Sprachdidaktik: Sprechen und Zuhören PDF
Document Details
Uploaded by FastMajesty
Tags
Summary
This document discusses the role of oral communication in the educational context. It examines the various functions of spoken language in the classroom and how communication dynamics operate within institutional settings. It highlights the importance of considering factors like the context and the objectives behind speech acts.
Full Transcript
5 Sprechen und Zuhören Abbildung 16: Stuhlkreis (Foto: Tim Schober) 67 SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Seit Menschengedenken bildet der Kreis die bevorzugte Form, in der sich Gruppen treffen, um miteinander zu sprechen. Er ermöglicht es, dass jeder Beteiligte alle anderen sehen kann. Das gemeinsame Erzä...
5 Sprechen und Zuhören Abbildung 16: Stuhlkreis (Foto: Tim Schober) 67 SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Seit Menschengedenken bildet der Kreis die bevorzugte Form, in der sich Gruppen treffen, um miteinander zu sprechen. Er ermöglicht es, dass jeder Beteiligte alle anderen sehen kann. Das gemeinsame Erzählen im Kreis diente schon immer dazu, ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu stiften, Erfahrungen zu tradieren und Ideen zu entwickeln (> KAPITEL 2.1). Die Schule will an diese Tradition anknüpfen, indem sie solche „Erzählkreise“ auch im Unterricht durchführt. Die Schüler sollen dadurch ihre Erzähl- und Gesprächsfähigkeit entwickeln. Empirische Studien lassen allerdings Zweifel daran aufkommen, dass Erzählkreise in der Schule diese Wirkung entfalten. Vielmehr scheint es dabei um sachfremde Lernziele wie das Stillsitzen oder das disziplinierte Zuhören zu gehen. Grund dafür ist, dass die institutionellen Bedingungen der Schule das alltägliche Handlungsmuster „Erzählen“ neu bestimmt und für ihre Zwecke funktionalisiert haben (vgl. Fienemann / Kügelgen 2003). Damit ist ein Problem jeglicher Kommunikation im Unterricht angesprochen: Sie findet grundsätzlich immer unter den Bedingungen der Institution Schule statt. Das heißt zum Beispiel, dass für alle Beteiligten – auch für die Lehrperson – ein Zwang zur Anwesenheit besteht oder dass jede Äußerung eines Schülers von der Lehrperson explizit oder implizit bewertet werden kann. Kommunikation in der Institution Schule ist daher oft widersprüchlich, etwa wenn die Lehrperson den Zwangscharakter auf der sprachlichen Oberfläche negiert und Freiwilligkeit signalisiert. Diese besonderen Bedingungen bestimmen unweigerlich das kommunikative Geschehen und lassen sich nicht mit methodischen oder didaktischen ‚Tricks‘ umgehen. Sie müssen im Unterricht angemessen berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass sich die Lehrpersonen (und die Schüler) ihrer Wirkung bewusst sind und dass das kommunikative Handeln (z. B. bei Kommunikationsproblemen) immer wieder unter diesem Fokus reflektiert wird. Auf dieser Grundlage geht es darum, das Gegenstandsfeld „Sprechen und Zuhören“ als Lerngegenstand zu konturieren, sowie Ziele und Kompetenzen für diesen festzulegen. Daneben gilt es, die vielfältigen Lernmöglichkeiten aufzuzeigen, die auch unter den Bedingungen institutioneller Kommunikation realisiert werden können. 5.1 Mündliche Kommunikation als Lerngegenstand 5.2 Ziele und Kompetenzen 5.3 Sprechen und Zuhören anregen und fördern 68 MÜ ND LI CHE KOMMUN IK ATIO N AL S L ERN GEGENS TAN D 5.1 Mündliche Kommunikation als Lerngegenstand Mündliche Kommunikation hat im Unterricht verschiedene Funktionen. Zum einen ist sie ein Lernmedium und spielt in Form des Unterrichtsgesprächs eine entscheidende Rolle. Dieses kommunikative Geschehen ist immer wieder gründlich untersucht worden (vgl. Ehlich / Rehbein 1986; Becker-Mrotzek / Vogt 2001). Zum anderen ist mündliche Kommunikation aber auch ein Lerngegenstand, und zwar in allen Schulstufen. Dabei geht es beispielsweise darum, dass man lernt, Gespräche zu führen und dabei zu argumentieren, eine Präsentation zu gestalten, einen Text vorzulesen oder anderen etwas zu erzählen. Das Besondere an mündlicher Kommunikation ist die im Regelfall gleichzeitige Anwesenheit des Sprechers und des Hörers. Damit können alle Beteiligten neben den verbalen auch auf non-verbale (Gesten, Mimik usw.) und paraverbale (Intonation, Lautstärke, Stimmlage usw.) Kommunikationsmittel zurückgreifen und sie für den Verstehensprozess nutzen (zur prinzipiellen Differenz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit > KAPITEL 3.1). Damit ist verbunden, dass mündliche Kommunikation nur gemeinsam hervorgebracht werden kann; sie kommt nur interaktiv zustande. Mündliche Kommunikation ist für alle Beteiligten anspruchsvoll, weil sie durch die Flüchtigkeit des Gesprochenen eine kontinuierliche Planung der eigenen Gesprächsbeiträge parallel zum Sprechen und Hören erfordert (vgl. Becker-Mrotzek 2009a, S. 70f.). Für den Kontext Schule muss mündliche Kommunikation weiter ausdifferenziert werden. Man kann verschiedene Sprachhandlungen benennen, die erlernt werden sollen, beispielsweise überzeugen, informieren, entschuldigen und noch viele andere. Dieses Vorgehen ist aber wenig systematisch. Ausgehend von unterschiedlichen Kommunikationsmodellen (> KAPITEL 2.2) lassen sich für das Thema mündliche Kommunikation drei Arbeitsbereiche systematisieren. Diese orientieren sich allerdings nicht primär an den sprachlichen Funktionen, da jede Äußerung mehrere Funktionen erfüllt und die Funktionen somit als Systematisierungskriterium nicht infrage kommen. Aber es lassen sich mithilfe der Modelle Kommunikationssituationen genauer beschreiben, in denen einzelne Funktionen tendenziell eine stärkere Gewichtung haben. So kann man zunächst zwischen der Perspektive des Senders und der Perspektive des Empfängers unterscheiden. Die Empfängerperspektive ist mit der Sprachrezeption – dem „Zuhören“ (1) – verknüpft; die Senderperspektive mit der Sprachproduktion – dem Spre- 69 Lernmedium und Lerngegenstand Besonderheiten mündlicher Kommunikation Drei Arbeitsbereiche SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Situationsadäquate Gestaltung 1. Arbeitsbereich „Zuhören“ Determinanten des Zuhörprozesses chen (> KAPITEL 3.1). Die Perspektive des Senders, also das Sprechen, lässt sich weiter ausdifferenzieren nach dem Verhältnis zum Empfänger oder zu den Empfängern und nach der Sprachfunktion, die dabei tendenziell im Zentrum steht. Denn obwohl mündliche Kommunikation nur durch die Beteiligung beider Gesprächspartner zustande kommt, kann man zwischen eher monologischen und eher dialogischen Kommunikationssituationen unterscheiden. Bei dialogischen Kommunikationssituationen sind alle Partner sowohl als Sprecher als auch als Zuhörer aktiv, sie können die Sprecher- und Hörerrollen relativ leicht wechseln. Im Vordergrund steht eher die phatische Sprachfunktion. In den Bildungsstandards wird dieser Bereich eingängig als „Mit anderen sprechen“ (2) bezeichnet. „Vor und zu anderen sprechen“ (3) heißt dagegen der Bereich, der die eher monologischen Kommunikationssituationen umfasst. In ihnen sind die Sprecher- und Hörerrollen stärker festgelegt. Es gibt nur einen Sprecher und die Zuhörer haben nicht ohne Weiteres die Möglichkeit, die Sprecherrolle zu übernehmen. Im Zentrum stehen hier oft eher die referenzielle oder die konative Sprachfunktion. Allen drei Arbeitsbereichen gemeinsam ist die Anforderung, das Sprechen und Zuhören situationsadäquat zu gestalten. Das bedeutet, dass es nicht eine bestimmte Art von Sprechen und Zuhören gibt, die per se richtig ist. Vielmehr muss immer die Situation mitbedacht werden, in der mündliche Kommunikation stattfindet. So gestaltet sich ein Gespräch bei einer Behörde ganz anders als ein Gespräch unter Freunden; und einer traurigen Freundin zuzuhören gestaltet sich anders als das Zuhören bei einer Vorlesung. Entscheidend ist, dass der Einzelne über verschiedene Möglichkeiten der Realisierung von Gesprächsbeiträgen verfügt, und zwar auf allen Ebenen (Stimme, Wortwahl, Satzbau, Gestik und Mimik usw.). Und er muss in der Lage sein, sein Sprechen, aber auch sein Zuhören, der jeweiligen Situation anzupassen. Während der Arbeitsbereich „Zuhören“ lange Zeit in der wissenschaftlichen und fachdidaktischen Diskussion keine Rolle gespielt hat, gibt es heute viele Untersuchungen, die sich explizit mit Fragen rund um das Zuhören befassen. Die Psychologin Margarete Imhof hat den komplexen Prozess des Zuhörens analysiert. Sie hat vier Determinanten identifiziert, die den Zuhörprozess bestimmen. Die erste Determinante ist die „Bildung und Aufrechterhaltung einer Intention zur Selektion“ (Imhof 2003, S. 54). Das bedeutet, dass der Zuhörer bereit sein muss, seine Aufmerksamkeit so auf das zu Hörende zu richten, wie es sein Verstehensziel erfordert. Dabei muss er unter den 70 MÜ ND LI CHE KOMMUN IK ATIO N AL S L ERN GEGENS TAN D wahrgenommenen Informationen auswählen, da nicht alle für