VL04_AmnestischesSyndrom PDF
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Universität Kassel
2024
Dr. Sarah Glim
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Lecture notes from a neuropsychology course on the topic of the amnestic syndrome. Includes a variety of information about neuropsychology, memory, and cognitive function.
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Neuropsychologische Störungen und Interventionen 04: Das amnestische Syndrom Dr. Sarah Glim 13.11.2024 Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024...
Neuropsychologische Störungen und Interventionen 04: Das amnestische Syndrom Dr. Sarah Glim 13.11.2024 Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 2 Arten von Gedächtnis Arbeitsgedächtnis: Kurzfristiges Behalten und Bearbeiten von Informationen Beschränkte Kapazität; neue Informationen verdrängen die alten Phonologische Schleife: Prüfung durch Nachsprechen von Ziffern oder Wörtern (Gedächtnisspanne für Ziffern beträgt ~7 Einheiten) Räumlich-visueller Notizblock: Prüfung durch Nachmachen einer räumlichen Sequenz mit der Berührung von Blöcken (~5 Einheiten) Episodischer Puffer: Bezogen auf zusammenhängende Szenen Zentrale Kontrolle: Benötigt z. B., wenn die Ziffernfolge oder die räumliche Sequenz in umgekehrter Reihenfolge wiederholt werden Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 3 Arten von Gedächtnis Langzeitgedächtnis: Dauerhaft gespeicherte Informationen; die Inhalte verschwinden nicht gänzlich, wenn sich das Bewusstsein anderen Inhalten zuwendet Das Fassungsvermögen ist nicht begrenzt Inhalte u. a. sprachlich und nichtsprachlich (z. B. Gerüche, Geräusche, das Aussehen individueller Gesichter); episodisch (Erinnerungen an einzelne Erlebnisse, einmaliger Lernversuch) und semantisch (allgemeines Wissen, viele Lernversuche möglich) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 4 Arten von Gedächtnis Langzeitgedächtnis: Explizites Gedächtnis (episodisch und semantisch): Akt des Abrufens und abgerufene Informationen sind bewusst Expliziter Abruf: Ist langsam und benötigt evtl. zentrale Kontrolle, ist aber flexibel, kann selbstkritisch beurteilt und an die Situation angepasst werden Implizites Gedächtnis: Inhalte wirken sich auf Erleben und Verhalten aus, ohne ins Bewusstsein zu treten Impliziter Abruf: Ist schnell und belastet die zentrale Kontrolle nicht, ist aber an die Situation oder Tätigkeit gebunden, in der die Inhalte erworben wurden Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 5 Arten von Gedächtnis Prospektives Gedächtnis: Gedächtnis für Aufträge und Vorsätze; ermöglicht durch episodisches Gedächtnis und zentrale Kontrolle, die das Gedächtnis nach unerledigten Aufträgen abfragt Relativ unverlässlich (z. B. Milch beim Einkaufen vergessen, Brief nicht eingeworfen) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 6 Prinzipien des expliziten Gedächtnisses Aufnehmen: Techniken, um neue Informationen optimal zu speichern: Verknüpfung mit vorhandenen Gedächtnisinhalten Multimodale Ausschmückung (gleichzeitige Aufnahme in mehreren Sinnesmodalitäten lässt Inhalte deutlicher hervortreten; z. B. bildliche Vorstellung von Wortlisten) Wiederholung semantischer Inhalte; Wiederbelebung vergangener Episoden (Achtung: Verzerrungsgefahr) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 7 Prinzipien des expliziten Gedächtnisses Vergessen: Vergessenskurve verläuft für viele Erinnerungen anfangs steil und flacht dann ab; Erinnerungen, die 5– 10 Jahre überlebt haben, gehen kaum noch verloren Aussortierung von Gedächtnisinhalten notwendig, um Suchpfade des Abrufs nicht durch die Fülle der gespeicherten Informationen zu „verstopfen“ Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 8 Prinzipien des expliziten Gedächtnisses Wiederfinden: Rekonstruktion