Sproul RC: Jeder ist ein Theologe - Kap. 38-45 (PDF)
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This document, part of a larger theological work, explores the concept of soteriology, focusing on the different forms of grace, particularly the distinction between general and special grace. The author examines the implications of both forms in relation to Christian responsibility and the actions of human development.
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TEIL 6 Soteriologie JEDER IST EIN THEOLOGE 227 38 Allgemeine Gnade Auch wenn das Wort Soteriologie in der Kirche nicht häufig verwendet wird, handelt es sich doch um einen wichtigen Begriff, weil es sich auf unsere Erret- tung bezieht....
TEIL 6 Soteriologie JEDER IST EIN THEOLOGE 227 38 Allgemeine Gnade Auch wenn das Wort Soteriologie in der Kirche nicht häufig verwendet wird, handelt es sich doch um einen wichtigen Begriff, weil es sich auf unsere Erret- tung bezieht. Soteriologie kommt von dem griechischen Verb sōzō, das »retten« bedeutet. Die Substantivform sōtēr wird mit »Retter« übersetzt. Die Heilige Schrift spricht auf unterschiedliche Weise von Gottes Heilshandeln. Wir benutzen meist den Begriff »Rettung« oder sprechen von »ge- rettet werden« im Sinne von »für die Ewigkeit von Gott erlöst werden«. Eigent- lich ist das große Unheil, vor dem wir gerettet werden, Gott selbst: Wir werden davor bewahrt, ihm am Tag des Gerichts in seinem Zorn gegenüberzustehen. Gott ist gleichzeitig unser Retter und derjenige, vor dem wir gerettet werden. Das griechische Verb sōzō bezieht sich allerdings auf jeden Akt der Rettung aus einer schlimmen Situation. So wird jemand, der von einer lebens- bedrohlichen Krankheit genesen ist, als gerettet bezeichnet. Jemand, der aus der Kriegsgefangenschaft befreit wird, gilt als gerettet. Dabei ist jede Rettung aus einem Unglück eine Art Erlösung. Das zentrale Anliegen der reformierten Theologen bezüglich der Er- lösung ist das Konzept der Gnade. G. C. Berkhouwer hat einmal festgestellt, dass der elementare Bestandteil der Theologie die Gnade ist. Von Anfang bis Ende kommt das Heil vom Herrn, und wir können es uns weder verdienen noch steht es uns zu. Gott in seiner Liebe und Barmherzigkeit schenkt es uns einfach. WAS IST GNADE? Zunächst einmal müssen wir zwischen Gnade und Gerechtigkeit unterscheiden. Gerechtigkeit ist etwas, das wir uns durch Werke verdienen. Wenn Paulus über die Erlösung schreibt, macht er deutlich, dass sie nicht aus Gnade kommen kann, 228 TEIL 6 wenn sie aus Werken geschieht; da sie aber aus Gnade kommt, geschieht sie nicht durch Werke. So kann man also sagen, dass die Gerechtigkeit mit einem gewissen Verdienst verbunden ist. Im Gegensatz dazu ist die Gnade unverdient, an keine Leistung gebunden und wird uns von Gott aus freien Stücken geschenkt. Er ist nicht dazu verpflichtet, sie zu gewähren. Der Apostel Paulus zitiert, was Gott zu Mose sagte: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich« (Röm 9,15). Gnade ist immer ein göttliches Vorrecht und niemals ein Anspruch. Es ist wichtig, dass wir das verstehen, denn wir neigen dazu zu denken, dass Gott uns etwas schuldet. Wir glauben oft, wenn Gott wirklich gut wäre, würde er uns ein besseres Leben ermöglichen. Wenn wir jedoch der Meinung sind, dass Gott uns etwas schuldet, dann denken wir dabei eher an Gerechtigkeit, denn Gnade wird niemals geschuldet. Gott ist nicht verpflichtet, uns seine Gnade zu gewähren. Die klassische Definition von Gnade ist »unverdiente Gunst«. Wenn Gott sich uns gegenüber wohlwollend verhält, obwohl wir aufgrund unseres Verdienstes keinen Anspruch darauf haben, ist das immer Gnade. ALLGEMEINE GNADE Eine weitere wichtige Unterscheidung ist die zwischen allgemeiner und besonde- rer Gnade. Unter besonderer Gnade versteht man die Erlösung, die Gott den Ge- retteten schenkt, weshalb sie auch »errettende Gnade« genannt wird. Im Gegen- satz dazu wird die allgemeine Gnade »allgemein« genannt, weil sie universell ist und allen Menschen unterschiedslos geschenkt wird. Die allgemeine Gnade ist die Barmherzigkeit und Güte, die Gott dem Menschengeschlecht zukommen lässt. Die Bibel sagt, dass Gott es in seiner Vorsehung über Gerechte und Ungerechte regnen lässt (vgl. Mt 5,45) – ein Beispiel für die allgemeine Gnade. Denken wir an zwei Bauern in derselben Stadt: der eine fromm und gottesfürchtig, der andere zutiefst heidnisch und ungläubig. Beide benötigen den Regen für ihre Ernten, und Gott bewässert die Erde in seiner Güte, sodass beide von den Regengüssen profitieren. Keiner der beiden Bauern verdient den Regen, um eine gute Ernte zu erzielen, aber Gottes Regen fällt auf beide, nicht nur auf den frommen Mann. SOTERIOLOGIE 229 Gottes allgemeine Gnade reicht weit über den Regen hinaus. Auch Menschen, die nicht in Gemeinschaft mit Gott leben, genießen seine Gunst auf vielfältige Weise. Die progressive Entwicklung unseres Lebensstandards – hohe Lebens- qualität, verbesserte Gesundheit und mehr Sicherheit – zeigt die Fortdauer von Gottes Gnade im Laufe der Geschichte. Natürlich hat nicht jeder einen gleich hohen Lebensstandard, und sicherlich ist der durchschnittliche Lebensstandard in der westlichen Welt viel höher als in anderen Teilen der Welt. Dennoch sind Lebenserwartung und Lebensqualität selbst in diesen Gegenden deutlich besser als in den vergangenen Jahrhunderten. Das Leben ist einfacher geworden. Viele schreiben diese Verbesserungen einfach der Wissenschaft oder der Bildung zu, aber wir müssen auch den Einfluss der christlichen Kirche in den letzten zweitausend Jahren berücksichtigen. Christen gründeten Waisenhäuser, Krankenhäuser und Schulen. Sie haben sogar die Entwicklung der Wissenschaft in vielerlei Hinsicht vorangetrieben. Gläubige haben ihre von Gott gegebene Verantwortung, gute Verwalter des Planeten zu sein, ernst genommen. Wenn wir uns den historischen Einfluss der Kirche auf viele verschiedene Bereiche an- sehen, dann wird deutlich, dass die allgemeine Lebensqualität durch den Einfluss des Christentums enorm gestiegen ist – auch wenn manche behaupten, Religion habe der Welt nur geschadet. Wir sind berufen, Gott nachzuahmen, weil wir nach seinem Bilde ge- schaffen sind. Wenn Gott also um das allgemeine Wohl der Menschen besorgt ist, sind auch wir Christen aufgerufen, dieses im Blick zu haben. In der Tat sagt Jesus, dass wir unseren Nächsten und selbst unseren Feind kleiden sollen, wenn er nackt ist. Wenn er hungrig ist, sollen wir ihm zu essen geben; wenn er durstig ist, sollen wir ihm zu trinken geben; wenn er im Gefängnis ist, sollen wir ihn besuchen; wenn er krank ist, sollen wir ihn pflegen (vgl. Mt 25,34–36). Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl. Lk 10,25–37) zeigt, wie wichtig es Jesus ist, dass sich die Kirche nicht nur darum kümmert, dass Menschen mittels Evangelisation in den Genuss der besonderen Gnade kommen, sondern dass sie auch um deren allgemeines Wohl besorgt ist. An anderer Stelle sagt Jakobus, dass echter Glaube sich auch in der Fürsorge für Waisen und Witwen erweist (vgl. Jak 1,27). 230 TEIL 6 Der Liberalismus innerhalb des Christentums im 19. Jahrhundert lehnte die übernatürlichen Aspekte des christlichen Glaubens ab, darunter die Jungfrau- engeburt, die Auferstehung, das Sühnopfer und die Gottheit Christi. Liberale Christen versuchten, sozial zu überleben, indem sie eine neue Agenda für die Kirche aufstellten: humanitäre Einsätze. Sie begannen, die soziale Agenda auf Kosten der Evangelisation zu betonen. Rechtgläubige Christen mussten ihre Anstrengungen im Bereich der Evangelisation verdoppeln, um die Ablehnung des Übernatürlichen durch den liberalen Flügel auszugleichen. Infolgedessen begannen die Evangelikalen, soziale Belange als eine rein liberale Angelegen- heit zu betrachten und sich ausschließlich auf die Erlösung der Menschen zu konzentrieren. Beide Seiten hatten Unrecht. Die Kirche ist nicht nur für die besondere Gnade zuständig, sondern auch für die allgemeine. Als Christen sollen wir uns neben der Evangelisation auch um Arme und Hungrige kümmern und Menschen mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Als die AIDS-Epidemie begann, weigerten sich viele Christen, den Opfern in irgendeiner Form zu helfen, weil sie die Krankheit als Folge der Sün- de – Drogensucht und homosexuelle Handlungen – ansahen. Wenn wir jedoch jemanden krank und sterbend in einem Graben finden, fragen wir ihn nicht, wie er da hineingeraten ist. Die Liebe Christi verpflichtet uns, ihn aus dem Graben zu ziehen und alles uns Mögliche zu tun, um ihm zu helfen – das ist der Sinn des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Niemand ist qualifiziert, den Dienst oder die Barmherzigkeit Gottes zu empfangen. Wenn ein AIDS-Kranker nicht qualifiziert ist, die Barmherzigkeit der Kirche in Anspruch zu nehmen, dann sind wir – ich und du – es auch nicht. Wir alle genießen die Wohltaten der Barmherzigkeit allein aus Gnade, und diejenigen von uns, die eine besondere Gnade erhalten haben, sollten die ersten sein, die Barmherzigkeit zeigen. Wann kann ein Christ Hand in Hand oder Schulter an Schulter mit Ungläubigen, mit konträren oder sogar abgefallenen Religionen zusammenarbeiten? Francis Schaeffer hat einmal gesagt, dass der Christ, wenn es um die allgemeine Gnade geht, mit allen Menschen zusammenarbeiten muss, auch wenn sie keine Christen SOTERIOLOGIE 231 sind. Wenn ich für die Rechte des ungeborenen Lebens demonstriere, werde ich mich neben jeden stellen, der das gleiche Anliegen hat. Das ist nur ein Be- reich, in dem wir auf Menschen zugehen und sie unterstützen sollen. Ich werde jedoch nicht Schulter an Schulter in einem Gottesdienst mit Angehörigen einer satanischen Sekte stehen oder bei einem Gebetsfrühstück mit Muslimen sitzen, weil solche Veranstaltungen in den Bereich der besonderen Gnade fallen. Wir müssen den Unterschied zwischen beiden verstehen. BESONDERE GNADE In Römer 9 sagt Gott: »Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst« (Vers 13). Was bedeutet das für unsere gängige Vorstellung, dass Gott alle Men- schen bedingungslos liebt? Gott liebt nicht jeden bedingungslos. Wir müssen zwischen Gottes Liebe aus Wohlwollen und seiner Liebe aus Selbstgefälligkeit unterscheiden, wobei »aus« definiert, woraus die Liebe erwächst. Die Liebe Gottes aus Wohlwollen hat mit seiner allgemeinen Sorge um das Wohlergehen der Menschen zu tun. In diesem Sinne kann man mit Recht sagen, dass Gott alle Menschen liebt, da er allen gegenüber wohlwollend ist. Gottes Liebe aus Selbstgefälligkeit hingegen ist etwas anderes. Wenn wir heute jemanden als »selbstgefällig« bezeichnen, meinen wir normalerweise, dass er ein- gebildet oder arrogant ist. Theologen verstehen jedoch darunter etwas anderes, wenn sie von Gottes Liebe aus Selbstgefälligkeit sprechen: Sie verbinden damit Selbstzufriedenheit im Sinne von Zufriedenheit oder Freude. Gottes Liebe aus Selbstgefälligkeit hat mit seiner erlösenden Liebe zu tun, die sich vor allem auf seinen geliebten Sohn richtet, aber auch denjenigen gilt, die in Christus sind. Gott hat eine besondere Liebe zu den Erlösten, die er für den Rest der Welt nicht hat. 232 TEIL 6 39 Erwählung und Verwerfung »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus aus- ging, dass alle Welt geschätzt würde« (Lk 2,1). Dieser Satz aus dem Bericht von Lukas über die Geburt Jesu weist auf die Autorität von Cäsar Augustus hin, der einer der mächtigsten Herrscher der antiken Welt war. Wenn jemand wie Cäsar ein Dekret erließ, galt dies für alle, die unter seiner Herrschaft standen. Cäsars Erlass war der Grund dafür, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde. Doch lange bevor Augustus daran dachte, ein Dekret zu erlassen, das Maria und Josef nach Bethlehem führen würde, hatte Gott schon verfügt, dass der Messias dort ge- boren werden würde. Über den Anordnungen von Königen und Kaisern steht immer der Ratschluss des allmächtigen Gottes. Theologen machen sich Gedanken über göttliche Verordnungen, weil sie wissen, dass Gott souverän ist. Seine Souveränität beinhaltet seine Autorität und seine Herrschaft über alles, was er geschaffen hat. Gott regiert das Univer- sum. Wenn er also einen Befehl nach seinem Ratschluss und seinem ewigen Plan erlässt, wird dieser auch umgesetzt. PRÄDESTINATION Die Heilige Schrift offenbart viele Aspekte von Gottes ewigen Beschlüssen. Diejenigen jedoch, welche die meisten Kontroversen ausgelöst haben, betreffen seinen Heilsplan und insbesondere den Ratschluss der Erwählung. In diesem Kapitel werden wir uns mit der komplexen Lehre der Prädestination befassen. Das Wort Prädestination löst mehr theologische Diskussionen aus als irgendein anderer biblischer Begriff. Wenn wir uns auf eine Reise begeben, haben wir ein bestimmtes Ziel, einen Ort, den wir sicher zu erreichen hoffen. Dieser endgültige Bestimmungsort SOTERIOLOGIE 233 wird manchmal auch »Destination« genannt. Wenn die Heilige Schrift diesem Wort die Vorsilbe »Prä-« beifügt, was »im Voraus« oder »zuvor« bedeutet, weist sie darauf hin, dass Gott ein Ziel für sein Volk bestimmt hat. Paulus schrieb: »Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und un- tadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.« EPH 1,3–6 Wenn Paulus in diesem Abschnitt die Begriffe Vorherbestimmung und Erwäh- lung einführt, spricht er davon, dass wir gesegnet sind. Er sah die göttliche Prädestination nicht in einem negativen Licht. Vielmehr machte sie ihn froh und dankbar und ließ ihn Gott preisen. Der Apostel empfand die Lehre von der Prädestination als Segen. Das ist sie in der Tat – ein Segen, der auch in uns ein Gefühl tiefer Dankbarkeit und des Lobes hervorrufen sollte. Wenn reformierte Theologen über die Prädestinationslehre sprechen, gehören dazu auch »die Lehren der Gnade«. Bei der Lehre der Vorherbestimmung werden wir vielleicht mehr als mit jeder anderen Lehre mit den Tiefen und dem Reichtum der Barmherzigkeit und Gnade des allmächtigen Gottes konfrontiert. Verstehen wir die Prädestination aber nicht als Segen, dann werden wir mit ihr ein Problem haben. Johannes Calvin, der oft als Hauptvertreter der Prädestinationslehre angesehen wird, sagte, dass diese Lehre so geheimnisvoll ist, dass sie mit gro- ßer Vorsicht und Demut behandelt werden muss, weil sie leicht verzerrt wer- den kann und damit einen Schatten auf die Integrität Gottes wirft. Wird sie falsch interpretiert, kann sie Gott wie einen Tyrannen erscheinen lassen, der mit seinen Geschöpfen spielt und über ihre Erlösung würfelt. Solche verzerrten 234 TEIL 6 Vorstellungen gibt es viele, und wenn du mit dieser Lehre ein Problem hast, bist du nicht allein.1 Andererseits glaube ich, dass sich das Ringen mit dieser Lehre lohnt, denn je mehr wir uns mit ihr auseinandersetzen, desto mehr erkennen wir die Herrlichkeit Gottes und die Köstlichkeit seiner Gnade und seines Erbarmens. Wenn wir eine biblisch begründete Theologie haben wollen, müssen wir die Prädestination lehren, denn die Bibel – und nicht Augustinus, Luther oder Calvin – hat diese Lehre eingeführt. Es gibt nichts in Calvins Prädestinations- lehre, was nicht zuerst von Luther gesagt wurde, und es gibt nichts in Luthers Prädestinationslehre, was nicht zuvor von Augustinus gelehrt wurde. Und ich denke, dass es nichts in Augustinus’ Prädestinationslehre gibt, was nicht zuerst auch von Paulus gelehrt wurde. Diese Lehre hat ihre Wurzeln nicht bei den Theo- logen der Kirchengeschichte, sondern in der Bibel, die sie ausdrücklich darlegt. In Epheser 1 sagt Paulus, dass wir gesegnet sind »mit allem geistli- chen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein.« Die Prädestina- tion, von der Paulus hier spricht, hat mit Erwählung zu tun. Prädestination und Erwählung sind keine Synonyme, obwohl sie eng miteinander in Verbindung stehen. Prädestination hat mit Gottes Ratschlüssen zu tun. Eine besondere Art der Prädestination ist die Erwählung, bei der es darum geht, dass Gott bestimmte Menschen in Christus erwählt hat, um in die Gottesfamilie aufgenommen zu werden – oder, einfach ausgedrückt: um gerettet zu werden. Aus biblischer Sicht hat Gott einen Heilsplan, in dem er von Ewigkeit her Menschen auserwählt hat, in seine Familie aufgenommen zu werden. Die meisten, die sich mit der Prädestinationslehre und den ewigen Ratschlüssen Gottes befassen, stimmen darin überein, dass die Erwählung zum Heil und in Christus erfolgt, wobei jedoch zwei Fragen kontrovers diskutiert werden. Die erste betrifft das, was Theologen als »Verwerfung« bezeichnen und die negative Seite der göttlichen Beschlüsse darstellt. Wenn Gott verfügt, dass einige Menschen von ihm zum Heil bestimmt werden, bedeutet das dann nicht, dass andere nicht auserwählt sind und daher zu den Nichterwählten oder SOTERIOLOGIE 235 Verworfenen gehören? Hier kommt das Problem der doppelten Prädestination ins Spiel. Die andere kontroverse Frage betrifft die Gründe, anhand derer Gott entscheidet, Menschen zum Heil zu erwählen. VORHERWISSEN Eine weitverbreitete Auffassung der Prädestination besagt, dass Gottes Wahl letztlich auf seinem Vorherwissen darüber beruht, was die Menschen tun oder nicht tun werden. Nach dieser Auffassung hat Gott in der vorweltlichen Ewig- keit in die Korridore der Zeit geblickt und gesehen, wer Christus annehmen und wer ihn ablehnen würde, und aufgrund dieses Vorwissens hat er diejenigen auserwählt, von denen er wusste, dass sie die richtige Wahl treffen würden. Letztlich hat Gott uns also erwählt, weil er bereits wusste, dass wir uns für ihn entscheiden würden. Meiner Meinung nach erklärt dies jedoch nicht die biblische Lehre der Prädestination. Offen gesagt, leugnet es sie eher, denn so wie ich die Heilige Schrift verstehe, sagt sie uns, dass wir uns für Gott entscheiden, weil er uns zuerst erwählt hat. Außerdem lehrt die Bibel, dass die Prädestination allein auf dem Wohlgefallen des Willens Gottes beruht. Paulus sagt im Epheserbrief: »Er hat uns dazu vorherbestimmt, sei- ne Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens zum Lob seiner herrlichen Gnade« (Eph 1,5–6). Hier erfahren wir, warum Gott tut, was er tut – zu seiner eigenen Ehre. Das letztendliche Ziel von Gottes Rat- schlüssen ist die Ehre und Herrlichkeit Gottes, und die Entscheidungen, die er in seinem Heilsplan trifft, beruhen auf dem Wohlgefallen seines Willens. Der typische Einwand an dieser Stelle lautet: »Wenn Gott einen Men- schen dem anderen vorzieht, unabhängig davon, was die Menschen tun, ist er dann nicht launisch und tyrannisch?« Paulus sagt, dass die Wahl aus Gottes Wohl- gefallen kommt; es gibt kein böses Wohlgefallen Gottes. Was immer Gott wählt, beruht auf seiner inneren Gerechtigkeit und Güte. Gott trifft keine schlechte Wahl und tut nichts Böses, weshalb Paulus Gott für seinen Heilsplan lobt. 236 TEIL 6 GOTTES BARMHERZIGKEIT Was Paulus hier in Epheser 1 andeutet, führt er in seinem Brief an die Römer, insbesondere in Römer 8–9, weiter aus: »Aber nicht allein hier ist es so, sondern auch bei Rebekka, die von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger wurde. Ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, da wurde, auf dass Got- tes Vorsatz der Erwählung bestehen bliebe – nicht aus Werken, sondern durch den, der beruft –, zu ihr gesagt: ›Der Ältere wird dem Jüngeren dienen‹, wie geschrieben steht: ›Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.‹« RÖM 9,10–13 Paulus sagt hier, dass Gott beschlossen hat, Jakob zu erlösen, nicht aber Esau. Beide waren Kinder derselben Familie, sogar Zwillinge. Noch bevor sie geboren wurden und Gutes oder Böses getan hatten, erklärte Gott, dass er dem einen seine wohlwollende und wohlgefällige Liebe schenken und sie dem anderen vorenthalten würde. Paulus fährt fort: »Was wollen wir hierzu sagen? Ist denn Gott unge- recht?« (Röm 9,14a). Er spricht hier einen kritischen Punkt an. Wenn Menschen erfahren, dass die Prädestination in Gottes souveränem Willen begründet ist, stellen sie oft die Gerechtigkeit Gottes infrage. Paulus nimmt diesen Einwand vorweg, stellt ihn als rhetorische Frage in den Raum und gibt daraufhin die un- missverständliche Antwort: »Das sei ferne!« (Vers 14b). Andere Übersetzungen geben seine Worte mit »Auf keinen Fall!« oder »Niemals!« wieder. Dann erinnert Paulus an die alttestamentliche Lehre: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich« (Vers 15). Er weist da- rauf hin, dass es Gottes souveränes Vorrecht ist, seine Gnade und Barmherzigkeit so zu verteilen, wie er es für richtig hält. Als wir uns in einem früheren Kapitel mit der Gerechtigkeit Got- tes befasst haben, stellten wir fest, dass alles, was nicht in die Kategorie der SOTERIOLOGIE 237 Gerechtigkeit fällt, Nicht-Gerechtigkeit ist. Sowohl Ungerechtigkeit als auch Barmherzigkeit gehören nicht in die Kategorie der Gerechtigkeit, wobei Un- gerechtigkeit im Gegensatz zur Barmherzigkeit böse ist. Als Gott sich die ver- dorbenen, gefallenen Menschen ansah, die in Rebellion gegen ihn lebten, ver- fügte er, dass er einigen Barmherzigkeit und anderen Gerechtigkeit zuteilwerden lassen würde. Esau erhielt Gerechtigkeit und Jakob empfing Gnade – keinem von beiden jedoch widerfuhr Ungerechtigkeit. Gott bestraft niemals unschuldige Menschen, doch er erlöst schuldige Menschen. Er erlöst nicht alle, und er ist auch nicht verpflichtet, alle zu retten. Das Erstaunliche daran ist, dass er einige erlöst. Paulus folgert daraus: »So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen … So erbarmt er sich nun, wessen er will, und verstockt, wen er will« (Röm 9,16.18). Er könnte nicht deutlicher sagen, dass unsere Erwählung nicht auf unserem Laufen, unserem Tun, unserer Wahl oder unserem Willen beruht, sondern letztlich auf dem souveränen Willen Gottes. 238 TEIL 6 40 Wirksame Berufung Wenn wir über Prädestination oder Erwählung und über die Souveränität der göttlichen Gnade nachdenken, müssen wir uns die Frage stellen, was Gott eigent- lich tut, wenn er in das Leben eines Menschen eingreift, um diesen zum Glauben zu bringen. Historisch gesehen sagt die calvinistische oder die augustinische Schule, dass die Erwählung ein rein souveränes Werk Gottes ist, während die arminianische oder semipelagianische Lehre diese als kooperatives Handeln zwischen Mensch und Gott ansieht. Beide Seiten – Calvinisten und Arminianer – glauben, dass die Gnade eine absolute Notwendigkeit für die Erlösung ist. Al- lerdings sind sie sich über das Maß der benötigten Gnade nicht einig. Wenn sich ein Sünder vom geistlichen Tod zum geistlichen Leben hinwendet, wird dieser Schritt durch Monergismus oder durch Synergismus vollzogen? Die Kontroverse zwischen Calvinismus und Arminianismus oder zwischen Augustinismus und Se- mipelagianismus ist in diesen beiden Begriffen und ihrer Bedeutung begründet. MONERGISMUS, NICHT SYNERGISMUS Das Wort »Monergismus« enthält die Vorsilbe mon-, was »einer« bedeutet, wäh- rend das Wort ergon mit »Arbeit« oder »Werk« übersetzt wird. Somit weist der Begriff Monergismus darauf hin, dass nur einer die Arbeit macht. Synergismus enthält die Vorsilbe syn-, was »mit« bedeutet. Synergismus hat also damit zu tun, dass zwei oder mehr Personen zusammenarbeiten. Thomas von Aquin for- mulierte die Frage so: Ist die Gnade der Wiedergeburt eine wirkende oder eine mitwirkende Gnade? Bewirkt der Heilige Geist die Wiedergeburt eines Sünders mit beschränkter Kraft, sodass der Sünder etwas von seiner eigenen Energie oder Kraft hinzufügen muss, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, oder ist die Wiedergeburt ein einseitiges Werk Gottes? Anders gefragt: Verändert Gott allein SOTERIOLOGIE 239 das Herz des Sünders, oder beruht die Herzensveränderung auf der Bereitschaft des Sünders, sich zu verändern? Paulus schreibt: »Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gewandelt seid nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams. Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unsres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Vernunft und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern.« EPH 2,1–3 In diesem Abschnitt erinnert Paulus die Gläubigen in Ephesus an ihren Zustand, als sie ohne Christus waren. Sie waren tot – geistlich tot. Tote Menschen koope- rieren nicht. Im Johannesevangelium lesen wir, dass Lazarus schon vier Tage tot war, bevor Jesus kam. Die einzige Macht im Universum, die diesen Leichnam aus dem Grab holen konnte, war die Macht Gottes. Christus lud Lazarus nicht ein, aus seinem Grab herauszukommen. Er wartete auch nicht darauf, dass Lazarus mit ihm kooperierte. Er rief nur: »Lazarus, komm heraus!«, und allein durch die Kraft dieses Befehls wurde der Tote lebendig (Joh 11,43). Lazarus kooperierte, indem er das Grab verließ, aber er tat nichts dazu, um vom Tod zum Leben zu gelangen. In ähnlicher Weise sagt Paulus im Epheserbrief, dass wir uns in einem Zustand des geistlichen Todes befinden. Wir sind von Natur aus Kinder des Zorns, und laut Jesus kann niemand zu ihm kommen, wenn der Vater ihn nicht zieht (vgl. Joh 6,44). Paulus fährt fort: »Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr gerettet –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit 240 TEIL 6 er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.« EPH 2,4–7 In unserem Fleisch können wir nichts tun. Uns selbst überlassen, würden wir niemals die Dinge Gottes wählen. Während wir uns in diesem Zustand des geist- lichen Todes befinden, nach dem Lauf dieser Welt wandeln und den Begierden unseres Fleisches gehorchen, macht Gott uns lebendig. Nachdem Gott uns leben- dig gemacht hat, strecken wir uns im Glauben aus, aber diesen ersten Schritt tut Gott allein. Er flüstert uns nicht ins Ohr: »Würdest du bitte mit mir zusammen- arbeiten?« Vielmehr greift er ein, um die Gesinnung der Herzen geistlich toter Menschen durch seinen Heiligen Geist zu verändern. Vom ersten Absatz seines Briefes an die Epheser, in dem er die Herr- lichkeit der Prädestination beschreibt, bis dahin, wo er den übergroßen Reichtum der Gnade Gottes in seiner Güte gegen uns in Christus Jesus aufzeigt, preist Paulus die erstaunlichen Wunder der göttlichen Gnade. Dann sagt er es noch einmal: »Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen« (Eph 2,8–10). DIE DOPPELTE PRÄDESTINATION Paulus schreibt, dass wir aus Gnade durch den Glauben gerettet werden, »und das nicht aus euch«. Grammatikalisch bezieht sich »das« auf das vorhergehende Wort »Glaube«. Wir werden durch den Glauben gerechtfertigt, aber selbst unser Glaube ist nicht etwas, das wir erzeugen. Er entspringt nicht unserer gefallenen Natur, sondern ist das Ergebnis der schöpferischen Tätigkeit Gottes. Das meinen reformierte Theologen, wenn sie davon sprechen, dass Gott die Wiedergeburt monergistisch bewirkt. Gott berührt die Herzen der Auserwählten und schenkt ihnen eine neue Gesinnung. Er schafft Glauben in ungläubigen Herzen. SOTERIOLOGIE 241 Die Vorstellung einer Wiedergeburt als monergistisches Werk der Gnade ist den Semipelagianern zuwider, die argumentieren, dass der Heilige Geist nicht einseitig in die Herzen der Menschen eindringt und sie gegen ihren Willen ver- ändert. Der gefallene menschliche Wille ist jedoch immer und überall gegen Gott gerichtet. Daher kann sich nur dann jemand aus freiem Willen für Christus entscheiden, wenn Gott eingreift und ihn dazu bereit macht, indem er die Wie- dergeburt seiner Seele bewirkt. Er erweckt die Menschen aus dem geistlichen Tod und schenkt ihnen geistliches Leben, sodass sie sich nicht nur für Christus entscheiden können, sondern dies auch bereitwillig ohne allen Zwang tun. Der Wiedergeburt liegt die Veränderung des Herzens zugrunde, durch die Unwillige durch Gottes Geist willig gemacht werden. Bei der Wiedergeburt wird denen, die alles Göttliche gehasst haben, eine völlig neue Gesinnung, ein neues Herz geschenkt. Das meinte Jesus, als er sagte: Wenn jemand nicht von Neuem ge- boren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen, geschweige denn hinein- kommen (vgl. Joh 3,1–5). Der grundlegende Unterschied zwischen der reformierten und der nicht reformierten Theologie ist die Reihenfolge, in der das Heil hinsichtlich Glaube und Wiedergeburt vermittelt wird. Die große Mehrheit der bekennenden evangelikalen Christen ist überzeugt, dass der Glaube vor der Wiedergeburt kommt. Viele glauben also, um wiedergeboren zu werden, muss man zuerst glau- ben. Der Wiedergeburt muss die Entscheidung für Christus vorangehen. Wenn das der Fall wäre, hätten wir keinerlei Hoffnung auf Erlösung, denn ein geistlich toter Mensch in Feindschaft zu Gott kann sich nicht für Christus entscheiden. Wir können die Herzen anderer auch nicht durch Evangelisation verändern. Wir können das Evangelium darlegen, es begründen und versuchen, überzeugend zu sein. Doch Gott allein kann das Herz verändern. Da nur er die Macht hat, die Natur einer menschlichen Seele zu verändern, schließe ich daraus, dass die Wiedergeburt dem Glauben vorausgeht. Das ist die Essenz der reformierten Theologie. Der Heilige Geist verändert zuerst die Herzensgesinnung, bevor je- mand zum Glauben kommt. 242 TEIL 6 Heißt das, wenn wir zum Glauben kommen, ist es im Grunde Gott, der in uns glaubt? Nein, wir selbst sind diejenigen, die glauben. Entscheiden wir uns für Christus? Ja, das tun wir, indem wir reagieren. Unser Wille wird so verändert, dass wir das, was wir früher gehasst haben, jetzt lieben und dem Sohn entgegen- laufen. Gott pflanzt das Verlangen nach ihm in unser Herz. Es ist eine Verzerrung der biblischen Sichtweise, zu sagen, dass der natürliche Mensch verzweifelt he- rumläuft und versucht, Gott zu finden, aber Gott lässt einige nicht herein, weil sie nicht auf seiner Liste stehen. Ohne die besondere Gnade Gottes versucht erst gar niemand, zu Christus zu kommen. Beide Seiten vertreten die Meinung, dass die Gnade eine notwendige Bedingung ist. Sie sind sich lediglich uneins über Monergismus oder Synergismus und darüber, ob die Gnade der Wiedergeburt wirksam oder – wie die meisten sie bezeichnen – unwiderstehlich ist. Wer sagt, wir hätten die Macht, sie abzulehnen, verstrickt sich in eine hoffnungslose Theologie, welche die biblische Sicht der radikalen menschlichen Sündhaftigkeit nicht ernst nimmt. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst zu bekehren oder auch nur mit Gott mitzuwirken. Jede Zu- sammenarbeit mit ihm setzt voraus, dass bereits eine Veränderung stattgefunden hat, denn vorher kooperiert niemand mit Gott. Diejenigen, die glauben, dass der Mensch an seiner Wiedergeburt mitwirkt, halten eigentlich an einer Form der Werksgerechtigkeit fest. Wie kann es sonst sein, dass einige durch die »richtige« Antwort das ewige Leben erhalten? Dadurch wird das Evangelium geleugnet. Nein, die Wiedergeburt resultiert nicht aus der Gerechtigkeit des Menschen. DIE GOLDENE KETTE Theologen sprechen von der »goldenen Kette« des Heils: »Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem Ratschluss berufen sind. Denn die er aus- ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die SOTERIOLOGIE 243 er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.« RÖM 8,28–30 Es gibt hier eine Kette, eine Abfolge, die mit Gottes Ausersehen beginnt. Dann folgen Prädestination, Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung. Dies ist eine elliptische Aussage – es wird etwas vorausgesetzt, aber nicht ausgesprochen: das Wort alle. Alle, die Gott ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt. Alle, die er vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen. Alle, die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, und alle, die er gerechtfertigt hat, die hat er auch verherrlicht. Einige weisen darauf hin, dass das Ausersehen oder Vorwissen den anderen Schritten dieser goldenen Kette vorausgeht, weshalb sie daran festhal- ten, dass Gott lediglich vorher weiß, wer errettet wird. Doch die Prädestination muss – unabhängig davon, welche Auffassung man vertritt – mit der Vorkenntnis beginnen, denn Gott kann niemanden vorherbestimmen, den er nicht zuvor erkannte. Daher muss diese Kette mit dem Vorwissen beginnen. Alle, die zuvor erkannt sind, sind vorherbestimmt, und alle, die vorherbestimmt sind, sind be- rufen. Paulus denkt hier nicht an alle Menschen auf der Welt, sondern nur an die Vorherbestimmten, die zuvor erkannt und auch berufen sind. Im Wesentlichen geht es darum, dass jeder Berufene gerechtfertigt ist und auch zum Glauben kommt. Daher meint dieser Text nicht den von Theo- logen sogenannten »äußeren Ruf des Evangeliums«, der an jeden Menschen ergeht. Hier ist der innere und wirksame Ruf gemeint – das Wirken des Heiligen Geistes, wodurch das Herz tatsächlich verändert wird. Der effektive Ruf des Heiligen Geistes bewirkt in unseren Herzen, was Gott von Grundlegung der Welt an zu tun beabsichtigt hat. Alle, die vorherbestimmt sind, werden durch den Heiligen Geist wirksam berufen; alle, die vom Heiligen Geist berufen sind, werden gerechtfertigt; und alle, die gerecht gemacht sind, werden verherrlicht. Wenn wir die arminianischen Kategorien auf diese goldene Kette anwenden 244 TEIL 6 würden, müssten wir sagen, dass einige, die zuvor erkannt sind, vorherbestimmt sind; einige, die vorherbestimmt sind, sind berufen; einige, die berufen sind, sind gerechtfertigt; und einige, die gerechtfertigt sind, sind verherrlicht. In diesem Fall wäre der Text nichtssagend. SOTERIOLOGIE 245 41 Die Rechtfertigung durch Glauben allein Die Lehre von der Rechtfertigung hat in der Geschichte des Christentums für enorme Kontroversen gesorgt. Sie löste die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts aus, als die Reformatoren für den Grundsatz sola fide und damit für die Rechtfertigung durch Glauben allein eintraten. Martin Luther vertrat die Auffassung, dass die Lehre von der Rechtfertigung durch Glauben allein jener Glaubensartikel ist, mit dem die Kirche steht und fällt, und Johannes Calvin stimmte ihm zu. Sie waren von dieser Lehre so überzeugt, weil sie aus der Hei- ligen Schrift ersehen konnten, dass nichts Geringeres als das Evangelium selbst auf dem Spiel steht, wenn über die Rechtfertigung diskutiert wird. Die Rechtfertigungslehre befasst sich mit der tiefsten Not des gefalle- nen Menschen: dass er der Gerechtigkeit Gottes ausgesetzt ist. Gott ist gerecht, aber wir sind es nicht. David betete: »Wenn du, HERR, Sünden anrechnen willst – Herr, wer wird bestehen?« (Ps 130,3). Das ist natürlich eine rhetorische Frage, denn niemand kann diese göttliche Prüfung bestehen. Würde Gott die Messlatte seiner Gerechtigkeit an unser Leben anlegen, gingen wir zugrunde, weil wir nicht gerecht sind. Die meisten denken, dass es ausreicht, wenn wir uns ordent- lich anstrengen, gute Menschen zu sein, um dann vor den Richterstuhl Gottes treten zu können. Der große Mythos, der auch in die Kirche eingedrungen ist, lautet, man könne sich Gottes Gunst verdienen, obwohl die Schrift klar sagt, dass niemand durch Gesetzeswerke gerechtfertigt wird (vgl. Gal 2,16). Wir sind Schuldner, die ihre Schuld nicht begleichen können. Deshalb wird das Evangelium auch »Gute Nachricht« genannt. So schreibt Paulus über das Evangelium: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, 246 TEIL 6 die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ›Der Gerechte wird aus Glauben leben‹« (Röm 1,16–17). Letzten Endes ist die Rechtfertigung ein Rechtsspruch Gottes. Rechtfertigung kann also nur stattfin- den, wenn Gott, der selbst gerecht ist, zum Rechtfertiger wird, indem er einen Menschen als gerecht in seinen Augen erklärt. SIMUL IUSTIS ET PECCATOR In der Debatte des 16. Jahrhunderts ging es darum, ob Gott wartet, bis die Men- schen gerecht werden, bevor er sie für gerecht erklärt, oder ob er sie für gerecht erklärt, während sie noch Sünder sind. Luther stellte eine Formel auf, die bis heute überlebt hat. Er sagte, dass wir simul iustis et peccator sind, was so viel bedeutet wie »gleichzeitig gerecht und Sünder«. Luther meinte damit, dass ein gerechtfertigter Mensch aufgrund des Werks Christi gerecht ist, aber noch nicht vollendet ist und daher immer noch sündigt. Die römisch-katholische Kirche argumentiert, Luthers Lehre sei eine juristische Fiktion. Wie, so fragen die römischen Theologen, kann Gott die Men- schen für gerecht erklären, wenn sie noch sündig sind? Das wäre Gottes un- würdig. Rom vertritt stattdessen die sogenannte »analytische Rechtfertigung«. Die katholische Kirche stimmt zu, dass Rechtfertigung stattfindet, wenn Gott jemanden für gerecht erklärt. Allerdings glaubt sie, dass Gott einen Menschen erst dann für gerecht erklärt, wenn dieser tatsächlich gerecht ist. Die Protestan- ten entgegnen, dass es nichts Fiktives dabei gibt, wenn Gott jemanden gerecht erklärt. Dieser Mensch ist in Gottes Augen aufgrund des realen Werks von Jesus Christus gerecht, was alles andere als fiktiv ist. DIE WERKZEUGLICHE URSACHE Wir sagen, dass die Rechtfertigung allein durch den Glauben erfolgt, und das Wort »durch« in diesem Schlachtruf war Teil der Kontroverse im 16. Jahrhun- dert. Er bezieht sich auf das Mittel, mit dem etwas bewirkt wird. Der Streit ging also um die »werkzeugliche Ursache« der Rechtfertigung. Heute wird der Begriff nur noch selten verwendet. Der Ausdruck geht auf das antike Griechenland SOTERIOLOGIE 247 zurück, als der Philosoph Aristoteles zwischen verschiedenen Ursachenarten unterschied: Stoffursache, Formursache, Wirkursache und Zweckursache. Zur Veranschaulichung verwendete Aristoteles die Schaffung einer Statue durch einen Bildhauer. Der Bildhauer formt seinen Steinblock. Die Stoffursache für die Statue ist die Materie, aus der das Kunstwerk hergestellt wird, der Stein selbst. Die Wirkungsursache (oder werkzeugliche Ursache) ist das Mittel, mit dem der rohe Steinblock in eine prächtige Statue verwandelt wird: Hammer und Meißel. Diese Begriffe wurden in der Debatte des 16. Jahrhunderts verwendet. EINGIESSUNG ODER ZURECHNUNG? Die römisch-katholische Kirche sagt, dass das Sakrament der Taufe die werk- zeugliche Ursache der Rechtfertigung ist. Die Taufe verleihe dem Täufling auf sakramentale Weise die Gnade der Rechtfertigung. Mit anderen Worten: Die Gerechtigkeit Christi wird in die Seele des Täuflings gegossen. Diese Ausgießung der Gnade in die Seele wird »Eingießung« genannt. Die römisch-katholische Kirche glaubt also nicht, dass der Mensch unabhängig von der Gnade oder dem Glauben gerechtfertigt wird, sondern dass die Rechtfertigung das Ergebnis einer Gnadeninfusion ist, durch die menschliche Gerechtigkeit möglich wird. Ferner behaupten Katholiken, dass Menschen mit der eingegossenen Gnade kooperieren müssen, um gerecht zu werden. Sie müssen ihr so weit zu- stimmen, dass sie in einen Zustand der Gerechtigkeit versetzt werden können. Solange der Mensch keine Todsünde begeht, bleibt er gerechtfertigt. Nach rö- misch-katholischer Auffassung ist die Todsünde jedoch schlimm genug, um die rechtfertigende Gnade einer Seele zu töten, sodass diejenigen, die eine Todsünde begehen, die Gnade der Rechtfertigung verlieren. Es ist dann jedoch nicht alles verloren. Ein Sünder kann durch das Sakrament der Buße wieder in den Zu- stand der Gerechtigkeit versetzt werden, den die römisch-katholische Kirche die zweite Säule der Rechtfertigung für diejenigen nennt, die mit ihrem Glauben »Schiffbruch« erlitten haben. Deshalb gehen die Menschen zur Beichte, die Teil des Bußsakraments ist. Wenn jemand seine Sünden beichtet, erhält er die Ab- solution, woraufhin er bestimmte Werke vollbringen muss. Diese Werke sind 248 TEIL 6 Bestandteil des Bußsakraments und machen es Gott möglich, den Sünder in den Zustand der Gnade zurückzuführen. Die römisch-katholische Kirche kennt also zwei werkzeugliche Ursachen für die Rechtfertigung: die Taufe und die Buße. Dagegen vertraten die protestantischen Reformatoren die Auffassung, dass der Glaube die einzige werkzeugliche Ursache der Rechtfertigung ist. Sobald ein Mensch Christus im Glauben ergreift, wird ihm der Verdienst Christi ange- rechnet. Während die römisch-katholische Kirche an der Rechtfertigung durch Eingießung festhält, beharren die Protestanten an der Rechtfertigung durch Zu- rechnung. Die römisch-katholische Kirche sagt, dass Gott einen Menschen nur aufgrund seiner Mitwirkung an der eingegossenen Gnade Christi gerecht erklärt. Für die Protestanten bleibt der Grund der Rechtfertigung ausschließlich die Ge- rechtigkeit Christi – nicht die Gerechtigkeit Christi in uns, sondern die Gerechtig- keit Christi für uns. Es handelt sich um die Gerechtigkeit, die Christus in seinem vollkommenen Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz erlangt hat. Diese Gerechtig- keit ist ein Teil der Grundlage unserer Rechtfertigung und gilt für alle, die ihr Ver- trauen auf Christus setzen. Der andere Teil ist die vollkommene Genugtuung für die Konsequenzen unserer Sünden durch Christus in seinem Opfertod am Kreuz. Das bedeutet, dass wir nicht allein durch den Tod Jesu, sondern auch durch sein Leben gerettet werden. Es findet eine zweifache Transaktion statt, eine doppelte Zurechnung. Als das Lamm Gottes ging Christus ans Kreuz und ertrug den Zorn Gottes, aber nicht für eine Sünde, die Gott in ihm fand. Er hat vielmehr unsere Sünden freiwillig auf sich genommen. Er wurde zum Sünden- träger, als Gott der Vater unsere Sünden auf ihn übertrug und ihm anrechnete. Bei der Zurechnung handelt es sich um eine rechtliche Transaktion. Christus selbst nahm unsere Schuld auf sich, die ihm damit zugerechnet wurde. Die andere Übertragung findet statt, wenn Gott uns die Gerechtigkeit Christi zurechnet. Als Luther also sagte, dass die Rechtfertigung allein durch den Glauben er- folgt, meinte er damit, dass die Rechtfertigung allein durch Christus geschieht – durch das, was er getan hat, um die Forderungen von Gottes Gerechtigkeit zu erfüllen. Zu- rechnung bedeutet die Übertragung der Gerechtigkeit eines anderen. Dabei handelt es sich um die Einpflanzung der Gerechtigkeit, die dem Menschen danach innewohnt. SOTERIOLOGIE 249 Die werkzeuglichen Ursachen der Rechtfertigung sind also nach römisch-ka- tholischer Auffassung die Sakramente der Taufe und der Buße, während dies für die Protestanten der Glaube allein ist. Außerdem sieht Rom die Eingießung der Gerechtigkeit Christi als Grundlage der Rechtfertigung an, während die Protestanten die Zurechnung seiner Gerechtigkeit als Grundlage betrachten. ANALYTISCH ODER SYNTHETISCH? Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die römisch-katholische Sicht der Rechtfertigung analytisch ist, während die reformatorische Sicht synthetisch ist. Eine analytische Aussage ist per Definition wahr, zum Beispiel: »Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann.« Das Prädikat »ist unverheiratet« fügt dem Subjekt des Satzes »ein Junggeselle« keine neuen Informationen hinzu, sodass die Aus- sage per Definition wahr ist. Wenn wir jedoch sagen: »Der Junggeselle ist ein wohlhabender Mann«, dann haben wir etwas über diesen Junggesellen ausgesagt oder behauptet, das nicht im Subjekt enthalten ist, denn nicht alle Junggesellen sind wohlhabend. In diesem Fall handelt es sich um eine synthetische Aussage. Die römisch-katholische Kirche lehrt, dass Gott einen Menschen nur dann für gerecht erklärt, wenn Gott durch seine Analyse herausfindet, dass die- ser Mensch gerecht ist. Die Protestanten hingegen glauben, dass ein Mensch synthetisch gerecht ist, weil ihm die Gerechtigkeit Jesu hinzugefügt wurde. Für die Katholiken muss die Gerechtigkeit also inhärent sein, während für die Protestanten die Gerechtigkeit extra nos ist, »außerhalb von uns«. Genau ge- nommen ist sie nicht unsere eigene Gerechtigkeit. Sie zählt für uns nur, wenn wir uns im Glauben an Christus festhalten. Die wunderbare Gute Nachricht des Evangeliums ist, dass wir nicht warten müssen, bis wir im Fegefeuer von allen restlichen Unreinheiten befreit worden sind. In dem Augenblick, in dem wir unser Vertrauen auf Jesus Christus setzen, gehört uns alles, was er ist und hat, und wir werden sofort in einen Zu- stand der Versöhnung mit Gott versetzt. 250 TEIL 6 42 Rettender Glaube Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die Sakramente der Taufe und der Buße für die römisch-katholische Kirche die werkzeugliche Ursache der Rechtfertigung sind, während für die Protestanten dies allein der Glaube ist. Darüber hinaus lehrt Rom, dass die Rechtfertigung auf die Eingießung der Ge- rechtigkeit Christi gründet, während sie für die Protestanten auf der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi ruht. Viele glauben, dass die Katholiken die Bedeutung des Glaubens herunterspielen, aber das stimmt nicht. Die römisch-katholische Kirche besteht darauf, dass der Glaube für die Rechtfertigung notwendig ist; sie ist jedoch der Ansicht, dass der Glaube allein nicht ausreicht, um einen Men- schen zu rechtfertigen. Es müssen auch Werke vorhanden sein. Der eigentliche Unterschied besteht also darin, dass Rom an Glauben plus Werke und an Gnade plus Verdienst glaubt, während die Reformierten lehren, dass die Rechtfertigung allein durch Glauben und allein durch Gnade erfolgt. Der Glaube ist das Herzstück des Christentums. Das Neue Testament fordert uns immer wieder auf, an den Herrn Jesus Christus zu glauben. Es gibt bestimmte Aussagen, die geglaubt werden müssen und die fester Bestandteil unseres religiösen Handelns sind. Zur Zeit der Reformation ging es um die Frage nach dem Wesen des rettenden Glaubens. Was ist rettender Glaube? Der Gedanke der Rechtfertigung allein aus Glauben lässt viele an einen verkappten Antino- mismus denken, der behauptet, die Menschen können leben, wie sie wollten, solange sie nur das Richtige glauben. Doch Jakobus schrieb in seinem Brief: »Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen? … So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber« (Jak 2,14.17). Luther sagte, dass der rechtfertigende Glaube ein fides viva, ein »lebendiger Glaube« ist, der SOTERIOLOGIE 251 unweigerlich, notwendigerweise und unmittelbar die Frucht der Gerechtigkeit hervorbringt. Die Rechtfertigung geschieht durch Glauben allein, allerdings nicht durch einen Glauben, der allein ist. Ein Glaube, der keine Früchte der Ge- rechtigkeit hervorbringt, ist kein wahrer Glaube. Für die römisch-katholische Kirche ist Glaube plus Werke gleich Recht- fertigung; für die Antinomianer ist Glaube minus Werke gleich Rechtfertigung; für die protestantischen Reformatoren ist Glaube gleich Rechtfertigung plus Werke. Anders ausgedrückt: Werke sind die notwendige Frucht des wahren Glaubens. Werke werden jedoch nicht berücksichtigt, wenn uns Gott in seinen Augen für ge- recht erklärt. Sie begründen nicht Gottes Entscheidung, uns für gerecht zu erklären. WESENTLICHE ELEMENTE DES RETTENDEN GLAUBENS Was sind die entscheidenden Elemente des rettenden Glaubens? Die protestan- tischen Reformatoren erkannten, dass der biblische Glaube drei wesentliche Aspekte hat: notitia, assensus und fiducia. Notitia bezieht sich auf die Kenntnis der Glaubensinhalte. Es gibt bestimmte Dinge, die wir über Christus wissen müssen: dass er der Sohn Gottes ist, dass er unser Erlöser ist, dass er für uns gesühnt hat und so weiter. Assensus ist die zustimmende Überzeugung, dass der Inhalt dieses Glaubens wahr ist. Man kann über den christlichen Glauben Bescheid wissen und ihn dennoch nicht für wahr halten. Wir mögen den einen oder anderen Zweifel mit unserem Glauben vermischen, aber es muss ein gewisses Maß an intellektueller Bestätigung und Überzeugung vorhanden sein, wenn wir gerettet werden wollen. Bevor jemand wirklich auf Jesus Christus vertrauen kann, muss er glauben, dass Christus tatsächlich der Retter ist, dass er der ist, der er zu sein behauptet. Echter Glaube sagt, dass der Inhalt, die notitia, wahr ist. Fiducia bezieht sich auf das persönliche Gottvertrauen. Es reicht nicht aus, den Inhalt des christlichen Glaubens zu kennen und zu glauben, denn das können sogar Dämonen (vgl. Jak 2,19). Der Glaube ist nur dann wirksam, wenn man für seine Errettung auf Christus allein vertraut. Es macht einen Unter- schied, ob ich einer Aussage nur intellektuell zustimme oder ob ich ihr persönlich 252 TEIL 6 vertraue. Wir mögen sagen, dass wir uns an die Rechtfertigung allein aus Glauben halten, und dennoch denken, dass wir durch unsere Leistungen, unsere Werke oder unser Streben in den Himmel kommen. Es ist leicht, die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben in unsere Köpfe zu bekommen, aber es ist schwer, diese Wahrheit so unser Herz erfüllen zu lassen, dass wir uns für die Erlösung an Christus allein klammern. Neben dem Vertrauen gibt es ein weiteres Element der fiducia, die Zuneigung. Ein unbekehrter Mensch wird niemals zu Jesus kommen, weil er ihn nicht will. In seinem Geist und Herzen steht er den Dingen Gottes grundsätzlich feindselig gegenüber. Solange jemand Christus feindlich gesonnen ist, kann er ihm keine Zuneigung entgegenbringen. Satan ist ein typisches Beispiel dafür. Satan kennt die Wahrheit, aber er hasst sie. Er ist völlig abgeneigt, Gott anzu- beten, weil er keine Liebe zu Gott hat. So sind auch wir von Natur aus. Wir sind tot in unserer Sünde. Wir wandeln gemäß den Mächten dieser Welt und frönen den Begierden des Fleisches. Bis der Heilige Geist uns verändert, haben wir ein Herz aus Stein. Ein unerwecktes Herz ist ohne Zuneigung zu Christus; es ist leblos und lieblos. Der Heilige Geist verändert die Gesinnung unseres Herzens, sodass wir die Schönheit Christi erkennen und ihn annehmen. Keiner von uns liebt Christus vollkommen, aber wir können ihn überhaupt nicht lieben, bevor der Heilige Geist nicht unser steinernes Herz in ein fleischernes verwandelt. DIE FRÜCHTE DER BEKEHRUNG Theologen haben traditionell mehrere Elemente erkannt, die den rettenden Glauben begleiten oder ihm folgen. Diese werden als »Früchte der Bekehrung« bezeichnet. Wir werden uns im Folgenden einige ansehen. Buße Wenn jemand durch den Heiligen Geist zum Glauben kommt, erlebt er eine Be- kehrung. Sein Leben wendet sich in eine andere Richtung. Diese Umkehr wird »Buße« genannt und ist eine unmittelbare Frucht des wahren Glaubens. Manche sagen, dass Buße zum echten Glauben dazugehört. Die Bibel unterscheidet jedoch SOTERIOLOGIE 253 zwischen Buße und Glaube. Wir können keine Zuneigung zu Christus haben, solange wir nicht erkennen und anerkennen, dass wir Sünder sind und dass wir sein Werk für uns dringend brauchen. Zur Reue gehört der Hass auf unsere Sünde, der mit der neuen Zuneigung einhergeht, die wir für Gott empfinden. Es beunruhigt mich, wenn Pastoren oder Evangelisten behaupten: »Komm zu Jesus und alle deine Probleme sind gelöst.« Mein Leben wurde näm- lich erst kompliziert, als ich Christ wurde. Davor lebte ich in einer Einbahnstraße. Ich werde jetzt immer noch von weltlichen Dingen versucht, aber Gott hat eine Zuneigung und ein Vertrauen zu Christus in mein Herz eingepflanzt. Mit ande- ren Worten: Wir bereuen und tun Buße, weil wir unsere Sünde hassen. Ja, ein Teil von uns liebt die Sünde immer noch, aber zu einer echten Buße gehört die Traurigkeit darüber, Gott beleidigt zu haben, und der Entschluss, unsere Sünde loszuwerden. Buße bedeutet nicht den totalen Sieg über die Sünde. Wenn ein vollständiger Sieg erforderlich wäre, würde niemand gerettet werden. Buße ist eine Abkehr, eine andere Haltung zur Sünde. Das griechische Wort für Buße, metanoia, bedeutet wörtlich »Sinnesänderung«. Früher haben wir unsere Sünde wegerklärt, aber jetzt erkennen wir, dass Sünde etwas Böses ist. Wir haben eine andere Geisteshaltung dazu. Adoption Wenn Gott uns in Jesus Christus gerecht erklärt, nimmt er uns in seine Familie auf. Sein einziger wahrer Sohn ist Christus, aber Christus wird durch unsere Adoption zu unserem älteren Bruder. Keiner wird in die Familie Gottes hinein- geboren. Von Natur aus sind wir Kinder des Zorns, nicht Kinder Gottes. Daher ist Gott von Natur aus auch nicht unser Vater. Wir können Gott nur dann zum Vater haben, wenn er uns adoptiert, und das kann er nur durch das Werk seines Sohnes. Wenn wir aber Christus glauben und vertrauen, erklärt Gott uns nicht nur für gerecht, sondern nimmt uns auch als seine Söhne und Töchter an. 254 TEIL 6 Frieden Paulus schreibt an die Römer: »Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus« (Röm 5,1). Die erste Frucht der Rechtfertigung ist Frieden mit Gott. Wir waren einst Feinde, aber nun ist der Krieg vorbei. Gott schließt einen Friedensvertrag mit allen, die ihren Glauben auf Christus setzen. Damit treten wir nicht in einen instabilen Waffenstillstand ein, bei dem Gott beim ersten Fehlverhalten mit dem Schwert rasselt. Dieser Friede ist ein unzerbrechlicher, ewiger Friede, weil er durch die vollkommene Gerechtigkeit Christi gewonnen wurde. Zugang zu Gott Paulus schreibt auch: »Durch ihn [Christus] haben wir auch den Zugang im Glau- ben zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung auf die Herrlichkeit, die Gott geben wird« (Röm 5,2). Eine weitere Frucht ist der Zu- gang zu Gott. Seinen Feinden erlaubt Gott keine enge Beziehung zu ihm, aber wenn wir durch Christus mit Gott versöhnt sind, haben wir Zugang zu seiner Gegenwart und freuen uns an seiner Herrlichkeit. SOTERIOLOGIE 255 43 Adoption und Vereinigung mit Christus In seinem ersten Brief macht der Apostel Johannes eine Aussage, die von seinem Erstaunen zeugt: »Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder« (1 Joh 3,1–2). Wir spüren in den Worten des Johannes eine gewisse Ver- wunderung. Die Tatsache, dass wir Kinder Gottes sind, ist etwas, das wir für selbstverständlich halten – im Gegensatz zur apostolischen Kirche. KINDER GOTTES Wir leben in einer Kultur, die stark vom Interesse des 19. Jahrhunderts am Stu- dium der Weltreligionen beeinflusst wurde. Durch die zunehmenden Reisemög- lichkeiten lernten die Menschen damals andere, ihnen bis dahin unbekannte Re- ligionen kennen. Vor allem in Deutschland wuchs ein fieberhaftes Interesse an der Vergleichenden Religionswissenschaft, die als neue akademische Disziplin eingeführt wurde. In dieser Zeit studierten Anthropologen, Soziologen und Theo- logen die Weltreligionen und versuchten, zum Kern jeder einzelnen Religion vorzudringen, um deren Essenz zu destillieren und Gemeinsamkeiten zwischen Hindus, Muslimen, Juden, Christen, Buddhisten und anderen zu entdecken. Zu diesen Gelehrten gehörte Adolf von Harnack, der ein Buch mit dem Titel Das Wesen des Christentums schrieb. Darin versuchte er, das Christen- tum auf den grundlegendsten gemeinsamen Nenner mit anderen Religionen zu bringen. Für ihn besteht das Wesen des christlichen Glaubens aus zwei Prämis- sen: der universellen Vaterschaft Gottes und der universellen Bruderschaft der 256 TEIL 6 Menschen. Harnacks Schlussfolgerung ist problematisch, weil keines der beiden Konzepte in der Bibel gelehrt wird. Gott ist der Schöpfer aller Menschen, aber die Vaterschaft Gottes, wie sie im Neuen Testament beschrieben wird, ist eine radikal neue Vorstellung. Deshalb äußert Johannes seine Verwunderung, wenn er sagt: »Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen.« Ein anderer deutscher Gelehrter, Joachim Jeremias, untersuchte das biblische Konzept der Vaterschaft Gottes. Er stellte fest, dass die Kinder im jüdischen Volk der Antike unterwiesen wurden, wie sie Gott im Gebet richtig ansprechen sollten. Es war auffallend, dass in der langen Liste erlaubter Anreden der Titel »Vater« fehlte. Im Gegensatz dazu sehen wir im Neuen Testament, dass Jesus Gott in fast jedem Gebet direkt mit »Vater« ansprach. Jeremias führte weiter aus, dass der erste schriftliche Nachweis, den es außerhalb der christ- lichen Gemeinschaft über einen Juden gibt, der Gott mit »Vater« anredete, aus dem Italien des 10. Jahrhunderts nach Christus stammt. Dass Jesus Gott mit »Vater« ansprach, war also eine radikale Abweichung von jüdischem Brauch und Tradition. Deshalb reagierten die Pharisäer so empört, weil sie darin einen stillschweigenden Anspruch sahen, Gott zu sein. Heute gilt es nicht mehr als radikal, Gott als »Vater« anzusprechen. Es ist jedoch erstaunlich, dass Jesus seine Jünger im Vaterunser anwies, ihre Gebete an den Vater zu richten (vgl. Mt 6,9). Jesus hat also nicht allein Gott als »Vater« angesprochen, sondern dieses Privileg auch auf seine Jünger ausgedehnt. Die New-Age-Bewegung hat in den letzten Jahren einen derartigen Einfluss auf die Kirche ausgeübt, dass einige Geistliche inzwischen lehren, dass jeder wahre Christ ebenso eine Inkarnation Gottes ist, wie es Jesus war. Damit leugnen sie die Einzigartigkeit Christi in seiner Menschwerdung. Christen, die sich diese Idee zu eigen machen, erkennen zwar die Bedeutung der Gotteskind- schaft, haben sich aber so sehr davon hinreißen lassen, dass sie die Einzigartigkeit der Sohnschaft Christi verdunkeln. Die Sohnschaft Christi ist ein zentrales Thema im Neuen Testament. Dort gibt es drei Stellen, an denen Gott der Vater hörbar vom Himmel aus SOTERIOLOGIE 257 spricht, wobei er dabei zweimal die Sohnschaft Jesu verkündet: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe« (Mt 3,17; vgl. Mt 17,5; Joh 12,28). Deshalb müssen wir darauf achten, die Einzigartigkeit der Sohnschaft Christi zu verteidigen. Tatsächlich wird er der monogenēs, der »einziggezeugte« oder »eingeborene« Sohn des Vaters genannt. Jesus zufolge sind wir von Natur aus nicht Kinder Gottes, sondern Kinder des Teufels. Der Einzige, der für sich in Anspruch nehmen kann, von Natur aus ein Kind Gottes zu sein, ist Jesus selbst. »Es [Jesus, das Licht] war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe ge- macht; und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.« JOH 1,10–13 Das griechische Wort, das in Vers 12 mit »Macht« übersetzt wird, ist ein starkes Wort für »Autorität« oder »Vollmacht«. Dasselbe Wort wurde von den Zeit- genossen Jesu verwendet, als sie sagten: »Er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten« (Mk 1,22). Uns wurde eine außerordentliche Autorität verliehen, indem uns das Recht gegeben wurde, Gott »Vater« zu nennen. Wir lernen hier also, dass die Gotteskindschaft ein Geschenk ist. Sie kann weder verdient noch durch natürliche Geburt empfangen werden. Wie bekommen wir sie? Paulus sagt es uns: »So sind wir nun, liebe Brüder und Schwestern, nicht dem Fleisch schul- dig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knecht- schaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, 258 TEIL 6 lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.« RÖM 8,12–17 ADOPTIONSRECHTE Wir sind Kinder Gottes durch Adoption, die eine Frucht unserer Rechtfertigung ist. Wenn wir mit Gott versöhnt sind, nimmt er uns in seine Familie auf. Die Kirche ist eine Familie mit einem Vater und einem Sohn, während alle anderen Familienmitglieder adoptiert sind. Deshalb nennen wir Christus unseren älteren Bruder. Wir sind zu Erben Gottes und zu Miterben Christi gemacht worden. Der wahre Sohn Gottes stellt uns alles zur Verfügung, was er als Erbe erhalten hat. Er teilt mit seinen Brüdern und Schwestern sein gesamtes Erbe. Das dürfen wir niemals als selbstverständlich ansehen. Jedes Mal, wenn wir das Vaterunser beten, sollten wir in zitternder Ehrfurcht darüber staunen, dass ausgerechnet wir »Kinder Gottes« genannt werden. In Gottes Fa- milie gibt es keine Mitgliedschaft zweiter Klasse. Wir unterscheiden zu Recht zwischen dem natürlichen Sohn Gottes und den adoptierten Kindern Gottes, aber sobald die Adoption stattgefunden hat, besitzen alle den gleichen Status der Familienzugehörigkeit. Gott gibt allen seinen Kindern das vollständige Erbe, das dem natürlichen Sohn gehört. Als adoptierte Söhne und Töchter genießen wir auch die mystische Vereinigung mit Christus. Wenn wir etwas als »mystisch« bezeichnen, meinen wir damit, dass es über das Natürliche hinausgeht und in gewissem Sinne un- aussprechlich ist. Dies wird verständlich, wenn wir uns die beiden griechischen Präpositionen en und eis ansehen, die beide mit »in« übersetzt werden können. Hierbei kommt es auf die semantische Unterscheidung zwischen beiden Wörtern an. Die Präposition en bedeutet »innerhalb von«, während die Präposition eis »hinein in« bedeutet. Wenn das Neue Testament uns auffordert, an den Herrn SOTERIOLOGIE 259 Jesus Christus zu glauben, dann sollen wir nicht nur etwas über ihn glauben, sondern in ihn hinein glauben. Wenn wir uns außerhalb eines Gebäudes befinden, müssen wir durch eine Tür gehen, um hineinzukommen. Sobald wir den Übergang schaffen und die Schwelle von außen nach innen überschreiten, sind wir drinnen. Das Ein- treten ist das eis, und wenn wir drinnen sind, sind wir en. Die Unterscheidung ist wichtig, denn das Neue Testament sagt uns nicht nur, dass wir in Christus hinein glauben sollen, sondern auch, dass alle wahren Gläubigen in Christus sind. Wir sind in Christus, und Christus ist in uns. Es gibt eine geistliche Vereinigung zwischen jedem Gläubigen und Christus selbst. Außerdem gehören wir alle zur mystischen Gemeinschaft der Hei- ligen. Sie ist die Grundlage für die übernatürliche geistliche Gemeinschaft, die jeder Christ mit allen anderen Christen genießt. Sie hat jedoch auch eine einschränkende Wirkung. Wenn du und ich in Christus sind, überwindet die- se gemeinsame Verbindung unsere Beziehungsprobleme. Das ist keine bloße Theorie – dieses Familienband ist sogar stärker als die Verbindung zu unserer biologischen Familie. Das ist die Frucht unserer Adoption. 260 TEIL 6 44 Heiligung Als junger Gläubiger hörte ich häufig die Radiopredigten von Robert J. Lamont. Später, als ich Theologie studierte, hatte ich Gelegenheit, Dr. Lamont zu treffen, und dabei fragte er mich scherzhaft: »Nun, junger Mann, was geht dir durch den teilweise geheiligten Kopf?« Die Gute Nachricht des christlichen Glaubens besteht nicht nur darin, dass wir durch die Gerechtigkeit eines anderen gerechtfertigt werden. Glückli- cherweise müssen wir auch nicht so lange warten, bis wir vollkommen geheiligt sind, bevor wir mit Gott Gemeinschaft haben dürfen. Die Heiligung, so unvoll- kommen sie in diesem Leben sein mag, ist real. Sie kann als Prozess verstanden werden, durch den diejenigen, die für gerecht erklärt werden, geheiligt wer- den. Unser Status vor Gott basiert auf der Gerechtigkeit eines anderen. In dem Moment jedoch, in dem wir gerechtfertigt werden, bewirkt der Heilige Geist eine echte Veränderung in uns, sodass wir immer mehr in Übereinstimmung mit Christus gebracht werden. Die Veränderung unseres Wesens in Richtung Heiligkeit und Gerechtigkeit beginnt sofort. HEILIGUNG IST GARANTIERT Wir haben bereits festgestellt, dass die Rechtfertigung durch Glauben allein ge- schieht, allerdings nicht durch einen Glauben, der allein ist. Mit anderen Worten: Wenn echter Glaube vorhanden ist, verändert sich die Natur des Menschen, was sich in guten Werken zeigt. Die Frucht der Heiligung ist eine notwendige und unvermeidliche Folge der Rechtfertigung. Diese Wahrheit soll eine Warnung an alle diejenigen sein, die es für möglich halten, dass Menschen sich zu Christus bekehren, aber niemals gute Früchte oder Verhaltensänderungen hervorbringen. Das bezeichnet man als die Vorstellung des »fleischlichen Christen«. SOTERIOLOGIE 261 Natürlich sind wir Christen in gewissem Sinne immer fleischlich, denn wir werden in diesem Leben den Einfluss des Fleisches nie ganz überwinden können. Wir haben mit dem Fleisch zu kämpfen, bis wir in die Herrlichkeit eingehen. Wenn ein Mensch jedoch so vollkommen vom Fleisch bestimmt wird, dass er keine Anzeichen einer Veränderung seines Wesens zeigt, dann ist er kein fleischlicher Christ, sondern ein fleischlicher Nichtchrist. Manche Evangelisten sind so eifrig bemüht, die Zahl der durch ihre Verkündigung Bekehrten hochzuhalten, dass sie nur ungern in Betracht ziehen, dass einige auch falsche Glaubensbekenntnisse abgeben. Wenn jemand nur seinen Glauben bekennt, aber keinerlei Frucht davon zeigt, dann war es keine echte Bekehrung. Wir werden nicht durch das Bekennt- nis des Glaubens gerechtfertigt, sondern durch den Besitz des Glaubens. Wo der Glaube echt ist, sehen wir sofort die ersten Früchte dieses Glaubens. Ein bekehrter Mensch kann unmöglich unverändert bleiben. Allein die Gegenwart der neuen Natur – die Gegenwart und Kraft des uns innewohnenden Heiligen Geistes – zeigt, dass wir tatsächlich veränderte und sich verändernde Menschen sind. Gleichzeitig schreitet die Heiligung nicht gleichmäßig von der Be- kehrung bis zum Eingang in die Herrlichkeit voran. In den meisten Fällen gibt es ein stetiges Wachstum im christlichen Leben mit Höhen und Tiefen. Es kann vorkommen, dass ein Christ radikal in eine langwierige Sünde verfällt. Biswei- len können sogar Christen eine so ungeheuerliche Sünde begehen, dass sie sich der Gemeindezucht unterziehen müssen und vielleicht sogar exkommuniziert werden. Manchmal ist diese letzte disziplinarische Maßnahme, die Exkommu- nikation, notwendig, um einen Abtrünnigen zum Glauben zurückzuführen. Wenn wir von der geistlichen Unmündigkeit zur geistlichen Reife übergehen, werden die Höhen und Tiefen in der Regel ausgeglichener. Unsere geistlichen Höhenflüge sind weniger intensiv, aber auch unsere Abstürze in die Tiefe. Wir werden sozusagen stabiler in unserem christlichen Wachstum und unserer Ge- meinschaft mit Gott. 262 TEIL 6 HERVORBRINGEN, WAS GOTT IN MIR WIRKT Es gibt viele Gemeinden, die einen gewissen Perfektionismus lehren. Darunter sind Bewegungen, die einen sofortigen Sprung in der Heiligung durch ein tie- feres geistliches Leben oder eine tiefere Gemeinschaft mit dem Heiligen Geist versprechen. Auch wenn viele Anhänger dieser Bewegungen keinen totalen Per- fektionismus lehren, sprechen sie doch von zwei Arten von Christen: denjenigen, die ein normales Wachstum erleben, und denjenigen, die durch eine tiefere Er- fahrung mit dem Heiligen Geist einen plötzlichen Fortschritt in ihrer Heiligung machen. Ich möchte sicherlich niemanden davon abhalten, einen tieferen Wandel mit dem Heiligen Geist anzustreben – darum sollten wir uns jederzeit bemühen. Die Heilige Schrift lehrt jedoch nirgendwo, dass wir eine sofortige Heilung von Sünde oder ein siegreiches christliches Leben durch eine besondere Dosis Heiligen Geistes erwarten sollten. Thomas von Kempen, der das Buch Nachfolge Christi geschrieben hat – nach wie vor ein christlicher Klassiker über die Heiligung –, sagte, dass ein Christ nur selten in der Lage ist, im Laufe seines Lebens eine einzige schlechte Angewohnheit abzulegen. Es gibt Zeiten, in denen sich jeder Christ fragt: »Wie kann ich Christ sein und trotzdem so mit meinem Fleisch kämpfen?« Wenn wir schon lange mit Gott unterwegs sind, können wir uns trösten, wenn wir auf unser Leben zurückblicken und erkennen, dass Gott uns umgestaltet und uns echte Glaubensfortschritte geschenkt hat. Dennoch braucht es lange Zeit, um geformt und zu geistlicher Reife gebracht zu werden. Wir neigen dazu, sofortige Ergeb- nisse sehen zu wollen. Wir wollen wissen, wie wir in drei einfachen Schritten geheiligt werden können, aber die gibt es nicht. Heiligung ist ein lebenslanger Prozess, der ein enormes Maß an intensiver Arbeit erfordert. Paulus schreibt: »Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam ge- wesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit – schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen« (Phil 2,12–13). Paulus sagt hier, dass wir unsere Selig- keit bzw. unsere Heiligung schaffen und hervorbringen sollen, womit er uns SOTERIOLOGIE 263 auffordert, fleißig nach Gerechtigkeit zu streben. Das ist Arbeit, und deshalb muss ein Christ, der Heiligung und geistliche Reife anstrebt, aktiv sein. Paulus sagt uns hier auch, dass wir dies »mit Furcht und Zittern« tun sollen. Er be- schreibt damit keinen Zustand lähmender Angst, sondern die Gemütsverfassung, mit der wir an unserer Erlösung arbeiten sollen. Man kann sich auf dem Weg der Heiligung nicht einfach entspannt zurücklegen und sich vom Heiligen Geist treiben lassen. Wir sollen vielmehr versuchen, Gott zu gefallen. Die Gute Nachricht ist, dass wir dies tun können, weil Gott in uns am Werk ist, um unser Wollen und Vollbringen zu schaffen, wie Paulus es ausdrückt. In diesem Bereich gibt es einen echten Synergismus, eine Zusammenarbeit. Die Heiligung ist ein kooperativer Prozess, in dem Gott wirkt und wir auch. Eine der Hauptaufgaben des Heiligen Geistes ist die Anwendung unserer Erlösung: Er bringt die Frucht unserer Rechtfertigung in unserer Seele hervor. Er wirkt in uns, um unser Wesen zu verändern, und wir arbeiten mit ihm zusammen. HÄRETISCHE ANSICHTEN ÜBER DIE HEILIGUNG Damit kommen wir zum Schreckgespenst von schlimmen Irrlehren, die die Kirche im Laufe ihrer Geschichte bedroht haben. Zur ersten Gruppe von Irr- lehren gehören der Aktivismus und der Quietismus. Aktivismus ist die Irrlehre der Selbstgerechtigkeit, bei der Menschen versuchen, die Heiligung durch eigene Anstrengungen zu erreichen. Der Irrtum des Quietismus wurde von französi- schen Mystikern im 17. Jahrhundert eingeführt. Die Anhänger des Quietismus vertreten die Ansicht, dass die Heiligung ausschließlich das Werk des Heiligen Geistes ist. Christen brauchen sich nicht darum zu bemühen, sondern nur still sein und aus dem Weg gehen, während der Heilige Geist alle Arbeit tut. Sie sa- gen im Grunde: »Lass los und lass es Gott machen.« Es gibt sicherlich Zeiten, in denen es wichtig ist, loszulassen. Wenn wir uns zu sehr an unsere eigene Kraft klammern und nicht auf die Hilfe des Heiligen Geistes bauen, dann ist es Zeit, still zu werden. Aber wir dürfen uns nicht auf einen Quietismus einlassen, der Gott die ganze Arbeit überlässt. 264 TEIL 6 Das zweite Paar von Irrlehren in Bezug auf die Heiligung ist der Antinomis- mus und der Legalismus. Es gibt nur sehr wenige Gemeinden, die nicht von der einen oder anderen, manchmal sogar von beiden Verdrehungen betroffen sind. Legalisten sehen das Gesetz Gottes als so wichtig für die Heiligung an, dass sie diesem noch etwas hinzufügen. Um ihre Heiligung zu unterstützen, versuchen sie, Gebote einzuführen, wo Gott den Menschen Freiheit gelassen hat. Sie neigen dazu, Regeln und Vorschriften aufzustellen, wie etwa das Verbot für Christen, zu tanzen oder ins Kino zu gehen. Wo Gott keine Gesetze vorgesehen hat, legen Legalisten andere in Ketten und ersetzen unweigerlich das wahre Gesetz Gottes durch menschengemachte Gesetze. Das andere Extrem ist der Antinomismus, der behauptet, dass das Ge- setz Gottes keine Bedeutung für das christliche Leben hat. Antinomianer sagen, dass Christen das Gesetz Gottes nicht zu befolgen brauchen, weil sie unter der Gnade sind. Diese Irrlehre ist weitverbreitet. In der Tat leben wir in einer Zeit, in der der Antinomismus in der Kirche immer mehr Fuß fasst. Ein wahrhaft gottesfürchtiger Mensch weiß, dass er nicht mehr dem Gesetz unterworfen ist, und dennoch liebt er es und meditiert Tag und Nacht darüber, weil er darin entdeckt, was Gott gefällt und seinen Charakter widerspiegelt (vgl. Ps 1). Statt vor dem Gesetz Gottes zu fliehen, wird derjenige, der eifrig nach Gerechtigkeit und Heiligung strebt, das Gesetz ernsthaft studieren. SOTERIOLOGIE 265 45 Die Bewahrung der Heiligen Können Menschen, die sich wirklich bekehrt haben, ihr Seelenheil verlieren? Diese Frage wird mir regelmäßig gestellt, oft von denjenigen, die sehen, dass junge Menschen den Glauben aufgeben, mit dem sie aufgewachsen sind. Doch wer den wahren Glauben hat, kann ihn niemals verlieren; wer seinen Glauben verliert, hatte ihn nie. Wie Johannes schrieb: »Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns. Denn wenn sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben; aber es sollte offenbar werden, dass sie nicht alle von uns sind« (1 Joh 2,19). Es gibt Menschen, die ein Glaubensbekenntnis ablegen und sich inten- siv in eine Gemeinde oder eine christliche Organisation einbringen, nur um spä- ter aus der Kirche auszutreten und den Glauben, zu dem sie sich einst bekannten, zu verleugnen. Es ist leicht, sich Institutionen anzuschließen, ohne eine echte Bekehrung zu Christus. Es gibt christliche Organisationen, die es verstehen, das Christentum so attraktiv zu machen, dass Menschen ihnen in Scharen zulaufen, ohne sich jemals mit Christus oder der Sünde auseinandergesetzt zu haben. Jesus erzählte ein Gleichnis, das sich genau auf dieses Phänomen bezieht: »Siehe, es ging ein Sämann aus zu säen. Und indem er säte, fiel etliches an den Weg; da kamen die Vögel und fraßen’s auf. Anderes fiel auf felsi- gen Boden, wo es nicht viel Erde hatte, und ging bald auf, weil es keine tiefe Erde hatte. Als aber die Sonne aufging, verwelkte es, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. Anderes fiel unter die Dornen; und die Dornen wuchsen empor und erstickten’s. Anderes fiel auf das gute Land 266 TEIL 6 und brachte Frucht, etliches hundertfach, etliches sechzigfach, etliches dreißigfach.« MT 13,3–8 Das Gleichnis will zeigen, dass nur der Samen, der auf gutem Boden gesät wur- de, Bestand hat. Dieser gute Boden ist die verwandelte und vom Heiligen Geist wiedergeborene Seele. ZWEI SICHTWEISEN Bei der Lehre von der Bewahrung der Heiligen geht es um die Frage, ob Christen ihre Erlösung wieder verlieren können. Die römisch-katholische Kirche glaubt, dass dies möglich ist. Ihre Theologen vertreten die Auffassung, dass Menschen ihr Heil verlieren können, wenn sie eine Todsünde begehen. Wie wir in einem früheren Kapitel festgestellt haben, handelt es sich dabei um eine Sünde, die die rechtfertigende Gnade in der Seele abtötet oder zerstört, sodass es notwendig ist, dass der Sünder durch das Sakrament der Buße erneut gerechtfertigt wird. Geschieht dies nicht, kann dieser Mensch sein Heil verlieren und in die Hölle kommen. Auch viele Semipelagianer glauben, dass man seine Erlösung wieder verlieren kann. Die Reformierten glauben an die Bewahrung der Heiligen als logische Konsequenz der Lehre von der Erwählung. Wenn Gott einen Menschen von Ewigkeit her auserwählt, wird er diesen Status auch für immer behalten. Doch auch wenn die Lehre von der Bewahrung der Heiligen sich logisch aus der Er- wählungslehre ergibt, ist es gefährlich, eine Theologie nur auf der Grundlage logischer Schlussfolgerungen aus einer einzigen Lehre zu konstruieren. Paulus schrieb an die Philipper: SOTERIOLOGIE 267 »Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden –, für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; und ich bin darin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.« PHIL 1,3–6 Hier drückt Paulus seine Zuversicht aus, dass Christus das, was er begonnen hat, auch vollenden wird. Christus wird »Anfänger und Vollender des Glaubens« ge- nannt (Hebr 12,2). Wir sind das Werk Christi, und wenn Christus einen Menschen nach seinem Ebenbild gestaltet, muss er das Produkt am Ende nicht wegwerfen. KANN MAN DAS HEIL WIEDER VERLIEREN? Es gibt jedoch Stellen in der Heiligen Schrift, die darauf hinzuweisen scheinen, dass Menschen ihr Heil verlieren können und dies auch tatsächlich geschieht. Paulus selbst sagte: »Ich schinde meinen Leib und bezwinge ihn, dass ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde« (1 Kor 9,27). Ein weiterer wich- tiger Bibeltext, der sich auf die Möglichkeit bezieht, die Erlösung zu verlieren, findet sich im Hebräerbrief: »Darum wollen wir jetzt lassen, was am Anfang über Christus zu lehren ist, und uns zum Vollkommenen wenden. Wir wollen nicht abermals den Grund legen mit der Umkehr von den toten Werken und dem Glauben an Gott, mit der Lehre vom Taufen, vom Händeauflegen, von der Auf- erstehung der Toten und vom ewigen Gericht. Das wollen wir tun, wenn Gott es zulässt. Denn es ist unmöglich, die, die einmal erleuchtet worden sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und Anteil bekommen haben am Heiligen Geist und geschmeckt haben das gute Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt und dann abgefallen sind, wieder zu erneuern zur Buße, da sie für sich selbst den Sohn Gottes abermals kreuzigen und zum Spott machen.« HEBR 6,1–6 268 TEIL 6 Dies ist eine ernste Warnung: Es ist unmöglich, diejenigen, die Christus erneut gekreuzigt haben, wieder zum Heil zu führen. Dieser Text hat nicht wenig Ver- wirrung gestiftet. Er scheint allem zu widersprechen, was das Neue Testament über die Bewahrung der Heiligen durch Gott lehrt. Viele glauben, dass der Autor des Hebräerbriefes hier an nicht wieder- geborene Kirchenmitglieder denkt. Jesus sagte, dass seine Gemeinde aus Weizen und Unkraut, als gemischter Leib, bestehen würde (vgl. Mt 13,24–30). Es gibt Menschen, die der Kirche beitreten und sich später von ihr abwenden und damit abtrünnig werden. Sie fallen von ihrem anfangs bekannten Glauben ab. Dennoch bleibt die Frage, ob der Verfasser von denen sprach, deren ursprüngliches Be- kenntnis echt war, oder von denen innerhalb der sichtbaren Bundesgemeinschaft, die nie wirklich bekehrt waren. Die Menschen in diesem Text werden als »die, die einmal erleuchtet worden sind« beschrieben – aber in welchem Maße erleuchtet? Zu den Erleuch- teten könnten die Unbekehrten gehören, die eine Kirche besuchen und hören, wie die Schrift gelesen und gepredigt wird. Der Hebräerbrief bezeichnet die Erleuchteten als diejenigen, die »geschmeckt haben die himmlische Gabe und Anteil bekommen haben am Heiligen Geist und geschmeckt haben das gute Wort Gottes«. Das gilt für alle Kirchenbesucher, ob sie bekehrt sind oder nicht. Sie kosten buchstäblich die Sakramente und hören Gottes Wort – sie sind sozusagen in den christlichen Glauben eingetaucht. Die »Erleuchteten« können also auch Kirchenmitglieder gewesen sein, die nie bekehrt waren. Ich glaube jedoch, dass der Autor des Hebräerbriefes keine bloßen Kirchenmitglieder, sondern echte Gläubige beschreibt, denn jeder, der wirklich Buße getan hat, ist auch wiedergeboren. Es gibt auch falsche Buße, wie bei Esau im Alten Testament, aber wahre Buße führt zu echter Erneuerung als Frucht der Wiedergeburt. Da der Brief also sagt, dass es unmöglich ist, Menschen wieder zur Buße zu erneuern, weist er eindeutig darauf hin, dass es eine Zeit gab, in der diese Menschen durch Buße erneuert waren und zeigt damit, dass es sich um Gläubige handelt. SOTERIOLOGIE 269 Dennoch glaube ich nicht, dass dieser Text die Lehre von der Bewah- rung der Heiligen widerlegt. Wir müssen bedenken, warum der Autor diese ernste Warnung aussprach. Wir wissen nicht, wer den Hebräerbrief geschrieben hat oder warum er geschrieben wurde, aber die Gemeinde, an die er gerichtet ist, hatte offensichtlich ein schwerwiegendes Problem. Gelehrte haben darüber spekuliert, ob die Gläubigen verfolgt wurden und aufgrund dieser Bedrohung ihren Glauben verleugneten. Das ist eine Möglichkeit. Außerdem sah sich die Kirche des 1. Jahrhunderts mit der Irrlehre der Judaisierer konfrontiert, die die frühe Kirche zerriss. Der Brief des Paulus an die Galater befasst sich mit diesem Thema, ebenso wie andere Bücher des Neuen Testaments. Die Judaisierer be- standen darauf, dass nichtjüdische Konvertiten das alttestamentliche Judentum, einschließlich der Beschneidung, annehmen mussten. Paulus kämpfte mutig gegen diese Lehre. Er schrieb an die Galater: »Denn die aus des Gesetzes Werken leben, die sind unter dem Fluch. Denn es steht geschrieben: ›Verflucht sei jeder, der nicht bleibt bei alledem, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, dass er’s tue!‹ Dass aber durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn ›der Ge- rechte wird aus Glauben leben‹. Das Gesetz aber ist nicht ›aus Glauben‹, sondern: ›der Mensch, der es tut, wird dadurch leben‹. Christus aber hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns – denn es steht geschrieben: ›Verflucht ist jeder, der am Holz hängt‹ –, auf dass der Segen Abrahams zu den Heiden komme durch Christus Jesus und wir den verheißenen Geist empfingen durch den Glauben.« GAL 3,10–14 Die apostolische Gemeinde argumentierte überzeugend mit der Reductio ad absurdum: Man führte die Prämissen der Gegner zu ihrem logischen Schluss, um ihre Absurdität zu beweisen. Sollte es in Hebräer 6 um die Irrlehre der Ju- daisierer gehen, dann schreibt der Autor des Hebräerbriefes auf ähnliche Weise wie Paulus an die Galater. Er sagt, dass seine Leser, wenn sie zur Beschneidung 270 TEIL 6 zurückkehren wollten, faktisch das vollendete Werk Christi ablehnten, und wenn sie das vollendete Werk Christi ablehnten, wie könnten sie dann gerettet werden? Sie hätten keine Möglichkeit, gerettet zu werden, weil sie zurückgingen und die alte Lehre annahmen, sodass sie nicht wiederhergestellt werden könnten. Ich glaube, der Schreiber des Hebräerbriefes benutzt hier in Vers 9 diese Argumen- tationsform der Reductio ad absurdum: »Was aber euch angeht, ihr Lieben, sind wir vom Besseren überzeugt und von dem, was Rettung bringt, auch wenn wir so reden« (Hebr 6,9, Hervorhebung hinzugefügt). Der Autor macht deutlich, dass er sich bezüglich des Heils einer bestimmten Redeweise bedient. Letztendlich erwartet er für sie bessere Dinge – Dinge, die mit dem Heil einhergehen, und was mit dem Heil einhergeht, ist Bewahrung und Ausharren. VON CHRISTUS BEWAHRT Jeder Christ ist zu schweren und radikalen Sünden fähig. Die Frage ist, ob ein wahrer Gläubiger vollständig und endgültig abfallen kann. Judas gehörte zu den 12 Aposteln und war ein Jünger Jesu, doch er verriet Christus für dreißig Silberstücke, ging hin und erhängte sich. Jesus sagte, dass Judas von Anfang an ein Teufel war (vgl. Joh 6,70) und sagte seinen Verrat voraus: »Wahrlich, wahr- lich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten« (Joh 13,21). Dann be- zeichnete er Judas als Verräter und forderte ihn auf: »Was du tust, das tue bald!« (Vers 27). Zur gleichen Zeit sagte er die Verleugnung des Petrus voraus, was dieser vehement bestritt. Jesus sah ihn an und sagte: »Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dann umkehrst, so stärke deine Brüder« (Lk 22,31–32). Jesus sagte zu Simon Petrus nicht: »Falls du umkehrst«, sondern: »Wenn du dann umkehrst«. Simon gehörte zu Christus. Er sündigte schwer, aber Christi Fürbitte war so wirksam, dass Simon nicht verloren ging. In seinem hohepriesterlichen Gebet trat Jesus nicht nur für seine Jün- ger ein, sondern auch für alle, die glauben werden – also auch für uns –, dass sie nicht verloren gehen (vgl. Joh 17,11.15.24). Unser Vertrauen in die Bewahrung der Heiligen beruht nicht auf dem Fleisch. Wir sollten nicht wie Petrus sein, der SOTERIOLOGIE 271 so auf seine eigene Kraft vertraute, dass er beteuerte, seinen Herrn niemals zu verleugnen. Wir können nur allein deshalb ausharren, weil Gott uns bewahrt. Blieben wir uns selbst überlassen, könnten wir jeden Moment fallen und von Satan wie Weizen gesiebt werden. Unser Vertrauen in das letzte Kapitel unserer Erlösung beruht auf den Verheißungen Gottes, das zu Ende zu bringen, was er begonnen hat. Unser Heil beruht auf dem wirksamen Gebet unseres großen Ho- henpriesters, der jeden Tag für uns eintritt. Er wird uns im Glauben bewahren und bis zum Ende hindurchtragen. 272 TEIL 6 1 Eine differenzierte Darstellung der Erwählungslehre bietet R. C. Sproul, Chosen by God, Carol Stream: Tyndale, 1994. 273