sein Verstehensziel notwendig sind. Je nach Situation kann es für den Zuhörer wichtig sein, beispielsweise stärker auf paraverbale Signale oder stärker auf den genauen Wortlaut zu achten. Die anderen drei Determinanten sind die Wahrnehmung und Verarbeitung der Sprechermerkmale, des sprachlichen Inputs und der Situationsmerkmale (Imhof 2003, S. 54). Damit wird deutlich, dass Zuhören viel mehr ist, als die ‚Informationsentnahme‘ aus einem mündlichen Text. Der sprachliche Input ist nur ein Aspekt des Zuhörens; er bildet die Grundlage, auf der der Zuhörer ein mentales Modell entwickelt (> KAPITEL 6). Aber erst die Beachtung der Merkmale des Sprechers – zum Beispiel seiner kommunikativen Absicht – und die Beachtung der Situation ermöglichen dem Zuhörer, den sprachlichen Input angemessen zu verarbeiten. Dieser Aspekt spielt besonders bei der Konstruktion von Aufgaben und Tests im schulischen Bereich eine Rolle. Mit dem Hörverstehen hat sich für den Unterricht in der Landessprache ein Format aus der Fremdsprachendidaktik etabliert, das sich allerdings häufig auf die Überprüfung der Wahrnehmung und Verarbeitung des sprachlichen Inputs beschränkt, ohne die für die Kommunikation so wichtigen Merkmale der Situation und des Sprechers zu berücksichtigen. Der Arbeitsbereich „Mit anderen sprechen“ bezieht sich auf alle Arten eher dialogisch ausgerichteter Kommunikationssituationen. Auf der Grundlage ihrer eigenen kognitiven Möglichkeiten bewältigen die Beteiligten gemeinsam ihre kommunikative Aufgabe, indem sie interaktiv das Gespräch realisieren. Dabei bedienen sie sich sprachlicher Handlungsmuster. Eine Gesellschaft entwickelt solche Handlungsmuster im Laufe der Zeit aus der Bewältigung wiederkehrender kommunikativer Ereignisse. Handlungsmuster sind damit gesellschaftlich verankerte Standardlösungen für Standardprobleme des kommunikativen Alltags. Die Muster sind auf einen bestimmten Zweck hin ausgerichtet und mehr oder weniger stark strukturiert und formalisiert. Sie organisieren etwa den Sprecherwechsel oder regeln die Abfolge der Redebeiträge und entlasten so die Sprecher bei der Handlungsplanung, „weil sie auf ein geteiltes Wissen über einen typischen Gesprächsablauf zurückgreifen können.“ (Becker-Mrotzek 2008, S. 55) Beispiele für solche sprachlichen Handlungsmuster in dialogischen Kommunikationssituationen sind das Stellen von Fragen, etwas Erzählen, Erklären, Argumentieren, Beschreiben, Berichten oder Begründen. Um erfolgreich solche Handlungsmuster anzuwenden, brauchen die Beteiligten auf der einen Seite sprachstrukturelle Fähigkeiten, also 71 2. Arbeitsbereich „Mit anderen sprechen“ Sprachliche Handlungsmuster Sprachstrukturelle Fähigkeiten SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Kommunikativpragmatische Fähigkeiten 3. Arbeitsbereich „Vor und zu anderen sprechen“ phonische, semantische und morphologisch-syntaktische Qualifikationen, und auf der anderen Seite kommunikativ-pragmatische (vgl. Quasthoff 2003, S. 108; Ehlich 2005, S. 12). Die phonische Qualifikation bezieht sich zunächst auf die Laute als kleinste unterscheidbare Einheiten der gesprochenen Sprache. Diese Laute muss der Einzelne produzieren und differenzieren können. Der Linguist Konrad Ehlich fasst aber auch Fähigkeiten darunter, die sich auf größere Einheiten sprachlicher Strukturen beziehen und klanglich realisiert werden. Semantische Qualifikation bedeutet, dass man „die Zuordnung sprachlicher Ausdrücke zu Wirklichkeitselementen und zu Vorstellungselementen sowie zu deren Kombination rezeptiv und produktiv herstellen“ kann (Ehlich 2005, S. 12). Damit wird deutlich, dass das Wissen um die Bedeutung von Wörtern mit mentalen Strukturen einhergeht, die es zu erwerben gilt. Die Vorstellung, man könne sich ausschließlich „Wörter“ aneignen, greift zu kurz. Mit morphologisch-syntaktischer Qualifikation ist gemeint, dass der Einzelne zunehmend in der Lage sein muss, komplexere sprachliche Formen zu nutzen. Nach morphologischen und syntaktischen Regeln – die in den einzelnen Sprachen sehr unterschiedlich sein können – formulieren die Sprecher komplexe sprachliche Gebilde, die die Hörer analysieren müssen. Diese stärker auf die Materialität der Sprache ausgerichteten Qualifikationen sind aber nur die eine Seite. Auf der anderen Seite brauchen alle Gesprächsteilnehmer kommunikativ-pragmatische Fähigkeiten. Sie ermöglichen es, sprachliche Handlungsabsichten bei anderen wahrzunehmen und eigene