bewusst geheim hält und der Empfänger diesen Vorbehalt nicht kennt. Der Vorbehalt muss sich auf das Erklärte, also auf die in der Erklärung bezeichnete Rechtsfol- ge, beziehen.5 Will der Erklärende zwar eine Verpflichtung eingehen, diese aber niemals erfüllen, ändert sich grundsätzlich nichts an der Wirksamkeit der Willenserklärung.6 Wäh- rend eine arglistige Täuschung iSv § 123 die Willensbildung des Erklärenden beeinflusst, soll bei der Mentalreservation iSv § 116 S. 1 der wahre Wille des Erklärenden nicht erkannt werden. Die Motive einer solchen Täuschung sind unbeachtlich. Diese können redlicher Natur sein, wenn etwa der Gläubiger einem Schwerkranken zu dessen Beruhigung die Schulden erlässt (§ 397 Abs. 1), sich insgeheim aber vorbehält, sie nach der Gesundung doch einzutreiben.7 Zu den unredlichen Motiven gehört das Bid Shielding, bei dem jemand ein hohes Maximalangebot bei einer Internetauktion abgibt, in Wahrheit aber nur ein sehr niedriges Gebot abschirmen möchte mit dem Ziel, das unter dem geheimen Vorbehalt ab- gegebene Maximalangebot vor Auktionsende wieder zurückzunehmen.8 Des Weiteren zählt zu den unredlichen Motiven der böse Scherz, bei dem der Erklärende im Gegensatz zu § 118 seine Scherzabsicht geheim halten will, zB einen Handwerker, um ihn zu ärgern, zur Reparatur an eine gar nicht vorhandene Adresse bestellt.9 Wird der böse Scherz später auf- gedeckt, muss der Besteller dem Handwerker aufgrund eines wirksam geschlossenen Ver- trags seine Vergütung bezahlen. 2 Der Vorbehalt bleibt geheim, solange er lediglich vom eigenen Bevollmächtigten des Erklärenden, nicht aber vom Geschäftsgegner als dem Erklärungsempfänger erkannt wird.10 Der Vorbehalt ist auch geheim, wenn jemand nach außen den Vertrag als Vertreter für einen anderen abschließt, insgeheim aber selbst Vertragspartner sein will. Der Vertrag kommt hier allein mit dem Vertretenen zustande. Hat umgekehrt der Vertreter im eigenen Namen kontrahiert und behält er sich insgeheim vor, den Vertrag für den Vertretenen schließen zu wollen, ist dies bereits nach § 164 Abs. 2 unbeachtlich und Vertrags- partner wird der „Vertreter“. _______________________________________________________________________________________ 3 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 591; Bork BGB AT Rn. 794. 4 Zur Historie der Mentalreservation Holzhauer FS Gmür, 119 (124 ff.); Zimmermann, The Law of Obliga- tions, 1990, S. 644 ff. 5 Bei bewusst objektiv mehrdeutigen Erklärungen handelt es sich um einen schuldhaft herbeigeführten Dis- sens und keinen Fall des § 116 S. 1; vgl. MüKoBGB/Armbrüster § 116 Rn. 5; Erman/Arnold BGB § 116 Rn. 5 sowie → § 38 Rn. 3 f. 6 Vgl. nur Holzhauer FS Gmür, 119 (126). 7 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 597; Staudinger/Singer BGB § 116 Rn. 4. 8 S. näher Sutschet NJW 2014, 1041 (1042 f.) sowie → § 37 Rn. 69. 9 Vgl. MüKoBGB/Armbrüster § 116 Rn. 6; Soergel/Hefermehl BGB § 116 Rn. 11. 10 Vgl. auch BGH NJW 1966, 1915 (1916). 468 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40. Nichtige Willenserklärungen 3–7 § 40 Die Unbeachtlichkeit des geheimen Vorbehalts gem. § 116 S. 1 beruht nicht auf dem 3 Prinzip des Vertrauensschutzes;11 sie ist vielmehr rechtsgeschäftlich indiziert, da der Erklä- rende in fehlerfreier Selbstbestimmung eine Geltungsanordnung trifft.12 Weder ist der Ent- schluss, eine Erklärung dieses Inhalts abzugeben, auf fehlerhafte Weise zustande gekommen noch ist die Erklärungshandlung als solche fehlerhaft. Der Erklärende erklärt, was er erklä- ren wollte.13 2. Erkannter Vorbehalt. § 116 S. 2 setzt positive Kenntnis von der Mentalreservation 4 voraus. Bloßes Kennenmüssen genügt nicht. Ist der Erklärungsempfänger mit dem gehei- men Vorbehalt sogar einverstanden, handelt es sich um ein (nichtiges) Scheingeschäft gem. § 117 Abs. 1.14 Die Rechtsfolge der Nichtigkeit bei Kenntnis des Vorbehalts ist rechtspolitisch um- 5 stritten.15 Da der geheime Vorbehalt auf einen untauglichen Versuch hinauslaufen kann, den Geschäftsgegner zu täuschen, wird von Kritikern eher der Geschäftsgegner und nicht der Erklärende als schutzwürdig erachtet.16 Eine Falscherklärung muss jedoch nicht notwendig mit Schädigungsabsicht erfolgen.17 Es kann auch der Geschäftsgegner eine (nicht von den §§ 123 Abs. 1, 138 erfasste) Zwangslage des Erklärenden ausnutzen; 18 zudem muss die Rechtsfolge der Nichtigkeit nicht unbedingt nachteilig sein.19 Eine restriktive Anwendung von § 116 S. 2 ist allerdings geboten, sofern die Erklärung 6 noch für andere Personen bestimmt ist, die den Vorbehalt nicht kennen.20 So findet § 116 S. 2 bei amtsempfangsbedürftigen Willenserklärungen grundsätzlich keine Anwendung.21 Erkennt ein Vertreter des Erklärungsempfängers den geheimen Vorbehalt des Erklärenden und wirkt mit diesem kollusiv zusammen, muss sich dies der schutzwürdige Erklärungs- empfänger (ungeachtet des Wortlauts des § 166 Abs. 1) nicht zurechnen lassen.22 Eine sol- che Scheinabrede iSv § 117 zwischen dem Vertreter und dem Geschäftspartner ist nach hM analog § 116 S. 1 unbeachtlich.23 Vorzugswürdig erscheint indes die analoge Anwendung von § 177, weil auch bei kollusivem Zusammenwirken nur die Vertretungsmacht entfällt,24 um dem Vertretenen die Wahl zu überlassen, ob er das Geschäft für sich gelten lassen will oder nicht.25 Die analoge Anwendung von § 116 S. 2 kann hingegen bei nicht empfangsbedürftigen Willenser- 7 klärungen (zB einer Auslobung gem. § 657, anders als beim Testament) geboten sein.26 Das RG27 hat des Weiteren § 116 S. 2 in einem Fall „sinngemäß“ angewandt, in dem der Erklärende seine Erklärung _______________________________________________________________________________________ 11 AA Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 205 ff. 12 Vgl. Flume AT II § 20, 1; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 592; Canaris Die Vertrauenshaftung im deut- schen Privatrecht S. 419 ff. 13 Speziell zur Unbeachtlichkeit der Mentalreservation bei letztwilligen Verfügungen Wacke FS Medicus, 651 (656 ff.) mwN. 14 Vgl. Wacke FS Medicus, 651 (653); Staudinger/Singer BGB § 116 Rn. 15. 15 Folgerichtig ist die Regelung, wenn man § 116 als Ausprägung einer gesetzlichen Vertrauenshaftung er- achtet; vgl. Staudinger/Singer BGB § 116 Rn. 1 mwN. 16 S. besonders pointiert Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1930, S. 88 f.; ferner MüKoBGB/Armbrüster § 116 Rn. 8 („Zugeständnis des Gesetzgebers an die Willenstheorie“). 17 Vgl. HKK/Schermaier BGB §§ 116–124 Rn. 36. 18 Vgl. Wieacker JZ 1967, 385 (390), mit dem Beispiel, „dass der Buchhändler dem Professor gleissnerisch das soeben erschienene Buch des im Laden gleichzeitig anwesenden Kollegen (anbietet), weil er weiß, daß das Opfer aus Höflichkeit nicht ablehnen ‚kann‘“. 19 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 593. 20 S. Flume AT II § 20, 1; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 593. 21 Vgl. Rimmelspacher/Bolkart WuB VI E. § 85a ZVG 1.07; Flume AT II § 20, 1; offengelassen in BGH NJW 2007, 3279 (Tz. 10). 22 BGH NJW 1999, 2882; Staudinger/Singer BGB § 116 Rn. 13; Flume AT II § 20, 1. 23 Vgl. Soergel/Hefermehl BGB § 117 Rn. 3; MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 14; Grigoleit/Herresthal BGB AT Rn. 603. 24 S. dazu auch → § 49 Rn. 107 f. 25 S. Singer Anm. zu BGH LM § 116 BGB Nr. 6. 26 S. näher Preuß Jura 2002, 815 (818); Staudinger/Singer BGB § 116 Rn. 12. 27 RGZ 78, 371 (376 f.). 469 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40 8–10 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte in einem anderen Sinn verstanden wissen wollte, als sie nach ihrem Wortlaut besagte, und er dies dem Empfänger auch ausdrücklich mitteilte. Wenn schon, so meinte das RG, die unter einem geheimen Vorbehalt gemachte Willenserklärung nichtig sei, sofern der Empfänger den Vorbehalt erkannt hatte, dann müsse sie erst recht nichtig sein, wenn der Vorbehalt dem anderen ausdrücklich kundgetan wor- den sei. Allein im letzten Fall ist der Vorbehalt eben nicht mehr „geheim“, sondern offen; dass der Gegner den Wortlaut der Erklärung dann in dem vom Erklärenden gemeinten Sinn zu berichtigen hat, ergibt sich aus den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen.28 Da in dem vom RG entschiedenen Fall jeder der beiden Vertragsschließenden seine Erklärung ausdrücklich als in einem anderen Sinne ge- meint gekennzeichnet hatte als die des anderen, hätte das RG hier Dissens annehmen müssen. II. Nicht ernstlich gemeinte Erklärung (§ 118) Nach § 118 ist eine nicht ernst gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung abge- geben wird, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden, nichtig. Der Erklä- rende hat in einem solchen Fall jedoch dem anderen, der auf die Gültigkeit seiner Erklä- rung vertraute, Schadensersatz gem. § 122 zu leisten. 8 1. Voraussetzungen. Anders als bei der Mentalreservation gem. § 116 will der Er- klärende bei einer nicht ernst gemeinten Erklärung iSv § 118 dem Empfänger nicht endgültig einen Geschäftswillen vortäuschen, den er nicht hat. Vielmehr will er nur mo- mentan, etwa zum Scherz oder aus Prahlerei, um den anderen zu verblüffen oder in Verle- genheit zu setzen, den Eindruck hervorrufen, als wolle er eine ernstgemeinte Erklärung abgeben, rechnet aber damit, der andere werde alsbald die Nichternstlichkeit erkennen. Man spricht deshalb auch stark verkürzt von einer Scherzerklärung. 