Arm und Reich: Strukturwandel traditioneller und moderner Ökonomien - Thema 1: Antike PDF
Document Details
Uploaded by AdvancedLithium
Tags
Summary
Die Zusammenfassung beschreibt die Wirtschaftsgeschichte der Antike und die Faktoren, welche den Wandel in den traditionellen und modernen Ökonomien beeinflusst haben. Die Analyse konzentriert sich auf die Strukturen und Institutionen dieser Zeit, unter Verwendung von Beispielen aus der Vergangenheit. Es wird auch auf die Rolle der Armut und des Reichtums eingegangen.
Full Transcript
ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Vorbemerkung Warum sind Menschen arm? Das ist die falsche Frage.1 Denn wir brauchen keine Erklärung für Armut, denn nahezu jeder beginnt einmal arm. Armut ist das, was man hat, ehe...
ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Vorbemerkung Warum sind Menschen arm? Das ist die falsche Frage.1 Denn wir brauchen keine Erklärung für Armut, denn nahezu jeder beginnt einmal arm. Armut ist das, was man hat, ehe man Wohlstand schafft. Man vergisst leicht die schrecklichen Lebensumstän- de unserer Vorfahren selbst in den reichsten Ländern der Erde. Die gängige Definition von Armut in Frankreich war sehr einfach: Wenn man es sich leisten konnte, Brot zukaufen, um einen weiteren Tag zu überleben, war man nicht arm. Und selbst in gewöhnlichen Zeiten hatten die Menschen keinen großen Spiel- raum. Vor dem 18. Jahrhundert haben die Eigentumsverhältnisse normaler Europäer nach ihrem Tod darauf hinwiesen, dass es „beinahe überall nur Armut gab“. 2 1 Norberg, Johan. Fortschritt. Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer. 2016. S. 77 2 Norberg: 77. 2 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Eine Untersuchung von 180 Ländern über vier Jahrzehnte hinweg zeigt, dass beina- he jeder Einkommenszuwachs für die Ärmsten einer Gesellschaft auf die durch- schnittliche Wachstumsrate eines Landes folgte und nicht so sehr durch Umverteilung zustande gekommen ist. Die Menge des erzeugten Reichtums hat also eine größere Wirkung als seine Umverteilung.8 Es ist hierbei wichtig, den Unterschied zwischen dieser Beobachtung und der Trickle- Down-Theorie zu verstehen, die davon ausgeht, dass, wenn nur die Reichen immer reicher werden, auch ein paar Krümel vom Tisch für die Armen abfallen. Das ist nicht passiert: Die Armen nutzen die neuen Möglichkeiten, um an modernen Formen der Produktion und des Handels teilzunehmen und so wohlhabender zu werden, anstatt dass sie darauf warten, dass jemand anderes für sie tut. 9 8 Norberg: 92. 9 Norberg: 92. 6 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Um es vorweg zu sagen: Der Fortschritt begann mit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts, als die Menschen anfingen, die Welt mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchen, anstatt sich mit dem zufriedenzugeben, was ihnen Autoritäten, Tradi- tionen, Religion und Aberglaube lehrten.11 Ein erstes Aufflackern des Fortschritts, vor allem des technischen, gab es bereits in der Antike, angefangen im antiken Griechenland und fortgeführt und zu erstaunlichen Blüten gekommen im römischen Reich, man denke nur an die vielen Aquädukte, die Brotfabriken und vieles mehr, der dann allerdings spätestens im 3. und 4. Jahrhundert zum erliegen kam. Es ist eine Katastrophe, die auch nicht dadurch weniger nieder- schmetternd wird, dass der Todeskampf der antiken Kultur mehr als einhundert Jahre andauerte.12 11 Norberg: 22. 12 Bergmeier 2017: 43. 8 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Wirtschaft existiert freilich nicht im luftleeren Raum, sondern ist bezogen auf andere Felder menschlichen Handelns und auf Institutionen, die die diesem Handeln einen Rahmen vorgeben. Die „Neue Institutionenökonomik“ des Wirtschaftsnobelpreisträ- gers Douglass North erkennt das Axiom der neoklassischen Theorie, dass Menschen, vor die Wahl gestellt, rationale Entscheidungen treffen, durchaus an. Er führt zusätz- lich jedoch als zweiten Faktor der „Institutionen“ ein. Sie geben den äußeren Rah- men ab, in dem Menschen in ihrer Umwelt tätig werden und aufeinander einwirken. In den Institutionen, nicht so sehr in den scheinbar für sich allein aussagekräftigen Da- ten und Fakten, sucht auch die Wirtschaftsgeschichte der Antike nach Wegen zum Verständnis.26 26 Sommer: 19. North, C. Douglass: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. Tübingen 1992. 22 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE „Institutionen sind die Spielregeln einer Gesellschaft oder, förmlicher ausgedrückt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion. … Institutio- neller Wandel bestimmt die Art und Weise der Entwicklung von Gesellschaften über die Zeit und ist somit der Schlüssel zum Verständnis historischen Wandels.“27 Institutionen geben den Rahmen ab für jede Entscheidung, die Menschen treffen, sind der Staat, seine Gesetze, aber auch Haushalt und Ehe, Werte und Märkte. Ne- ben Arbeit und Institutionen entscheidet der Faktor „Kapital“ über die Leistungsfähig- keit von Wirtschaftssystemen. Nimmt man das rationale Entscheidungsverhalten von Menschen ernst, so muss man auch nach der Bedeutung immaterieller „Kapitalsor- ten“ - Bildung, Einfluss, Ehre – fragen, die zu allen Zeiten ebenfalls hoch im Kurs standen, besonders in der Antike.28 27 North: 3. 28 Sommer: 21. 23 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Diese großen Institutionen, von denen jede Stadt mehrere besaß, waren mächtig ge- nug, um einen Großteil der auf dem Land produzierten Überschüsse einzusammeln und unter abhängigen „Spezialisten“ - Schreibern, Priestern, Handwerkern, Kriegern, Arbeitern – zu verteilen. In der Praxis lief die Rolle von „Tempeln“ und „Palästen“ dar- auf hinaus, Stadt und Land per Redistribution 34 (Umverteilung) wirtschaftlich miteinan- der zu verklammern. Die großen Institutionen wurden so zur Keimzelle dessen, was man einen Staat nennt. Den Aufstieg der großen Institutionen ermöglichte die Autorität ihrer „göttlichen“ oder menschlichen Vorstände. In einer Ordnung, in der buchstäblich nichts ohne das Wal- ten der Götter geschah, tendierten Durchsetzungskosten von Autorität gegen null, so- lange sich die Herren offensichtlich höherer Gunst erfreuten. 34 Umverteilung von Einkommen und Vermögen aus der Primärverteilung, v.a. auf dem Wege staatlicher Umverteilungsmaßnahmen im Rahmen des Steuer-, Abgaben- und Transfersystems. 