umzusetzen. Dies geschieht im Rahmen von immer größeren sprachlichen Einheiten wie sprachlichen Handlungsmustern, deren regelhafter Ablauf als Diskursstruktur erworben wird. Mit der Zeit müssen Sprecher und Hörer auch erkennen, in welchen situativen Zusammenhang ein Gespräch eingebettet ist. Sie müssen lernen, beispielsweise die soziale Situation oder die institutionellen Bedingungen beim Gespräch angemessen zu berücksichtigen. Der Arbeitsbereich „Vor und zu anderen sprechen“ speist sich eher aus der Tradition der Rhetorik, bei der die wirkungsvolle Gestaltung einer Rede im Zentrum steht. Seit der Antike gehen Redner bei der Vorbereitung ihrer Rede in fünf Schritten vor: 1. inventio (Sammlung der Inhalte) 2. dispositio (Erstellung einer Gliederung) 3. elocutio (Formulierung der Rede) 4. memoria (Auswendiglernen der Rede) 5. pronuntiatio / actio (Vortrag der Rede; vgl. Wagner 2006, S. 66). 72 ZI EL E UND KO MPETENZEN Die Schritte 3 und 4 werden heute meist nicht mehr in dieser Form praktiziert. Die meisten Vorträge und Referate beruhen auf Konzepten, bei denen der Sprecher die wichtigsten Punkte stichwortartig notiert hat. Bis zur kommunikativen Wende in den 1970er-Jahren (> KAPITEL 1) war das (Nach-)Gestalten einer Rede ein wichtiger Bestandteil des mündlichen Sprachunterrichts. In den letzten Jahren hat das „Präsentieren“ andere mündliche Formen wie beispielsweise die Rede weitgehend abgelöst. Präsentationsfähigkeit gilt als adäquate Antwort auf die vielfältigen Anforderungen, die mit dem Übergang in die Wissens- und Mediengesellschaft verbunden sind. Über die eigentlichen Ziele aus dem Bereich der Mündlichkeit hinaus sollen die Schüler beim Präsentieren lernen, sich Informationen zu beschaffen und diejenigen auszuwählen, die für ihre Fragestellung zielführend sind. Diese Informationen gilt es dann so zu strukturieren und zu visualisieren, dass die Zuhörer sie sich aneignen können. Die Visualisierung der vorgetragenen Inhalte ist für die Präsentation ein zentrales Moment. Dafür stehen dem Redner vielfältige Anschauungsmittel zur Verfügung: von Schaubildern oder Plakaten bis hin zu multimedialen Präsentationsprogrammen. Neben dem Präsentieren gehört hier auch das gestaltende Vorlesen und Vortragen von Texten zum Bereich „Vor und zu anderen sprechen“. Um einen Text angemessen vorlesen zu können, sind zunächst die Analyse der Vorlesesituation und die Kenntnis des Textes notwendig. Der Vorlesende braucht als Grundlage eine erste Interpretation des Textes, um verbale, para- und nonverbale Mittel sinnstützend und sowohl dem Text als auch dem Zuhörer angemessen einsetzen zu können. Gutes Vorlesen muss gut vorbereitet sein, damit die ‚Partitur‘ des gedruckten Textes zum Klingen kommen kann. Präsentieren Vorlesen und Vortragen 5.2 Ziele und Kompetenzen Der primäre Ort des mündlichen Spracherwerbs ist nicht die Schule, sondern die familiäre Umgebung. Bis zum Eintritt in die Schule ist der frühkindliche Spracherwerb auf der phonetisch-phonologischen und der grammatischen Ebene weitgehend abgeschlossen, nicht aber im Bereich der semantischen und der pragmatischen und diskursiven Kompetenzen (> ASB HÖHLE). Der Beginn institutionalisierter Bildung erfordert vom Kind neue sprachliche Handlungsmuster, die nicht mit denen der Familie identisch sind. Neben der Familie entsteht ein an- 73 Kommunikative Anforderungen der Schule SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Ziel: Sach- und Situationsadäquatheit Befähigung zur Situationsanalyse derer sozialer Rahmen, in dem zum einen die institutionellen Bedingungen der Schule und zum anderen die Gruppe der Gleichaltrigen eine wichtige Rolle spielen. In der Schule gelten explizite (z. B. sich melden müssen) und implizite (z. B. man muss seine Meldefrequenz so steuern, dass Schulerfolg garantiert ist, ohne als Streber zu gelten) kommunikative Regeln. Die Anforderungen an das Sprechen und Zuhören werden komplexer, da Sprache die primäre Form der Wissensvermittlung ist. In diesem neuen Umfeld wird Sprache selbst zum Gegenstand der Betrachtung und der Erwerb konzeptioneller Schriftlichkeit erfordert zunehmend auch distanzierte Formen des Sprachgebrauchs. Wie weit Kinder mit distanzsprachlichen Mustern schon vertraut sind, ist von der Bildungsnähe der Eltern abhängig. Deshalb sind auch im Bereich „Sprechen und Zuhören“ die Fähigkeiten der Schüler sehr heterogen und diese Unterschiede sind nicht primär entwicklungsbedingt, sondern