9 § 118 verlangt ein Verhalten, das wenigstens bei flüchtigem Hinsehen als eine Willenser- klärung aufgefasst werden kann. Erklärungen, die jemand im Schauspiel auf der Bühne, zu Unterrichtszwecken auf dem Katheder oder im Rahmen eines Gesellschaftsspiels abgibt, die also ganz offenkundig nicht den Sinn haben, eine Rechtsfolge in Geltung zu setzen, sind keine Willenserklärungen; auf sie ist weder § 118 noch § 122 anwendbar.29 Der Erklä- rende, der sich auf die Nichtigkeit beruft, muss zudem beweisen, dass die Erklärung von ihm nicht ernstlich gemeint war und dass er erwartete, der andere werde das erkennen.30 Der praktische Anwendungsbereich des § 118 ist deshalb gering. § 118 erfasst allerdings auch sog. Schmerzerklärungen (oder präziser: Appell-Erklärungen), die jemand unter sehr star- kem psychischem Druck abgibt, zB eine nicht ernstlich gemeinte Kündigung des Mietver- hältnisses mit der Mutter als Ausdruck großer Verzweiflung über einen eskalierenden Fami- lienstreit;31 Voraussetzung für die Nichtigkeit einer solchen Erklärung ist wiederum, dass der Erklärende die fehlende Ernstlichkeit aufgrund der Ausnahmesituation darlegen kann und davon ausging, dass die Erklärung von dem Adressaten als bloßer sittlicher Appell und nicht als Geltungserklärung verstanden wird. Unter § 118 fällt des Weiteren auch das „misslungene Scheingeschäft“, bei dem eine Willenserklärung mit dem nur vermeintlichen, tatsächlich aber nicht bestehenden Einverständnis des Empfängers lediglich zum Schein abgegeben wird.32 10 Beispiel:33 K erwarb von V ein Grundstück zum Preis von 43 000 EUR. Ein Jahr später veräußerte K das Grundstück an B. Aus steuerlichen Gründen wurden wiederum 43 000 EUR als Kaufpreis be- urkundet, doch hatte K mit F, dem Verhandlungsführer des B, einen Preis von 385 000 EUR verein- bart, was B aber bei Vertragsabschluss nicht wusste. Ein Scheingeschäft gem. § 117 Abs. 1 liegt hier _______________________________________________________________________________________ 28 Vgl. → § 35 Rn. 27 ff. 29 Vgl. Hattenhauer ZJS 2018, 92 (93 f. „Also für 15 kannste ihn haben“ bzgl. Pkw im Wert von 11 500 EUR); Wertenbruch BGB AT § 7 Rn. 17; Leipold BGB I § 17 Rn. 13. 30 Vgl. NK-BGB/Feuerborn § 118 Rn. 16; MüKoBGB/Armbrüster § 118 Rn. 14. 31 So das Beispiel bei Tscherwinka NJW 1995, 308; vgl. auch Staudinger/Singer BGB § 118 Rn. 1; Grüneberg/Ellenberger BGB § 118 Rn. 2; aA Köhler BGB AT § 7 Rn. 13; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 596; Weiler NJW 1995, 2608. 32 BGH NJW 2006, 2843 (Tz. 23); BeckOK BGB/Wendtland § 118 Rn. 3; Preuß Jura 2002, 815 (820) mwN. 33 Nach BGHZ 144, 331 (mAnm Thiessen NJW 2001, 3025). 470 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40. Nichtige Willenserklärungen 11–15 § 40 nicht vor, weil B tatsächlich von 43 000 EUR ausging (§ 166 Abs. 1 ist nicht einschlägig, weil sich B bei Vertragsschluss nicht vertreten ließ und die notwendige Willensübereinkunft auch nicht durch eine Wissenszurechnung ersetzt werden kann). Die Willenserklärung des K ist allerdings gem. § 118 nichtig, da er nicht ernstlich zum Preis von 43 000 EUR kontrahieren wollte. Daran ändert auch die notarielle Beurkundung nichts. 2. Rechtsfolgen. § 118 ist ein verallgemeinerbarer Sonderfall des fehlenden rechtsgeschäftli- 11 chen Partizipationswillens bzw. Erklärungsbewusstseins.34 Erkennt der andere die Absicht tatsächlich, liegt schon nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen keine Willenserklärung vor. Nimmt der andere aber die Erklärung für ernst, so ist die Erklärung gleichwohl nach § 118 nichtig. Dies ist selbst dann der Fall, wenn der andere den Mangel der Ernstlichkeit den Umständen nach nicht erkennen konnte.35 Der Empfänger, der auf die Ernstlichkeit der Erklärung vertraut, wird durch § 122 ge- 12 schützt. Der Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens steht dem Empfänger jedoch nicht zu, wenn er den Mangel der Ernstlichkeit infolge von Fahrlässigkeit nicht erkannt hat (§ 122 Abs. 2). Kündigt beispielsweise V spaßeshalber den Mietvertrag mit M, ist diese Er- klärung gem. § 118 nichtig, wenn M die Kündigung als ernst gemeint auffasst, doch muss V dem M den Vertrauensschaden (entstandene Inseratskosten für eine neue Wohnung usw.) erstatten, es sei denn, M hätte den „Gag“ erkennen können. Erkennt der Erklärende, dass der Gegner den Scherz für ernst genommen hat, dann ist er 13 nach Treu und Glauben (§ 242) dazu verpflichtet, ihn unverzüglich aufzuklären. Unter- lässt er dies, wird zwar aus der ursprünglichen Scherzerklärung nicht nachträglich der Tat- bestand des nicht durchschauten geheimen Vorbehalts,36 da die Mentalreservation bereits bei Abgabe der Erklärung vorhanden sein muss. Aber das Unterlassen der Aufklärung, also das Schweigen, steht angesichts der Pflicht zur Information nunmehr einer (Wiederholung der) Erklärung unter dem geheimen Vorbehalt ihrer Nichtgeltung (§ 116 S. 1) gleich.37 III. Scheingeschäft (§ 117) Wird eine Willenserklärung mit Einverständnis des Empfängers nur zum Schein abgege- 14 ben, ist sie gem. § 117 Abs. 1 nichtig. Diese Folge ist Ausdruck der negativen Privatauto- nomie, wohingegen die Gültigkeit des verdeckten Geschäfts gem. § 117 Abs. 2 deren positi- ver Seite entspricht.38 1. Voraussetzungen. Ein Scheingeschäft liegt vor, wenn sich der Erklärende und der 15 Adressat einer empfangsbedürftigen Erklärung darüber einig sind, dass das Erklärte nicht gelten solle, wenn also „die Parteien einverständlich lediglich den äußeren Schein eines Rechtsgeschäfts hervorrufen, dagegen die mit dem betreffenden Rechtsgeschäft ver- bundenen Rechtswirkungen nicht eintreten lassen wollen“.39 Hier fehlt dem Erklärenden jede Absicht, den Empfänger der Erklärung irrezuführen oder ihn, wie im Falle des § 118, doch vorübergehend in Zweifel oder Verwirrung zu versetzen. Stattdessen bezwecken beide Beteiligte zumeist die Täuschung eines Dritten, etwa eines Gläubigers oder der Steuerbehör- de. Auch ein Darlehensgeber kann getäuscht werden, indem der Darlehensnehmer Schein- kaufverträge mit einem Dritten abschließt, um hohe Umsätze vorzugaukeln. Notwendig ist _______________________________________________________________________________________ 34 Sehr str.; vgl. → § 32 Rn. 23. 35 Vgl. Flume AT II § 20, 3; Erman/Arnold BGB § 118 Rn. 5; Soergel/Hefermehl BGB § 118 Rn. 7; Boecken AT Rn. 235; aA Pawlowski AT Rn. 476, wonach es entgegen dem Wortlaut und der Auffassung der Gesetzesverfasser sowie ungeachtet der Regelung des § 122 darauf ankommen soll, ob der Erklärende den Scherzcharakter „(wenigstens den Umständen nach) in dem Verfahren der Einigung zum Ausdruck gebracht hat“. 36 So aber Flume AT II § 20, 3; NK-BGB/Feuerborn § 118 Rn. 9; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 604. 37 AA (nur Schadensersatzpflicht gem. § 122) Staudinger/Singer BGB § 118 Rn. 8; Erman/Arnold BGB § 118 Rn. 5. 38 BGH NJW 2000, 3127 (3128); Kallimopoulos Die Simulation im bürgerlichen Recht S. 21 ff. 39 BVerfG NJW 2008, 3346 (Tz. 35); ferner BGHZ 36, 84 (87); BAG NZA 2021, 37 (Tz. 14 zum Arbeits- vertrag als Scheingeschäft). 471 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40 16–19 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte eine Absicht zur Täuschung Dritter jedoch nicht.40 Es kommt lediglich darauf an, dass die Parteien subjektiv das Erklärte nicht wollen. 16 Im Falle einer Stellvertretung ist gem. § 166 Abs. 1 das Einverständnis des Vertreters über den Scheincharakter der Erklärung maßgebend.41 Bei Gesamtvertretung genügt nach der Rechtsprechung das Einverständnis eines Vertreters,42 was aber zweifelhaft erscheint, wenn man der Simulationsabrede aufgrund des erforderlichen Konsenses und der darin zum Ausdruck kommenden negativen Privatau- tonomie einen rechtsgeschäftsähnlichen Charakter beimisst.43 2. Rechtsfolgen. Ein Scheingeschäft ist gem. § 117 Abs. 1 nichtig. Zugleich regelt § 117 Abs. 2 die Gültigkeit des dissimulierten Geschäfts. Daneben gilt es, legitime Drittinteressen zu berücksichtigen.44 17 a) Nichtigkeit des Scheingeschäfts. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit des Scheinge- schäfts gem. § 117 Abs. 1 entspricht dem Grundsatz falsa demonstratio non nocet,45 dh eine Erklärung, die von den Beteiligten übereinstimmend in dem gleichen Sinne aufgefasst wird, gilt ungeachtet ihrer sonst zu verstehenden Bedeutung in dem von ihnen gemeinten Sinne. Der übereinstimmend gemeinte Sinn besteht hier darin, dass das Erklärte in Wahrheit nicht gelten solle.46 18 Für Scheinehen gilt nicht § 117 Abs. 1, sondern es besteht ein Aufhebungsgrund gem. § 1314 Abs. 2 Nr. 5 (eingeschränkt durch § 1315 Abs. 1 S. 1 Nr. 5). Auf einen simulierten Adoptionsvertrag findet § 117 Abs. 1 infolge des Dekretsystems ebenfalls keine Anwendung.47 Besondere Grundsätze gelten des Wei- teren im Gesellschaftsrecht für Scheingesellschaften.48 19 b) Geltung des verdeckten Rechtsgeschäfts. Häufig werden die Parteien statt des nur zum Schein vorgenommenen Geschäfts ein anderes, dadurch verdecktes Rechtsgeschäft einverständlich wollen. In einem solchen Falle finden gem. § 117 Abs. 2 „die für das ver- deckte Rechtsgeschäft geltenden Vorschriften Anwendung“. Das dissimulierte Geschäft darf also beispielsweise nicht gegen ein gesetzliches Verbot gem. § 134 oder die guten Sitten gem. § 138 verstoßen.49 Bei formbedürftigen Rechtsgeschäften ist nicht nur das beurkundete Scheingeschäft nach § 117 Abs. 1 nichtig, sondern es ist gem. § 125 S. 1 auch das in Wahr- heit gewollte, aber nur mündlich vereinbarte Geschäft unwirksam, weil und sofern die vom Gesetz geforderte Form nicht gewahrt wurde (zB gem. §§ 311b Abs. 1 S. 1, 518 Abs. 1). Nach dem Grundsatz falsa demonstratio non nocet müsste bei beiderseitigem Einverständnis der Parteien das formrichtig vorgenommene Geschäft zwar mit dem Inhalt gelten, den die Parteien übereinstimmend gewollt haben, doch gilt das nicht bei einer bewussten Umge- hung von Formvorschriften.50 Zwingendes Recht steht nicht zur Disposition der Betroffe- nen. Die fehlende Form kann bei Grundstücksgeschäften lediglich durch Auflassung und Eintragung ins Grundbuch, bei formunwirksamen Schenkungen durch Bewirken der ver- sprochenen Leistung geheilt werden (§ 311b Abs. 1 S. 2 bzw. § 518 Abs. 2). _______________________________________________________________________________________ 40 RGZ 90, 273 (277); MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 16 mwN. 41 Zur Anwendung von § 177 beim kollusiven Zusammenwirken des Vertreters mit dem Geschäftspartner s. bereits → Rn. 6. 42 BGH NJW 1996, 663 (664); RGZ 134, 33 (37); ebenso Staudinger/Singer BGB § 117 Rn. 8; Grigoleit/ Herresthal BGB AT Rn. 602; Waas Jura 2000, 292 (296). 43 S. v. Hein ZIP 2005, 191 (193 f., 197 ff.); MüKoBGB/Kramer, 5. Aufl. 2006, § 117 Rn. 11. 