33 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Darüber hinaus beruhte Autorität entscheidend auf fachlichem (technologischem, pla- nerischem) und symbolischem (religiösem) Wissen. Das Medium der Weitergabe und Speicherung von Wissen schlechthin wurde die Schrift, die als „Keilschrift“ auf dann zu archivierende Tontafel geritzt wurde. Vor allem ermöglichte es die Schrift, Güter, die in Magazinen von Tempeln und Palästen strömten, inventarisieren und über Aus- gänge Buch zu führen. Ohne schriftkundige Spezialisten hätten die großen Institutio- nen ihre redistributiven Funktionen (Umverteilung) nicht wahrnehmen können. 35 Im Prinzip waren demografisches Wachstum, Steigerung der agrarischen Produktion, Bewässerungstechnologie, Metallurgie, funktionale Differenzierung, Urbanisierung, Schriftlichkeit und Ausbildung von Herrschaft allesamt Facetten desselben Transfor- mationsprozesses. 35 Sommer: 32. 34 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 1: ANTIKE Die Ausbildung der großen Institutionen Tempel und Palast kommt eine Schlüsselbe- deutung zu, weil ohne sie städtisches Leben nicht hätte funktionieren können. Man- gels anderer Institutionen, die die räumliche Trennung agrarischer Produzenten und Konsumenten hätten aufheben können – Märkte – war die Versorgung stadtsässiger Spezialisten durch Redistribution die Voraussetzung für den gesamten Prozess. Vernetzung. Die Welt der Bronzezeit war engmaschig vernetzt. Güter und Menschen reisten von der Ägäis bis nach Iran, von Kleinasien bis an den Nil. Sinn und Zweck des Austausches war es, knappe Güter aus der Ferne zu beschaffen: Holz aus Liba- non, Kupfer aus Zypern, Gold aus Nubien, Textilien aus Assyrien – die Linie ließe sich fortsetzen. 35 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Vorbemerkung: Im antiken Römischen Reich wurden dessen Bewohner zu Recht für den hohen Le- bensstandard beneidet, der sich zum Beispiel an der fortschrittlichen Straßeninfra- struktur oder der Wasserversorgung widerspiegelte. Historiker sind der Ansicht, dass zwischen dem Ende der Republik1 und den Anfängen des Römischen Imperiums eine so starke wirtschaftliche Entwicklung stattfand, wie sie erst wieder im 18. Jahrhundert in Europa beobachtet werden konnte. Zur Krise des Römischen Reichs kam es nicht zuletzt durch dirigistische Fehlentscheidungen, welche die prosperierende Marktwirt- schaft in Rom zusammenbrechen ließ. Der zunehmende Einfluss der römischen Kir- che – sie wurde im 4. Jhrd Staatsreligion - verstärkte die wirtschaftsfeindliche Hal- tung noch. 1 Mit dem 1. Triumvirat seit 60 v. Chr. und dem Aufstieg Caesars zum Alleinherrscher. 2 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Das Christentum hatte immer schon ein äußerst distanziertes Verhältnis zum privaten Eigentum und verabscheute den Reichtum. Wenn Papst Franziskus heute sagt, die Güter der Reichen gehörten in Wirklichkeit den Armen, zitiert er nur Johannes Chry- sostomus, einen Theologen des 4. Jahrhunderts. Der Kirchenvater Chrysostomus gilt als größter Prediger der griechischen Kirche. Doch Chrysostomus wurde auch zu ei- nem der Weichensteller des christlichen Antijudaismus.2 Die Evangelien loben jene, die um der Nachfolge Jesu willen all ihren persönlichen Besitz den Armen geben. Denn bekanntlich geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt (Lukas 18,25). Erst später, im Him- mel, wird mit einem „Schatz“ belohnt, wer sich hienieden seiner Schätze entledigt und Almosen gibt. 2 zitiert nach: Deutschlandfunk, 2. April 2022. https://www.deutschlandfunk.de/wortgewaltiger-prediger-mit-einer-dunklen-seite-100.html 3 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Doch das Neue Testament predigt Armut und nicht die Tugenden der Kaufleute und des Unternehmertums. Es ist nicht zu übersehen, dass zumindest das Urchristentum, das aber davon ausging, Jesus käme noch in ihrem Leben zurück auf die Erde, um die Welt zu retten, geprägt ist von der Überzeugung, es wäre besser, wenn allen al- les gemeinsam gehörte. Eine Zukunftssicht und Zukunftssicherung im Diesseits war aus dieser Perspektive gar nicht erforderlich. „Die Gläubigen hatten alles gemeinsam; sie verkauften Güter und Grundbesitz und teilten untereinander alles gemäß der je- weiligen Bedürftigkeit“, heißt es in der Apostelgeschichte. Der Urkommunismus ist Vorschein des paradiesischen Jenseits: Gleichheit in christlicher Brüderlichkeit. Diese Utopie eines christlichen Kommunismus übt allerdings bis heute auf viele eine große Verführungskraft aus. Für die Römer war dies undenkbar. 4 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Erst als die Städte ihre Autonomie behaupteten, zogen sie wieder in die Städte. Die zuvor entwickelte römische Wirtschaft bildete sich zurück zur Naturalwirtschaft. Nur die Kirche konnte ihre Organisation intakt halten. Die Einsicht in das Wesen und die Wirkungen der preispolitischen Eingriffe erschließt das Verständnis für die ökonomischen Ursachen eines großen geschichtlichen Vor- ganges, des Unterganges der antiken Kultur. Ludwig von Mises, der berühmte Vertreter der „österreichischen Schule“, schrieb zum Ende des römischen Reiches: Man mag verschiedener Meinung darüber sein, ob es berechtigt ist, von antikem Ka- pitalismus zu sprechen. Unbestritten ist aber, dass das römische Imperium im Jahr- hundert der Antonine, der «guten» Kaiser, eine hohe Stufe der Entwicklung der Ar- beitsteilung und des Handels erreicht hatte. 12 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Einige Großstädte, eine beträchtliche Anzahl von Mittelstädten und zahlreiche kleine Städte waren der Sitz einer verfeinerten Kultur geworden. Die Bevölkerung dieser Zentren deckte ihren Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen durch die Zufuhr vom Lande, wo Groß- und Mittelbetriebe Überschüsse eigener Erzeugung abgaben, um dafür gewerbliche Erzeugnisse einzutauschen. Die Auflösung dieser Wirtschaftsver- fassung, nicht das Eindringen der Barbaren ließ das römische Imperium und mit ihm die antike Kultur zerfallen. Die Angriffe von Außen nützten nur eine Gelegenheit aus, die die innere Schwäche des Reiches bot. Militärisch waren die einfallenden Heere im vierten und fünften Jahrhundert nicht gefährlicher als die, denen die Römer in frühe- ren Jahr-hunderten mit Erfolg entgegengetreten waren. Doch die Eindringlinge hatten es nicht mehr mit dem alten Reich zu tun. Sie stießen gegen eine Welt vor, die in ih- rer wirtschaftlichen Struktur schon mittelalterlich war. 13 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Die Freiheit, die das römische Reich dem Handel gewährte, war nie vollkommen ge- wesen und war in Bezug auf den Handel mit Getreide und einigen anderen Gegen- ständen des täglichen Bedarfs noch stärker beschränkt gewesen als im Verkehr mit den übrigen Kaufgütern. Die Getreideversorgung blieb im Römerreich immer ein schwieriges Problem. In den Städten herrschte Getreideknappheit, und die Getreide- erzeuger klagten über die Unrentabilität ihrer Betriebe. Die Anpassung der Erzeugung an den Bedarf wurde durch die Preispolitik der Obrigkeit verhindert. Um nicht zu ver- hungern, verließen die Leute die Städte und trachteten darnach, sich auf dem Lande anzusiedeln und selbst ihren Bedarf an Getreide, Öl, Wein und anderen Agrarproduk- ten zu decken. Die antike Kultur ist daran zugrunde gegangen, dass sie es nicht ver- mocht hat, Sittenkodex und Rechtssystem den Erfordernissen der auf dem Marktver- kehr beruhenden Wirtschaftsverfassung anzupassen. 14 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Einen anderen Weg schlugen die Juden ein. Sie glaubten nicht an die baldige Rück- kehr des Messias, sahen damit auch keine Veranlassung ihre Aktivität ausschließlich auf das Jenseits zu richten und das Diesseits zu vernachlässigen. Es sind rund 3000 Jahre jüdischer Geschichte nachweisbar. Von ca. 1000 v. Chr. bis 586 v. Chr. bestand das altisraelitische Königstum, das mit der ersten Zerstörung des Tempels in Jerusa- lem endete. Es begann das Babylonische Exil. 518 V. Chr. kehrte eine Minderheit aus der mesopotamischen Diaspora nach Alt-Israel (Judäa) zurück. Im Jahre 70 n. Chr. wurde die Provinz Judäa sowie der zweite Jerusalemer Tempel vom antiken Rom zer- stört. Das war der Beginn des zweiten Exils, das bis 1948 fortdauerte. 2700 Jahre prägt die jüdische Gesellschaft also in Diaspora. 11 In diesen Zeiten verfügten die Ju- den über kein eigenes Land und lebten über viele fremde Länder verstreut. 11 Wolffsohn, Michael:Eine andere jüdische Weltgeschichte. 2022: 34 18 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Innerhalb des Judentums sorgten verschiedene Faktoren dazu, dass die Juden die Notwendigkeit breiter Ausbildung und weiten Wissens erkannten, durch breites Wis- sen, also eine rund zweitausendjährige Volksbildung, die immensen Erfolge so vieler Juden bewirkt.12 Ohne Schrift kein Wort, keine Worte. Schriftkenntnis und damit wel- thistorisch war die frühe Volksbildung als Allgemeingut der Gesellschaft und eben nicht als Monopol der Eliten. Eine Folge der Dezentralisierung in Judäa nach der zweiten Tempelzerstörung führte dazu, dass auch andere, weniger bekannte Gelehrte außerhalb Jerusalems Lehrhäuser eröffneten. Bildung explodierte förmlich. Dieses Lernen verstanden die Talmudisten als den Lebensinhalt schlechthin. Doch so etwas entwickelt Eigendynamik. Wer die Tora liest, kann auch andere Texte lesen. 12 Wolffsohn: 245. 19 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Daher wirkte die die traditionelle jüdische Bildungsethik auch im säkularen bzw. weltli- chen Bereich. Die traditionelle Bildungsethik sprengte zudem das Bildungsmonopol von Monarchie und Aristokratie zugunsten einer „Bourgeoisie“. Indirekt kennzeichnet auch die Ökonomie der Juden ihren Religionsbegriff. Ursprünglich war das Judentum eine rein landwirtschaftliche Religion. Mit dem Entstehen eines städtischen Bürgertums im antiken Israel änderte sich das grundlegend. Dies wurden, waren und wahrten „die „ Ju- den bis heute – genauer: ideologisch, wirtschaftlich und soziologisch. Schon lange be- vor in Europa eine Bourgeoisie13 entstand. Auch wenn sie, ökonomisch betrachtet, eher unterbürgerlich und bitterarm waren sie sowohl Bürger als auch „Citoyens“, also Bürger, die sich aktiv für ihre Bürgerschaft als Gemeinschaft einsetzten.14 13 Zur Erklärung der Begriffe Bourgeoisie vs. Citoyens: In der Wirtschaftssoziologie: (frz.), seit der Französischen Revolution bezeichnet der c. den politisch emanzipierten, aktiven Staatsbürger, der ökonomisch unabhängig ist, da er Eigentum besitzt, und als freies und gleiches Mitglied der Nation Stimmrecht hat; im Gegensatz dazu ist der b. der ständisch verstandene Stadtbürger, der als passives Teil des Staates zwar auch in den Genuss von Freiheit und Gleichheit kommt, jedoch kein Stimmrecht hat. http://www.wirtschaftslexikon.co/d/bourgeois-citoyen/bourgeois-citoyen.htm 14 Wolffsohn: 285. 20 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Das bedeutete soziologisch und ideologisch den Übergang der Standes- zur Leis- tungsgesellschaft. Leistung und nicht mehr durch Geburt bestimmte Vorrechte ent- scheiden über Auf- oder Abstieg des Einzelnen.15 Für Juden steht fest, „ohne Mehl keine Tora“, Freier formuliert: Wenn Leere in der Kasse, keine Lehre. Eindeutig besagt dieser Spruch, dass die jüdische Tradition Ide- elles nicht vom Materiellen trennt und Mammon weder verteufelt noch anhimmelt. So- wohl die Tora als auch die Wohltätigkeit weisen über das platt Materielle hinaus. Ohne die Kontinuität jüdischen Mäzenatentums wären deutsche Museen heute fast leer.16 15 Wolffsohn: 50. 16 Wolffsohn: 286. 21 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Ein dramatischer Einschnitt erfolge im Mittelalter 1179: Das 3. Laterankonzil verbot Juden so gut wie alle Berufe, mit zwei Ausnahmen: den Geldverleih, der gleichzeitig Christen verboten wurde. Ausnahme zwei: „Jüdische Medizin“ hatte bereits damals eine lange eigene sowie eine etwas kürzere islamisch-iberische Tradition und da- durch einen quantitativen und qualitativen Vorsprung. Auf gute Ärzte wollten auch An- tisemiten nicht verzichten. Antisemiten hatten durch solche Maßnahmen höchstselbst seit Jahrhunderten die jüdische Dominanz in der Medizin ebenso wie im Finanzwesen zementiert. Geldverleiher und Ärzte bildeten die jüdische Oberschicht. Schmal war sie, breit dagegen die jüdischen Unterschichten.17 Nicht nur textlich, auch bildlich wurde Judenfeindschaft über Ecclesia und Synagoge hinaus als Mode zur Schau gestellt. 17 Wolffsohn: 255. 22 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER In deutschen Kirchen mehr als woanders war das vulgäre Motiv der „Judensau“ beliebt. Am Hut und, wie Prostituierte, am gelben Stoffring mussten Juden seit 1215 (4. Late- rankonzil) an ihrer Kleidung erkennbar sein. Ans Judengelb knüpften die Nazis später an.18 Ironie der Geschichte: Die Liebe zum Mammon unterstellen Antisemiten gerne „den“ Juden. In Windeseile schafften die Juden aufgrund jahrtausendalter Geistes- und Bildungsübungen den Sprung vom Ghetto ins allgemeine Bürgertum, dessen Bildungs- avantgarde sie wurden, was nicht zuletzt Neid auslöste. Bessere Bildung bedeutete schließlich auch bessere Verdienstmöglichkeiten.19 Mindestens so wichtig wie finanziel- le Staatshilfen sind bei der Aufholjagd im Bildungsbereich die Bildungsmentalitäten der Bürger. Staatliches Geld für Bildung ohne entsprechenden Bildungswillen der Eltern und (!) Kinder verpufft.20 18 Wolffsohn: 62. 19 Wolffsohn: 50. 20 Wolffsohn: 232. 23 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER 18. Die kaufmännischen Tätigkeiten erlebten ihren Höhepunkt auf den großen Hand- werksmessen und der Erleichterung der Kommunikation sowie der Geschäftsabwick- lung unter Kaufleuten. Zu Beginn des 14. Jhrds begann der Niedergang der Messen. Der „sesshafte Kaufmann“ verdrängte den „wandernden Kaufmann“. 33 Im Mittelalter standen die Zahlen für reale Gegenstände der Welt. Sie wurden zum konkreten verwendet. Dies war noch weit entfernt von unserer Mathematik, die Zah- len von den konkreten Gegenständen ins Abstrakte hin entwickelt hat. Das arabische Konzept der Null und der Zahlenstellen konnte im Mittelalter noch nicht Fuß fassen, weil es das mittelalterliche Denken gesprengt hätte. Man rechnete neben den „Re- chenpfennigen“ mit dem Abakus. Das Rechnen mit einem solchen Abakus war eine Kunst, die nur wenige beherrschten.34 33 Holub 2005: 213ff. 34 Holub 2005: 217. 41 ARM UND REICH - STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 2: MITTELALTER Eine Regelung der Preise ist in einigen deutschen Städten schon im 11. Jhrd. nach- gewiesen. Diese Regelungen betrafen unterschiedliche Waren und wurde an ver- schiedenen Orten und verschiedenen Jahrhunderten unterschiedlich gehandhabt. Ei- nige Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch feststellen: Die Preisregulierung war ver- bunden mit Bestimmungen über Maße und Gewichte, über Anforderungen an die Qualität der Waren und über das Münzwesen. Ein Problem war immer, wie die Prei- se festgesetzt werden sollten, um den „gerechten Preis“ zu erhalten. Die Idee des ge- rechten Preises war seit der Antike existent. Der von der Ethik stammende „gerechte Preis“ wurde zu einem ökonomischen Problem. Bezeugt ist, dass Preiserhöhungen bei Mangelsituationen als unerlaubt galten und als Ungerechtigkeit. Preise konnten so also nicht die tatsächliche Knappheit eines Guten widerspiegeln. 45 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Morus selbst hatte ein sehr bewegtes Leben und wurde am 1. Juli 1535, nachdem er sich gegen die Scheidung Heinrichs VIII von seiner Frau Katharina gestellt hatte ver- urteilt und ermordet. Utopia heißt wörtlich aus dem Griechen übersetzt u-topos, Nicht-Ort oder Nirgend- land. Der eigentliche Kern der Erzählung über den idealen Staat ist in eine Rahmen- handlung eingebettet, in ein Gespräch zwischen Thomas Morus, einem Freund und Raphael Hythlodeus. Die Überlegungen zum utopischen Gemeinwesen fußen auf der Gesellschaftskritik, die Morus den Hythodeus in der Rahmenhandlung vortragen lässt. Die Utopia enthält die wesentlichen Denkmuster sozialrevolutionärer Systemkritik: 4 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Die Quelle aller Raffgier und Habsucht, überhaupt die Wurzel menschlichen Übels, liege im Geld und im Privateigentum und in der Möglichkeit Reichtum anzuhäufen be- gründet. Der Mensch sei ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, Kriminalität erwachse aus materieller Not. Die europäischen Staaten seien nicht anderes als eine Art Verschwörung der Reichen.3 Vor diesem düsteren Hintergrund folgert Hythlodeus, dass überall da, wo es noch Privateigentum gibt, wo alles nach dem Wert des Geldes gemessen wird, kaum jemals eine gerechte oder erfolgreiche Politik betrieben werden könnte. Deswegen hätten die Utopier an die Stelle des Privateigentums das Gemein- eigentum gesetzt. Hythodeus schildert in diesem fiktiven Gespräch Morus Aufbau und Funktionsweise des utopischen Gemeinwesens. 3 Starbatty: 77ff. 5 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Die Einwohner Utopiens waren zuallererst roh und ungebildet. König Utopos hat dann das Volk zu jener unvergleichlichen Bildung und Gesittung herangezogen, durch die es jetzt fast alle Menschen übertrifft. Utopien ist eine riesige Hauswirtschaft, die Geld als Tauschmittel nicht bedarf. Er herrscht aber allgemeine Arbeitspflicht. Dafür beträgt der Arbeitstag nur sechs Stun- den. Die einzelnen Haushalte liefern ihre Produkte bei den Warenmagazinen ab, und die Familienältesten fordern von den Magazinen an, was sie für ihre Familien brau- chen – alles unentgeltlich. Die absolute Gleichheit in Utopien ist jedoch an einige Be- dingungen geknüpft, sie sind für die Lebensqualität nicht unerheblich. Der Lebens- standard ist bescheiden, er ist auf die Existenzsicherung beschränkt. Jeglicher Luxus ist verpönt. Es gibt nichts eigenes, auch nicht im privaten Bereich. 6 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Utopia ist eine statische Gesellschaft. Politik, Institutionen, Bedürfnisse, Produktions- weise und gesellschaftliche Strukturen verändern sich nicht. Utopische Familien- und Migrationspolitik sorgen dafür, dass die Einwohnerzahlen bestimmte Größen nicht über- oder unterschreiten. Damit kann der genau gegliederte Arbeits- und Lebens- rhythmus und die Harmonie der räumlichen Verteilung ungestört bleiben. Utopia ist ein Bundesstaat, die einzelnen Regionen und Städte regeln ihre Belange selbst. Vertreter treffen sich einmal jährlich zur Feststellung des utopischen Waren- vorrats und zum Ausgleich regionaler Mängel und Überschüsse. So ist die ganze In- sel gleichsam eine einzige Familie. Die Annahme, dass die Utopier selbst über politi- sche Fragen beschließen können, ist jedoch ein Irrtum. Die eigentliche Entschei- dungsgewalt liegt liegt nicht in der Hand des utopischen Volkes. 7 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Der einfache Utopier kann es bis zum Phylarchen (Aufseher, Blockward) bringen. In die eigentlichen politischen Ämter können jedoch nur Vertreter aus dem „Stand der wissenschaftlich Gebildeten“ gewählt werden. Hier orientiert sich Morus an einer zen- tralen Ordnungsidee Platons, des Herrschaftsmonopols der Gebildeten. Die politische Führung sorgt für die Aufrechterhaltung der utopischen Ordnung und Einhaltung der Disziplin. Die von Morus entworfene geometrische Struktur der utopischen Gesell- schaft gestattet der Obrigkeit, ihren Willen sehr schnell jedem Utopier zu verdeutli- chen. Aber auch umgekehrt können Auffassungen und Stimmungen der Basis schnell an die Spitze der Pyramide gelangen.4 4 Starbatty: 82ff. 8 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Damit sind im Grunde die zentralen Fragen für jedes Wirtschaftssystem – woher wis- sen die Utopier, welche Güter sie produzieren und welche Produktionsverfahren sie wählen sollen? - beantwortet: Wir haben es mit traditionellen Produktionsweisen für bekannte Bedürfnisse – Deckung des existentiellen Grundbedarfs – zu tun. Unter die- sen Bedingungen ist der Magazinmechanismus ein hinreichendes Allokationsinstru- ment: Überschüsse und Defizite regionaler Magazine lassen sich mittels eines über- regionalen Clearingprozesses beheben.5 Es erinnert etwas an das antike System der Redistribution (Umverteilung).Mit seiner «Utopia» stellt Morus den kommenden Sozi- alplanern und Phantasten ein fast unendlich ausbaufähiges Gattungsmodell zur Ver- fügung. 5 Starbatty: 85. 9 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Die strenge theoretische Argumentation zeichnete alle Scholastiker aus. Handel bringt Frieden, Konkurrenz ist gut und zu viel Geld schafft Inflation: Das erkannten geistliche Gelehrte schon im 16. Jahrhundert. Wäre man ihnen früher gefolgt, hätten „Teile der Wirtschaftswissenschaft schneller entwickelt werden können“. Sie hießen Martín de Azpilcueta, Jerónimo Castillo de Bovadilla oder Diego de Covarrubi- as y Leyva. Sie und weitere Mönche lebten im 16. Jahrhundert, sie zählten zu den spani- schen Spätscholastikern, der Schule von Salamanca. Warum sollte man sie kennen? Weil sie es waren, die den naturrechtlich begründeten Freiheitsgedanken in zahlreiche Gebiete der Wissenschaft hineintrugen. Weil ihre Beiträge geprägt waren vom Bekenntnis zum Recht des Menschen auf Leben, Freiheit, Würde, Eigentum und Meinungsfreiheit. Und weil sie somit wichtige geistliche Vordenker wettbewerblicher Märkte waren. 24 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Dass sich die Marktwirtschaft im Laufe der Menschheitsgeschichte immer mehr entfalten konnte, verdankt sich nicht nur den Calvinisten, sondern auch den Vorarbeiten aus Sala- manca. Diego de Covarrubias y Leyva radikalisierte Thomas’ Werttheorie mit der Bemer- kung, dass „der Wert einer Sache nicht von ihrer objektiven Natur, sondern selbst dann von der subjektiven Wertschätzung der Menschen abhängt, wenn diese verrückt sei“. Francisco de Vitoria fragte nach der moralischen Annehmbarkeit des Gewinns und ging einen entscheidenden Schritt weiter als Thomas von Aquin: Er begriff die Han- delsfreiheit als Bestandteil der natürlichen Ordnung und erblickte hierin sogar eine die Menschheit friedlich verbindende Kraft. Zudem entstand das dynamische Konzept der unternehmerischen Konkurrenz. Jerónimo Castillo de Bovadilla erkannte, dass „die Preise bei Überfluss, Wetteifer und Konkurrenz der Verkäufer sinken“. 25 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Luis de Molina erkannte die Motivationsleistung des Eigentums: Wem etwas gehört, der kümmert sich und setzt es sinnvoll ein. Den Zins begründeten die Spätscholasti- ker als Entschädigung des Geldverleihers für den Nutzen oder den Gewinn, den er anderweitig hätte erzielen können. Sie entdeckten die „Zeitpräferenz“, also die Tatsa- che, dass Konsum heute zumeist höher bewertet wird als Konsum morgen – auch so lässt sich ein positiver Zins begründen. Die spätere „Quantitätstheorie des Geldes“ nahmen sie ebenfalls vorweg und erkannten: Wenn zu viel Geld zirkuliert, gibt es In- flation. Auch deren verzerrende Wirkung war den Scholastikern klar, ebenso wie die fatale Wirkung von Höchstpreisen. Doch wenn alle ihre Leistungen so wichtig und so folgenreich waren, warum kennen dann heute nur noch dogmenhistorische Liebhaber die frühen Marktradikalen aus Salamanca? Ihre Schriften waren in Latein verfasst und fanden nur eingeschränkte Verbreitung; die Rolle der Kirche schwand ohnehin. 26 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Fazit zur Schule von Salamanca: Die Österreichische Schule bezeichnet Mercado als einen ihrer Vorläufer. Die Theorie des ökonomischen Wertes kann als das Zwischenglied im Verhältnis der Spätscho- lastik und der österreichischen Schule des späten 19. Jahrhunderts angesehen wer- den. Der ökonomische Wert (nicht der ethische) hängt nicht nur von den objektiven Eigenschaften der Waren, sondern davon ab, wie die Händler diese Waren bewerten, d.h. von der subjektiven Einstellung und von den persönlichen Interessen. Wenn also die ökonomischen Werte als abhängig von den handelnden Personen betrachtet wer- den, darf man wohl erwarten, dass außerhalb dieser handelnden Personen keine an- dere Instanz (wie z. B. der Staat) berechtigt ist, die Preise und die ökonomischen Plä- ne zu bestimmen. 30 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Verbürgt ist Calvins Prädestinationslehre: Bereits vor der Geburt eines Menschen steht dieser Lehre nach fest, ob dieser auserwählt oder verdammt ist. Man könne da- gegen nichts machen. Weder führen schwere Sünden zur Verdammnis noch gute Ta- ten zur Erlösung. Das ist schwer zu begreifen und wohl nur zu verstehen, wenn man das historische Umfeld beleuchtet: Gute Taten bestanden meist in Ablasszahlungen an die katholische Kirche. Auch schwerste Sünden wurden dem jüngsten Gericht vorgreifend getilgt, wenn man es sich leisten konnte. Dagegen rannte Calvin – wie auch Martin Luther – an. Aller Reichtum hilft nichts, hieß es bei ihm. Doch eben das konnte man auch umge- kehrt nutzen: Reichtum kann auch nichts schaden. Schätze anzuhäufen war nichts, was den vorbestimmten Weg ins Himmelreich versperrte. Daraus schlossen einige, dass Reichtum ein Zeichen sei, von Gott auserwählt zu sein. 38 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Als ein Beweis der Auserwähltheit gilt Calvin der ökonomische Erfolg, eine Art Vorstu- fe für das Himmelreich. Der Calvinist ist also ein Getriebener: Er muss wirtschaftlich reüssieren, um sich selbst und seinen Glaubensbrüdern zu zeigen, dass er dereinst das ewige Leben genießen darf. Die Früchte seiner Anstrengungen, den Gewinn, in- vestiert er immer wieder aufs Neue, um noch mehr Erfolg zu produzieren. Der de- monstrative Konsum, das Prassen und Protzen, ist die Sache des Asketen ja nicht, das würde ihn auf Kollisionskurs mit dem göttlichen Willen bringen. Der Calvinist setzt somit das System des Kapitalismus in Gang. An anderer Stelle fordert Calvin eine „faire Verteilung“, geißelt die unheilvolle „Gier“. Und Calvin preist unentwegt die „Schönheit“ der göttlichen Schöpfung. Kann das alles aus der Feder des Vaters eines kruden Kapitalismus stammen? War Calvin am Ende etwa ein verkappter Sozialist, in dem schon grüne Ideen schlummerten? 42 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Schließlich bricht Calvin mit dem seit der Antike verbreiteten Satz, dass Geld kein Geld erzeuge. Er hält es für sinnvoll, Geld als Startkapital für Unternehmer zur Verfü- gung zu stellen und eine Wirtschaftsförderung durch Kredite zu ermöglichen. Auf die- se Weise fördert er die Integration qualifizierter Kleinunternehmer und Kaufleute, die z.T. als mittellose Flüchtlinge nach Genf gekommen waren. Diese Maßnahmen be- rühren sich mit der Frage des Zinsnehmens. Der von Calvin ausgehende reformierte Weg in der Zinsfrage zielt einerseits auf eine Regelung gegen die weit verbreiteten und ungerechten Wucherzinsen und muss andererseits die biblische Stellung zum Zinsnehmen (vgl. Lk 6,34) beachten. Calvin bestreitet, dass die Bibel ein totales Zins- verbot fordert, und tritt dafür ein, dass Geld ebenso wie anderer Besitz Gewinn brin- gen dürfen. Zinsen können sogar ein ökonomischer Anreiz sein, Geld produktiv anzu- legen. 46 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 3: FRÜHE NEUZEIT Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich Eigentum als gute Gabe Gottes verdankt und in freier Verantwortung genossen, eingesetzt und weitergegeben wer- den darf. Dies soll nach dem Maßstab der Liebe und in der Haltung der Dankbarkeit für das anvertraute Eigentum geschehen. Die gegenseitige Mitteilung der Gaben in der Gemeinde beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Eine Zwangsenteignung wür- de diesem Denken, das ausdrücklich das Eigentumsrecht vertritt, zutiefst widerspre- chen. Auch wenn die Unterschiede zwischen Besitzenden und Armen bestehen blei- ben, soll aber ihr Gegensatz überwunden werden. Das heißt konkret: Habgier, Ver- achtung des Armen und Protzen mit Luxus widersprechen dem Prinzip der Liebe, nach dem der Besitz gebraucht werden soll. Die legitime und keineswegs gottlose Geldwirtschaft muss mit dem biblischen Gebot der Sorge für den wirtschaftlich Schwachen in Einklang gebracht werden. 47 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Verantwortungsethik zählt in der Politik mehr als Gesinnungsethik: Hier trifft Weber in seinem Vortrag "Politik als Beruf" eine noch heute bedeutsame Unterscheidung. Hier trifft Weber in seinem Vortrag "Politik als Beruf" eine noch heute bedeutsame Unter- scheidung. Gesinnungsethik beschreibt ein Handeln, bei dem das ethisch reine Motiv des Handelns wichtiger ist als das Resultat des Handelns - heute findet sich hierfür gelegentlich der abwertende Begriff des "Gutmenschentums". Weber zeigt hierfür Verständnis, empfiehlt dem Politiker eher eine Verantwortungsethik, die ein Handeln beschreibt, dessen Ergebnis wichtiger ist als das Motiv. Der Politiker wird an seinen Taten gemessen. Der Herrschaftsbegriff ist ein bedeutsamer Bestandteil der Soziologie Webers: "Herr- schaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden." 3 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Er unterscheidet drei Formen legitimer Herrschaft: die rationale/legale Herrschaft, die wie die Bürokratie im Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen ruht; die traditio- nale Herrschaft, die wie das Patriarchat auf dem Glauben an Traditionen beruht; so- wie die charismatische Herrschaft, die wie im Beispiel des Propheten auf Hingabe an die Vorbildlichkeit, Heldenkraft oder Heiligkeit einer Person und der von ihr geschaffe- nen Ordnung beruht. Die protestantische Ethik ist eine wichtige Triebkraft des Kapitalismus: Aus der Beob- achtung, daß zu seiner Zeit protestantische Gebiete in Deutschland reicher waren als katholische, schließt Weber auf einen Zusammenhang zwischen Religion und Wirt- schaftsentwicklung. Er kommt zu dem Schluß, daß besonders der puritanische Calvinismus die Men- schen zu konzentrierter Arbeit und zur Kapitalbildung angehalten habe. 4 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Weber faßt zusammen: „Die innerweltliche protestantische Askese wirkte also mit vol- ler Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumti- on, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Ef- fekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern direkt als gottgewollt ansah.“ Weiter heißt es: „Und halten wir nun noch jene Einschnürung der Konsumtion mit die- ser Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis nahe- liegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang.“ Die „Protestantische Ethik“ stieß auf Zustimmung wie auf Kritik. Der verbreitetste Ein- wand lautet, Weber habe die Bedeutung der Religion für die Entwicklung des Kapita- lismus überschätzt und Einflüsse wie die Politik oder die Geographie übersehen. 10 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Vor allem der Calvinismus sei wirtschaftsfreundlicher als der Katholizismus, weil sein theologischer Kern eine Verwandtschaft mit der Kultur des modernen Kapitalismus aufweise. Indem er die Gläubigen dazu anhalte, fleißig und sparsam zu sein und be- ruflichen Erfolg als Ausdruck von göttlicher Gnade zu betrachten, leiste er einem Leis- tungsgedanken Vorschub, der auch dem kapitalistischen Unternehmertum eigen sei. So wie der Unternehmer den Gewinn immer wieder reinvestiere, um sich im Wettbe- werb zu behaupten, müsse sich der gläubige Calvinist im Berufsleben immer wieder bewähren, um zu erfahren, ob er von Gott auserwählt sei (doppelte Prädestinations- lehre). 12 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 1919 war Keynes schon einflussreich genug, um Mitglied der britischen Delegation bei den Versailler Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg zu sein. Doch er trat von dieser Position zurück, weil er mit der restlichen Delegation uneins war. Er war sicher: Die Deutschland auferlegten Reparationszahlungen waren eine wirt- schaftliche und politische Katastrophe. Seine Gedanken hierzu publizierte er in dem brillant geschriebenen Buch „The Economic Consequences of the Peace“. Es wurde ein Bestseller und machte Keynes insbesondere in Deutschland populär. Heute ist all- gemein anerkannt, dass er mit seinen Bedenken richtig lag. In diesen Jahren gehörte Keynes der britischen Liberalen Partei an. In seinem Vor- trag „Am I a Liberal?“ plädiert er für einen Liberalismus, der sich von den alten Ideen des Laissez-faire, also von einer Wirtschaft an der langen Leine, verabschiedet und dem Staat eine ordnende Funktion zuweist. 90 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Seine größte Zeit kam aber kurz darauf, in Folge der Weltwirtschaftskrise, die 1929 mit dem Schwarzen Donnerstag an der New Yorker Börse begann und sich in der ganzen Welt ausbreitete. Damals gab es eine hitzige Debatte über die Ökonomie. Denn die herrschende Theorie schien nicht mehr geeignet, die Welt der Wirtschaft zu erklären und sinnvolle Politikempfehlungen zu geben. Keynes’ „General Theory“ markierte eine Wende, denn er schlug eine andere Art zu denken vor. Zentral ist bei Keynes, dass er das traditionell angenommene Saysche Gesetz negiert. Dieses besagt: Jedes Angebot schafft sich seine Nachfrage selbst. Insgesamt kann es demnach nicht weniger Nachfrage als Angebot geben und damit auch keine Arbeitslosigkeit. Es ist es der Zins, der die Funktion hat, Gesamtangebot und Gesamtnachfrage nach Gütern zu jedem Zeitpunkt zur Deckung zu bringen. Er sorgt dafür, dass die Menschen nicht mehr Geld horten (sparen) als sie investieren. 91 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Keynes glaubt, dass das nicht funktioniert. Denn das Geldsystem der Marktwirtschaft erlaubt keinen negativen Zins. Es kann aber sein, dass Angebot und Nachfrage erst bei einem negativen Zins zur Deckung kommen. Wenn nun selbst bei einem Zins von null das Gesamtangebot der Volkswirtschaft über der Gesamtnachfrage liegt, dann kann die Zentralbank noch so viel Geld anbieten, das Gleichgewicht der Wirtschaft kann sie nicht herstellen. Denn statt zu investieren, halten die Bürger Bargeld, weil andere, weniger liquide Anlagen auch keine höhere Rendite bieten als die Nullrendite des Bargeldes. Dies bezeichnete Keynes als eine Situation des „Liquidity Trap“, auf Deutsch „Liquiditätsfalle“. Das Perfide an dieser Falle: Es kommt zu Massenarbeitslo- sigkeit. In genau solch einer Situation steckten Keynes zufolge viele Länder in der Weltwirtschaftkrise. Und genau solch eine Situation erkannten viele seiner Anhänger auch seit der Finanzkrise im Jahr 2008. 92 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Dass das plausibel ist, begründet Keynes anhand einer psychologischen Theorie des Investitionsverhaltens, bei der die Unsicherheit und Stimmungen eine große Rolle spielen. Daraus leitet er ab, dass eine für Vollbeschäftigung ausreichende private In- vestitionstätigkeit nur erreicht wird, wenn die „Animal Spirits“ der Menschen nicht all- zu düster sind: Der Staat solle in die Bresche springen und die Gesamtnachfrage stärken - durch schuldenfinanzierte Staatsausgaben. Dieser Gedanke führte nach dem 2. Weltkrieg zum Konzept der staatlichen Globalsteuerung, das sich auf der gan- zen Welt verbreitete. In den siebziger Jahren des 20. Jhds kam es allerdings zur Ab- kehr von dieser Idee. Die Praxis zeigte, dass die Globalsteuerung politisch immer dann versagte, wenn es darum ging, die staatliche Nachfrage zurückzufahren, also dann, wenn der Staat sparen sollte. Angeführt von Milton Friedman, Friedrich August von Hayek und Herbert Giersch kam es zu einer antikeynesianischen Wende. 93 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Die Österreichischen Schule Der Begriff „Schule“ bezeichnet in diesem Zusammenhang drei Dinge: Erstens eine Denktradition, in der Lehrer an Schüler Wissen, Methoden, Fertigkeiten und Prinzipi- en weitergeben. Zweitens einen Ort, an dem gelehrt und gelernt wird. Drittens eine Grundeinstellung: Die Freiheit, Bereitschaft und Fähigkeit zur unabhängigen Erkennt- nissuche.22 Im Kern war die österreichische Schule eine mittel- und osteuropäische in Fortset- zung der schottisch-englisch-amerikanischen Aufklärung. Diese Tradition hob sich von der sonstigen kontinentalen Aufklärung durch nüchternen Realismus, intellektuel- le Bescheidenheit und antitotalitäre Tendenz ab. Auch viele andere Europäer gehör- ten dieser Strömung an. 22 Taghizadegan: 14. 94 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Der Gegensatz zur intellektuellen Bescheidenheit ist der übertriebene Rationalismus, der die kontinentale von der „Anglo-Austrian“ Aufklärung unterscheidet. 23 Die schotti- sche (David Hume ) und die österreichische Aufklärung betrachteten Institutionen eher als Resultate menschlichen Handelns denn als Ergebnisse menschlichen Pla- nens. Darum wird mehr Augenmerk auf das Verstehen diesen Handelns gelegt denn auf politische Gebote, Utopien, Absichtserklärungen und Polemiken. 24 Werte, so lautet das wichtigste Prinzip der österreichischen Schule, stecken nicht ob- jektiv in den Gü ern, sondern subjektiv in den Köpfen der Menschen, die Güter und Dienstleistungen für sich bewerten. 23 Während die kontinentaleuropäische Aufklärung sich vor allem als Widerstand gegen die bestehenden absolutistischen Institutionen verstand, respektierte die anglo-schottische Aufklärung die überlieferten Institutionen, was zu einem Nebeneinander der Akzentuierung der individuellen bei gleichzeitiger Respektierung tradierter Verhaltensregeln und Institutionen führte. 24 Taghizadegan: 15. 95 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Das ist der Ausgangspunkt allen Wirtschaftens, das überhaupt nur deshalb in Gang kommt, weil den Menschen unterschiedliche Dinge eben unterschiedlich viel bedeu- ten. Handel heißt die Lösung für unterschiedliche Wertschätzungen (ich verkaufe dem Partner, was ihm wertvoll ist, und kriege, was mir viel bedeutet): Was die Güter wert sind, spiegelt sich im Preis. Preise sind somit nicht Ausdruck der Herstellungkos- ten (oder geronnener Arbeit), sondern Quantifizierung der subjektiven Wertschätzung. In Deutschland (und Europa) ist die österreichische Schule relativ unbekannt. In Amerika ist das anders: Entsprechend umfangreich ist die Literatur, für deren Verbrei- tung auch die entsprechenden Schulzentren sorgen. Sich kurz zu fassen, war freilich keine Stärke der Österreicher. Viele Adepten tun es darin den Lehrern gleich. Stets ist zu beachten, dass die Österreicher untereinander oft in nachhaltiger Feindschaft (Neid, Missgunst und Bewunderung) verbunden waren. 96 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Amerikas "Tea Party"-Bewegung besitzt eine wichtige geistige Wurzel im Wiener Kaf- feehaus. Die meisten der wütenden Bürger, die mit der "Tea Party" gegen zu viel Staatseinfluss kämpfen, wissen das wohl gar nicht. Ihre Vordenker, vor allem der li- bertäre Abgeordnete Ron Paul und sein Sohn Rand, der in den Senat gewählt wurde, sind aber bekennende "Österreicher" in dem Sinne, dass sie ihre radikal-marktwirt- schaftlichen Positionen auf die großen Ökonomen Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek zurückführen. Ein überraschend großes wissenschaftliches Inter- esse an der Österreichischen Schule der Ökonomik gibt es in Japan. Die Hitotsuba- shi-Universität in Tokio hatte schon 1922 die rund 20 000 Bände umfassende Biblio- thek von Carl Menger, dem Gründervater der Schule, gekauft und seither aufbewahrt. 97 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Der Ökonom Carl Menger (1840–1921) hatte erkannt, dass die Kunden die Preise festlegen. Entscheidend ist die subjektive Wertschätzung. Seine Habilitationsschrift sorgte für einen Paradigmenwechsel. Am 30. Januar 1889 wurden Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn und Baroness Mary Vetsera auf Schloss Mayerling tot aufge- funden. Suizid? Mord? Der Fall ist bis heute nicht geklärt. Es war ein schwerer Schlag für die Donaumonarchie; die Aussicht auf einen hochgebildeten, aufgeklärten Regen- ten war verloren. Zu Rudolfs Lehrern hatte auch Carl Menger gezählt. Wie die Mit- schriften des Prinzen erkennen lassen, hatte Menger ihm eine klassische ökonomi- sche Bildung vermittelt und dazu ein liberales Staatsverständnis. So findet sich in Ru- dolfs Notizen der weise Lehrsatz, nur „anormale Fälle... gestatten das Eingreifen des Staates, in den normalen Situationen des volkswirtschaftlichen Lebens werden wir so ein Verfahren stets für schädlich erklären müssen“. 98 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Menger habilitierte 1872; 1873 hatte man ihn zum Ministerialsekretär im Ministerrats- präsidium und zum Professor an der Universität Wien berufen. Der Titel von Mengers Habilitationsschrift verheißt zwar gepflegte Langeweile: „Grundsätze der Volkswirt- schaftslehre“. Doch das Buch hatte die Kraft, einen Paradigmenwechsel in der Öko- nomie anzustoßen. Ideengeschichtler sprechen von der „marginalistischen Revoluti- on“, die den Übergang von der Klassik zur Neoklassik markierte. Die Methode des „Marginalismus“ bedeutet, dass man beispielsweise nicht den Gesamtnutzen in den Blick nimmt, den ein Konsumgut dem Verbraucher bereitet, und auch nicht den durch- schnittlichen Nutzen einer Einheit davon, sondern nur den Nutzen der letzten zusätzli- chen („marginalen“) Einheit, den „Grenznutzen“. Menger gelang es mit dieser Be- trachtungsweise unter anderem, das werttheoretische Rätsel zu lösen,an dem sich vor ihm Generationen von Ökonomen die Zähne ausgebissen hatten. 99 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Auch Adam Smith mit dem „Wasser-und-Diamanten-Paradoxon“. Wie kann es sein, dass Wasser zwar großen Nutzen stiftet (ohne Wasser verdurstet man), aber nur einen niedrigen Preis erzielt? Dass sein Gebrauchswert also hoch ist, sein Tauschwert aber gering? Während Diamanten allenfalls das Auge erfreuen, aber an- sonsten bekanntlich vollkommen unnütz und trotzdem sündhaft teuer sind? In Men- gers Augen war die Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert irrele- vant. Er erkannte, dass der Wert – wie auch die sich danach richtende Zahlungsbe- reitschaft – eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Der Wert wird bestimmt von der Knappheit des Gutes und vom (Grenz-)Nutzen dieses Gutes in jener Verwen- dung, die der jeweilige Nachfrager unter den Gütern, die er sich leisten kann, als am wenigsten dringlich empfindet. 100 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Noch revolutionärer als die Einführung der Marginalbetrachtung an sich war Mengers konsequent subjektivistische Perspektive. Spätestens seit Adam Smith hatten Ökono- men nach einem objektiven Wertmaßstab gesucht. Hartnäckig hatte sich der Gedan- ke gehalten, dass sich der Wert eines Gutes und damit auch der angemessene Preis nach den Produktionskosten richtet. Sich ausschließlich auf die Angebotsseite zu fo- kussieren war indes schon zuvor, im 16. Jahrhundert, den Mönchen der Schule von Salamanca irreführend erschienen: Dann hätten die Produzenten ja einen Anreiz, ihr Angebot möglichst unwirtschaftlich zu erstellen, die Konsumenten wären ihnen aus- geliefert. Nach Menger sind es vielmehr die Nachfrager mit ihren jeweiligen Nutzen- bewertungen, die vor dem Hintergrund der Knappheit letztlich über Preis und Wert befinden. Mit dieser Stärkung des Subjektivismus bahnte Menger seinem Fach den Weg in die Moderne. 101 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Joseph Schumpeter: Firmen, die sich im «unablässigen Kampfzustand» befinden, in einem «ewigen Sturm» stehen und «die Wirtschaftsstruktur unaufhörlich von innen heraus revolutio- nieren» und damit einen «Prozess dauernder Veränderung» auslösen: Diese dramati- schen Umschreibungen der Existenz eines Unternehmens stammen von Joseph A. Schumpeter, einem der renommiertesten Ökonomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bekannt war Schumpeter vor allem für seine Bewunderung der Schaffens- und Innovationskraft der Entrepreneure. Er wies allerdings auch darauf hin, dass Neuerungen die Tilgung von Altem zur Folge haben, und kreierte so das pa- radoxe Begriffspaar der «schöpferischen Zerstörung». 114 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Denn nichts verabscheute Eucken so sehr wie die Zusammenballung von wirtschaftli- cher und politischer Macht. Abschreckende Beispiele erkannte Eucken nicht nur im damals real existierenden Sozialismus, sondern auch im deutschen Kaiserreich und im Nationalsozialismus. Kein die Menschen gängelndes politisches und wirtschaftli- ches Regime war das Ziel, sondern eine auf freier Preisbildung beruhende Wettbe- werbsordnung, als deren Garant der Staat zu fungieren hatte. Eucken definierte sie- ben konstituierende Prinzipien seiner Wettbewerbsordnung, auf deren Basis sich auch heute noch eine vernünftige Wirtschaftspolitik aufbauen ließe. Das erste Prinzip, auch als Grundprinzip bezeichnet, ist die Herstellung und Sicherung eines funktions- fähigen Systems freier Preise auf Märkten mit vielen Anbietern und Nachfragern („vollkommene Konkurrenz“). Eucken war ein Gegner wirtschaftlicher Macht auf Märkten mit nur einem Anbieter (Monopol) oder wenigen Anbietern (Oligopol). 146 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Das zweite Prinzip ist die Sicherung des Geldwertes. Hier besaß Eucken allerdings kein Vertrauen in eine unabhängige Zentralbank modernen Typs, weil er fürchtete, die Geldpolitiker könnten schwere Fehler begehen. Stattdessen trat Eucken dafür ein, den Geldwert auf der Basis von Warenpreisen automatisch zu bestimmen. Dieser Ge- danke der sogenannten Warenreservewährung ist in den vergangenen Jahren wieder diskutiert worden, aber er zählt nicht viele Befürworter. Euckens drittes Prinzip ist die Herstellung und Sicherung offener Märkte. Dies zielt nicht nur auf den internationalen Handel ab, den Eucken unter anderem durch „Einfuhrverbote, Prohibitivzölle oder Au- ßenhandelsmonopole“ gefährdet sah. Das vierte Prinzip ist die Gewährleistung des Privateigentums, eine Frage „von emi- nenter wirtschaftspolitischer Bedeutung. 147 ARM UND REICH STRUKTURWANDEL TRADITIONELLER UND MODERNER ÖKONOMIEN – THEMA 4: NEUZEIT TEIL 1 Das nicht nur, weil Kollektiveigentum an den wesentlichen Teilen des Produktionsap- parates ein überaus wirksames Beherrschungsinstrument einer Führerschicht dar- stellt, sondern auch, weil es zwangsläufig mit zentraler Lenkung des Wirtschaftspro- zesses verbunden ist und soziale Probleme auslöst, die nicht zu bewältigen sind“. Euckens fünftes Prinzip, die Vertragsfreiheit, „offensichtlich eine Voraussetzung für das Zustandekommen der Konkurrenz“. Das sechste Prinzip wird seit dem Ausbre- chen der Finanzkrise besonders häufig erwähnt: das Haftungsprinzip. „Wer den Nut- zen hat, muss auch den Schaden tragen“, schrieb Eucken. Das siebte Prinzip beschreibt die Konstanz der Wirtschaftspolitik. Eucken sah in einer kurzfristig agierenden Wirtschaftspolitik eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum, weil verunsicherte Unternehmen Investitionen zurückstellen könnten. 148