den soziokulturellen Bedingungen des Aufwachsens geschuldet (vgl. Quasthoff 2003). Aufgabe der Grundschule ist es zunächst, allen Kindern den Zugang zu diesen neuen sprachlichen Handlungsmustern der Schul- und Unterrichtssprache (vgl. Neuland u. a. 2009) und damit zu Bildungsangeboten zu eröffnen (zu den besonderen Anforderungen für mehrsprachige Schüler > KAPITEL 10). Vor dem Hintergrund des Leitziels „Reflexives Sprachhandeln“ (> KAPITEL 2.4) verfolgt die Schule den Auftrag, ihre Schüler zum sachund situationsangemessenen Sprechen und Zuhören zu befähigen. Das bedeutet, dass es nicht das gute Gespräch oder die gute Präsentation gibt. Die Qualität und das Gelingen einer Kommunikationssituation ist vielmehr davon abhängig, dass der Sprecher die Rahmenbedingungen analysieren und aus seinem Repertoire das richtige Register auswählen kann, um die Situation gemeinsam mit dem Gesprächspartner angemessen zu bearbeiten (vgl. Schoenke 1991, S. 14; Vogt 2009, S. 29). Damit kommt der Schule zum einen die Aufgabe zu, die Schüler zur Situationsanalyse zu befähigen. An eigenen und fremden Interaktionen sollen die Schüler ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Abläufe sprachlicher Handlungen und Handlungsmuster entwickeln. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Analyse des Gesprächsziels und damit die Reflexion über die ethisch-moralische Grundhaltung aller Beteiligten, denn erfolgreiche Kommunikation kann sowohl bedeuten, dass alle gemeinsam einen Konflikt lösen, als auch, dass ein Einzelner seine Interessen erfolgreich durchsetzt und seine Partner von seinen Ideen oder Produkten überzeugt. 74 ZI EL E UND KO MPETENZEN Zum anderen muss die Schule beim Einzelnen dazu beitragen, dass er verschiedene sprachliche Register aufbauen kann. Dabei spricht man auch von der Entwicklung einer „inneren Mehrsprachigkeit“ (vgl. z. B. Neuland 1993). Register sind die unterschiedlichen Sprechweisen einer Sprache, über die eine Person verfügt. Sie können sich auf allen Ebenen der Sprachbeschreibung unterscheiden (z. B. Semantik, Syntax usw.), ihr Übergang ist aber nicht trennscharf. Bei vielen Deutschsprachigen bildet der Dialekt ein Register, bei Jugendlichen auch eine besondere Jugendsprache. Andere Register sind stärker auf öffentliche Kommunikation, beispielsweise in Behörden, ausgerichtet und unterscheiden sich deutlich von der Art zu sprechen, die in der Familie vorherrscht. Ziel der schulischen Bemühungen muss es sein, neben den bereits vorhandenen weitere Register zu entwickeln, und zwar gerade solche, die in der öffentlichen Kommunikation erfolgreiches Handeln erst ermöglichen. In Gegenden mit starker dialektaler Prägung im Alltag ist z. B. der Erwerb eines standardsprachlichen Registers eine wichtige Aufgabe der Schule. Dabei geht es nicht um eine Abwertung des dialektalen Registers, sondern um eine Erweiterung der sprachlichen Handlungsmöglichkeiten durch ein neues Register. Bei der Planung oder der Analyse von sprachlichen Äußerungen bieten sich im Unterricht vielfältige Gelegenheiten, über die Art und Weise der sprachlichen Äußerungen und deren Wirkung zu reflektieren und ihre Situationsangemessenheit zu prüfen. Ziel ist ein kritisches Bewusstsein des Einzelnen für unterschiedliche Wirkungen von Sprache bei anderen und bei sich selbst (> KAPITEL 2.3, 9). Damit wird klar, dass sich mündliches Sprachhandeln nur schwer in die Kategorien richtig oder falsch einordnen lässt. Dennoch ist immer wieder zu beobachten, dass in der Ratgeberliteratur oder in der Unterrichtspraxis ohne Rücksicht auf die situativen Bedingungen rezeptartige Vorschläge gemacht werden, wie man richtig und gut kommunizieren kann. Besonders ärgerlich wird es dort, wo dabei die Normen schriftlicher Sprache zugrunde gelegt werden und etwa von den Schülern verlangt wird, sie sollen „in ganzen Sätzen“ sprechen. Es gibt keinerlei empirisch begründete Hinweise, dass das Sprechen in Sätzen dazu führen könnte, dass Kommunikation effektiver oder kommunikativ besser verläuft als beim mündlich üblichen, nicht satzgebundenen Sprechen (vgl. Fiehler 1998). Sprechen und Zuhören ist ein sehr heterogener Lerngegenstand, zu dem es bisher keine empirisch gesicherten Kompetenzmodelle gibt, die eine umfassende mündliche Kommunikationskompetenz gestal- 75 Ausbau sprachlicher Register Relativität sprachlichen Handelns Kompetenzmodelle zum Sprechen und Zuhören SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Versuch einer umfassenden Kompetenzmodellierung ten. Vorliegende Entwürfe beschränken sich entweder auf die Modellierung einzelner Sprachhandlungsmuster, etwa auf das Argumentieren (vgl. Krelle u. a. 2007), oder sie modellieren Gesprächskompetenz als Prototyp des mündlichen Sprachhandelns (vgl. BeckerMrotzek 2008; Vogt 2009; Quasthoff 2009). Den Versuch einer umfassenden Kompetenzmodellierung hat eine Arbeitsgruppe vorgenommen, die sieben Teilfähigkeiten benennt, welche für den gesamten Gegenstandsbereich Sprechen und Zuhören Geltung haben sollen (vgl. Pabst-Weinschenk 2009, S. 173–177): 1. Situieren (Situation, Adressaten, Kontext berücksichtigen), 2. Planen (Beitrag oder Zuhören planen, Strategien auswählen etc.), 3. Personale Sprech-Hör-Kompetenzen (verbale und nonverbale Ausdrucksfähigkeiten), 4. Formulierungs- bzw. Verstehenskompetenz (zusammenhängende Texte formulieren und verstehen können), 5. Interaktionskompetenz (Gesprächsregeln, Gesprächsorganisation), 6. Monitoring und Evaluation (Überwachung des eigenen Sprechens, Zuhörens und Verstehens und Rückmeldungen dazu), 7. Überarbeitungskompetenzen (Anpassen des Sprechens und Zuhörens). Obwohl dieses Modell den Anspruch erhebt, auf alle Arbeitsbereiche des Sprechens und Zuhörens anwendbar zu sein, ist seine starke Ausrichtung auf den Arbeitsbereich „Vor und zu anderen sprechen“ nicht zu übersehen. Bei der Entwicklung von Kompetenzmodellen muss neben der Heterogenität des Gegenstandsfeldes ein weiteres Problem bearbeitet werden: Mündliche Kommunikation kann nur gemeinsam hervorgebracht werden (> KAPITEL 5.1), Kompetenzmodelle beziehen sich aber auf individuelle Leistungen. 5.3 Sprechen und Zuhören anregen und fördern Spracherwerb durch Unterricht? Gesicherte empirische Erkenntnisse darüber, wie Unterricht zur Entwicklung der mündlichen Kommunikationskompetenz beiträgt, gibt es nur wenige. Besser untersucht ist der Spracherwerb in der Interaktion zwischen Eltern und Kind. Dabei passt die Bezugsperson quasi automatisch ihr Sprechen dem Kind an. Sie geht auf das Kind ein, übernimmt im Dialog diejenigen Teile, die das Kind noch nicht leisten kann. Gleichzeitig überlässt sie immer größere Interaktionsanteile dem Kind und baut ihre eigenen Unterstützungsmaßnahmen ab (vgl. 76 S P RE C H E N U N D Z U H Ö RE N A NR EG E N U N D F Ö R D ER N Bruner 2002). Dieses wirkungsvolle Unterstützungssystem lässt sich aber für die Schule nicht einfach kopieren. Dem stehen die besonderen Bedingungen institutioneller Kommunikation genauso entgegen wie die situativen Bedingungen, dass die Lehrperson ihr Sprechen auf die ganze Gruppe ausrichten muss und nicht in der beschriebenen Art und Weise auf den Einzelnen eingehen kann (vgl. Quasthoff 2003, S. 117). Besonders beim Zuhören und im Bereich „Mit anderen sprechen“ ist die Rolle der Schule und des Unterrichts für den Erwerb nicht klar. Im Gegensatz zum Präsentieren erwirbt das Kind diese beiden Fähigkeiten in seiner Familie, zunächst unabhängig von und später neben Schule und Unterricht. Für den Bereich „Vor und zu anderen sprechen“ ist es unstrittig, dass es in der Schule ausreichend Gelegenheiten braucht, in denen diese Fähigkeiten gezielt eingeführt und eingeübt werden. Kleinere und größere Präsentationen im Deutsch- oder im Fachunterricht bieten ab dem Grundschulalter dem einzelnen Schüler die Möglichkeit, sich selbst zu erproben und mithilfe von Anleitungen, Vorübungen und gezieltem Feedback seine Präsentationskompetenz zu erweitern. Ideen und Anregungen dazu gibt es in zahlreichen Publikationen zu den Themen „Präsentieren“ oder „Sprechen“ in der Schule (vgl. z. B. Berkemeier 2009). Für das gestaltende Vorlesen und Vortragen brauchen die Schüler Techniken, die ihnen das Verständnis des Textes erleichtern (> KAPITEL 6) und solche, die ihnen helfen, den Text sprecherisch angemessen zu gestalten. Hier bietet sich die Einführung von „Partiturzeichen“ (Claussen 2001, S. 12) an, mit deren Hilfe Pausen oder Spannungsbögen notiert werden können. In der Übungsphase sollen die Schüler die sprecherische Gestaltung des Textes variieren und die Wirkung unterschiedlicher verbaler und nonverbaler Stilmittel ausprobieren. Lernförderlich ist neben einer spielerischen, erprobenden Haltung vor allem die Reflexion der Wirkung der unterschiedlichen Betonung, Intonation, Pausensetzung oder des Einsatzes mimischer und gestischer Mittel. Vorlesen und Vortragen eignen sich