von episodischen Erinnerungen aus dem allgemeinen Wissen über die Welt und die eigene Person (Einsparung von Gedächtniskapazität, aber evtl. Auffüllung mit falschen Details) Zeitliche Einordnung von Episoden durch inhaltliche Beziehungen und/oder Lebhaftigkeit Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 9 Prinzipien des expliziten Gedächtnisses Wiederfinden: „Encoding Specificity“: Episodische Erinnerungen können am leichtesten abgerufen werden, wenn die Umstände des Abrufs denen des Erwerbs ähneln; weil die Episoden als ganze multimodale Erlebnisse abgespeichert werden, fällt es schwer, darin enthaltene Einzelinformationen isoliert abzurufen Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 10 Das amnestische Syndrom 1 E. T. hat vor 8 Monaten ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Sie lebt zu Hause und wird von ihrer Mutter zur Untersuchung begleitet. Die Untersuchung findet vormittags zwischen 10 und 11 Uhr im Allgemeinen Krankenhaus in Wien statt. Es ist ein sonniger Tag, während der Untersuchung kann die Patientin aus dem Fenster sehen. G. G.: Wissen Sie, wo Sie hier sind? E. T.: Eigentlich müsste ich schon. Wenn E. T.: In Wien … in Wien?... Ich weiß es nicht, nein. Nachmittag ist, müsste ich schon Mittag G. G.: Was für eine Art von Haus ist das? gegessen haben. Aber ich kann mich nicht E. T.: Ein Spital … schaut aus wie ein Spital. erinnern. Also ist es Vormittag … kurz vor G. G.: Von wo kommen Sie denn jetzt? Mittag? E. T.: Von zu Hause. Ich hoffe es jedenfalls. G. G.: Sind Sie satt oder sind Sie hungrig? G. G.: Sie hoffen es? Sind Sie sich nicht sicher? E. T.: Jetzt werde ich hungrig, wenn Sie davon E. T.: Nein, ich bin mir nicht sicher. Es könnte auch sprechen, dann werde ich hungrig. Aber sonst sein, dass ich irgendwo im Spital bin die ganze war ich eigentlich satt. Zeit, und meine Mutter hat mich nur abgeholt. G. G.: Haben Sie schon gefrühstückt heute? G. G.: Frau T., was ist jetzt für eine Tageszeit? E. T.: Ja, das schon. E. T.: Nachmittags, 2 Uhr, 3 Uhr. G. G.: An das können Sie sich erinnern? G. G.: Woraus schließen Sie das? E. T.: Nein, an das kann ich mich nicht erinnern, E. T.: Nach dem Wetter, vielleicht ein bisschen die aber ich frühstücke ja gleich, wenn ich Wolken. aufstehe. Dass es noch in der Früh ist, das G. G.: Haben Sie schon Mittag gegessen? glaube ich nicht. Wodurch zeichnet sich das Syndrom aus? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 11 Das amnestische Syndrom 2 Bei T. M. besteht nach multiplen Embolien im Stromgebiet der beiden hinteren Hirnarterien ein amnestisches Syndrom. Der folgende Dialog findet um 15:30 Uhr statt. G. G.: Haben Sie eine Idee, wie spät es jetzt G. G.: Aber wenn Sie sich jetzt an ein Mittagessen ungefähr sein könnte? erinnern mit Apfelmus – ist das das heutige T. M.: Es scheint die Sonne, es ist ziemlich hellichter Mittagessen oder könnte es auch das gestrige Tag. Ich würde sagen, Mittag, gegen Mittag. sein? G. G.: Vormittag oder Nachmittag? T. M.: Sehen Sie, das weiß ich nicht. Meine zeitliche T. M.: Mhm … hab ich gegessen? Mal überlegen … Einordnung hat eine Macke. ich würde sagen, Vormittag. Ich kann mich nicht erinnern, muss raten. G. G.: Glauben Sie, dass Sie schon Mittag gegessen haben? T. M.: Das glaube ich schon. G. G.: Woraus schließen Sie, dass Sie schon Mittag gegessen haben? T. M.: Ich kann mich an ein Mittagessen erinnern. Ob es heute war oder irgendwann … Ich kann mich an Apfelmus erinnern. Wodurch zeichnet sich das Syndrom aus? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 12 Das amnestische Syndrom 3 N. G. war bis vor einem Jahr in einer Bank tätig. Dann erlitt er als Folge einer Herzrhythmusstörung eine zerebrale Anoxie. Seither besteht ein amnestisches Syndrom. Nunmehr ist er seit 2 Wochen in der Klinik für Neuropsychologie im Klinikum Bogenhausen. Das folgende Gespräch findet am späten Vormittag statt. G. G.: Wissen Sie, wo Sie hier sind? kann. N. G.: In der Klinik, in Bogenhausen. G. G.: Und was war dann? G. G.: Und warum? N. G.: Da war das von der Firma aus dann N. G.: Ich denke, ich habe ein bisschen zu viel gewünscht, dass hier eine Untersuchung durcheinandergebracht. Ich war zu sehr darauf stattfindet, um das ein bisserl einordnen zu aus, die Dinge alle so hinzukriegen, wie ich sie können. mir vorgestellt habe, und da habe ich mir G. G.: Hatten Sie nicht auch eine Erkrankung? falsche Programme oder was aufgegeben, die N. G.: Das weiß ich jetzt nicht. einfach nicht zusammengepasst haben. G. G.: Hier steht, dass Sie im Jahre 2005 eine G. G.: Und wie hat das dazu geführt, dass Sie hier in Herzrhythmusstörung hatten. die Klinik gekommen sind? N. G.: Ja, genau. Da kommt‘s wieder. Jetzt weiß ich‘s N. G.: Weil, der Druck ist immer größer geworden genau: Da war was mit dem Herz, das nicht und das, was ich mir aufgebaut habe, hat mich gepasst hat. immer belastet, und dem Druck wollte ich G. G.: Haben Sie seither wieder gearbeitet? standhalten, und da kamen Punkte, wo ich N. G.: Nein. einfach nicht mehr wusste, wie ich das erfüllen G. G.: Was haben Sie denn heute schon gemacht? Wodurch zeichnet sich das Syndrom aus? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 13 Das amnestische Syndrom 3 - Fortsetzung - N. G.: Gefrühstückt. Und dann geschaut, was in Post, die hierher geschickt wird, schon mal meinem Postfach ist. bearbeite. G. G.: In welchem Postfach? G. G.: Aber Sie arbeiten doch seit dem N. G.: Ich hab bei mir so ein Postfach. Wenn Post Herzzwischenfall nicht mehr. kommt, dann tun die das da zurücklegen und N. G.: Ja, für die Bank, die mich betreut, die hat mich geben mir das dann. ja aufgenommen. Für die tu ich dann schon G. G.: Wo? In der Bank? unterstützend tätig sein. N. G.: Im Krankenhaus hier. G. G.: Im Krankenhaus haben Sie ein eigenes Postfach? N. G.: Ja, ich hab halt gesagt, die sollen mir die Post sortieren, damit ich dann was tun kann. Weil wenn Post kommt, legen sie die sonst irgendwo hin, dann schicken sie sie wieder zurück, und da passiert der Post nix. Drum haben wir das organisiert, dass ich wichtige Wodurch zeichnet sich das Syndrom aus? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 14 Das amnestische Syndrom Leitsymptom: Anterograde Störung des expliziten Gedächtnisses Unfähigkeit, neue Inhalte dauerhaft in das explizite Gedächtnis aufzunehmen; fehlende Chronik der laufenden Ereignisse, in die Erleben eingeordnet wird Arbeitsgedächtnis, zentrale Kontrolle sowie konsolidierte Inhalte des semantischen und episodischen Gedächtnisses sind erhalten; Informationen können bearbeitet und interpretiert werden, werden aber nicht behalten Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 15 Das amnestische Syndrom 4 Bei H. P. besteht nach einer Herpes-simplex-Enzephalitis ein schweres amnestisches Syndrom. Er kopierte dreimal hintereinander dieselbe Figur und versuchte unmittelbar nach jeder Kopie eine Wiedergabe aus dem Gedächtnis. Wie würden Sie die Leistung beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 16 Das amnestische Syndrom Implizites Lernen ist erhalten Motorische und visuomotorische Fertigkeiten (z. B. Spiegelzeichnen), perzeptive Fertigkeiten (z. B. Lesen von Spiegelschrift, Erkennen fragmentierter Bilder), emotionale Reaktionen und Vorlieben (z. B. Sympathie gegenüber Therapeut:in) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 17 Das amnestische Syndrom 5 M. P. hat eine Enzephalitis unbekannter Ätiologie durchgemacht und hat eine schwere anterograde Gedächtnisstörung. In vier Sitzungen wurde sie jeweils aufgefordert, dieselbe komplexe Figur zu kopieren und sie unmittelbar danach sowie eine