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This document provides an overview of patient education programs for chronic illnesses. It focuses on the role of patient education in managing chronic conditions and improving quality of life. The document also explores the theoretical background and practical aspects of patient education programs.

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B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 1 9 Patientenschulungen Lernziele Nach der Lektüre dieses Kapitels  kennen Sie die übergeordneten Ziele, die durch Patientenschulungen erreicht werden sollen,  wissen Sie, dass (und warum)...

B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 1 9 Patientenschulungen Lernziele Nach der Lektüre dieses Kapitels  kennen Sie die übergeordneten Ziele, die durch Patientenschulungen erreicht werden sollen,  wissen Sie, dass (und warum) die ersten Patientenschulungsprogramme für die Erkrankung Diabetes mellitus entwickelt wurden,  haben Sie einen Überblick über die Merkmale chronischer Krankheiten, denen im Kontext von Patientenschulungsprogrammen eine besondere Bedeutung zukommt,  haben Sie sich mit dem Denkansatz der Internationalen Klassifikation der Funktionstüchtigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) auseinandergesetzt,  können Sie die gesetzlichen Grundlagen für Patientenschulungsprogramme und Regelungen ihrer Finanzierung benennen,  haben Sie einen Einblick in die Gestaltungsmerkmale von Patientenschulungen gewonnen,  kennen Sie Beispiele für Patientenschulungen mit unterschiedlichen Formaten und für verschiedene Zielgruppen. Chronische Erkrankungen stellen eine erhebliche, permanente Belastung für die Betroffenen, ihr Umfeld und das Gesundheitssystem dar (Robert Koch-Institut [RKI], 2014; siehe auch Kurs 1, Kapitel 1 „Einführung in die Gesundheitspsychologie“, Kapitel 2 „Krankheitsprävention“ oder Kurs 3, Kapitel 5 „Gesundheitliche Beeinträchtigung und Partnerschaft“ sowie Kurs 3, Kapitel 8 „Pflege und Gesundheit“). Deshalb nehmen Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und die damit angezielte Stärkung des Krankheitsmanagements bei chronisch Erkrankten auf verschiedenen Ebenen einen hohen Stellenwert ein. Über die Interventionsstrategie der Patientenschulung 1 versuchen Kostenträger im Gesundheitswesen (hier insbesondere die Krankenkassen), die Gesundheit und die Lebensqualität chronisch Erkrankter nachhaltig zu verbessern und die durch chronische Erkrankungen bedingten Behandlungskosten systematisch und gruppenübergreifend zu verringern (Schmid-Ott & Petermann, 2015). 9.1 Patientenschulungen als Teil des medizinischen Versorgungsangebots Patientenschulungen sind strukturierte Gruppenprogramme für chronisch kranke Menschen. Die Inhalte liegen zumeist manualisiert vor. Die Schulungen umfassen im Allgemeinen mehrere inhaltliche Einheiten, erfolgen sowohl mithilfe frontaler als auch interaktiver Methoden und beziehen mehrere Interventionsansatzpunkte (Kognition, Emotion, Motivation, Verhalten) ein (Ströbel et al., 2007). Über die prinzipielle Notwendigkeit wissenschaftlich fundierter Schulungsprogramme bei der Behandlung von Patient:innen gibt es seit einigen Jahrzehnten einen weitgehenden Konsens (de Vries & Petermann, 2015). 9.1.1 Diabetes-Selbstmanagement als Ziel der ersten Patientenschulungen Die Bedeutsamkeit von Patientenschulungen in der Behandlung von Menschen mit chronischen Erkrankungen hat sich als erstes bei dem Krankheitsbild Diabetes mellitus (siehe Kasten 9.1) unter Beweis gestellt (nachfolgend wird auf den korrekten Bezeichnungszusatz mellitus verzichtet; wenn von Diabetes die Rede ist, ist Diabetes mellitus gemeint). 1 Da der Begriff Patientenschulung bereits lang etabliert ist, wird in diesem Kapitel darauf verzichtet, einen geschlechtsneutralen, aber ungebräuchlichen Begriff zu verwenden. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 2 Diabetes gilt als eine der Volkskrankheiten, von der zunehmend mehr Menschen betroffen sind (Heidemann & Scheidt-Nave, 2017); Schätzungen gehen von aktuell mehr als sechs Millionen Betroffenen in Deutschland aus (Jacobs & Rathmann, 2018). Außerdem wird eine Dunkelziffer von etwa zwei Millionen Menschen mit einer nicht diagnostizierten Diabetes-Erkrankung geschätzt. Es lassen sich zwei Hauptformen des Diabetes unterscheiden: Die Autoimmunerkrankung Typ-1-Diabetes, bei der aufgrund eines Funktionsverlustes der Inselzellen der Bauchspeicheldrüse eine beeinträchtigte Insulinsekretion resultiert, und der sehr viel häufigere Typ-2-Diabetes, bei dem eine Insulinresistenz besteht. Video 9.1 erläutert die physiologischen Vorgänge bei Diabetes und die Folgen der Erkrankung. Video 9.1. Kurz und verständlich: Was passiert bei Diabetes? Verfügbar unter https://youtu.be/RiCzvzPL72E Bei beiden Diabetesformen sind die Entstehungsmechanismen noch nicht zufriedenstellend geklärt; unter anderem sind sowohl genetische als auch