44 S. dazu auch schon Kallimopoulos Die Simulation im bürgerlichen Recht S. 117 ff.; Baer Scheingeschäfte S. 12 ff. 45 Vgl. → § 35 Rn. 27 f. 46 Zur Beweislast, die jene Partei trägt, die sich auf die Nichtigkeit nach § 117 Abs. 1 beruft, s. näher BAG NJOZ 2016, 544 (Tz. 23); Bork BGB AT Rn. 802. 47 Vgl. nur MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 7. 48 S. näher Staudinger/Singer BGB § 117 Rn. 6; zu Besonderheiten im Arbeitsrecht Benecke RdA 2016, 65 (68 ff.). 49 Das verdeckte Geschäft ist aber nicht schon deshalb verwerflich, weil es eine Steuerhinterziehung er- möglichen soll; vgl. BGH NJW 1983, 1843 (1844); Grüneberg/Ellenberger BGB § 117 Rn. 8. 50 BGHZ 89, 41 (43); Brox/Walker BGB AT § 17 Rn. 14; Bork BGB AT Rn. 810. 472 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 40. Nichtige Willenserklärungen 20–27 § 40 Beispiel: Beim Abschluss eines Grundstückskaufvertrags geben die Parteien einen geringeren 20 Kaufpreis als den wirklich gewollten an, um Grunderwerbsteuer sowie Notar- und Eintragungsgebüh- ren zu sparen, die regelmäßig nach der Höhe des Kaufpreises berechnet werden. Der nur zum Schein vereinbarte Kaufvertrag ist gem. § 117 Abs. 1 nichtig. Der nur mündlich vereinbarte Vertrag mit dem tatsächlich gewollten Kaufpreis ist dagegen nach § 125 S. 1 nichtig, weil insoweit die vom Gesetz vor- geschriebene Form gem. § 311b Abs. 1 S. 1 nicht gewahrt wurde. c) Schutz des getäuschten Dritten. Einen allgemeinen Schutz gutgläubiger Dritter 21 gegenüber Scheingeschäften kennt das geltende Recht, im Unterschied zu ausländischen Rechtsordnungen, nicht;51 er ist wohl auch nicht nötig.52 Soweit das nichtige Scheinge- schäft dem Dritten nachteilig gewesen wäre, kann er die Nichtigkeit nach § 117 Abs. 1 geltend machen. Beispiele: Hat ein Schuldner, um seinen Gläubigern Vermögensgegenstände zu entziehen, diese 22 zum Schein an einen Dritten veräußert, kann jeder Gläubiger die Nichtigkeit der Veräußerung geltend machen und in die weiterhin seinem Schuldner gehörenden Gegenstände vollstrecken. Auch bei ei- nem zu gering angegebenen Kaufpreis kann von den Steuer- und Gebührengläubigern die Nichtig- keit des Kaufvertrags geltend gemacht werden. Diese Gläubiger sind darüber hinaus daran interessiert, die Parteien am wirklich gewollten, aber verdeckten Geschäft mit dem höheren Kaufpreis festzuhal- ten. Soweit das nichtige Scheingeschäft für den Dritten vorteilhaft gewesen wäre, bleibt die- 23 ses zwar nichtig, doch greift in vielen Fällen ein Gutglaubensschutz ein. Beispiele: Erwirbt A durch Rechtsgeschäft eine Sache von B, der sie seinerseits nur zum Schein 24 gem. § 117 Abs. 1 von C erworben hatte, ist B nicht Eigentümer geworden. Zugunsten von A ist je- doch ein gutgläubiger Erwerb möglich (§§ 892, 932 ff.). Im Fall der Abtretung einer Forderung wird der Erwerber gegenüber dem Einwand, die Eingehung der Schuld sei nur zum Schein erfolgt, wenigs- tens dann geschützt, wenn ihm die Forderung unter Vorlegung einer vom Schuldner über sie ausge- stellten Urkunde abgetreten wird (§ 405). Der scheinbare Schuldner wird hier dem gutgläubigen Er- werber nicht aus der nach § 117 Abs. 1 nichtigen Forderung, sondern infolge der Schaffung eines Vertrauenstatbestands kraft Gesetzes verpflichtet.53 Bei der einverständlichen Täuschung eines Dritten mit dem Ziel, diesen zu schädigen, 25 kommen Schadensersatzansprüche gem. § 823 Abs. 2 BGB iVm § 263 StGB sowie gem. § 826 in Betracht.54 Besteht ein Schuldverhältnis zu dem Dritten, kann dieser auch Scha- densersatzansprüche aus §§ 280 ff. geltend machen. Der Dritte kann verlangen, so gestellt zu werden, als ob er nicht getäuscht worden wäre. 3. Abgrenzungen. Kein nach § 117 nichtiges Rechtsgeschäft liegt vor, wenn die Partei- 26 en die von ihnen gewollten Rechtsfolgen angeben, aber sie juristisch falsch klassifizieren, etwa einen Vertrag, der Elemente eines Kauf- und eines Werkvertrags enthält, nur als Kaufvertrag bezeichnen. Die rechtliche Qualifikation des Vertrags ergibt sich aus seinem gesamten In- halt, nicht aus der von den Parteien gewählten Bezeichnung.55 Keine Scheingeschäfte sind auch Strohmann- und Treuhand- sowie Umgehungsgeschäfte. a) Strohmann- und Treuhandgeschäfte. Beim Strohmann- und Treuhandgeschäft 27 handeln der Strohmann und der Treuhänder im eigenen Namen, aber auf fremde Rechnung. Sie wollen den Eintritt der Rechtsfolgen. Jedoch sollen die damit verbunde- nen wirtschaftlichen oder sonstigen tatsächlichen Folgen einem Dritten zukommen. Dabei _______________________________________________________________________________________ 51 So kann zB nach § 916 Abs. 2 (des österreichischen) ABGB einem Dritten, der im Vertrauen auf die Er- klärung Rechte erworben hat, die Einrede des Scheingeschäfts nicht entgegengesetzt werden; s. hierzu auch MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 26 mwN. 52 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 598. 53 Hierzu Canaris Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht S. 85 ff.; für einen weitergehenden Schutz tritt Flume AT II § 20, 2c ein, indem er eine Ermächtigung fingiert. 54 Vgl. RGZ 95, 160 (163). 55 Flume AT II § 20, 2a aE; MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 21; Michaelis FS Wieacker, 444 (459). 473 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 28–30 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte ist gleichgültig, ob der andere Vertragsteil das Vorliegen eines Strohmanngeschäfts durch- schaut oder nicht. Strohmann- und Treuhandgeschäfte werden vor allem durch das Innen- verhältnis zwischen dem wahren Geschäftsherrn oder Treugeber einerseits und dem Strohmann oder Treuhänder andererseits gekennzeichnet. Beide Geschäfte schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können zusammenfallen. Jedoch gibt es prinzipielle Unter- schiede. Der Strohmann wird im Regelfall bei Veräußerungs- und Erwerbsgeschäften einge- setzt, der Treuhänder verwaltet dagegen Vermögenswerte eines anderen über eine gewisse Dauer. Der Strohmann ist typischerweise stark weisungsgebunden. Der Treuhänder trifft typischerweise eher selbständige Entscheidungen, wenngleich er sich dabei an den Interes- sen seines Treugebers zu orientieren hat. Beim Strohmanngeschäft benutzt der Geschäfts- herr den Strohmann regelmäßig zur Geheimhaltung, um als Hintermann unerkannt zu bleiben. Das Treuhandgeschäft ist dagegen zumeist offen. Der Geschäftsherr als Treugeber setzt den Treuhänder gewöhnlich als Verwalter und Sachkenner ein, um sich selbst von Ar- beit zu entlasten. 28 Beispiele: Jemand erwirbt durch einen Strohmann ein Aktienpaket, Geschäftsanteile einer GmbH oder Kunstwerke auf einer Versteigerung, um selbst unerkannt zu bleiben. Das Geschäft, das der Strohmann mit dem Verkäufer abschließt, ist selbst dann, wenn der Geschäftsgegner weiß, wem das Geschäft zugutekommen soll, von beiden ernstlich gewollt und kein Scheingeschäft. Der Strohmann wird aus diesem Geschäft sowohl berechtigt wie verpflichtet.56 Er ist aber dem Hintermann als seinem Auftraggeber gegenüber verpflichtet, diesem zu übertragen, was er aus dem Geschäft erlangt. Der Treuhänder soll zwar nicht wirtschaftlich, aber doch rechtlich die Stellung eines Eigentümers erhalten, damit er als Eigentümer agieren kann.57 Allerdings darf er bei der sog. fremdnützigen Treuhand von der ihm eingeräumten Rechtsmacht nur im Interesse des Treugebers Gebrauch machen und muss nach Beendigung des Treuhandverhältnisses das Anvertraute zurückgeben. Bei der eigennützigen Treuhand, insbesondere bei den Sicherungsübertragungen, muss der Treuhänder ebenfalls die Interessen des Treugebers wahren, darf aber unter bestimmten Voraussetzungen den übertragenen Gegenstand für sich verwenden. 29 b) Umgehungsgeschäfte. Ein Umgehungsgeschäft dient dazu, den Zweck eines ge- setzlich untersagten Geschäfts mit Hilfe einer anderen rechtlichen Gestaltungsform zu er- reichen.58 Da die alternative Gestaltung von den Parteien typischerweise ernstlich gewollt ist, handelt es sich beim Umgehungsgeschäft um kein Scheingeschäft iSv § 117.59 30 Beispiele: Lohnschiebungsvertrag, bei dem der über den unpfändbaren Betrag hinaus vereinbarte Lohn dem Ehepartner zustehen soll (s. zum Schutz des Gläubigers jedoch § 850h ZPO);60 atypische Vertragsgestaltungen, um ungünstige Steuerfolgen zu vermeiden.61 § 41 § 41. Anfechtbare Willenserklärungen Literatur: Arnold, Die arglistige Täuschung im BGB, JuS 2013, 865; Brox, Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 1960; Cziupka, Die Irrtumsgründe des § 119 BGB, JuS 2009, 887; Denga, Digitale Manipulation und Privatautonomie, ZfDR 2022, 229; Ernst, Irrtum – Ein Streifzug durch die Dog- mengeschichte, in Zimmermann, Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 1; Fleischer, Der Kalkulationsirrtum, RabelsZ 65 (2001), 264; Fleischer, Zum Verkäuferirrtum über werterhöhende Eigenschaften im Spiegel der Rechtsvergleichung, in Zimmermann, Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 35; Flume, Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948; Goltz, Motivirrtum und Ge- schäftsgrundlage im Schuldvertrag, 1973; Grigoleit, Vorvertragliche Informationshaftung, 1997; Grigo- leit, Abstraktion und Willensmängel – Die Anfechtbarkeit des Verfügungsgeschäfts, AcP 199 (1999), _______________________________________________________________________________________ 56 Vgl. BGH NJW-RR 2013, 687 (Tz. 14 f.), wo ein Unternehmer einen Verbraucher als Strohmann vor- schob, um die Sache unter Ausschluss der Mängelhaftung verkaufen zu können. 57 S. näher Staudinger/Singer BGB § 117 Rn. 22; MüKoBGB/Armbrüster § 117 Rn. 18 mwN. 58 S. dazu auch → § 45 Rn. 26 ff. 59 Vgl. nur Flume AT II § 20, 2b, cc; Benecke RdA 2016, 65 (68). 