halbe Stunde später aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Wie würden Sie die Leistung beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 18 Das amnestische Syndrom Langsames Lernen durch Wiederholen u. U. möglich Im Alltag dem semantischen Gedächtnis vorbehalten Einzelne Patient:innen kannten die Bedeutung von Wörtern, die erst nach ihrer Erkrankung in den Sprachgebrauch gekommen waren (z. B. „Internet“) Andere Patient:innen litten seit früher Kindheit an einem amnestischen Syndrom und konnten trotzdem eine komplette Schulbildung erwerben Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 19 Das amnestische Syndrom 6 T. M. soll eine kurze Geschichte nacherzählen. G. G.: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, und wenn Nach einer halben Stunde: ich fertig bin, sollen Sie sie mir möglichst G. G.: Die Geschichte war von einer Frau. genau nacherzählen: „Maria Novak aus einem T. M.: Eine Frau ging in einen Laden, um ein Brot zu Linzer Vorort, die als Putzfrau in einem kaufen. Aus der Geschichte geht nicht hervor, Geschäftshaus arbeitet, meldete auf der ob sie allein steht, verheiratet ist oder Kinder Polizeiwache, dass man sie vergangene Nacht hat … Ich weiß nicht mehr, ich müsste raten. angegriffen und ihr 1.000 Schilling gestohlen G. G.: Ist ihr da irgendwas passiert? habe. Das Geld war für ihre vier kleinen Kinder T. M.: Sie wurde überfallen. Die Geldtasche wurde bestimmt, die seit zwei Tagen nichts zu essen ihr geraubt. Wahrscheinlich wurde sie blutig hatten. Die Polizisten, denen die Frau leidtat, geschlagen von dem Angreifer. sammelten eine Spende für sie.“ G. G.: Was hat sie dann gemacht? T. M.: Maria Novak, die als Putzfrau in einem T. M.: Nach der Polizei geschrien. Geschäft arbeitete, meldete bei der Polizei, G. G.: Geschrien? dass sie überfallen und angegriffen wurde. Es T. M.: Geschrien und die Polizei um Hilfe gerufen. wurde Geld gestohlen. Ist noch was da? Sie Und die Polizei wird gekommen sein, hat hat Kinder, und das Geld war für die Kinder wahrscheinlich den Verbrecher erwischt, ich bestimmt. Aber mehr weiß ich nicht. weiß nicht mehr, ich müsste raten. Wie würden Sie die Leistung beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 20 Das amnestische Syndrom 7 C. M. hat vor einem halben Jahr ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten und soll unmittelbar nach Präsentation die Geschichte von der beraubten Putzfrau nacherzählen. G. G.: „Klara Kempf aus einem Berliner Vorort, die Typen nicht mehr, wie sie heißen. Pfeffer? Nee, als Putzfrau in einem Geschäftshaus arbeitet, Pfeffer ist ziemlich unwahrscheinlich. Ich wollte meldete auf der Polizeiwache, dass man sie zuerst mal Pfeffer sagen – mhm. Und von der vergangene Nacht angegriffen und ihr 100 Frau sind vier Kinder krank geworden, die seit Euro gestohlen habe. Das Geld war für ihre zwei Tagen nichts mehr bekommen haben, vier kleinen Kinder bestimmt, die seit zwei nichts mehr zum Futtern. In dem Falle ist Tagen nichts zu essen hatten. Die Polizisten, wahrscheinlich, dass sie von der Polizei Geld denen die Frau leidtat, sammelten eine bekommen hat, die Frau. Spende für sie.“ G. G.: Obwohl sie doch selber, haben Sie gesagt, C. M.: Hundert Euro mindestens hat sie versucht zu gestohlen hat? stehlen oder hat sie geklaut. Die Polizei hat sie C. M.: Ja, aber sie hat dagegen gesprochen, das Geld, erwischt. glaube ich, zurückgegeben und bekommt‘s G. G.: Wirklich? dann von der Polizei. Oder sie hat versucht zu C. M.: Sie hat‘s von einer anderen Person geklaut, klauen, hat‘s aber nicht geschafft. Ist trotzdem von einem Typen. auf die Polizei gegangen und hat den Leuten G. G.: War sonst noch etwas? das erzählt, und die haben sich gefreut und C. M.: Zwei Typen – ich weiß jetzt von den zwei haben gesagt: „Okay, Sie kriegen Ihr Geld.