auch für Erfahrungen mit der Übernahme fremder Rollen. Das Lesen eines Textes mit verteilten Rollen bietet Gelegenheit, den Zusammenhang von Sprache und Person zu erproben und zu reflektieren. Übungen zum Zuhören oder zum Hörverstehen in der Landessprache haben in der deutschsprachigen Bildungslandschaft keine Tradition. Hörverstehensübungen kannte man lange Zeit nur aus dem Fremdsprachenunterricht. Bisher ging man davon aus, dass die Schüler durch das alltägliche Zuhören im Unterricht diese Fähigkei- 77 Einüben des Präsentierens Vorlesen und Vortragen Wirkung (non-)verbaler Stilmittel Schulung des Zuhörens SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Aufgaben mündlich stellen und bearbeiten Selektionsprozesse initiieren ten erwerben würden und weder explizite Anleitung noch Übung notwendig seien. Hier hat in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden. Bildungsforscher haben für Vergleichsarbeiten Tests entwickelt, die das Hörverstehen bei deutschen Texten überprüfen. Diese Anregungen haben Lehrmittelhersteller aufgenommen, sodass mittlerweile viele solcher Lernmaterialien erhältlich sind. Der technologische Fortschritt begünstigt diese Entwicklung, da digitale Hörtexte leicht herzustellen, zu bearbeiten und zu präsentieren sind. Hier besteht allerdings die bereits angesprochene Gefahr, dass das Hörverstehen sich nur auf die Merkmale des sprachlichen Inputs konzentriert und die Merkmale des Sprechers und der Situation vernachlässigt. Bei der Konstruktion von Lernaufgaben ist es wichtig, alle vier Determinanten des Zuhörprozesses zu berücksichtigen. Für die Verarbeitung des sprachlichen Inputs, der Sprecher- und Situationsmerkmale bieten sich ähnliche Fragestellungen und Aufgabenformate an wie beim Leseverstehen (> KAPITEL 6), die vor, während und nach dem Zuhören gestellt werden können. Sie sollten sich aber so weit wie möglich vom Schriftlichen lösen. Auch die Bearbeitung der Aufgaben kann mündlich erfolgen, beispielsweise durch Diskussionen in der Kleingruppe und danach im Klassengespräch (vgl. Becker-Mrotzek 2008). Um die Sprechermerkmale und die Situationsmerkmale wahrzunehmen und zu verarbeiten, bieten sich neben Beobachtungen zu eigenen Klassengesprächen (vgl. Spiegel 2009, S. 200–202) auch Hörbeispiele mit Fragen oder Arbeitsaufträgen an, die genau diese Merkmale fokussieren. Der Sprachdidaktiker Michael Becker-Mrotzek schlägt vor, Gesprächausschnitte zu suchen oder herzustellen, in denen die Beteiligten kommunikative Absichten verfolgen, die sich nur durch die Analyse der Sprecher- und Situationsmerkmale erschließen lassen, zum Beispiel in einem Reklamationsgespräch (Was will der Kunde, was der Verkäufer erreichen? Was kann grundsätzlich das Ergebnis eines Reklamationsgesprächs sein?). Das könnte dazu beitragen, dass das Repertoire der eingesetzten Hörbeispiele sich nicht nur auf konzeptionell schriftliche Texte beschränkt, die nur medial mündlich präsentiert werden, sondern auch tatsächlich konzeptionell mündliche Texte eine Rolle spielen (vgl. Becker-Mrotzek 2008; > KAPITEL 3.1). Nur wenige Ideen für Aufgabenformate gibt es bisher für die Determinante „Bildung und Aufrechterhaltung der Intention zur Selektion“ (Imhof 2003, S. 54). Meist bleibt es bei der Aufforderung, als Zuhörer den Sprecher anzuschauen, was weder notwendige noch hinreichende Bedingung für aufmerksames Zuhören ist. Vereinzelt 78 S P RE C H E N U N D Z U H Ö RE N A NR EG E N U N D F Ö R D ER N gibt es Hinweise darauf, wie Kinder ihre Aufmerksamkeit auf das Zuhören lenken können: Im Sprachbuch Sprachfenster zum Beispiel, indem sie sich eine angemessene Zuhör-Haltung überlegen und alles – auch störende Gedanken – zunächst in eine Dose ‚wegräumen‘ (Büchel / Isler 2002, S. 72f.). Daran schließen sich Aufgaben an, die der Aktivierung des Vorwissens dienen. Sie entlasten einerseits die Schüler beim Verstehensprozess auf der Ebene des sprachlichen Inputs, sie helfen aber andererseits, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und Selektionsprozesse zu initiieren. Ebenfalls der Aufmerksamkeitssteuerung kann es dienen, wenn in der Sekundarstufe Fixierungstechniken (Stichworte notieren, Mitschrift) eingeführt und eingeübt werden (vgl. Polz 2009, S. 233). Auch „Mit anderen sprechen“ lernt das Kind zunächst in der Familie. Die Aufgabe der Schule ist es, den Erwerb komplexer und globaler Strukturen der mündlichen Kommunikation zu fördern, und zwar besonders in Bezug auf Formen öffentlicher Kommunikation und auf solche, in denen die poetische Sprachfunktion zum Tragen kommt. Für den Unterricht bedeutet dies, dass Gespräche und andere sprachliche Handlungen und Handlungsmuster wie beispielsweise das Erzählen, Argumentieren oder Berichten analysiert und reflektiert werden. Gute Aufgaben regen dazu an, sich mit den kommunikativen Absichten der Gesprächsteilnehmer und dem Verlauf der Kommunikation auseinanderzusetzen. Gelingende Interaktionen sollen auf ihre Gelingensbedingungen hin untersucht werden, etwaige Kommunikationsprobleme können herausgearbeitet und Alternativen diskutiert werden. Leichter fällt dies an fremden Gesprächen, die als Ton- oder Videodokumente (z. B. für die Sekundarstufe Aufnahmen von politischen Gesprächsrunden) oder in verschriftlichter Form als Transkripte vorliegen (z. B. Becker-Mrotzek / Brünner 2006). Je nach Fragestellung eignen sich auch Ausschnitte aus literarischen Texten. Neben fremden Gesprächen sollen in der Schule auch immer wieder eigene Gespräche zum Gegenstand der Analyse und Reflexion werden. Dies kann vor dem Gespräch in Form einer Vergegenwärtigung von Gesprächsregeln geschehen und direkt im Anschluss als Rückblick auf ein Gespräch stattfinden. Gespräche oder andere Formen mündlicher Kommunikation können auch aufgezeichnet und zu einem späteren Zeitpunkt analysiert werden. Dabei ist es wichtig, sich vorher nach den rechtlichen Voraussetzungen zu erkundigen. Liegen Ton- oder Videodokumente der Schüler vor, können diese als Teil eines Schülerportfolios aufbewahrt werden, das die Entwicklung der mündlichen Kommunikationskompetenz dokumentiert. 79 Förderung komplexer Aspekte der Kommunikation Analyse fremder Kommunikation Reflexion eigener Kommunikation SPR ECH EN UND ZUHÖR EN Anregung zur Eigenaktivität Keine Inszenierung privater Kommunikationsanlässe Vertrauensvolles Klassenklima als Basis Unterricht kann sich aber nicht auf die Analyse und Reflexion der Situation beschränken. Er muss systematisch vielfältige Anlässe schaffen, in denen die Schüler ihre eigenen sprachlichen Möglichkeiten ausprobieren und sich über deren Angemessenheit (nicht Richtigkeit) verständigen können. Dazu gehören auch Aufgaben, die es dem Schüler ermöglichen, sich spielerisch mit fremden Rollen auseinanderzusetzen, diese sprachlich zu gestalten und zu erproben. Zentral ist dabei, dass die Schüler genügend Raum haben und selbstständig globale Strukturen der Kommunikation einüben und realisieren können (vgl. Hausendorf / Quasthoff 2005, S. 310–314). Möglicherweise gelingt dies bei Formen kooperativen Lernens mit einem Partner oder in der Gruppe besonders gut (> KAPITEL 12). Im Idealfall ergeben sich solche Kommunikationssituationen aus dem geteilten Alltag in der Schule: in einem Klassenrat, bei Anfragen an Lehrpersonen, bei Gesprächen zu aktuellen Sachthemen, bei Erklärungen für Mitschüler, beim argumentativen Abwägen einer zu treffenden Entscheidung, bei der Durchführung von Schreibkonferenzen, bei Gesprächen zur Konfliktklärung oder im Rahmen des Literaturunterrichts. Bei der Inszenierung von Gesprächsanlässen ist es nicht sinnvoll, sprachliche Handlungsmuster aus dem privaten Alltag möglichst authentisch simulieren zu wollen. Diese reiben sich mit den besonderen Rahmenbedingungen institutioneller Kommunikation (vgl. Becker-Mrotzek 2009b, S. 110f.). Für den Sprecher bestehen bei der mündlichen Kommunikation im Gegensatz zur schriftlichen nur wenige Möglichkeiten, sein Produkt zu planen und zu überarbeiten, bevor er es der Öffentlichkeit zugänglich macht. Etwas Gesagtes lässt sich nur schwer revidieren, die Bewertung einer Äußerung durch den Gesprächspartner erfolgt meist sofort nach der Produktion. Sprecher und Text sind eng verbunden, es kann kein Prozess der Distanzierung stattfinden. Sprechen – und besonders das Sprechen im institutionellen Kontext – ist deshalb eng mit dem Selbstwertgefühl gekoppelt. Für den Unterricht bedeutet das, dass die Verletzlichkeit des Einzelnen höher ist und dass es besonders ab dem Jugendalter Schüler gibt, die sich nur ungern beteiligen. Sie haben das Gefühl, sich nicht so präsentieren zu können, wie es ihrem inneren Selbstbild entspricht, oder sie glauben, zu viel von sich preiszugeben (vgl. Behrens / Eriksson 2009b, S. 49; Becker-Mrotzek 2008, S. 71). Ganz grundsätzlich setzen Übungen zur mündlichen Kommunikation ein vertrauensvolles Klima in der Klasse voraus. 80