60 S. näher Flume AT II § 20, 2b, cc; Kallimopoulos Die Simulation im bürgerlichen Recht S. 64 ff. 61 S. mit weiteren Beispielen Staudinger/Singer BGB § 117 Rn. 14 ff. 474 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 30 § 41 379; Grigoleit, Sanktionsmechanismen bei Willensstörungen, in Zimmermann, Störungen der Willens- bildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 163; Harke, Si error aliquis intervenit – Irrtum im klassischen rö- mischen Vertragsrecht, 2005; Herbert, 100 Jahre Doppelwirkungen im Recht, JZ 2011, 503; Höpfner, Vertrauensschaden und Erfüllungsinteresse, AcP 212 (2012), 853; Holler/Hinzpeter-Schmidt, Die An- fechtung im sog. multi-polaren Vertragsverhältnis, JuS 2021, 301; P. Huber, Irrtumsanfechtung und Sachmängelhaftung, 2001; Jansen/Zimmermann, Vertragsschluss und Irrtum im europäischen Vertrags- recht, AcP 210 (2010), 196; Karakatsanes, Die Widerrechtlichkeit in § 123 BGB, 1974; Kipp, Über Doppelwirkungen im Recht, insbesondere über die Konkurrenz von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit, FS v. Martitz, 1911, 211; Kramer, Der Irrtum beim Vertragsschluss. Eine weltweit rechtsvergleichende Bestandsaufnahme, 1998; Kramer, Bausteine für einen „Common Frame of Reference“ des europäi- schen Irrtumsrechts, ZEuP 2007, 247; Lobinger, Irrtumsanfechtung und Reurechtsausschluß, AcP 195 (1995), 274; Löhnig, Irrtum über Eigenschaften des Vertragspartners, 2002; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997; Mankowski, Beseitigungsrechte, 2003; Martens, Durch Dritte verursachte Willensmängel, 2007; Musielak, Der Irrtum über die Rechtsfolgen einer Willenserklärung, JZ 2014, 64; Musielak, Die Anfechtung einer Willenserklärung wegen Irrtums, JuS 2014, 491, 583; Preiß, Die Be- rechtigung zur Anfechtung einer Willenserklärung in Mehrpersonenverhältnissen, JA 2010, 6; Rehm, Aufklärungspflichten im Vertragsrecht, 2003; Röckrath, Anfechtung bei Drohung durch Dritte – Frei- kauf auf fremde Rechnung?, 1. FS Canaris, Bd. I, 2007, 1105; Schermaier, Europäische Geistesgeschichte am Beispiel des Irrtumsrechts, ZEuP 1998, 60; Schmidt-Rimpler, Eigenschaftsirrtum und Erklärungsirr- tum, FS Lehmann, Bd. I, 1956, 213; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Wil- lenserklärungen, 1995; Singer, Der Kalkulationsirrtum – ein Fall für Treu und Glauben?, JZ 1999, 342; Titze, Vom sogenannten Motivirrtum, 1956; Wagner, Lügen im Vertragsrecht, in Zimmermann, Störun- gen der Willensbildung bei Vertragsschluss, 2007, S. 59; Wiegand, Vertragliche Beschränkungen der Berufung auf Willensmängel, 2000; Wieling, Der Motivirrtum ist unbeachtlich! Entwicklung und Dogmatik des Irrtums im Beweggrund, Jura 2001, 577; Windel, Welche Willenserklärungen unterlie- gen der Einschränkung der Täuschungsanfechtung gem. § 123 Abs. 2 BGB?, AcP 199 (1999), 421; M.Wolf, Willensmängel und sonstige Beeinträchtigungen der Entscheidungsfreiheit in einem europäi- schen Vertragsrecht, in Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, 2000, S. 85; Würdinger, Doppelwirkungen im Zivilrecht: Eine 100jährige juristische Entdeckung, JuS 2011, 769; Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1879. Übersicht Rn. I. Grundlagen.................................................................................................. 1 1. Gesetzliche Anfechtungsgründe................................................................ 2 a) Exogene Beeinträchtigungen der Willensbildung.................................. 3 b) Generelle Fehlvorstellungen bei der Willensbildung.............................. 5 c) Irrtümer bei der Willensäußerung......................................................... 8 2. Rechtsvergleichung.................................................................................. 9 3. Abgrenzungen.......................................................................................... 10 II. Allgemeine Anfechtungsvoraussetzungen....................................................... 11 1. Vorrang der Auslegung............................................................................. 11 2. Anfechtungserklärung............................................................................... 13 3. Anfechtungsberechtigter........................................................................... 17 4. Anfechtungsgegner................................................................................... 20 5. Anfechtungsfrist....................................................................................... 24 a) Frist gem. § 121................................................................................... 25 b) Frist gem. § 124................................................................................... 30 6. Kausalität.................................................................................................. 32 a) Irrtum................................................................................................. 33 b) Täuschung........................................................................................... 35 c) Drohung.............................................................................................. 36 III. Anfechtungsgründe...................................................................................... 37 1. Erklärungsirrtümer................................................................................... 37 a) Irrtum in der Erklärungshandlung (§ 119 Abs. 1 Alt. 2)......................... 38 b) Übermittlungsirrtum (§ 120)................................................................ 40 c) Inhaltsirrtum (§ 119 Abs. 1 Alt. 1)......................................................... 43 475 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 1, 2 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte Rn. 2. Eigenschaftsirrtum (§ 119 Abs. 2).............................................................. 51 a) Dogmatische Einordnung..................................................................... 52 b) Eigenschaften der Person oder Sache.................................................... 57 c) Verkehrswesentlichkeit......................................................................... 61 d) Verhältnis zum Sach- und Rechtsmängelrecht...................................... 69 3. Besondere Irrtumsarten............................................................................ 72 a) Kalkulationsirrtum............................................................................... 72 b) Rechtsfolgenirrtum.............................................................................. 89 c) Unterschriftsirrtum.............................................................................. 92 4. Arglistige Täuschung (§ 123 Abs. 1 Alt. 1).................................................. 102 a) Täuschungshandlung............................................................................ 103 b) Arglist.................................................................................................. 110 c) Person des Täuschenden....................................................................... 112 d) Konkurrenzen...................................................................................... 118 5. Widerrechtliche Drohung (§ 123 Abs. 1 Alt. 2).......................................... 126 a) Begriff der Drohung............................................................................ 127 b) Drohungsvorsatz.................................................................................. 129 c) Person des Drohenden......................................................................... 131 d) Widerrechtlichkeit............................................................................... 133 IV. Wirkungen der Anfechtung.......................................................................... 141 1. Grundsatz der ex-tunc-Nichtigkeit........................................................... 141 a) Teilanfechtung..................................................................................... 142 b) Anfechtung einseitiger Rechtsgeschäfte................................................ 144 c) Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte.................................................. 146 2. Einschränkungen der ex-tunc-Nichtigkeit................................................ 148 a) Fehlerhafte Vertragsverhältnisse............................................................. 149 b) Reduktion auf das Gewollte................................................................. 153 3. Ersatz des Vertrauensschadens (§ 122)........................................................ 156 a) Voraussetzungen................................................................................... 157 b) Rechtsfolgen........................................................................................ 158 4. Schadensersatz aus culpa in contrahendo................................................... 162 5. Vertragliche Beschränkungen.................................................................... 163 6. Schutz des Rechtsverkehrs........................................................................ 164 a) Allgemeine Schutzbestimmungen......................................................... 165 b) Drittwirkung des § 142 Abs. 2.............................................................. 167 V. Willensmängel bei der Einwilligung.............................................................. 169 1. Unanwendbarkeit der Anfechtungsregelungen........................................... 170 2. Trennung vom Verpflichtungsgeschäft....................................................... 171 3. Unwirksame Einwilligung........................................................................ 172 VI. Bestätigung des anfechtbaren Rechtsgeschäfts................................................ 173 I. Grundlagen 1 Unterläuft dem Erklärenden bei seiner Willenserklärung ein Irrtum, kann er diese unter bestimmten Voraussetzungen anfechten. Umgangssprachlich wird der Irrtumsbegriff sehr weit gefasst und schließt jede Fehlvorstellung ein, die sich jemand von der Wirklichkeit macht. Es liegt auf der Hand, dass nicht alle Irrtümer dazu Anlass geben können, die Gel- tung eines Rechtsgeschäfts in Frage zu stellen. Das würde fast jedes Geschäft mit einem unerträglichen Unsicherheitsfaktor belasten. Ebenso kann auch nicht jede Art der Beein- flussung des Willensbildungsprozesses durch Dritte die Geltung eines Rechtsgeschäfts in Zweifel ziehen. 2 1. Gesetzliche Anfechtungsgründe. Das Gesetz sieht die Möglichkeit der Anfechtung vor, wenn ein anderer durch arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung die Willens- bildung beeinträchtigt (§ 123). Beachtlich sind des Weiteren Irrtümer, die speziell bei der Wil- lensäußerung auftreten (§§ 119 Abs. 1, 120), wohingegen Irrtümer im Rahmen der Willens- bildung, von besonderen Ausnahmen abgesehen (zB § 119 Abs. 2), unbeachtlich bleiben. 476 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 3–6 § 41 a) Exogene Beeinträchtigungen der Willensbildung. Bei einer arglistigen Täu- 3 schung oder widerrechtlichen Drohung wird die Entscheidungsfreiheit, dh die konkrete Willensbildung und -entschließung, durch äußere Einwirkungen Dritter massiv beeinträch- tigt. Das unter solchen Einflüssen zustande gekommene Rechtsgeschäft ist zwar anfechtbar, aber zunächst gültig, da die Privatautonomie jedenfalls im Ansatz gewahrt bleibt.1 Die Ent- scheidung des Beeinträchtigten beruht zumindest auf Handlungsfreiheit, dh der Kausali- tät zwischen dem Willen und der Handlung, sowie auf Willensfreiheit, dh der Fähigkeit zur Reflexion über den Willen, und stammt damit aus einer an sich intakten Sphäre. Der Wille selbst wird allerdings bei einer Täuschung oder Drohung fremd beeinflusst, sodass der Erklärende seine Entscheidung nicht frei treffen kann.2 Er vermag sein Wollen, seine hand- lungsleitenden Wünsche nicht selbstbestimmt zu definieren. Das Gesetz berücksichtigt diese Eingriffe in die Entscheidungsfreiheit in autonomiewahrender Weise, indem der Betrof- fene selbst darüber befinden kann, ob seine Erklärung bestehen bleiben soll oder ob er sie anficht (§ 123). Beispiele: Der Bedrohte will den Vertrag abschließen, um der alternativen Tötung zu entgehen; 4 sein Wille ist damit kausal für seine Erklärung (Handlungsfreiheit). Er kann geistig das, was er will, nämlich lieber zu kontrahieren als getötet zu werden, auch abwägen und an Gründen messen (Wil- lensfreiheit). Sein Wollen beruht allerdings auf der Drohung, sodass sein Entschluss, den Vertrag abzu- schließen, nicht frei erfolgt (fehlende Entscheidungsfreiheit). Bei einer arglistigen Täuschung will der Betroffene ebenfalls die Erklärung abgeben, über die er auch zu reflektieren vermag. Sein Wille, zu kontrahieren, wurde jedoch manipuliert. Ist der Bedrohte oder Getäuschte geschäftsunfähig, wird ebenfalls in dessen (spontane) Entscheidungsfreiheit eingegriffen, doch fehlt bereits die Willensfreiheit und die Erklärung ist damit von Anfang an unwirksam. Unwirksam ist die Erklärung auch dann, wenn sie aufgrund unmittelbarer Gewalt (vis absoluta) und nicht wegen einer Drohung (vis compulsiva) erfolgt (die Hand wird gewaltsam zur Vertragsunterschrift geführt); hier fehlt bereits die Handlungs- freiheit. b) Generelle Fehlvorstellungen bei der Willensbildung. Abgesehen von der arglis- 5 tigen Täuschung gem. § 123 Abs. 1 Alt. 1, wird ein Irrtum bei der Willensbildung vom BGB nur in engen Grenzen berücksichtigt, die überdies rechtspolitisch umstritten sind. Dazu zählen die Anfechtbarkeit wegen eines Eigenschaftsirrtums gem. § 119 Abs. 2 (mit der Folge einer Schadensersatzpflicht gem. § 122) sowie der beiderseitige Motivirrtum unter den Vor- aussetzungen einer Störung der Geschäftsgrundlage gem. § 313 Abs. 2. Bei letztwilligen Verfügungen wie Testament und Erbvertrag berechtigt ein Motivirrtum ganz generell zur Anfechtung (§§ 2078 Abs. 2, 2079, 2281 Abs. 1).3 Mit Ausnahme jener Spezialregelungen muss der einzelne Privatrechtsakteur die Risiken, 6 die mit einer Willensbildung verbunden sind, selbst tragen, anderenfalls verlöre das jeweilige rechtsgeschäftliche Versprechen seinen Sinn und Zweck.4 Die Motive, die einer Willenser- klärung vorausgehen und die sich auch jederzeit ändern können, liegen grundsätzlich allein im Verantwortungs- und Risikobereich des Erklärenden.5 Deshalb wäre es sachwid- rig, den Erklärungsempfänger mit Irrtumsrisiken der Gegenseite zu belasten, zumal dieser im Regelfall die Gründe und Umstände der Willensbildung in ihrer Gesamtheit nicht überblicken kann und sich auf sie auch nicht einlassen muss, selbst wenn er sie im Einzelfall kennen sollte. _______________________________________________________________________________________ 1 S. bereits Dig. 4, 2, 21, 5: „tamen coactus volui“ (ich wollte, wenn auch gezwungen); hierauf bezogen sich die Verfasser des BGB und erachteten deshalb eine durch Drohung herbeigeführte Willenserklärung lediglich für anfechtbar; Mot. I S. 204 f.; ausführlich zur historischen Entwicklung Schindler, Rechtsgeschäftliche Ent- scheidungsfreiheit und Drohung, 2005, S. 9 ff. 2 Ausführlicher Neuner AcP 218 (2018), 1 (2 ff.); s. auch schon → § 32 Rn. 26 ff. 3 S. näher Singer Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen S. 219 ff.; Man- kowski Beseitigungsrechte S. 403 ff. 4 Vgl. Staudinger/Singer BGB § 119 Rn. 5. 5 S. dazu auch Mankowski Beseitigungsrechte S. 391 ff. 477 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 7–9 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte 7 Ein unbeachtlicher Motivirrtum liegt insbesondere bei Fehlvorstellungen über geschäftsbegleitende Umstände vor, wenn etwa ein Kaufmann Waren bestellt, weil das Lagerhaltungsprogramm ihm anzeigt, sie seien ausgegangen, in Wahrheit aber noch ein ausreichender Vorrat vorhanden ist. Das Gleiche gilt bei Fehlvorstellungen über den künftigen Geschehensablauf, wenn etwa ein Autokäufer unerwartet durch die Fahrprüfung fällt oder jemand ein Geschenk für eine Feier kauft, die dann später abgesagt wird. Das Risiko der künftigen Entwicklung der Preise, der künftigen Absatz- oder Verwendungsmöglich- keiten oder sonstiger Marktchancen muss grundsätzlich jeder selbst tragen. Besonderheiten gelten hingegen beim Irrtum über den Geschäftsgegenstand, der als Eigenschaftsirrtum von § 119 Abs. 2 erfasst sein kann, so etwa, wenn jemand ein Bild in dem Glauben kauft, es sei ein Original, während es in Wahrheit nur eine Kopie ist. Auch hier bezieht sich der Irrtum nicht auf die Erklärung und ihren Inhalt, sondern auf die Eigenschaften und die Beschaffenheit des Gegenstandes, die die Gründe und Motive für den Kaufentschluss beeinflussen. 8 c) Irrtümer bei der Willensäußerung. Im Unterschied zu Irrtümern, die bei der Willensbildung auftreten, äußert der Erklärende hier tatsächlich etwas anderes, als er äußern wollte – so wenn er sich verspricht oder verschreibt –, oder schätzt die Bedeutung seiner Er- klärung falsch ein, schreibt ihr also einen anderen Sinn zu, als sie tatsächlich hat. In beiden Fällen gibt der Erklärende jeweils eine Erklärung ab, deren Inhalt, wie er objektiv zu ver- stehen ist, subjektiv dem Erklärenden nicht bewusst und von ihm nicht gewollt ist. Dieser divergierende Wille ist gleichwohl kausal für die Erklärung und insoweit Ausdruck von Handlungsfreiheit: Eben weil der Erklärende a wollte, hat er sich versprochen oder verschrie- ben und irrtümlich non-a erklärt. Auch in diesem Fall wird daher noch selbstbestimmt, wenngleich fehlerhaft, eine Regelung in Geltung gesetzt.6 Das Gesetz trägt der missglück- ten Umsetzung des Willens dadurch Rechnung, dass es dem Erklärenden gem. § 119 Abs. 1 gestattet, sich nachträglich von seiner Erklärung durch eine (fristgerechte) Anfechtung wie- der zu lösen. Seine Verantwortung bleibt jedoch auch dann in der abgeschwächten Form der verschuldensunabhängigen Verpflichtung zum Ersatz des Vertrauensschadens gem. § 122 bestehen.7 9 2. Rechtsvergleichung. Die Irrtumsregelungen der §§ 119 ff. sind seit jeher rechtspolitisch stark umstritten.8 Daher verwundert es nicht, dass in ausländischen Rechtsordnungen alternative Konzepte vorherrschen, zumal auch rechtsökonomische Argumente für restriktive Irrtumsregelungen sprechen können (Effizienz des Geschäftsverkehrs, keine Anreize für unbedachte Vertragsschlüsse). 9 In den Rechtsordnungen des romanischen Rechtskreises, wie zB in Frankreich, Belgien oder Spanien, aber auch im angloamerikanischen Recht berechtigt nur der entschuldbare Irrtum zur Anfechtung, nicht aber ein Irrtum, der auf Fahrlässigkeit beruht.10 Die Unidroit-Prinzipien werden vom Gedanken des Vertrauensschutzes geleitet.11 Eine Anfechtung wegen Irrtums setzt danach voraus, dass der Erklärungsempfänger nicht schutzwürdig ist, weil er den Irrtum erkannt hat oder doch hätte erkennen können. Die Unterscheidung in Motivirrtum und Kundgabefehler spielt bei der Ausrichtung des Irr- tumsrechts an diesen Wertungsprinzipien keine entscheidende Rolle mehr. Nach Art. II.-7:201 DCFR soll schließlich Folgendes gelten: „(1) A party may avoid a contract for mistake of fact or law existing when the contract was concluded if: (a) the party, but for the mistake, would not have con- cluded the contract or would have done so only on fundamentally different terms and the other party knew or could reasonably be expected to have known this; and (b) the other party: (i) caused the mis- take; (ii) caused the contract to be concluded in mistake by leaving the mistaken party in error, con- trary to good faith and fair dealing, when the other party knew or could reasonably be expected to have known of the mistake; (iii) caused the contract to be concluded in mistake by failing to comply with a pre-contractual information duty or a duty to make available a means of correcting input er- rors; or (iv) made the same mistake. (2) However a party may not avoid the contract for mistake if: (a) _______________________________________________________________________________________ 6 AA Singer 2. FS Canaris, 2017, 425 (438). 7 Zur Haftung aus c. i. c. → Rn. 162. 8 Zur Geschichte des Irrtumsrechts s. zB Schermaier ZEuP 1998, 60; Flume AT II § 22; monographisch Harke Si error aliquis intervenit. 9 Eingehend hierzu de la Durantaye, Erklärung und Wille, 2020, S. 249 ff. 10 S. dazu näher Kramer Der Irrtum beim Vertragsschluss S. 61 ff. mwN. 11 S. dazu näher M. Wolf in Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, S. 85 (92 ff.). 478 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 10–13 § 41 the mistake was inexcusable in the circumstances; or (b) the risk of the mistake was assumed, or in the circumstances should be borne, by that party.“12 3. Abgrenzungen. Seit 28.5.2022 sieht § 9 Abs. 2 UWG vor, dass derjenige, der vorsätzlich oder 10 fahrlässig eine nach § 3 UWG unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt und hierdurch Verbrau- cher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst, die sie andernfalls nicht getroffen hätten, ihnen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet ist.13 Dieser Schadensersatzanspruch „steht in freier Anspruchskonkurrenz zu den bereits bestehenden Ansprüchen des bürgerlichen Rechts.“14 Nichts mit der Anfechtung einer Willenserklärung zu tun hat die Anfechtung von Rechtshand- lungen des Schuldners wegen Gläubigerbenachteiligung gem. §§ 1 ff. AnfG, §§ 129 ff. InsO. Hier- nach müssen unter bestimmten Voraussetzungen Gegenstände, die der Schuldner vor dem Beginn der Vollstreckung oder vor der Insolvenzeröffnung aus seinem Vermögen weggegeben hat, wieder für die Verwertung durch die Gläubiger zur Verfügung gestellt werden. Völlig eigenständige Rechtsbehelfe, die mit der Anfechtung von Willenserklärungen gem. §§ 119 ff. nichts gemein haben, sind ferner die Va- terschaftsanfechtung gem. §§ 1599 ff. sowie die Anfechtung des Erbschaftserwerbs wegen Erb- unwürdigkeit gem. §§ 2340 ff. II. Allgemeine Anfechtungsvoraussetzungen Für die Anfechtung einer Willenserklärung müssen neben einem kausalen Anfechtungs- grund weitere allgemeine Bedingungen gegeben sein. 1. Vorrang der Auslegung. Nach dem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ gilt das 11 übereinstimmend Gewollte, wenn der Erklärende und der Empfänger die Erklärung in dem gleichen, obwohl von der gewöhnlichen Bedeutung abweichenden Sinne verstanden ha- ben.15 Da bei einer solchen unschädlichen „Falschbezeichnung“ keine der Parteien irrt, bleibt auch kein Raum für eine Anfechtung.16 Eine Anfechtung scheidet ferner grundsätz- lich aus, wenn der Erklärungsempfänger einen Irrtum erkannt oder sich bewusst der Er- kenntnis verschlossen hat, was der Erklärende meinte.17 Hier gilt ebenfalls das Gewollte (ungeachtet des irrtümlich Erklärten). Handelt es sich um einen Eigenschafts- oder sonsti- gen Motivirrtum, den der Geschäftspartner erkannte, kommt eine Hinweispflicht in Be- tracht.18 Der Erklärungsempfänger muss jedoch keine Nachforschungen über einen etwai- gen Irrtum des Erklärenden anstellen. Wird der Irrtum fahrlässig vom Empfänger nicht erkannt, hat dies auf den Irrtum des Erklärenden keinen Einfluss, führt aber im Fall der Anfechtung zum Verlust des Anspruchs auf Ersatz des Vertrauensschadens (§ 122 Abs. 2). Beispiele: Vereinbaren zwei Parteien einen Kaufpreis in Dollar, ist zunächst durch Auslegung zu klä- 12 ren, ob sie sich auf US-Dollar oder auf kanadische Dollar geeinigt haben. Ergibt die Auslegung eine Einigung auf kanadische Dollar, etwa weil der Vertrag in Kanada geschlossen wurde, irrt sich jene Par- tei, die in US-Dollar kontrahieren wollte. Lässt sich die vereinbarte Währung auch mit den Mitteln der Auslegung nicht klären (Vertragsschluss in Drittstaat), ist der Vertrag wegen Dissenses nicht zustande gekommen.19 Der falsa demonstratio-Grundsatz greift ein, wenn beide objektiv kanadische Dollar er- klärten, übereinstimmend aber US-Dollar meinten. 2. Anfechtungserklärung. Die Anfechtung erfolgt durch eine einseitige Gestaltungser- 13 klärung gem. § 143 Abs. 1. Diese ist grundsätzlich nicht formbedürftig, selbst wenn das _______________________________________________________________________________________ 12 S. zu Einzelheiten der Irrtumsregelungen im DCFR Jansen/Zimmermann AcP 210 (2010), 196 (240 ff.); zu den ähnlichen Regelungen in Art. 4:103 PECL ausführlich Grigoleit in Zimmermann, Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, S. 163; zu den Bestimmungen im Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht, die sich ebenfalls an den DCFR anlehnen, s. Looschelders AcP 212 (2012), 581 (618 ff.); Bünten, Das Recht der Willensmängel im europäischen Wandel, 2015, S. 103 ff. 13 Ausführlich Ohly GRUR 2022, 763 (768 ff.); Köhler GRUR 2022, 435; Frey VuR 2022, 174. 14 BT-Drs. 19/27873, 40. 15 Vgl. → § 35 Rn. 27 f. 16 Vgl. nur Soergel/Hefermehl BGB § 119 Rn. 19; Grobe/Schellenberg Jura 2020, 799 (801 f.). 17 BGH NJW-RR 2004, 892 (893); 1995, 859; Erman/Arnold BGB § 119 Rn. 4. 18 Vgl. → Rn. 87. 19 Vgl. → § 38 Rn. 4. 479 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 14–16 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte angefochtene Rechtsgeschäft der Form bedarf. Ausnahmsweise formbedürftig sind zB die Anfechtung der Annahme oder der Ausschlagung einer Erbschaft (§ 1955 S. 2 iVm § 1945).20 Aus der Anfechtungserklärung muss sich des Weiteren ergeben, dass der Erklä- rende das betreffende Rechtsgeschäft nicht gelten lassen will. Auf den Gebrauch des Wortes „anfechten“ kommt es nicht an, doch muss die Erklärung erkennen lassen – nach der Rechtsprechung sogar unzweideutig21 –, dass das Rechtsgeschäft vernichtet werden soll.22 Der Anfechtungsgegner muss wissen, woran er ist. Der spezielle Wille nach einer rückwir- kenden Nichtigkeit muss aus Gründen der Rechtssicherheit aber nur dann erkennbar ge- äußert werden, wenn alternativ ein ex-nunc wirkendes Gestaltungsrecht ernsthaft in Be- tracht kommt (etwa ein Rücktritt oder eine Kündigung).23 14 Beispiel: Macht der Käufer wegen eines Mangels Schadensersatzansprüche nach §§ 437 Nr. 3, 280 Abs. 1, 3, 281 geltend und ficht er zugleich den Kaufvertrag an, liegt darin ein Widerspruch, weil der Schadensersatzanspruch einen wirksamen Kaufvertrag voraussetzt, den die Anfechtung gerade vernich- tet. Es handelt sich also um keine wirksame Anfechtungserklärung.24 Unter Berücksichtigung der Interessenlage spricht die Erklärung dafür, dass der Käufer zurücktreten und vollen Schadensersatz geltend machen will. 15 Die Anfechtungserklärung erfordert zu ihrer Wirksamkeit nicht, dass der Anfechtende den Anfechtungsgrund benennt. Der Anfechtungsgegner muss jedoch aus den Angaben und den begleitenden Umständen erkennen können, worauf der Anfechtende seine Anfech- tung stützt, damit er deren Berechtigung überprüfen und sich verteidigen kann.25 Bei ei- nem kenntlich gemachten oder klar ersichtlichen Anfechtungsgrund können zusätzliche Tatsachen nachgeschoben werden, um die erklärte Anfechtung zu rechtfertigen. Dagegen kann der einmal geltend gemachte Anfechtungsgrund (Irrtum) nicht durch einen anderen (Drohung) ersetzt und der ersten Anfechtungserklärung untergeschoben werden.26 Dazu bedarf es einer neuen Anfechtungserklärung, die innerhalb der jeweils gültigen Anfech- tungsfrist abgegeben werden muss. 16 Aufgrund ihres Gestaltungscharakters kann eine Anfechtung grundsätzlich nicht unter einer Be- dingung oder einem Vorbehalt erklärt werden.27 Zulässig ist aber eine Eventualanfechtung, dh eine (vorsorgliche) unbedingte Anfechtungserklärung für den Fall, dass ein objektiv bereits bestehender Umstand erst zu einem späteren Zeitpunkt hinreichend erkannt wird, zB wenn der (unter den Partei- en streitige) Inhalt eines Rechtsgeschäfts später gerichtlich im Sinne des Vertragsgegners klargestellt werden sollte.28 Auch Potestativbedingungen sind zulässig.29 _______________________________________________________________________________________ 20 In besonderen Fällen, in denen die Allgemeinheit oder ein Dritter ein überwiegendes Interesse an si- cheren und klaren Rechtsverhältnissen hat, erfolgt die Anfechtung abweichend von § 143 Abs. 1 nicht durch eine einfache Erklärung, sondern durch die Erhebung einer Anfechtungsklage. Die Wirkung der Anfechtung tritt dann erst mit der Rechtskraft des die Nichtigkeit aussprechenden Urteils ein. Hierbei handelt es sich insbe- sondere um die Vaterschaftsanfechtung (§ 1599), um die Anfechtung des Erbschaftserwerbes wegen Erbun- würdigkeit (§§ 2340, 2342) und um die Anfechtung eines Beschlusses der Hauptversammlung einer AG (§ 243 AktG). 21 BGH NJW 2017, 1660 (Tz. 29); BGHZ 91, 324 (331); OLG Düsseldorf NJW-RR 2016, 1073 (Tz. 36): Das Schreiben „Aufgrund einer Systemstörung können wir Ihre Online Bestellung (…) leider nicht ausfüh- ren und stornieren diesen Auftrag“ ist eine Anfechtungserklärung. 22 Vgl. Medicus/Petersen BGB AT Rn. 717; Erman/Arnold BGB § 143 Rn. 1; ausführlich Probst JZ 1989, 878. 23 Ebenso Erman/Arnold BGB § 143 Rn. 1; für eine generelle Äußerung eines derartigen „Rückwir- kungswillens“ BGHZ 88, 240 (245); ablehnend hingegen Flume AT II § 31, 2; MüKoBGB/Busche § 143 Rn. 3. 24 BGH NJW 1991, 1673 (1674); MüKoBGB/Busche § 143 Rn. 2. 25 OLG Hamm NJOZ 2014, 1982; Staudinger/H. Roth BGB § 143 Rn. 11. 26 BAG NJW 2008, 939 (Tz. 21); speziell zu Drohung und Täuschung BGH NJW 2002, 956 (957); Bork BGB AT Rn. 906. 27 Vgl. → § 20 Rn. 39 f. 28 BGH NJW 2017, 1660 (Tz. 31); NJW-RR 2007, 1282 (Tz. 17); MüKoBGB/Busche § 143 Rn. 6; Stau- dinger/H. Roth BGB § 143 Rn. 9; NK-BGB/Feuerborn § 143 Rn. 4. 29 Vgl. → § 20 Rn. 39; aA MüKoBGB/Busche § 143 Rn. 5 mwN. 480 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 17–20 § 41 3. Anfechtungsberechtigter. Anfechtungsberechtigt ist grundsätzlich der Erklärende, 17 der die anfechtbare Willenserklärung abgegeben hat, im Falle der Stellvertretung grundsätz- lich der Vertretene, für den die Erklärung gem. § 164 Abs. 1 Wirkung entfaltet.30 Aus- nahmsweise kann auch der Vertreter anfechten, wenn die Vertretungsmacht dies mit ein- schließt31 oder wenn er ohne Vertretungsmacht als falsus procurator agierte.32 Bei mehreren Anfechtungsberechtigten kann grundsätzlich jeder für sich anfechten, ausgenommen bei einer Erbengemeinschaft.33 Zur Anfechtung eines Testaments, das erst nach dem Tod des Testators angefochten werden kann, 18 ist im Allgemeinen derjenige berechtigt, „welchem die Aufhebung der letztwilligen Verfügung unmit- telbar zustatten kommen würde“ (§ 2080 Abs. 1). Beim Erbvertrag ist anfechtungsberechtigt der Erblasser (§ 2281 Abs. 1 Hs. 1) und nach seinem Tod die nach § 2080 Berechtigten (§ 2285). Einen Sonderfall regelt § 318 Abs. 2 S. 1 bei der Leistungsbestimmung durch einen Dritten. Hier steht das Anfechtungsrecht nicht demjenigen zu, der die Erklärung abgegeben hat, sondern dem, dessen Inte- ressen sie berührt. Das Anfechtungsrecht ist übertragbar und pfändbar, wie dessen unstreitige Vererbbarkeit zeigt.34 19 Auch teleologisch betrachtet muss der rechtsgeschäftlich Gebundene (dem der Geschäftswille fehlt) mit dem Anfechtungsberechtigten nicht personenidentisch sein.35 Das Recht zur Anfechtung geht nicht kraft Gesetzes auf einen Forderungserwerber über und verbleibt daher, wenn keine anderen vertraglichen Anhaltspunkte ersichtlich sind, (allein) beim Zedenten.36 Bei einer Vertragsübernahme geht das Anfechtungsrecht hingegen grundsätzlich mit dem Vertragsverhältnis über. Eine Ausnahme gilt beim Übergang eines Miet- oder Arbeitsverhältnisses. Hier treffen den bisherigen Vermieter bzw. Arbeitgeber noch Pflichten aus dem Vertrag (§§ 566 Abs. 2, 613a Abs. 2), sodass das Anfechtungsrecht dem Übergeber und dem Übernehmer nur gemeinsam zusteht (analog § 351).37 4. Anfechtungsgegner. Die Anfechtung erfolgt gem. § 143 Abs. 1 gegenüber dem An- 20 fechtungsgegner. Wer Anfechtungsgegner ist, regelt § 143 Abs. 2 bis 4: bei einem Vertrag grundsätzlich der andere Teil,38 im Fall des § 123 Abs. 2 S. 2 der durch den Vertrag begüns- tigte Dritte, bei einer Vertragsübernahme die übrigen Beteiligten.39 Bei einem einseitigen Rechtsgeschäft, das einem anderen gegenüber vorzunehmen war, etwa einer Kündigung oder Rücktrittserklärung, ist dieser andere der Anfechtungsgegner. Wird eine Vollmacht an- gefochten, gilt es zu unterscheiden: Bei einer Außenvollmacht ist Anfechtungsgegner der Dritte, bei einer Innenvollmacht grundsätzlich der Bevollmächtigte (§ 143 Abs. 3 S. 1). Wurde bei einer Innenvollmacht das Rechtsgeschäft bereits vorgenommen (sog. ausgeübte Innen- vollmacht), ist die Rechtslage umstritten.40 Teilweise wird allein der Bevollmächtigte,41 teil- weise allein der Dritte als Anfechtungsgegner angesehen;42 teilweise wird dem Anfechten- _______________________________________________________________________________________ 30 Vgl. Grüneberg/Ellenberger BGB § 143 Rn. 4; MüKoBGB/Busche § 142 Rn. 6; aA Preiß JA 2010, 6 (7 f.). 31 Vgl. Staudinger/H. Roth BGB § 143 Rn. 14; PWW/Ahrens BGB § 143 Rn. 5. 32 BGH NJW 2002, 1867; Köhler BGB AT § 11 Rn. 69. 33 BGH NJW 2004, 767 (769); Staudinger/H. Roth BGB § 143 Rn. 15; PWW/Ahrens BGB § 143 Rn. 5; Preiß JA 2010, 6 (13). 34 S. Bydlinski, Die Übertragung von Gestaltungsrechten, 1986, S. 45 ff.; MüKoBGB/Kieninger § 398 Rn. 97; Staudinger/Busche BGB § 413 Rn. 13 f.; BeckOGK/Lieder BGB § 413 Rn. 26; aA Staudinger/ H. Roth BGB § 142 Rn. 11; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 715. 35 S. → § 20 Rn. 45. 36 Str.; vgl. BeckOGK/Lieder BGB § 398 Rn. 196 ff.; Staudinger/Busche BGB § 413 Rn. 14. 37 So auch BeckOGK/Beurskens BGB § 143 Rn. 31; Flume AT II § 31, 3; Preiß JA 2010, 6 (11); aA Soergel/ Hefermehl BGB § 143 Rn. 6. 38 Eine mehrseitige Vertragsübernahme, die bewirkt, dass der Leasinggeber anstelle des Leasingnehmers alle Rechte und Pflichten aus dem von diesem mit dem Hersteller abgeschlossenen Kaufvertrag über das Lea- singobjekt übernimmt, kann vom Leasinggeber nur durch eine beiden gegenüber abzugebende Erklärung angefochten werden, so BGHZ 96, 302 (309 f.); kritisch Dörner NJW 1986, 2916 (Anfechtung gegenüber Vertragszedenten ausreichend). 39 S. dazu auch → Rn. 116 f. 40 Ausführlich Kindl, Rechtsscheintatbestände und ihre rückwirkende Beseitigung, 1999, S. 57 ff. mwN; zur grundsätzlichen Anfechtbarkeit der ausgeübten Innenvollmacht → § 50 Rn. 23 ff. 41 S. etwa Faust AT § 26 Rn. 11; Grigoleit/Herresthal BGB AT Rn. 527; Larenz/Wolf, 9. Aufl. dieses Lehr- buchs, § 44 Rn. 32, § 47 Rn. 35. 42 S. etwa Flume AT II § 52, 5c; Boecken AT Rn. 627. 481 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 21–26 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte den eine Wahlmöglichkeit eingeräumt,43 teilweise wird kumulativ eine Anfechtung gegen- über dem Bevollmächtigten und dem Dritten verlangt. Richtigerweise hat die Anfechtung gem. § 143 Abs. 3 S. 1 sowohl gegenüber dem Bevollmächtigten zu erfolgen als auch ge- genüber dem Dritten, der auf die Gültigkeit des Vertrags vertrauen darf und ein legitimes Interesse an der sofortigen Kenntnis von der Anfechtung hat.44 Ein Schadensersatzanspruch des Dritten gegen den Vertretenen analog § 122 wäre kein hinreichendes Korrektiv.45 21 Mitunter ist eine Erklärung wahlweise gegenüber einem anderen oder einer Behörde abzugeben; s. zB § 875 Abs. 1 S. 2 (Aufhebung eines Rechts an einem Grundstück), § 1168 Abs. 2 (Verzicht auf die Hypothek) und § 1183 S. 2 (Aufhebung der Hypothek). Hier ist Anfechtungsgegner gem. § 143 Abs. 3 S. 2 nur der andere, weil dessen Rechte betroffen sind, und nicht die Behörde, selbst wenn die Erklä- rung dieser gegenüber abgegeben wurde. 22 Ein einseitiges, nicht empfangsbedürftiges Rechtsgeschäft, zB eine Auslobung (§ 657) oder Dereliktion (§ 928 Abs. 1), kann gem. § 143 Abs. 4 S. 1 demjenigen gegenüber angefochten werden, der daraus unmittelbar einen rechtlichen Vorteil erlangt hat. Eine Erklärung, die nur einer Behörde gegenüber abzugeben ist, wie zB die Aufgabe des Eigentums an einem Grundstück (§ 928 Abs. 1), kann nach § 143 Abs. 4 S. 2 auch durch Erklärung gegenüber der Behörde angefochten werden; diese soll die Anfechtung demjenigen mitteilen, der durch das angefochtene Rechtsgeschäft unmittelbar betroffen worden ist. 23 Die Anfechtung eines Vermächtnisses hat gegenüber dem Vermächtnisnehmer zu erfolgen, die Anfechtung anderer letztwilliger Verfügungen erfolgt dagegen gem. § 2081 Abs. 1 durch Erklä- rung allein gegenüber dem Nachlassgericht (das die Erklärung demjenigen mitteilen soll, welchem die angefochtene Verfügung unmittelbar zustattenkommt; vgl. § 2081 Abs. 2 S. 1). 24 5. Anfechtungsfrist. Solange ein Rechtsgeschäft angefochten werden kann, besteht die Unsicherheit, ob es Bestand hat oder gem. § 142 Abs. 1 ex tunc nichtig wird. Anfechtungs- fristen vermitteln den Beteiligten eine Planungsgrundlage. 25 a) Frist gem. § 121. Die Anfechtung muss in den Fällen der §§ 119, 120 unverzüglich erfolgen, nachdem der Anfechtungsberechtigte von seinem Irrtum als Anfechtungsgrund Kenntnis erlangt hat (§ 121 Abs. 1 S. 1). Es genügt, dass der Berechtigte den Irrtum als ernsthaft möglich erfasst. Bis zur Klärung aller Zweifelsfragen darf nicht gewartet werden. Vielmehr muss die Anfechtung dann eventualiter erfolgen. Bloß unbestimmte Vermutungen reichen jedoch nicht aus.46 Auch fahrlässige Unkenntnis setzt die Anfechtungsfrist nicht in Gang. Der Anfechtungsberechtigte muss sich aber nach § 166 Abs. 1 die Kenntnis seines Vertreters zurechnen lassen, wenn dieser zur Anfechtung legitimiert ist.47 Für jeden selb- ständigen Irrtum läuft als selbständiger Anfechtungsgrund eine eigene Anfechtungsfrist, die mit der Kenntnis des jeweiligen Anfechtungsgrunds beginnt. 26 Nach Kenntniserlangung muss die Anfechtungserklärung unverzüglich, dh „ohne schuldhaftes Zögern“ abgegeben werden. Diese Legaldefinition erlangt im ganzen Privat- recht Bedeutung (s. etwa § 377 Abs. 1, 3 HGB; § 92 Abs. 1 AktG; § 17 Abs. 1 S. 2 MuSchG) und darüber hinaus auch in anderen Rechtsgebieten (s. zB § 23 Abs. 2 S. 1, 3 VwVfG).48 Unverzüglich ist nicht gleichbedeutend mit sofort.49 Vielmehr steht dem Berechtigten eine angemessene Überlegungsfrist zur Verfügung, innerhalb derer er sich über die Konsequen- zen der Anfechtung Klarheit verschaffen und bei zweifelhafter Rechtslage auch Rechtsrat einholen und etwa notwendige Sicherungsmaßnahmen ergreifen kann.50 Bei der Fristen- bemessung sind aber auch die Interessen des Anfechtungsgegners zu berücksichtigen, der an _______________________________________________________________________________________ 43 S. etwa Soergel/Hefermehl BGB § 143 Rn. 10. 44 Vgl. Köhler BGB AT § 11 Rn. 28; Medicus/Petersen BGB AT Rn. 945. 45 S. Petersen AcP 201 (2001), 375 (386). 46 S. MüKoBGB/Armbrüster § 121 Rn. 6; Soergel/Hefermehl BGB § 121 Rn. 3. 47 BVerwG NJW 2010, 3048 (Tz. 21); Staudinger/Singer BGB § 121 Rn. 4; MüKoBGB/Armbrüster § 121 Rn. 6. 48 Ausführlicher Grüneberg/Ellenberger BGB § 121 Rn. 3; Staudinger/Singer BGB § 121 Rn. 8. 49 Vgl. schon RGZ 124, 115 (118); s. ferner nur BAG NJW 2021, 3138 (Tz. 14); NK-BGB/Feuerborn § 121 Rn. 9. 50 BGH NJW 2008, 985 (Tz. 18) mwN. 482 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 27–33 § 41 einer raschen Klärung der Gültigkeit interessiert ist. Die Anfechtung muss deshalb sobald wie möglich und nach den Umständen zumutbar, im Regelfall innerhalb weniger Tage nach Kenntniserlangung vom Anfechtungsgrund, erfolgen. Die Frist ist eine Ausschlussfrist, nach deren Ablauf das Anfechtungsrecht erlischt. Beispiele: Eine Frist von zwei Wochen ist grundsätzlich die Obergrenze.51 Ist der Berechtigte 27 durch Krankheit oder Unfall gehindert, kann ein schuldhaftes Zögern entfallen und die Frist länger zu bemessen sein. Bei der Anfechtung eines Arbeitsvertrags darf nach Ansicht des BAG die Frist des § 626 Abs. 2 von zwei Wochen nicht überschritten werden.52 Um die ohnehin schon knapp bemessene Zeitspanne nicht weiter zu verkürzen, genügt für die 28 Fristwahrung gem. § 121 Abs. 1 S. 2 das Absenden der Anfechtungserklärung. Der Zugang muss nicht innerhalb der Frist erfolgen, obgleich die Anfechtungserklärung als empfangsbedürftige Willens- erklärung (§ 143 Abs. 1) erst mit ihrem Zugang wirksam wird (§ 130). Das Anfechtungsrecht endet allerdings spätestens 10 Jahre nach Abgabe der Willenserklärung 29 (§ 121 Abs. 2). Weil die Anfechtungsfrist gem. § 121 Abs. 1 S. 1 erst mit Kenntniserlangung des An- fechtungsgrunds zu laufen beginnt, beugt diese Höchstdauer der Gefahr einer ewigen Unsicherheit vor. § 121 Abs. 1 S. 2 ist hier nicht anwendbar, sodass die Anfechtungserklärung innerhalb der Frist von 10 Jahren auch zugehen muss.53 b) Frist gem. § 124. Für die Anfechtung wegen Täuschung und wegen Drohung setzt 30 das Gesetz dem Anfechtungsberechtigten eine Frist von einem Jahr (§ 124 Abs. 1).54 Hat der Getäuschte oder der Bedrohte, obwohl die Möglichkeit dazu bestand, ein Jahr lang nicht angefochten, verdient der Verkehrsschutz Vorrang.55 Die Frist beginnt im Fall der arg- listigen Täuschung mit deren Entdeckung, im Fall der Drohung mit dem Aufhören der Zwangslage (§ 124 Abs. 2 S. 1).56 Der Lauf der Frist ist gehemmt, solange der Anfechtungsberechtigte durch höhere Gewalt (zB 31 durch schwere Krankheit, die ein Handeln unmöglich macht) an der Anfechtung gehindert ist (§ 124 Abs. 2 S. 2 iVm § 206). Bei nicht voll Geschäftsfähigen und in Nachlassfällen wird ihr Ablauf hinaus- geschoben (§ 124 Abs. 2 S. 2 iVm §§ 210, 211). Unabhängig von der Entdeckung der Täuschung oder dem Aufhören der Zwangslage ist die Anfechtung ausgeschlossen, wenn seit der Abgabe der Erklärung 10 Jahre vergangen sind (§ 124 Abs. 3). 