verhaltensbezogene Faktoren identifiziert worden, die bei der Entstehung und danach im weiteren Krankheitsverlauf wirksam werden. Kasten 9.1. Merkmale der chronischen Erkrankung Diabetes. Die wesentliche Behandlung einer Diabeteserkrankung findet im Alltag durch die Patient:innen selbst statt, die durch die Abstimmung von Ernährung, Bewegung und (Selbst-) Medikation eine möglichst optimale Einstellung ihrer Blutzuckerwerte erreichen sollen. Aufgrund der Komplexität der Selbstbehandlung, die vor der Einführung von Hilfsmitteln wie Insulinpumpen noch weitaus höher war, stellte die Vermittlung des entsprechenden Wissens und krankheitsbezogener Fertigkeiten eine wesentliche Voraussetzung für den Erhalt der Gesundheit und der Lebensqualität der Betroffenen sowie für die Verhinderung gravierender Spätschäden dar. Daher wurde bereits in den 1970er Jahren die Schulung der Patient:innen durch multimodal aufgebaute und strukturierte Gruppenprogramme, die stationär oder ambulant durchgeführt werden, zu einem allgemeinen Standard in der Behandlung von Menschen mit Diabetes (Reusch & Vogel, 2018). Patient:innen, die sich entschließen, an einem Disease-Management-Programm für Diabetes teilzunehmen (d. h. einem umfassenden, strukturierten, durch die Krankenkassen finanzierten Behandlungskonzept), haben heute in Deutschland Anspruch auf die Teilnahme an Diabetes-Patientenschulungen (Kulzer, 2013). Aufgrund der jahrzehntelangen Erfahrungen mit Schulungsprogrammen bei Diabetes gibt es umfangreiche Daten, die darauf hinweisen, dass durch die Teilnahme an den Programmen signifikante (wenn auch häufig kleine) Effekte zum Beispiel bei der Verbesserung der Stoffwechseleinstellung und der Senkung von schwerwiegenden Folgen (etwa Einbuße der Sehkraft, Fußschäden) erreicht werden können (Knight et al., 2005). 9.1.2 Verständnis chronischer Krankheit im Kontext von Patientenschulungen Patientenschulungsprogramme existieren heute für vielfältige Krankheitsbilder. Neben Diabetes gibt es Programme unter anderem für Asthma und andere chronische Atemwegserkrankungen, muskuloskelettale Erkrankungen (z. B. Arthrose, Rheumatoide Arthritis, Osteoporose), Migräne und Spannungskopfschmerz, Adipositas, Neurodermitis, chronische Darmentzündungen oder neurologische Erkrankungen (z. B. Morbus Parkinson). Einen Überblick über die Bandbreite von Patientenschulungsprogrammen ermöglicht die Datenbank des Vereins Zentrum Patientenschulung und Gesundheitsförderung e. V. (https://zepg.de). B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 3 Patientenschulungen wurden und werden in erster Linie für chronische Erkrankungen entwickelt, bei denen nicht die – generell oder aktuell nicht mögliche – Heilung im Vordergrund steht, sondern der angemessene Umgang der Betroffenen ein zentrales Anliegen bei ihrer Behandlung und medizinisch-therapeutischen Begleitung ist. Gerade auch im Kontext von Patientenschulungen ergibt sich erneut die Notwendigkeit, zentrale Kennzeichen einer chronischen Krankheit zu definieren, da bisher keine vollständige Übereinstimmung hinsichtlich dieser Charakteristika existiert. Neben den in anderen Kapiteln (z. B. Kurs 1, Kapitel 1 „Einführung in die Gesundheitspsychologie“ und Kapitel 2 „Krankheitsprävention“) bereits benannten Merkmalen chronischer Erkrankungen wird in den „Gemeinsamen Empfehlungen zur Förderung und Durchführung von Patientenschulungen“ (Verband der Ersatzkassen e. V. et al., 2017) außerdem die Quantität des medizinischen Betreuungsbedarfs als Kriterium für die Klassifikation einer Krankheit als chronisch angeführt: „Chronisch krank“ im Sinne dieser Empfehlung ist ein Patient, wenn er sich in ärztlicher Dauerbehandlung befindet. Davon kann ausgegangen werden, wenn voraussichtlich mindestens ein Jahr lang ärztliche Behandlung, andere medizinische Behandlung oder ärztliche Überwachung einer Krankheit oder Therapie notwendig ist, die regelmäßig – wenigstens einmal im Quartal stattfindende – Kontakte zwischen Patient und Arzt erfordert, um eine ausreichende „Beherrschung“ der vorliegenden Erkrankung, für welche die Patientenschulungsmaßnahme angezeigt ist, zu sichern. Hierüber ist der Krankenkasse eine (formlose) ärztliche Feststellung beziehungsweise ein ärztlicher Nachweis beizubringen. Ein ärztlicher Nachweis muss – je nach Indikation – auch weitere spezifische Hinweise zur Behandlung der Erkrankung enthalten. (Verband der Ersatzkassen e. V. et al., 2017, S. 5) Diese Definition legt somit einen klar umgrenzten Kreis von Personen fest, die für die Teilnahme an Patientenschulungen berechtigt sind: Nicht allein die Diagnose einer chronischen (i. S. v. überdauernden) Erkrankung ist ausschlagend, sondern auch die regelmäßige Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen im Sinne einer Dauerbehandlung. So muss nachweislich ein regelmäßiger Kontakt zwischen Patientin oder Patient und dem ärztlichen Personal mit Bezug auf die chronische Krankheit – mit Konsultationen beziehungsweise Behandlungsterminen mindestens einmal pro Quartal – bestanden haben. 