“ Wie würden Sie die Leistung beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 21 Das amnestische Syndrom 7 - Fortsetzung - Nach einer halben Stunde: Anfang die Frau halt gepackt und gesagt: „Hör C. M.: Es war eine Frau, die eingesperrt wurde. Ihr auf, böse Frau“, so ungefähr. Kind wurde auch mit festgenommen … Nee, G. G.: Und hat dann irgendjemand Mitleid gehabt? Quatsch. Sie hat vier Kinder, davon haben alle C. M.: Ja, die Polizei. vier die letzten zwei Tage nichts zu essen und G. G.: Mit wem? zu trinken bekommen. Die vorher war ein C. M.: Mit der Frau und den Kindern. eigener Typ, der einen anderen Typen geholt G. G.: Ach so. hat. Die Frau hat einen der beiden Typen C. M.: Und die hat dann noch gesagt: „Jetzt bin ich erschlagen, eine draufgehauen. eingesperrt.“ Sie wird nicht eingesperrt, hat G. G.: Ach so? aber das Geld von der Polizei mitgenommen C. M.: Einhundert Euro abgenommen. für die Kinder, um was zu essen für die Kinder G. G.: Irgendwas war mit den einhundert Euro. Wer zu schaffen – weil die Kinder in den letzten hat die wem abgenommen? zwei Tagen nichts zu essen hatten. C. M.: Die Frau und deren vier Kinder einem der zwei Typen von Anfang an. G. G.: Und was hat die Polizei getan? C. M.: Die hat die Frau eingesperrt. Ja, also hat am Wie würden Sie die Leistung beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 22 Das amnestische Syndrom Die Amnesie muss nicht absolut sein Die rasche Aufnahme von Inhalten ist u. U. reduziert, aber nicht völlig verschwunden; die bleibenden Erinnerungen sind unvollständig, ungenau und ungeordnet Das geschwächte explizite Gedächtnis unterscheidet sich qualitativ nicht von einem normalen Gedächtnis (z. B. Rekonstruktion von vollständigen Episoden aus allgemeinem Wissen, „Encoding Specificity“) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 23 Das amnestische Syndrom Die Amnesie muss nicht absolut sein Freie Wiedergabe vs. Wiedererkennen: Bei manchen Patient:innen ist Wiedererkennen durch ein Vertrautheitsgefühl möglich Patient:innen können z. B. ihr Zimmer im Krankenhaus finden Verbale Störung (z. B. Schwierigkeiten beim Merken von Namen, Auskünften und Aufträgen) vs. visuospatiale Störung (z. B. Schwierigkeiten beim Wiedererkennen von Gesichtern und Räumen) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 24 Das amnestische Syndrom 8 Gezeigt sind jeweils Kopie, unmittelbare und verzögerte Gedächtniswiedergabe einer komplexen Figur durch drei amnestische Patient:innen. Wie würden Sie die Leistungen beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 25 Das amnestische Syndrom 9 Bei K. W. wurde vor neun Monaten ein gutartiger Hirntumor entfernt. Er ist seit zwei Monaten im Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel. Etwa ein Jahr vor Beginn der jetzigen Erkrankung war er in einem anderen Krankenhaus, dem „Kaiser Franz Joseph Spital“ wegen einer Augenverletzung ambulant versorgt worden. G. G.: Wo sind Sie denn hier? K. W.: Warten‘s einmal, lassen‘s mich K. W.: Ich bin da im Ding, in der, wie heißt‘s denn, in zurückerinnern, wie das war … Na, das war der Brünnerstraße, na, fallt mir jetzt nicht ein, ganz belanglos. Der Chef hat wo gestemmt, der Name von der Anstalt. Wir sagen halt und dass ihm nicht in den Haaren so dreckig allerweil Steinhof dazu, aber das ist noch zu ist, sagt er: „Gib mir dein Kapperl!“ Ich schupf weit herinnen. ihm mein Kapperl rauf, und das ist irgendwie in G. G.: Sie meinen, es ist ein psychiatrisches die Äste hinein und ist wieder runtergefallen Krankenhaus? und hat mich da gestreift (zeigt auf ein Auge). K. W.: Ja. Und ich sag: „Na servus, das ist auch nicht G. G.: Nein, psychiatrisch nicht, es ist eine gerade das Gesündeste fürs Auge.