6. Kausalität. Der Erklärende muss gerade durch den zur Anfechtung legitimierenden 32 Irrtum oder durch die konkrete Täuschung oder Drohung zu seiner Willenserklärung be- stimmt worden sein. a) Irrtum. Eine Anfechtung setzt voraus, dass der Irrende die Erklärung „bei Kenntnis 33 der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde“ (§ 119 Abs. 1). Der Irrtum muss demnach subjektiv und objektiv erheblich sein. Er ist sub- jektiv erheblich, wenn der Erklärende ohne den Irrtum bei Kenntnis der wahren Sachla- ge die Erklärung entweder gar nicht oder nicht mit dem tatsächlich erklärten Inhalt abge- geben hätte. Er ist objektiv erheblich, wenn ein vernünftiger Dritter bei verständiger Würdigung der Sachlage die irrtumsbehaftete Erklärung ebenfalls nicht aufrechterhalten würde. Objektiv unerheblich ist der Irrtum in der Regel, wenn er auf subjektivem Eigen- sinn oder törichten Anschauungen beruht57 oder geringfügig ist, weil er sich nur auf unter- _______________________________________________________________________________________ 51 OLG Hamm NJW 2019, 3387 (Tz. 86); Grüneberg/Ellenberger BGB § 121 Rn. 3; MüKoBGB/Arm- brüster § 121 Rn. 7. 52 S. BAG NJW 1980, 1302 (1303) sowie dazu M.Wolf/Gangel AuR 1982, 271 (274 f.). 53 Vgl. NK-BGB/Feuerborn § 121 Rn. 17; Staudinger/Singer BGB § 121 Rn. 14. 54 Nach Fristablauf müssen für eine Arglisteinrede (§ 242) über den Anfechtungstatbestand hinaus weitere Umstände hinzutreten; s. näher BGH NJW 1969, 604; Staudinger/Singer/v. Finckenstein BGB § 124 Rn. 14. 55 Umgekehrt ist aber auch für eine teleologische Reduktion der 1-Jahres-Frist grundsätzlich kein Raum, vgl. BAG NZA 2008, 348 (Tz. 42); zur ausnahmsweisen Verwirkung MüKoBGB/Armbrüster § 124 Rn. 11 f. 56 Aufgrund der längeren Frist gibt es keine Erleichterung iSv § 121 Abs. 1 S. 2; vgl. Staudinger/Singer/ v. Finckenstein BGB § 124 Rn. 7 mwN. 57 S. BAG NJW 1991, 2723 (2726); Erman/Arnold BGB § 119 Rn. 46. 483 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41 34–39 5. Kapitel. Die Rechtsgeschäfte geordnete Nebenpunkte bezieht oder den Erklärenden wirtschaftlich nicht schlechter stellt.58 34 Beispiele: Die Anfechtung ist grundsätzlich zu versagen, wenn ein Kleinanleger wegen eines Übermittlungsfehlers Aktien erworben hat, die er nicht wollte, die aber inzwischen wertvoller sind als die wirklich gewollten. Gleiches gilt, wenn die Erklärung mit dem irrtumsbehafteten Inhalt rechtlich geboten war59 oder der Irrtum den unwesentlichen Nebenpunkt einer Zahlungsfrist von vier Wochen anstelle eines Monats betrifft. Ebenso irrelevant ist die versehentliche Reservierung von Hotelzimmer Nr. 25 statt Nr. 24, sofern es sich um quasi identische Zimmer handelt.60 35 b) Täuschung. Die Täuschung iSv § 123 muss den Irrtum hervorrufen und dieser wie- derum für die Abgabe der Willenserklärung kausal sein.61 Die Täuschung braucht jedoch nicht die alleinige Ursache oder der maßgebliche Grund für die Willenserklärung des Ge- täuschten zu sein. Für die Kausalität genügt vielmehr, dass der Anfechtende durch den von dem anderen erregten oder aufrechterhaltenen Irrtum in seinem Entschluss irgendwie beeinflusst worden ist.62 Im Fall der Täuschung durch Verschweigen genügt hierfür, dass die unterlassene Aufklärung, wenn sie erfolgt wäre, den Getäuschten von dem Geschäft abgehalten hätte. An einer ursächlichen Beeinflussung fehlt es aber, wenn die vorgespiegelte Tatsache offensichtlich falsch ist und deshalb ein Irrtum nicht entstanden sein kann, zB wenn eine ersichtlich schwerbehinderte Person sich als nicht schwerbehindert bezeichnet.63 36 c) Drohung. Die Drohung iSv § 123 muss der Anlass für die Abgabe der anzufechten- den Willenserklärung gewesen sein. Dies trifft zu, wenn die Erklärung ohne die Drohung überhaupt nicht, nicht mit dem Inhalt oder nicht zu der maßgeblichen Zeit abgegeben worden wäre. Hat der Bedrohte seinen Willen ohne Rücksicht auf die Drohung aus eige- nem Entschluss erklärt, ist die Drohung nicht kausal und die Erklärung nicht anfechtbar. III. Anfechtungsgründe Als Anfechtungsgründe kommen verschiedene Erklärungsirrtümer, ein Eigenschaftsirr- tum, eine arglistige Täuschung oder eine widerrechtliche Drohung in Betracht. 37 1. Erklärungsirrtümer. Das Gesetz unterscheidet bei den erklärungsbezogenen Irrtü- mern danach, ob der Erklärende sich schon der Erklärung in ihrer äußeren Form nicht bewusst war, ohne es zu bemerken (sog. Irrtum in der Erklärungshandlung), oder ob er die Erklärung, so wie geschehen, in ihrer äußeren Form zwar abgeben wollte, sich aber der inhaltlichen Bedeutung nicht bewusst war (sog. Inhalts- oder Bedeutungsirrtum). 38 a) Irrtum in der Erklärungshandlung (§ 119 Abs. 1 Alt. 2). Bei einem Irrtum in der Erklärungshandlung ist sich der Erklärende über die Worte und Zeichen, die er benutzt, nicht im Klaren. Diese Art des Irrtums umfasst in erster Linie die Fälle des Versprechens (V sagt als Verkaufspreis versehentlich 112 EUR statt 212 EUR), des Vergreifens (V gibt als Wechselgeld versehentlich einen 50 Euro-Schein statt eines 5 Euro-Scheins heraus) und des Verschreibens (V bestellt aufgrund eines Schreibfehlers ein Ersatzteil mit der Nr. 425 statt der Nr. 452). 39 Beispiele: Benennt V einen falsch vom Etikett abgelesenen Preis, kann er berechtigterweise anfech- ten, weil der Ablesevorgang bereits zur Erklärungshandlung gehört.64 Die konkrete Willensbildung (Verkaufsangebot zum etikettierten Preis) ist hier schon abgeschlossen. Ob der spätere Irrtum beim _______________________________________________________________________________________ 58 BGH NJW 1988, 2597 (2598: „Faustregel für den Normalfall“); Staudinger/Singer BGB § 119 Rn. 101 (mit dem Gegenbeispiel eines Gemäldekaufs). 59 S. Grüneberg/Ellenberger BGB § 119 Rn. 31; PWW/Ahrens BGB § 119 Rn. 43 mwN. 60 Vgl. Brox/Walker BGB AT § 18 Rn. 28. 61 Vgl. Bork BGB AT Rn. 871 („doppelte Kausalität“); MüKoBGB/Armbrüster § 123 Rn. 21. 62 OLG Celle NJW-RR 2005, 545 (547); BeckOK BGB/Wendtland § 123 Rn. 37. 63 BAG NJW 2001, 1885; MüKoBGB/Armbrüster § 123 Rn. 22. 64 LG Hamburg NJW-RR 1986, 156; Grüneberg/Ellenberger BGB § 119 Rn. 10; Staudinger/Singer BGB § 119 Rn. 34 (erkennt der Käufer das Gewollte, kann bereits durch Auslegung der richtige Preis bestimmt werden; vgl. → § 35 Rn. 28 f.); aA Habersack JuS 1992, 548 (Kalkulationsirrtum); MüKoBGB/Armbrüster § 119 Rn. 46. 484 https://doi.org/10.17104/9783406793684-467 Generiert durch Humboldt-Universität zu Berlin, am 16.10.2024, 17:05:39. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 41. Anfechtbare Willenserklärungen 40 § 41 Erfassen oder der Wiedergabe der Preisauszeichnung unterläuft, spielt wertungsmäßig keine Rolle. Bezeichnenderweise liegt auch dem Vergreifen häufig ein Verlesen zugrunde, indem der Erklärende einen Euro-Schein nicht richtig ansieht und deshalb einen „falschen“ Schein herausgibt. Kein relevan- ter Irrtum besteht hingegen, wenn der (korrekt abgelesene) Preis einer falschen Auszeichnung65 oder veralteten Liste 66 entnommen wird. Bei automatisierten (elektronischen) Willenserklärungen kann ein Erklärungsirrtum durch Bedienungsfehler auftreten (Anklicken von „Verkauf“ statt „Auk- tion“ bei Startpreis von 1 Euro67 oder Eintippen „100 Euro“ statt „1000 Euro“68) oder wenn der Computer wegen einer Störung richtig eingegebene Zahlen falsch wiedergibt.69 Der relevante Fehler kann bereits im Rahmen einer invitatio ad offerendum erfolgen (Warenpräsentation auf der Webseite), sofern er später durch die automatisierte Annahmeerklärung unbesehen übernommen und gleichsam wiederholt wird (anstelle eines neuen, richtig formulierten Antrags iSv § 150 Abs. 2).70 Wird der Computer dagegen als Rechenmaschine benutzt und rechnet er falsch oder wird falsches Datenmate- rial eingegeben, liegt kein Erklärungsirrtum, sondern ein Kalkulationsirrtum oder ein sonst der Erklä- rung vorausgehender Irrtum vor, der grundsätzlich nicht zur Anfechtung berechtigt.71 Im Übrigen sind Unternehmer gem. § 312i Abs. 1 Nr. 1 verpflichtet, Berichtigungsmöglichkeiten einzurichten. Wird keine hinreichende Korrekturmöglichkeit eröffnet, resultiert aus einer Anfechtung auch kein Schadensersatzanspruch gem. § 122.72 Hat der Kunde nach einer fehlerhaften Eingabe eine „Bestell- übersicht“ zur Kontrolle erhalten, diese aber nicht mehr gelesen und sogleich auf „Abschicken“ ge- drückt, kann er nach § 119 Abs. 1 Alt. 2 anfechten,73 weil die Fehlvorstellung typischerweise fortwirkt und die Überprüfungsmöglichkeit gem. § 312i Abs. 1 Nr. 1 den Kunden schützen und nicht mit einer Obliegenheit belasten soll.74 Ganz ähnlich gelagert ist der Fall, wenn sich anstelle des Erklärenden dessen Schreibkraft beim Diktat vertippt und der Erklärende das Schriftstück sodann ungeprüft unter- schreibt. Die hM bejaht auch hier zu Recht eine Irrung iSv § 119 Abs. 1.75 b) Übermittlungsirrtum (§ 120). Zum Irrtum in der Erklärungshandlung zählen 40 auch die in § 120 aufgeführten Fälle der unrichtigen Übermittlung durch eine hierfür be- nutzte Person oder Einrichtung (zB einen Postdienstleister oder Provider). Hat der Erklä- rende einen Dritten zur Teilnahme am Rechtsverkehr selbst herangezogen, muss er in der Folge auch das Risiko einer bewussten Falschübermittlung trag