9.1.3 Wirkebenen von Patientenschulungen: Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) Patientenschulungen sollen Beeinträchtigungen, die durch chronische Krankheiten entstehen können, abmildern oder gegebenenfalls sogar verhindern. Dabei gibt es unterschiedliche Bereiche oder Ebenen, in denen solche Beeinträchtigungen entstehen und spürbar werden. Dies können objektive körperliche Parameter (z. B. Laborwerte), subjektiv erlebte körperliche Beschwerden (wie Schmerzen), psychische Folgen (z. B. Ängste, Unsicherheit) oder soziale Konsequenzen (wie Einschränkungen in der Berufstätigkeit oder Rollenveränderungen) sein. Diese Ebenen sind je nach Krankheit unterschiedlich ausgeprägt, aber es bestehen auch große individuelle Unterschiede zwischen den Betroffenen einer bestimmten Krankheit in ihren Beeinträchtigungen und Bedürfnissen. Um die Ansatzpunkte für Interventionen, wie in Patientenschulungen, sinnvoll festzulegen, dabei den individuellen Bedürfnissen von Patient:innen soweit wie möglich gerecht zu werden und die Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen fundiert überprüfen und optimieren zu können, ist eine Systematisierung der relevanten Facetten von Gesundheit und von Erkrankungsfolgen hilfreich. Einen wichtigen Rahmen dafür bildet die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (engl. International Classification of B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 4 Functioning, Disability, and Health [ICF]; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2005). Die ICF ist ein von der Weltgesundheitsorganisation entwickeltes Diagnosesystem, das eine standardisierte Erfassung von Krankheitsfolgen ermöglicht (Ustün et al., 2004). Die ICF betont ausgehend vom biopsychosozialen Modell der Gesundheit (siehe Kurs 1, Kapitel 1 „Einführung in die Gesundheitspsychologie“), dass für die Lebenssituation und Lebenswirklichkeit neben Einschränkungen von Körperstrukturen und -funktionen die gesundheitsbezogene Lebensqualität wesentlich von der Funktionsfähigkeit und dem Aktivitätsspektrum der Erkrankten im Alltag sowie von ihrer Partizipation (Teilhabe) am sozialen und gesellschaftlichen Leben abhängt. Diese Faktoren interagieren miteinander und ebenso mit Umwelt- und personenbezogenen Faktoren (siehe Abbildung 9.1). Abbildung 9.1 Komponenten des Modells der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und ihre Wechselwirkungen. Aus DIMDI, 2005, S. 23 Funktionsfähigkeit ist nach diesem Ansatz dann gegeben, wenn eine Person in ihrem Verhalten in alltäglichen Situationen nicht durch körperliche Einschränkungen beeinträchtigt wird. Funktionsfähigkeit wiederum ist eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabefähigkeit: Teilhabe bedeutet, dass eine Person in ihrem gesellschaftlichen Leben nicht eingeschränkt ist und insbesondere in Familie, Arbeitswelt und Freizeit Rollenfunktionen adäquat ausfüllen kann. Ob Teilhabe möglich ist, wird durch Umweltfaktoren mitbedingt, die Funktionsbeeinträchtigungen kompensieren (z. B. behindertengerechter Arbeitsplatz, Unterstützungen durch soziales Umfeld) oder aber in ihren Konsequenzen verstärken können. Zudem moderieren Personenfaktoren (z. B. psychische Beeinträchtigungen wie Ängste oder Ressourcen wie Selbstwirksamkeit) das Ausmaß, in dem Beeinträchtigungen von Körperstrukturen und -funktionen das Aktivitätspotential und das teilhabebezogene Erlebens- und Verhaltensspektrum im Alltag beeinflussen. Video 9.2 veranschaulicht den Ansatz der ICF anhand des Beispiels von Kindern mit Cerebralparese. Video 9.2. What is the International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)? Verfügbar unter https://youtu.be/uoEIc4wBaIo Patientenschulungsprogramme werden heute häufig explizit mit Verweis auf den ICF-Ansatz konzipiert, indem die jeweiligen Komponenten des ICF-Modells in den verschiedenen Modulen der Programme schwerpunktmäßig adressiert werden. Eine gänzliche Umsetzung des ICF- Gedankens, im Sinne einer vollständig an den Zielen der individuellen Betroffenen ausgerichteten Behandlung, ist jedoch im Rahmen von strukturierten Gruppenprogrammen nur schwer zu realisieren. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 5 9.1.4 Gesetzliche Verankerung von Patientenschulungen und ihrer Finanzierung In Deutschland hat der Gesetzgeber die rechtliche Grundlage für die Förderung und Durchführung von Patientenschulungen für chronisch kranke Patient:innen im Sozialgesetzbuch V geschaffen, das die Bestimmungen zur gesetzlichen Krankenversicherung enthält. Im § 43 Abs. 1 Nr. 2 SGB V (https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__43.html) wird im Zusammenhang mit den Leistungen bei einer medizinischen Rehabilitation auf Patientenschulungsprogramme Bezug genommen: Die Krankenkasse kann neben den Leistungen, die nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 sowie nach §§ 53 und 54 SGB IX als ergänzende Leistungen zu erbringen sind, [….] 2. wirksame und effiziente Patientenschulungsmaßnahmen für chronisch Kranke erbringen; Angehörige und ständige Betreuungspersonen sind einzubeziehen, wenn dies aus medizinischen Gründen erforderlich ist, wenn zuletzt die Krankenkasse Krankenbehandlung geleistet hat oder leistet. Hervorzuheben ist dabei, dass die Wirksamkeit und Effizienz des jeweiligen Patientenschulungsprogramms als nachgewiesen gelten müssen, damit die Krankenkasse die Kosten für diese Schulung übernimmt. Der prinzipiellen Bedeutsamkeit des Einbezugs von Angehörigen oder Betreuungspersonen wird ebenfalls Rechnung getragen (siehe auch Kurs 3, Kapitel 1 „Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen/Setting Schule“, Kurs 3, Kapitel 5 „Gesundheitliche Beeinträchtigung und Partnerschaft“ und Kurs 3, Kapitel 8 „Pflege und Gesundheit“). Weitere Voraussetzungen für die Kostenübernahme eines Patientenschulungsprogramms werden in den „Gemeinsamen Empfehlungen zur Förderung und Durchführung von Patientenschulungen“ (Verband der Ersatzkassen e. V. et al., 2017) aufgeführt:  Grundlagen für die Entscheidung der Krankenkasse sind die ärztliche Befürwortung und Begründung über die Leistungserbringung und deren Durchführung,  die Krankenkasse kann die Notwendigkeit der Patientenschulung durch den Medizinischen Dienst beurteilen lassen,  die Kostenübernahme muss vor Beginn der Schulung bei der Krankenkasse beantragt und genehmigt sein,  die Krankenkasse kann, in Abstimmung mit dem Versicherten, den Leistungserbringer für die Patientenschulung auswählen,  die letztendliche Kostenübernahme/-beteiligung setzt die regelmäßige Teilnahme der Patientin oder des Patienten voraus (mindestens 80 % Anwesenheit). Die Kostenübernahme für Patientenschulungen, die nicht (wie etwa im Fall der Erkrankung Diabetes) Bestandteil eines Disease-Management-Programms oder des Behandlungskonzepts bei einer stationären Rehabilitationsmaßnahme sind, ist somit an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden. 9.2 Gestaltungsmerkmale von Patientenschulungen Die Verbesserung des Selbstmanagements, die Steigerung der individuellen Gesundheit und des Wohlbefindens sowie die Verringerung der gesamtgesellschaftlichen Krankheitskosten sind indikationsübergreifend die übergeordneten Ziele von Patientenschulungen. Die Inhalte und Komponenten, die Struktur und der Aufbau sowie die Methoden der Schulungen müssen so gestaltet werden, dass diese Ziele bestmöglich erreicht werden können. Dies setzt zum einen B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 6 voraus, dass die Inhalte und Methoden auf einschlägigem theoretischen Wissen und empirisch gesicherter Evidenz basieren. Die Vermittlung der Schulungsinhalte setzt weiterhin eine umfassende Qualifikation der Schulungsdozent:innen voraus. Reusch und Vogel (2018) veranschaulichen diese Merkmale von Patientenschulungen anhand der Fragen: Warum? Was? Wann? Wie? und Wer? (siehe Abbildung 9.2). Abbildung 9.2 Grundlegende Merkmale von Patientenschulungen. Aus Reusch und Vogel, 2018, S. 370 Bei der Gestaltung und Umsetzung von Schulungsprogrammen müssen weiterhin Aspekte der Qualitätssicherung (siehe Kurs 2, Kapitel 5 „Evaluation gesundheitsbezogener Maßnahmen“) berücksichtigt werden, um Aussagen über ihre Wirksamkeit treffen zu können. 9.2.1 Inhalte von Patientenschulungen Schulungsprogramme enthalten im Allgemeinen Komponenten zu folgenden Inhalten (Faller et al., 2005):  Informationen über die Krankheit und ihre Behandlung,  Training von Fertigkeiten zur Selbstdiagnostik und -behandlung (z. B. Messung der Atemstromstärke mithilfe eines Peak-Flow-Meters bei Asthma, Verwendung einer cortisonhaltigen Salbe bei Neurodermitis),  Motivierung zur Reduktion von Risikofaktoren (z. B. Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel) und zum Aufbau gesundheitsförderlichen Verhaltens (z. B. gesunde Ernährung, körperliche Aktivität),  Vermittlung von Fertigkeiten zur Reduktion von Risikofaktoren und zum Aufbau gesundheitsförderlichen Verhaltens,  Verbesserung der Stressbewältigung (z. B. kognitive Techniken, Entspannungsverfahren; siehe auch Kurs 2, Kapitel 10 „Ressourcenförderung“),  Training sozialer Kompetenzen (z. B. Ausdruck des Bedarfs nach sozialer Unterstützung, Kommunikation mit dem medizinischen Fachpersonal; siehe ebenfalls Kurs 2, Kapitel 10 „Ressourcenförderung“),  Umgang mit psychischen negativen Begleiterscheinungen (z. B. Ängste, Wahrnehmung von Hilflosigkeit). Diese Inhalte zielen auf Veränderungen in den Kognitionen, dem emotionalen Erleben, der Motivation und nachfolgend im Verhalten von Patient:innen; durch das Zusammenwirken dieser Veränderungen soll ein verbessertes Krankheitsmanagement erreicht werden. Abbildung 9.3 B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 7 veranschaulicht Bezüge zwischen den patientenseitigen Aspekten und dem Krankheitsmanagement, die Ansatzpunkte für Patientenschulungen sind. Abbildung 9.3 Psychologisch relevante Aspekte bei Patientenschulungen. Nach de Vries und Petermann, 2015, S. 295 Für die Gestaltung der meisten der oben angeführten Inhalte von Patientenschulungen ist (gesundheits-)psychologisches Theorie- und Interventionswissen eine notwendige Grundlage. Dazu gehören unter anderem Kenntnisse über bewährte Gesundheitsverhaltensmodelle (siehe Kurs 1, Kapitel 9 und 11 „Gesundheitsverhaltensmodelle I und II“), Theorien über Stress und Stressbewältigung (siehe Kurs 1, Kapitel 3 „Stress und Stressbewältigung“) und Krankheitstheorien der Patient:innen (siehe Kurs 1, Kapitel 8 „Regulation gesundheitsbezogenen Verhaltens“). Weitere gesundheitspsychologische Inhalte, die ebenfalls bei der Ausgestaltung der Komponenten eines Schulungsprogramms berücksichtigt werden müssen, sind die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Gesundheit/Krankheit (siehe Kurs 1, Kapitel 6 „Persönlichkeit und Gesundheit“) oder die Bedeutung und Nutzung sozialer Unterstützung (siehe Kurs 1, Kapitel 5 „Soziale Integration und soziale Unterstützung“). 9.2.2 Struktur von Patientenschulungen Patientenschulungen können stationär und ambulant stattfinden. Innerhalb eines stationären Settings ist die Platzierung von Schulungsprogrammen beziehungsweise ihrer einzelnen Module zumeist zu festen Terminen innerhalb des gesamten Behandlungsangebots vorgesehen, bei ambulanten Schulungen hängt sie von den terminlichen, räumlichen und personellen Möglichkeiten der anbietenden Institutionen ab. Die Abfolge der einzelnen Komponenten oder Module innerhalb eines Programms wird bei vielen Schulungen durch Manuale vorgegeben, die den Ablauf lernzielorientiert strukturieren. Je nach Auflösungsgrad der Beschreibungen enthält ein Schulungsmanual Informationen zu den Inhalten und Lernzielen der einzelnen Komponenten, zur erforderlichen Qualifikation der anleitenden Person, den konkreten Übungen, zu Materialien und eventuellen Hausaufgaben B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 8 (Ströbl et al., 2007). Die manualgestützte Strukturierung von Schulungsprogrammen ist eine wichtige Voraussetzung für eine institutionsübergreifende Evaluation, da Evaluationsergebnisse zu einer Schulung, die in verschiedenen Einrichtungen durchgeführt wird, nur dann vergleichbar sind, wenn sie überall in der gleichen Art und inhaltlichen Abfolge durchgeführt wurde. 9.2.3 Methodische Aspekte von Patientenschulungen Unter methodischen Gesichtspunkten sind bei Patientenschulungen ein Gruppensetting, ein multiprofessioneller Ansatz, Dauer und der Umfang, die einzusetzenden Techniken und die fachlichen Voraussetzungen der psychologischen Schulungsleiter:innen relevante Merkmale. Gruppensetting Die Konzipierung von Patientenschulungen in der Form von Gruppenprogrammen hat nicht nur ökonomische Gründe, sondern bietet zusätzlich die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches, des gegenseitigen Lernens und der Unterstützung der Teilnehmenden untereinander. Demgegenüber verringert ein Gruppensetting die zeitlichen Ressourcen zur Aufarbeitung individueller Anliegen und stellt eine Reihe von Anforderungen an die Teilnehmenden, wie zum Beispiel ein ausreichendes Maß an sozialen Fertigkeiten. Schulungen werden zumeist in Gruppen mit acht bis 15 Teilnehmenden durchgeführt (Reusch et al., 2013), wobei bei Kindern und Jugendlichen etwas kleinere Gruppen empfohlen werden. Multiprofessionelle Ausrichtung Da Patientenschulungsprogramme auf verschiedenen Ebenen ansetzen, sind sie häufig multiprofessionell ausgerichtet. Die beteiligten Professionen (v. a. Ärzt:innen sowie Psycholog:innen und je nach Krankheitsbild Fachpersonal aus dem physio- oder ergotherapeutischen Bereich, Pädagog:innen, Ernährungsberater:innen etc.), können aufgrund ihrer jeweiligen Expertise besonders kompetente Beiträge leisten. Video 9.3 vermittelt die Perspektiven verschiedener Berufsgruppen auf die Wirkweise von Patientenschulungsprogrammen. Video 9.3. Patientenschulung in der Reha. Verfügbar unter https://youtu.be/xYPW-l0bNsI Dauer und Umfang Die Dauer einer Patientenschulung hängt von den Lernzielen und damit von den Inhalten sowie vom Setting (ambulant oder stationär) ab. Im Allgemeinen beträgt die Gesamtdauer sechs bis 12 Sitzungen mit einem jeweiligen Umfang von 90 Minuten. Es gibt jedoch auch Programme, die für einen längeren Gesamtzeitraum konzipiert sind, wie etwa das Adipositas- Schulungsprogramm „Obeldicks“ für Kinder und Jugendliche, das einjährig ausgelegt ist und 75 Schulungseinheiten mit jeweils 90 Minuten umfasst (Reinehr et al., 2005). Didaktische Methoden Bei den Techniken der Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten sollen neben frontalen (z. B. Vorträge über Behandlungsformen) vor allem interaktive, aktivierende Methoden und unterstützende Materialien eingesetzt werden (Reusch & Vogel, 2018), so etwa  Gruppengespräche und Gruppendiskussionen, zum Beispiel zu wirksamen Strategien bei dem Abbau von Risikoverhalten,  Übungen zum Kompetenzerwerb (z. B. Techniken zum Verhindern von Kratzen bei Neurodermitis, Entspannungsverfahren), B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 9  Rollenspiele zur Erprobung neuer Verhaltensweisen, beispielsweise in der Kommunikation mit dem ärztlichen Personal,  Hausaufgaben für den Transfer von Lerninhalten in den Alltag,  gedruckte oder online verfügbare Informationen zu den behandelten Themenbereichen zur Erinnerung und Festigung der Inhalte. Anforderungen an psychologische Schulungsleiter:innen Alle an einer Schulung beteiligten Berufsgruppen müssen jeweils in ihrer Fachlichkeit qualifiziert sein und umfassendes Wissen hinsichtlich des Krankheitsbildes und der Zielgruppe, für die eine Schulung entwickelt wurde, besitzen. Letzteres gilt somit auch für Psycholog:innen, die Schulungsprogramme vollständig oder teilweise gestalten. Weitere psychologische Kenntnisse und Kompetenzen, die bei der Durchführung von Patientenschulungsprogrammen erforderlich sind, umfassen das gesamte gesundheitspsychologische Theorie-, Diagnostik- und Methodenwissen. Zudem müssen Psycholog:innen, die Patientenschulungen anleiten, im Studium oder ergänzend dazu Fertigkeiten im Umgang mit Gruppen sowie die notwendigen didaktischen Kompetenzen erworben haben, um die oben genannten Techniken der Wissensvermittlung umsetzen zu können (Mühlig, 2007). Grundsätzliche Voraussetzungen sind kommunikative Basiskompetenzen (wie aktives Zuhören, geleitetes Entdecken von Verhaltensalternativen oder motivierende Gesprächsführung; siehe Kurs 2, Kapitel 3 „Gesundheitskommunikation“) sowie Gruppenleitungs- und Moderationskompetenzen, die es ermöglichen, die Gruppendynamik und -ressourcen auch in schwierigen Interaktionssituationen zu nutzen und konstruktiv zu gestalten. Um das anleitende Handeln auf die häufig sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, Ressourcen und Motivationen der Mitglieder einer Schulungsgruppe abzustimmen, müssen psychologische Schulungsleiter:innen Prinzipien der rezipientenorientierten Vermittlung kennen und umsetzen können. Weiterhin sind vertiefte Kenntnisse über die Prinzipien der effizienten Informationsvermittlung erforderlich, um die Inhalte eines Programms dialogisch und interaktiv kommunizieren zu können. Hierzu zählt auch Wissen über die Wirkung und den optimalen Einsatz unterschiedlicher Techniken der Wissensvermittlung sowie unterstützender Medien. 9.2.4 Qualitätssicherung bei Patientenschulungen Gemäß der gesetzlichen Regelungen nach § 43 Abs. 1 Nr. 2 SGB V müssen Patientenschulungen wirksam und effizient sein, damit sie als Leistung durch die Krankenkasse finanziert werden. Sie müssen weiterhin hinsichtlich ihrer Ausführung, Art und Dauer den anerkannten Erfahrungsgrundsätzen der beteiligten Disziplinen (z. B. Psychologie, Physiotherapie, Pädagogik, Ernährungswissenschaft) und dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Notwendige Voraussetzungen für die Wirksamkeit von Schulungsprogrammen ist neben der wissenschaftlichen Fundierung der Konzeption die Einhaltung von Qualitätskriterien bei ihrer Gestaltung und Durchführung (Ströbl et al., 2009). Diese beziehen sich auf die äußeren Rahmenbedingungen (z. B. Räumlichkeiten), das Schulungsteam (z. B. regelmäßige Fortbildungen zu den Schulungsinhalten) und auf die Implementierung von Maßnahmen des Qualitätsmanagements (z. B. regelmäßige Erfassung der Zufriedenheit und des Nutzens bei den Teilnehmenden). Bei stationären Schulungen muss zusätzlich zu den bereits genannten Bereichen auch der Nachweis über Maßnahmen zur Einbindung der Schulung in das Klinikgesamtkonzept erbracht werden. Der gesamte Kriterienkatalog kann unter https://zepg.de/wissenschaftlicher- hintergrund/qualitaetskriterien-schulungsumsetzung/ eingesehen werden. Obwohl die Forderung des Nachweises der Wirksamkeit von Schulungsprogrammen gesetzlich verankert ist, gibt es noch deutliche Mängel bei Realisierung empirischer B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 10 Evaluationsstudien in der Praxis. Reusch et al. (2013) befragten 908 Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation nach den Inhalten, der Gestaltung, Umsetzung und Evaluation von Patientenschulungen. Dabei zeigte sich, dass nur bei etwas mehr als der Hälfte der 4950 einbezogenen Programme eine interne oder externe Evaluation vorlag, von denen ein verschwindend geringer Anteil (5 %) publiziert verfügbar war. Aussagen zu der generellen Wirksamkeit von Patientenschulungen sind daher mit Vorsicht zu interpretieren. Für einzelne Krankheitsbilder (neben Diabetes auch chronischer Rückenschmerz oder Asthma) gibt es belastbare Hinweise für die Wirksamkeit entsprechender Schulungsprogramme, bei anderen (z. B. koronare Herzkrankheiten) ist die Befundlage noch nicht eindeutig (Reusch & Vogel, 2018). Es besteht in der Forschungsliteratur Konsens darüber, dass der Nachweis der Wirksamkeit einzelner Maßnahmen und in noch viel stärkerem Maße der Beleg der Effektivität von Patientenschulungen im Allgemeinen durch eine Vielzahl von Faktoren erschwert wird. Dazu gehören die unterschiedlichen Konzeptionen und Inhalte von Schulungen, eine fehlende Standardisierung oder Abweichungen von den Vorgaben in Manualen bei der Durchführung, die Vielzahl der verwendeten Outcome-Maße und die Erhebung der Daten durch verschiedene, oft nicht vergleichbare Messinstrumente. 9.3 Exemplarische Patientenschulungsprogramme Im Folgenden werden eine Patientenschulung für Erwachsene mit Adipositas und eine Schulung für Eltern neurodermitiskranker Kinder vorgestellt. 9.3.1 Patientenschulung für Erwachsene mit Adipositas (M.O.B.I.L.I.S.) Das M.O.B.I.L.I.S.-Programm (multizentrisch organisierte bewegungsorientierte Initiative zur Lebensstiländerung in Selbstverantwortung; Berg et al., 2010; https://www.movo-konzept.de/m- o-b-i-l-i-s/) ist eine einjährige evidenzbasierte Patientenschulung für Erwachsene mit Adipositas (Body-Mass-Index von 30-40 kg/m2; siehe Kurs 1, Kapitel 12 „Ernährung und Essverhalten“). Die grundlegenden Prinzipien des Programms sind neben der Bewegungsförderung die Ernährungsumstellung und das Konzept der negativen Energiebilanz mit einem Zielbereich von minus 400 kcal/Tag. Die Schulung besteht aus den vier Komponenten medizinische Untersuchungen, Bewegungsprogramm, Ernährungsschulung und psychologische Gruppensitzungen mit insgesamt 40 praktischen und 20 theoretischen Einheiten. Der Programmablauf ist in drei Phasen gegliedert: eine achtwöchige Startphase, eine sechzehnwöchige Gewichtsreduktionsphase und eine sechsmonatige Interventionsphase (siehe Tabelle 9.1). Tabelle 9.1 Phasen und Inhalte des M.O.B.I.L.I.S.-Programms Startphase Gewichtsreduktionsphase Interventionsphase (8 Wochen) (16 Wochen) (6 Monate) Medizinische Medizinische Medizinische Eingangsphase Zwischenuntersuchung Abschlussuntersuchung 8 Bewegungseinheiten 22 Bewegungseinheiten 10 Bewegungseinheiten 8 Gruppensitzungen 4 Gruppensitzungen 6 Gruppensitzungen (Themen: Auftakt, Bewegung, (Themen: psychologische (Themen: psychologische Ernährung, psychologische Aspekte, Ernährung) Aspekte, Ernährung) Aspekte) Anmerkung. Nach Berg et al., 2010. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 11 Die Gruppen werden von multiprofessionellen Teams mit geschulten Expert:innen aus den Bereichen Sportwissenschaft/-didaktik, Psychologie, Pädagogik, Ernährungswissenschaft und Medizin angeleitet. In den Sitzungen mit psychologisch-pädagogischen Schwerpunkten werden motivationale und volitionale Strategien wie die Formulierung persönlicher Gesundheitsziele und -pläne bezüglich Ernährung und Bewegung, deren Übersetzung in Implementierungs-Intentionen (siehe Kurs 1, Kapitel 9 „Gesundheitsverhaltensmodelle I“) und ihre Erprobung im Alltag vermittelt. Die Wirksamkeit des Programms wurde in mehreren Studien untersucht, die insgesamt positive Resultate erbrachten. So hatten die Teilnehmenden der Nachbefragung ein Jahr nach Beendigung des Programms ein signifikant niedrigeres Gewicht (M = 94.2 kg, SD = 14.1 kg) als bei dessen Beginn (M = 101.1 kg, SD = 13.1 kg; Frey et al., 2010). Es zeigte sich weiterhin, dass der Erfolg mit weiteren Variablen wie der Regelmäßigkeit der Teilnahme an den Gruppensitzungen zusammenhing. 9.3.2 Schulung für Eltern neurodermitiskranker Kinder Neurodermitis ist eine Hauterkrankung, die insbesondere im Kindesalter auftritt, häufig chronisch ist und meist einen schubartigen Verlauf hat. Ungefähr 10 bis 15 % der Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter sind davon betroffen (Werfel et al., 2014). Da die Eltern von chronisch kranken Kindern maßgeblich für die Behandlung im Alltag verantwortlich sind, betrifft die Erkrankung sie in ähnlichem Maße wie ihre Kinder. Um dies bei der Behandlung und Betreuung neurodermitiskranker Kinder und Jugendlicher zu berücksichtigen, wurde von der Arbeitsgemeinschaft Neurodermitisschulung (AGNES) e. V. (http://www.neurodermitisschulung.de/) ein integriertes Schulungskonzept entwickelt, das jeweils ein Programm für Kinder von 8 bis 12 Jahren, für Jugendliche von 13 bis 17 Jahren und für Eltern enthält und sowohl ambulant als auch stationär durchgeführt werden kann (Scheewe et al., 2008). Die Programme können für jede Zielgruppe separat durchgeführt werden oder als Kombination des Eltern- und Kinderprogramms oder des Eltern- und Jugendlichenprogramms. Zielgruppenübergreifend sollen die neurodermitiskranken Kinder beziehungsweise Jugendlichen und/oder ihre Eltern dazu befähigt werden, mit der Krankheit eigenverantwortlich umzugehen, die persönlichen und familiären Ressourcen zu erweitern und die Lebensqualität aller Beteiligten zu verbessern. Vermittelt werden Strategien zur Juckreizbewältigung, Informationen zur richtigen Basispflege, zur krankheitsangemessenen und bedarfsgerechten Ernährung, zu Entspannungsverfahren und Methoden der Stressbewältigung und zum Umgang mit psychosozialen Konflikten. Für alle Zielgruppen beträgt der Umfang der Schulung sechs Sitzungen, die jeweils von einem Mitglied des multiprofessionellen Schulungsteams geleitet werden. Neben diesen Gemeinsamkeiten ist die Gestaltung der einzelnen Programme auf die Spezifika und Bedarfe der drei Zielgruppen zugeschnitten. Tabelle 9.2 gibt einen Überblick über die Inhalte, Ziele, Methoden und anleitenden Personen des Elterntrainings. Bei entsprechenden Schulungen sind die jeweils gültigen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e. V. zu beachten (siehe https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/013-027.html). B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 12 Tabelle 9.2. Inhalte, Ziele, Methoden und anleitende Personen der Neurodermitisschulung für Eltern Inhalte Ziele Methodenauswahl Berufsgruppe Kinder- oder 1. Einheit Gespräch, Folien Hautärzt:in/Psycholog:in Medizinische Grundlagen Vorhandenes Hintergrundwissen Wochenbogen und oder Ärzt:in für Juckreizkratzzirkel über ND vertiefen Rückmeldung psychotherapeutische Diagnostik Medizin 2. Einheit Gespräch Stressmodell, Folien Positives Verhalten des ND- Kratzreduktion Wochenbogen und Kindes betonen/wahrnehmen, Psycholog:in oder Kratzalternativen Rückmeldungen Entstigmatisierung, Ärzt:in für Belastung und Schlafdefizite Kratzalternativen selbst Eigene psychotherapeutische Krankheitsverständnis des ausprobieren (Teeumschläge, Stressbewältigungsstrategien Medizin Kindes Coldpacks, „SOS-Cremes“ kennenlernen/erweitern Stressbewältigung Entspannungsübung) 3. Einheit Hautbild bei ND Selbstwirksamkeit in Bezug auf Gespräch Wochenbogen und Umgang mit Juckreiz Juckreizbewältigung steigern, Kinder- oder Rückmeldung Stufenplan und Kleidung Hygiene Wissenserweiterung bezüglich Hautärzt:in Folien Topische Therapie Salbentherapie (Stufenplan Teil 1) Wissensvermittlung, Neue Alternativen bei Gespräch 4. Einheit Eliminationsdiät kennenlernen, Beispiele für Packungsanalysen Diätassistent:in oder Nahrungsmittelallergien und Verhaltensmodifikation in Wochenbogen und Ökotropholog:in Unverträglichkeiten Esssituationen, Rückmeldung ggf. Indikation zur verschiedene Nahrungsmittel Ernährungsberatung 5. Einheit Allgemeine Therapie bei ND Stadiengerechte Anpassung der Behandlungsstufenplan (Teil 2) Salbentherapie lernen, Fototherapie, Cyclosporin, Wissensvermittlung über weitere Gespräch Wochenbogen Tacrolimus, Pimecrolimus, Therapieformen, Stufenplan Kinder- oder Ascomycin u. a. sich das Thema alternative Rollenspiel Ärzt:in-Patient:in- Hautärzt:in Andere neue Therapien gemeinsam erarbeiten Verhältnis Therapieverfahren und eigene Bedürfnisse offen Komplikationen äußern können Alternative Heilmethoden Kinder- oder 6. Einheit Festigung des Erarbeiteten, Gespräch Wochenbogen und Hautärzt:in/Psycholog:in Auswertung Selbstmanagement fördern, Rückmeldungen, Brief an sich oder Ärzt:in für Verbliebene Fragen Therapie der kleinen Schritte selbst psychotherapeutische Ausblick verinnerlichen Medizin Anmerkung. ND = Neurodermitis. Aus Diepgen et al., 2003, S. 949. Video 9.4 zeigt das Beispiel einer Mutter, die diese Elternschulung erfolgreich absolviert hat. Video 9.4. Neurodermitis: Besser leben nach der Schulung. Verfügbar unter https://youtu.be/GtJ6PSuethw Die Wirksamkeit des Elternprogramms wurde von Staab et al. (2002) in einem randomisierten Kontrollgruppen-Design untersucht. In der Untersuchungs- und der Kontrollgruppe wurden jeweils vor Beginn der Schulung und ein Jahr später verschiedene Outcome-Maße erhoben. Zum zweiten Messzeitpunkt war der Hautzustand der Kinder der Untersuchungsgruppe zwar besser als der der Kinder der Kontrollgruppe, aber der Unterschied war nicht signifikant. Hingegen zeigten sich signifikante Verbesserungen bei der Untersuchungsgruppe hinsichtlich der Anwendung der Basishautpflege, der Hautpflege bei Krankheitsschüben, der Zufriedenheit mit der Behandlung, der Vermeidung dysfunktionaler Bewältigungsstrategien und auch eine Senkung der Behandlungskosten durch ärztliche Konsultationen und Medikamente. B. Sc. Psychologie, AF G; Kurs 2, Kapitel 9 13 Literaturverzeichnis Berg, A., Frey, I., Hamm, M., Lagerstrøm, D., Haas, U., Fuchs, R., Göhner, W., & Predel, H. G. (2010). Patientenschulung im Bereich Adipositas: Das bewegungsorientierte M.O.B.I.L.I.S.-Konzept. Bewegungstherapie und Gesundheitssport, 26(2), 58-64. https://doi.org/10.1055/s-0030-1247310 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Ed.) (2004). ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. de Vries, U., & Petermann, F. (2015). Patientenschulung in der medizinischen Rehabilitation. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 25(6), 293-301. https://doi.org/10.1055/s-0035- 1565044 Diepgen, T. L., Fartasch, M., Ring, J., Scheewe, S., Staab, D., Szcepanski, R., Werfel, T., Wahn, U., & Gieler, U. (2003). Neurodermitisschulung. 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