“ Und denk Neurologie. mir nichts mehr dabei, und nach ein paar K. W.: Na ja, irgendwo … wissen‘s eh, wie das ist in Tagen … Es hat zwar immer am Abend der Geschichte. geronnen, so leicht, … und das ist aber immer G. G.: Was ist in der Geschichte? stärker geworden, bis ich dann gesagt habe: K. W.: Na ja, dass es heißt, raus nach Steinhof. „Na, pass auf, jetzt geh ich zum Doktor und G. G.: Was ist Ihnen denn passiert, Herr W.? schau einmal, was los ist.“ Na, und dann … Wie würden Sie das Gespräch beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 26 Das amnestische Syndrom 9 - Fortsetzung - nahm das Ding seinen Lauf. das? Na, da drüben das Spital, da unterhalb G. G.: Aber hören Sie, Herr W., wenn einem das (zeigt zum Fenster) … Wie heißt denn das? Auge tränt, kommt man doch nicht auf den G. G.: Gibt‘s da unten ein Spital? Steinhof! K. W.: Ja freilich. K. W.: Ja, ich weiß ja nicht, ich habe mich ja nicht G. G.: Meinen Sie den Rosenhügel? eingeliefert. Ich bin ja von einem Facharzt, K. W.: Ja. angeblich von einem Facharzt … G. G.: Waren Sie dort? G. G.: Na, und das kommt Ihnen ganz in Ordnung K. W.: Ja, dort war ich einmal und dann, meistens bin vor? Das akzeptieren Sie einfach, dass Sie ich da, da war ich jetzt schon vier oder fünf wegen einem tränenden Auge zum Doktor Mal. gehen und der bringt Sie am Steinhof? G. G.: Und wie dieses Spital heißt, wissen Sie das? K. W.: Akzeptieren tu ich‘s in keiner Weise, aber ich K. W.: Na, ich kenn‘s nur unter Ding, unter Kaiser bin bis jetzt, seit ich in Behandlung bin mit dem Franz Joseph Spital. Auge, immer im Steinhof oder da gewesen. G. G.: Nein, das ist es nicht, jetzt sind Sie am Also nicht in Steinhof, in … wie heißt‘s denn Rosenhügel. Herr W., wie lange sind Sie denn da draußen, das Spital da … wie heißt denn schon da? Wie würden Sie das Gespräch beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 27 Das amnestische Syndrom 9 - Fortsetzung - K. W.: Mindestens drei Jahre. G. G.: Alles wegen dem Auge? K. W.: Ja. G. G.: Haben Sie einmal eine Kopfoperation gehabt? K. W.: Nicht dass ich wüsste. Da (greift zur Operationsnarbe am Kopf) haben‘s mir angeblich jetzt diese Woche irgendwas gemacht. G. G.: Ja, da ist eine Narbe. K. W.: Aber was sie mir da gemacht haben, weiß ich auch nicht. Wie würden Sie das Gespräch beurteilen? Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 28 Das amnestische Syndrom Häufige Begleitstörung: Störung der zentralen Kontrolle Konfabulationen (falsche, von den Patient:innen jedoch für wahr gehaltene Erzählungen), die unglaubwürdig und/oder unlogisch sind: Vollständige Episoden werden ohne Plausibilitätskontrolle aus einzelnen Erinnerungen rekonstruiert Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 29 Das amnestische Syndrom Häufige Begleitstörung: Störung der zentralen Kontrolle Techniken, um neue Informationen optimal zu speichern, werden nicht angewandt; Informationen werden nur flüchtig bearbeitet Zeitliche Zuordnungen werden nicht auf Plausibilität kontrolliert; Tageszeitschätzungen treffen nicht zu Verhaltensweisen werden ohne äußeren Anlass immer wieder wiederholt (Perseverationen) Aufträge/Vorsätze werden nicht rechtzeitig abgerufen Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 30 Das amnestische Syndrom Gleichgültigkeit oder Angst Manche Patient:innen nehmen den Verlust von Erinnerungen und Orientiertheit mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis (Situation wird nicht begriffen? Begleitende Hirnläsionen? Keine Vorstellung von Zukunft und daher keine Pläne?) Bei anderen Patient:innen erzeugt der Verlust Angst; sie können die Gedächtnisstörung jedoch nur selten als Ursache ihrer Hilflosigkeit identifizieren Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 31 Anatomie des amnestischen Syndroms Patient H. M. Bilaterale mediotemporale Lobektomie zur Behandlung einer schweren Epilepsie: + Deutlicher Rückgang der epileptischen Symptome bei Henry Gustav Molaison größtenteils erhaltenen perzeptuellen, motorischen und intellektuellen Fähigkeiten - Leichte retrograde und schwere anterograde Amnesie mit Störung des expliziten Langzeitgedächtnisses Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 32 Anatomie des amnestischen Syndroms Relevanz des limbischen Systems (insb. Hippocampus) für explizites Gedächtnis (linksseitige Läsion: verbale Gedächtnisstörung; rechtsseitige Läsion: visuospatiale Gedächtnisstörung) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 33 Anatomie des amnestischen Syndroms Anatomie von Begleitstörungen: Läsionen sind selten so lokalisiert, dass sie ausschließlich das limbische System betreffen (zusätzliche Störung der zentralen Kontrolle z. B. durch Ausbreitung auf Frontallappen); Ursachen wie Schädel-Hirn-Traumata oder Aneurysmablutungen führen häufig zu diffusen Hirnschädigungen Gedächtnisstörungen können als Begleitstörung bei Läsionen außerhalb des limbischen Systems auftreten (bei Aphasie z. B. Unterscheidung zwischen den Auswirkungen der sprachlichen Probleme auf die Gedächtnisleistung und einer zusätzlichen verbalen Gedächtnisstörung oft unmöglich) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 34 Alltagsrelevanz des amnestischen Syndroms Erhöhte Gefahr des Verlusts der örtlichen und situativen Orientierung bei Aufenthalt im Krankenhaus, relativ zum vertrauten häuslichen Umfeld Erhöhte Gefahr des Nichtbegreifens der krankheitsbedingten Veränderungen bei Aufenthalt im häuslichen Umfeld Erhöhte Problematik des beeinträchtigten Neuerwerbs von Wissen bei jungen Patient:innen (Schüler:innen, Auszubildenden, Studierenden) Bei Patient:innen mit abgeschlossener Ausbildung hängt die Rückkehr ins Berufsleben von den Anforderungen an das explizite Gedächtnis ab (gleichförmige manuelle Arbeiten ggf. machbar) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 35 Rehabilitation des amnestischen Syndroms Umso erfolgreicher, je mehr Gedächtnis- leistungen erhalten geblieben sind und je geringer die Begleitstörungen sind Abhängig von Ursache und Ausmaß der Läsion kann es zu einer beträchtlichen Besserung der Kernsymptome kommen; Geschwindigkeit und Ausmaß der Rückbildung sind jedoch kaum therapeutisch beeinflussbar Therapieziele: Verbliebene Kapazitäten nutzen, Strategien zur Kompensation entwickeln, Alltagsanforderungen anpassen Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 36 Rehabilitation des amnestischen Syndroms 1. Lernen wichtiger Informationen: Auf erhaltenem impliziten und langsamen Lernen aufbauen Training in verschiedenen Räumen mit verschiedenen Personen Fehlerfreies Lernen durch maximale Hilfe, die langsam reduziert wird 2. Strategien zur Kompensation der Gedächtnisschwäche: Bewusste Anwendung von Gedächtnistechniken (z. B. multimodale Ausschmückung) unter Einsatz der zentralen Kontrolle 3. Substitution der Gedächtnisleistungen durch äußere Hilfsmittel: Einübung einer wirksamen äußeren Gedächtnishilfe (z. B. Notizbuch) Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 37 Rehabilitation des amnestischen Syndroms 4. Lernen über das amnestische Syndrom: Patient:innen vergessen ihre Gedächtnisstörung bzw. die einzelnen Aufgaben und Ereignisse, bei denen ihr Gedächtnis versagte, und haben oft falsche Vorstellungen von den Mechanismen des Gedächtnisses Lernen über Amnesie in Gruppensitzungen: Patient:innen bekommen Rückmeldungen zu ihren Fehlern und können die Schwierigkeiten der anderen Patient:innen beobachten 5. Leben mit Amnesie: Etablierung einer gleichförmig ablaufenden Alltagsroutine und Sicherung von Unterstützung für Angelegenheiten außerhalb der Routine Neuropsychologische Störungen und Interventionen | Vorlesung 04 | 13.11.2024 | Seite 38 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit