Skript zu Vorlesung 6 PDF
Document Details
Uploaded by Bananafish
Tags
Summary
This document is a lecture script on the concept of truth and skepticism. It explores different perspectives on truth and examines the value of truth. It argues that truth is valuable for successful interaction with the world.
Full Transcript
Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Kapitel VI. Wahrheit – Skepsis Es gibt keine Wahrheit im Fußball. [Lucian Favre, Interview 2013] §1. Drei wahrheitsskeptische Slogans Sie haben sicherlich schon einmal jemand...
Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Kapitel VI. Wahrheit – Skepsis Es gibt keine Wahrheit im Fußball. [Lucian Favre, Interview 2013] §1. Drei wahrheitsskeptische Slogans Sie haben sicherlich schon einmal jemand insistieren hören: KEINE WAHRHEIT Wahrheit gibt es doch gar nicht! Dieser Slogan wird manchmal als wichtige philosophische Einsicht präsentiert. Manchmal wird er aber auch als dialektisches Manöver benutzt, um der Gegenseite in einer Diskussion den Wind aus den Segeln zu nehmen. Oft bekommt man auch ähnlich klingende Slogans zu hören, wie etwa: KONSTRUIERTE WAHRHEIT Wahrheit ist lediglich ein Konstrukt. RELATIVE WAHRHEIT Wahrheit ist bloß relativ. Manchmal werden einem diese Slogans auch im Doppelpack oder gar alle drei in einem Atemzug vorgesetzt. Was die Slogans gemein haben, ist, dass sie oft benutzt werden, um eine Skepsis ge- genüber der Wahrheit auszudrücken und/oder um den Wert und die Wichtigkeit der Wahrheit herunterzuspielen. Grund genug, dieses Kapitel der Frage zu widmen: Was ist dran an diesen Slo- gans? Meine Diskussion wird aus Platzgründen bisweilen recht holzschnittartig bleiben. Denn über die Slogans ließe sich leicht ein ganzes Buch schreiben. Ich muss also eine Auswahl an relevanten Überlegungen treffen. Insgesamt möchte ich zweierlei versuchen: Erstens möchte ich klären, wie die skeptischen Thesen eigentlich zu verstehen sind. Denn ihre Bedeutung ist weniger offenkundig, als es den Anschein haben mag. Bei flüchtiger Betrachtung werden die Slogans beispielsweise oft für gleichwertig ge- halten, für bloße stilistische Varianten voneinander. Aber sind Sie das? Denken Sie doch einmal kurz darüber nach, bevor ich später dann meine Sicht dazu ausführe. Zweitens möchte ich den Wahrheitsbegriff gegenüber den skeptischen Stimmen behutsam in Schutz nehmen. Die Wahrheit wird oft unverdientermaßen zum Prügelknaben gemacht. Einige Vorwürfe, die gegen sie erhoben werden, richten sich bei näherem Hinsehen gar nicht gegen sie, sondern gegen etwas Anderes. Und einige andere Vorwürfe scheinen mir schlecht begründet zu sein und auf Unklarheiten und Verwirrungen zu beruhen. Aus diesem Grunde also möchte ich eine behutsame Verteidigung der Wahrheit auffahren; und ich möchte auch kurz erklären, warum ich das wichtig finde – weil die Wahrheit nämlich eine ganz gute Sache ist. Just damit werde ich im folgenden Abschnitt beginnen, um mich danach dann den drei Slogans zuzuwenden. Seite 91 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! §2. Auftakt: Zum Wert der Wahrheit Ist Wahrheit überhaupt wertvoll? Wenn ja, worin besteht der Wert der Wahrheit? Ich möchte hier zwei einschlägige Überlegungen vorstellen. Die erste ist sehr handfest und bezieht sich auf unser Zurechtkommen im Alltag: Wahre Überzeugungen sind wertvoll, weil sie uns die erfolgreiche Interaktion mit unserer Umwelt erlauben. Nehmen Sie z.B. an, ich möchte gern im Süden Urlaub machen. Und ich habe die wahre Überzeugung, Buenos Aires liege im Süden, sowie die falsche Überzeugung, Helsinki liege ebenfalls im Süden. Wenn ich mich an der falschen Über- zeugung orientiere und ein Ticket nach Helsinki buche, reise ich in die verkehrte Richtung und bin enttäuscht. Orientiere ich mich hingegen an der wahren Überzeugung und buche ein Ticket nach Buenos Aires, lande ich im Süden und erfreue mich an der tollen und sonnigen Stadt. Halten wir daher fest: WERT DER WAHRHEIT Die Wahrheit ist wertvoll, weil sie uns erfolgreich mit der Welt interagieren lässt; falsche Meinungen stehen der erfolgreichen Interaktion im Wege. Einwand: Das ist eine unzulässige Verallgemeinerung. Manchmal sind falsche Meinungen doch wertvoller als wahre. Zum Beispiel wollte ich mal gut essen gehen, hatte mir aber die Adresse des Restaurants falsch gemerkt. An der falschen Adresse angekommen, war ich zunächst frustriert, ging dann aber in ein anderes Restaurant in der Straße. Ich speiste vorzüglich, sogar besser als im angedachten Restaurant. Meine falsche Meinung bezüglich der Adresse hat mir zu einem guten Essen verholfen. Erwiderung: Klar, sowas kommt vor. Was bedeutet, dass die obige Feststellung zum Wert der Wahr- heit kein universell gültiges Prinzip ist. Aber das heißt mitnichten, dass sie einfach verfehlt ist. Sie gibt eine Art gute Faustregel ab. Denn im betrachteten Gegenbeispiel war eine falsche Überzeugung zufälligerweise geeignet, meine Ziele zu verfolgen. Solche komischen Zufälle kommen vor, aber eben nicht andauernd. Statistisch gesehen führen uns wahre Meinungen viel häufiger ans Ziel als falsche Meinungen. Folge-Einwand: Nicht immer ist nur bloßer Zufall dafür verantwortlich, dass uns eine falsche Mei- nung gut mit der Welt interagieren lässt. Manchmal ist es zum Beispiel sinnvoll, sich mit Falschheiten zufrieden zu geben, die gute Annäherungen an die Wahrheit sind. In wissenschaft- lichen Kontexten werden andauernd Näherungswerte verwendet, oder auch Prinzipien auf- gestellt, die zwar nicht wahr sind, die aber in Richtung der Wahrheit weisen. Mit Annäherun- gen an die Wahrheit zu arbeiten, ist oft zielführend; und manchmal sogar zielführender, als erst lange weiter zu forschen, bis man zur vollen Wahrheit gelangt ist. Erwiderung: Diese korrekte Beobachtung zeigt erneut, dass man nicht uneingeschränkt sagen kann, Wahrheit sei wertvoll, da zweckdienlich, Falschheit hingegen nicht. Aber zugleich zeigt sich auch an solchen Fällen noch immer der Wert der Wahrheit, da eben Annäherungen an die Seite 92 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Wahrheit hier die erfolgreiche Interaktion mit der Welt erlauben, und nicht etwa die möglichst weite Abkehr von der Wahrheit. Daher kann man noch immer an der Faustregel zum Wert der Wahrheit festhalten. Nur ist sie eben sozusagen selbst bloß eine Annäherung an die Wahrheit und nicht universell gültig. Schlussbetrachtung: Es gibt sicher noch weitere Ausnahmen von der Regel zum WERT DER WAHR- HEIT. Manchmal kann eine falsche Überzeugung zum Beispiel meine gefühlte Befindlichkeit befördern. Lebenslügen richtet man sich gerade deshalb ein, weil man einer unbequemen Wahrheit aus dem Weg gehen will. In einem gewissen Sinn erlaubt eine Lebenslüge manchem Menschen, besser mit der Welt zurecht zu kommen. Aber all solche Ausnahmen lassen den Kern der Regel zum WERT DER WAHRHEIT unangetastet: Insofern es uns um den prakti- schen Wert der Weltnavigation und Interessenbefriedigung geht, ist Wahrheit regelmäßig wertvoll, weil zielführend. Wir haben also guten Grund, die Wahrheit wertzuschätzen. Soweit zum praktischen Wert der Wahrheit. Aber ich hatte noch eine zweite Überlegung angekün- digt: Manche Leute messen Wahrheit auch einen ideellen Wert bei. Sie finden es für sich genommen positiv, wahre Meinungen über die Welt zu haben, die Welt wirklich zu kennen. Für sich genommen: Also nicht bezogen auf den praktischen Nutzen, den sie davon haben. Wahrheit hat für sie einen Selbstwert (wobei der natürlich manchmal gegen andere Werte abgewogen werden kann, wie zum Beispiel Bequemlichkeit, die durch Lebenslügen gewonnen wird). Irrige Meinungen über die Welt hingegen schätzen sie, für sich genommen, gering. Manche Leute denken so, aber nicht jede*r. Um zu sehen, in welches Lager Sie selber gehören, können sie ein kleines Gedankenexperiment durchführen: Stellen Sie sich zwei Szenarien vor, in denen Sie sich befinden könnten. Ihre Umwelt erscheint Ihnen in beiden vollständig gleich, und in beiden tun Sie stets genau dasselbe: Wenn Sie in dem einen Szenario ein Date haben, haben Sie es in dem anderen auch, usw. Die Szenarien sind für Sie völlig ununterscheidbar (mit der Idee solcher Szenarien sollten Sie mittlerweile ja schon vertraut sein). Dennoch gibt es einen bedeutsa- men Unterschied zwischen den Szenarien: In dem einen ist Ihre Umwelt mehr oder weniger so, wie Sie sie wahrnehmen. Sie haben im Großen und Ganzen wahre Meinungen über sie. Im anderen Szenario ist Ihre Umwelt in Wirklichkeit radikal verschieden davon, wie Sie sie wahrnehmen. Sie befinden sich in einer weitreichenden Täuschung, sagen wir, in einem täuschend echten Dauer- traum. Aus diesem Traum werden Sie nie erwachen; Sie haben keine Möglichkeit, ihn zu entde- cken, es gibt keine Glitches o.Ä. Sie werden also auch niemals Nachteile dadurch erfahren, dass Sie sich dauerirren. Ihre Erlebniswelt stimmt in beiden Szenarien zu allen Zeiten überein. Preisfrage: In welchem Szenario wollen Sie sich lieber befinden? Wenn Sie das Realszenario dem Traumszenario vorziehen, deutet das wohl darauf hin, dass Sie der Wahrheit einen Wert an sich zu messen. Denn tut man das nicht, sollte man wohl keine Vorlieben für eines der beiden Szenarien haben – so zumindest die Idee dieses Gedankenexperiments. Seite 93 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! §3. Skepsis: Eine These oder mehrere? Kommen wir nun zu den drei skeptischen Slogans über die Wahrheit: KEINE WAHRHEIT Wahrheit gibt es doch gar nicht! KONSTRUIERTE WAHRHEIT Wahrheit ist lediglich ein Konstrukt. RELATIVE WAHRHEIT Wahrheit ist bloß relativ. Rein vom Wortlaut her gesehen, handelt es sich hier um drei verschiedene Slogans. Aber manch- mal drücken zwei unterschiedliche Formulierungen ja denselben Inhalt aus. Beispielsweise besagt „Anna jongliert mit Apfelsinen“ dasselbe wie „Anna jongliert mit Orangen“. Und „Einhörner gibt es nicht“ besagt dasselbe wie „Einhörner existieren nicht“. Daher lohnt es sich zu fragen: Laufen die drei Slogans auf dasselbe hinaus, oder werden mit ihnen unterschiedliche Thesen aufgestellt? Tatsächlich werden die Thesen wohl oft genug als austauschbar behandelt – was freilich nicht heißt, dass sie es auch sind. Will man ernsthaft Philosophie betreiben, muss man oft feine begriffliche Unterschiede erkennen, die man im Alltag ignoriert. Und betrachtet man die drei Slogans einmal etwas genauer als man es gewohnt ist, sollte eigentlich schnell erkennbar werden, dass sie nicht gleichzusetzen sind. Denn in den drei Thesen steht jeweils ein anderer Begriff im Mittelpunkt: ▪ In der ersten These geht es darum, was es gibt, also um die Existenz und Nichtexistenz von etwas. ▪ In der zweiten These geht es um Konstruiertheit. Was aber heißt es, konstruiert zu sein? In erster Annäherung könnte man sagen, es heißt: gebaut bzw. erschaffen worden zu sein. ▪ In der dritten These geht es um Relativität. Was ist das? In erster Annäherung könnte man sagen, etwas sei relativ, wenn es nur in Beziehung zu etwas anderem besteht. Daher sind die Thesen aber nicht einfach miteinander identisch. Denn, kurz gesagt: Nichtexistenz ≠ Konstruiertheit ≠ Relativität. Tatsächlich scheinen die Thesen sogar teilweise miteinander unvereinbar zu sein: Angenommen, der erste Slogan träfe zu und es gäbe keine Wahrheit. Könnte Wahrheit dann zugleich ein Konstrukt sein? Anscheinend nicht. Denn was man konstruiert, das gibt es. Das gibt es sogar gerade dadurch, dass man es konstruiert. Die erste These (also KEINE WAHRHEIT) ist daher, zumindest, wenn man sie wörtlich nimmt, nicht vereinbar mit der zweiten These (also KONSTRUIERTE WAHRHEIT). Oder betrachten wir einmal die dritte These und stellen wir uns vor, jemand behaupte, Wahrheit bestehe immer nur relativ zu einer Perspektive. Stellen wir uns ferner vor, er setzt dann fort mit: Aber übrigens gibt es gar keine Wahrheit. Das würde doch anscheinend beinhalten, dass es auch keine relative Wahrheit gibt; was zumindest in einer merkwürdigen Spannung zu der zuvor ge- machten Behauptung stünde, Wahrheit sei relativ. Um sich zu den Thesen sinnvoll zu positionieren, muss man sie daher einzeln, jede für sich, ge- nauer unter die Lupe nehmen. Ich werde mich mit ihnen also nacheinander beschäftigen und be- ginne mit der sozusagen stärksten These: KEINE WAHRHEIT. Seite 94 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! §4. Gibt es Wahrheit? §4.a „Es gibt keine Wahrheit!“ als Motto intellektueller Bescheidenheit Wahrheit ist wertvoll. Daher wäre es schlecht, wenn es keine Wahrheit gäbe. Wie erwähnt, sagen Leute nun aber öfters, es gebe keine Wahrheit. Insofern scheint diese These eine Reihe von An- hänger*innen zu haben. Doch bei näherem Hinsehen stellt sich die Sache etwas anders dar. Denn wenn Leute sagen, es gebe keine Wahrheit, dann meinen sie anscheinend damit oft etwas anderes (ob ihnen das nun klar ist, oder nicht). So sagt zum Beispiel der Kabarettist Sebastian Hengstmann „Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Meinungen“. Seine Entgegensetzung von Wahrheit und Meinung ist aber begrifflich windschief. Eine Meinung ist ein geistiger Zustand, und als Gegenbe- griff sollte daher ebenfalls ein Begriff aus dem Bereich der Geistesinhalte gewählt werden. Was sich anböte, ist der Begriff des Wissens, oder vielleicht des sicheren Wissens. Dann aber wäre für das, was Herr Hengstmann sagen will, folgende Formulierung treffender: Es gibt kein Wissen, sondern nur (bloße) Meinungen. Kurzum: Im täglichen Gebrauch vermengt man oft Falschheit und Lüge; und man vermengt auch Wahrheit und Wissen, sowie auch Wahrheit und sicheres Wis- sen. Diese Diagnose trifft meines Erachtens auf viele Äußerungen zu, die vor der Hand sagen, es gebe keine Wahrheiten. Das sieht man insbesondere aus dem kommunikativen Ziel, das mit ihnen ver- folgt wird. Denn das besteht zumindest oft darin, eine Art intellektuelle Bescheidenheit anzumahnen: Sei Dir Deiner Sache nicht zu sicher, sei nicht festgefahren in Deinen Meinungen! Stattdessen bleib offen für die Möglichkeit, dass Du Dich irrst, und dass Du Deine Meinungen daher revidie- ren solltest. Die hier angemahnte intellektuelle Bescheidenheit ist eine löbliche Tugend. Insbesondere sollte man keine Angst davor haben, sich eine Blöße zu geben, indem man einen Fehler eingesteht. Und doch hat man diese Angst oft. Die aber steht dem eigenen gedanklichen Fortschritt nur im Weg. Daher meine Empfehlung: Üben Sie sich darin, in ihren Meinungen zwar guten Gründen zu fol- gen, aber offen für neue, andere Gründe zu bleiben. Üben Sie sich darin zu lernen, und darin, das Lernen als wertvoll anzusehen. Und helfen Sie anderen dabei. Weisen Sie nicht hämisch darauf hin, dass Sie Recht gehabt haben, wenn jemand eine Meinung revidiert. Reagieren Sie ermunternd darauf, geben Sie positives Feedback an ihre Mitmenschen, die geistig flexibel sind und aus Fehlern lernen. Intellektuelle Bescheidenheit ist wichtig. Aber, um zurück zum eigentlichen Thema zu kommen: Intellektuelle Bescheidenheit ist vollauf mit der Position vereinbar, dass es Wahrheiten gibt. Sie ist sogar damit vereinbar, dass es Wissen gibt. Sie verlangt lediglich, sich regelmäßig zu hinterfragen und mit der Möglichkeit zu rechnen, dass einiges vermeintliche Wissen bei näherer Betrachtung gar kein Wissen ist. Tatsächlich scheint es der intellektuellen Bescheidenheit sogar zuträglich zu sein, wenn es Wahrheit gibt. Denn die Bescheidenheit soll ja dazu führen, dass man Fehler korri- giert; die aber liegen vor, wenn man eine falsche Meinung hat. Und wenn eine Meinung falsch ist, Seite 95 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! dann ist die gegenteilige Meinung wahr. Daher sind wahre Meinungen gut, damit es auch falsche geben kann. Doch wie immer dem auch sei: Wir sollten festhalten, dass beim Appell zur intellektuellen Be- scheidenheit nur dem Wortlaut nach die Wahrheit angegriffen wird. In Wirklichkeit richtet sich der Angriff gegen einen anderen Begriff. §4.b „Es gibt keine Wahrheit!“ als philosophische These Also: Wenn Leute schnell daher sagen, es gebe keine Wahrheit, meinen sie zumindest manchmal etwas anderes. Nun kann man sich aber natürlich auch wirklich mit der wortwörtlich zu nehmen- den These befassen, dass es keine Wahrheit gibt. Die möchte ich nun unter die Lupe nehmen. Dazu lohnt es sich erstmal zu fragen: Was genau ist damit gemeint, dass es keine Wahrheit gibt? Wahrheit ist eine Eigenschaft. Wenn man aber sagt, dass es diese oder jene Eigenschaft nicht gebe, meint man damit oft, dass sie nirgends anzutreffen sein. Mit anderen Worten: dass nichts diese Eigenschaft besitzt. „Echtes Glück gibt es nicht“ meint, niemand sei wirklich glücklich. „Perfek- tion gibt es nicht“ meint, nichts sei perfekt. Dass es Wahrheit nicht gibt, kann daher heißen, dass nichts wahr ist (dass es keine Wahrheiten gibt). Insofern das gemeint ist, scheint es durchaus recht und billig, den Wahrheitsskeptiker nach Gründen für seine Position zu befragen. Eine Antwort, die man da zumindest manchmal zu hören bekom- men mag, lautet ungefähr wie folgt: Egal, welche angebliche Wahrheit Du mir präsentierst, ich werde immer mögliche Gründe an- führen könne, die gegen sie sprechen. Du wirst nie vollkommene Sicherheit haben, dass es sich wirklich um eine Wahrheit handelt. Doch kann das wirklich ein Grund für die These sein, dass es keine Wahrheiten gibt? Nein. Gestehen wir unserem Skeptiker einmal zu, dass wir uns bei einer beliebig gewählten, angeblichen Wahrheit nie sicher sein können, dass sie wahr ist. Wieso sollte daraus folgen, dass es keine Wahr- heiten gibt? Dies könnte nur über folgenden Zwischenschritt geschehen: ▪ Du kannst Dir niemals sicher sein, dass die angebliche Wahrheit wahr ist. ▪ Also ist es nicht der Fall, dass die angebliche Wahrheit wahr ist. Wäre dieser Schluss korrekt, dürfte der Skeptiker in der Tat das Fazit ziehen, dass es keine Wahr- heiten gibt. Aber der Schluss ist nicht korrekt. In ihm findet eine unlautere Vermischung einer epistemischen Frage – Worüber kann ich mir sicher sein? – und einer faktischen Frage statt: Was ist der Fall? Aber aus dem Nicht-Sichersein folgt kein Nicht-der-Fall-sein. An einem konkreten Bei- spiel kann man das leicht einsehen. Man betrachte etwa die Aussagen: ▪ Man kann sich niemals völlig sicher sein, dass es Gott gibt. ▪ Es ist nicht der Fall, dass es Gott gibt. Seite 96 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Die zweite These folgt nicht aus der ersten. Es könnte sein, dass es Gott zwar gibt, sie aber ein schüchtern zurückgezogenes Dasein fristet und sich nie deutlich bemerkbar macht. Dann können wir uns ihrer Existenz wohl niemals sicher sein; aber geben tut’s sie dennoch. Zudem kann man sich de facto wohl weder jemals völlig sicher sein, dass Gott existiert, noch, dass sie nicht existiert. Daraus kann offenbar nicht folgen, dass es weder der Fall ist, dass sie existiert, noch der Fall, dass sie nicht existiert. Es läge nun an dem Skeptiker, eine bessere Begründung seiner These zu finden, dass es keine Wahrheiten gibt. Aber vielleicht brauchen wir da gar nicht auf das Ergebnis zu warten und uns vor Spannung nicht einzukriegen. Denn unabhängig davon, wie die These begründet ist, kann man sie sozusagen frontal angehen und zeigen, dass es ziemlich schlecht um sie steht. Das meinte zumin- dest Bernard Bolzano und unterfütterte es wie folgt: Daß nämlich kein Satz Wahrheit habe, widerlegt sich selbst, weil es doch auch ein Satz ist, und weil wir es also, indem wir es für wahr erklären wollten, zugleich für falsch erklären müssten. Wenn nämlich jeder Satz falsch wäre: so wäre auch diese Satz selbst, daß jeder Satz falsch sei, falsch. (Wissenschaftslehre I, §31) Eine These zu vertreten, heißt, sie als Wahrheit auszugeben. Indem jemand die These vertritt, dass es keine Wahrheiten gibt, gibt er diese These also als Wahrheit aus. Damit aber unterläuft er sich selber. Das Problem, auf das uns Bolzano aufmerksam macht, tritt nicht erst dann auf, wenn jemand die These ausspricht und behauptet. Es tritt bereits dann auf, wenn jemand der These gedanklich zu- stimmt, wenn er urteilt, dass es keine Wahrheiten gibt. Denn zu urteilen bzw. eine These innerlich zu bejahen heißt, die These als wahr anzuerkennen. Man kann daher anscheinend nicht wider- spruchsfrei urteilen, dass es keine Wahrheiten gibt; weil dieses Urteil gerade darin besteht, etwas als wahr anzuerkennen. Wie, wenn der Skeptiker jetzt entgegnen würde: Okay, okay, als ich sagte, es gebe keine Wahrheiten, war ich unvorsichtig. Ich sollte sagen: Es gibt keine Wahrheiten außer dieser hier. Auch diese skeptische Position scheint kaum haltbar. Denn sobald man eine Wahrheit hat, handelt man sich alle Wahrheiten ein, die aus ihr logisch folgen. Beispielsweise folgt aus der skeptischen Position, dass es wahr ist, dass die Anzahl der Wahrheiten ungleich Null ist. Das aber wäre eine zweite Wahrheit, die der Skeptiker akzeptieren muss. Ein unbelehrbarer Skeptiker könnte sich vielleicht von Neuem korrigieren: Okay, also gibt es zwei Wahrheiten. Aber mehr nun wirklich nicht. Seite 97 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Doch das wäre keine gute Idee. Denn wir haben bereits das Rezept an die Hand, wie man auf diese These reagieren sollte: Jede Wahrheit impliziert weitere Wahrheiten. Daher kann man bei keiner bestimmten Zahl an Wahrheiten eine Grenze ziehen. §4.c „Es gibt keine substantielle Wahrheit!“ als philosophische Rückzugsthese Vielleicht könnte der Skeptiker nun eine neue Strategie ausprobieren. Die Position des Skeptikers wird unterhöhlt, indem er darauf festgenagelt wird, bestimmte Wahrheiten zu akzeptieren: die von ihm vertretenen Thesen nämlich, und alles, was aus ihnen folgt. Daher kann er nicht aufrecht erhalten, dass es keine Wahrheiten gibt. Aber er könnte insistieren, dass er nur auf die Akzeptanz von Wahrheiten festgelegt ist, die gewissermaßen hohl sind. Sie sind rein formale Wahrheiten, ohne echte Substanz. Sie handeln nicht davon, wie die Dinge in der Welt wirklich sind, sondern lediglich davon, dass es Wahrheiten gibt. Der Skeptiker könnte sich nun auf die These zurückziehen, dass solch hohle Wahrheiten auch die einzigen sind, die man anerkennen muss. Wahrheit ist sozusagen ein eitler Pfau, der nur mit sich selbst beschäftigt ist. Substantielle Wahrheiten aber würden über sich hinaus in die wirkliche Welt weisen. Solche substantiellen Wahrheiten aber, so unser gegen- wärtiger Skeptiker, die gibt es nicht. Gegen diese skeptische Rückzugsposition kenne ich tatsächlich kein gleichermaßen direkt durch- schlagendes Argument wie Bolzanos Zurückweisung des ursprünglichen Skeptikers. Allerdings kenne ich erstens auch keine Begründung für diese Position. Zweitens gibt es folgendes, etwas weniger direktes Gegenargument: Der Skeptiker sagt, es gebe keine substantiellen Wahrheiten, d.h. keine Wahrheiten über die Welt. Die Aussage, dass Enten Vögel sind, ist eine Aussage über die Welt. Sie ist laut Skeptiker also nicht wahr. Daher ist sie falsch (das folgt mit dem Satz vom aus- geschlossenen Dritten, siehe Kap. V, §2.c.). Dann aber ist ihr Gegenteil wahr, also die Aussage: Enten sind keine Vögel (laut Prinzip GEGENSÄTZLICHKEIT: VERNEINUNG, Kap. V §2c.). Aber dass Enten keine Vögel sind, ist, genau wie die ursprüngliche Aussage, eine substantielle Behaup- tung über die Welt. Also gibt es substantielle Wahrheiten und nicht bloß formale. – Könnte der Skeptiker dem noch etwas entgegensetzen? Um das Argument abzulehnen, müsste er eines oder beide der Wahrheitsprinzipien zurückweisen, die verwendet wurden. Das ist zwar nicht unmöglich, aber es ist allemal eine zusätzliche Bürde für seine Position und macht sie umso begründungsbe- dürftiger. Und sie erzeugt eine Folgegefahr: Wenn man Grundprinzipien der Logik ablehnt, un- tergräbt man allzu schnell seine eigene Position. Zumindest, wenn man diese Position nicht bloß im Privaten glauben, sondern im Diskurs vertreten will. Denn sobald man sich auf einen Diskurs einlässt, benötigt man selber Argumentationsregeln, Prinzipien, auf die man sich in Begründungen der eigenen Position stützen kann. Denn es geht klarerweise nicht an, solche Prinzipien selber in Anspruch zu nehmen und sie nur zurückzuweisen, wenn Gesprächspartner sich auf sie berufen. Insgesamt steht es also wirklich nicht rosig um unseren Wahrheitsskeptiker. Aber abschließend können wir aus Bolzanos anti-skeptischem Argument noch eine Lektion zie- hen, die ein interessantes Licht auf die skeptische Position wirft. Eine Grundidee des Arguments Seite 98 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! besteht in folgender Feststellung: Wann immer der Skeptiker eine These vertritt (und sei es: Ich bin Skeptiker), legt er sich auf eine Wahrheit fest. Das zeigt, dass der Skeptiker sich selbst dann auf eine Wahrheit festlegt, wenn er seine skeptische Position vertritt. Doch es zeigt noch etwas: Es ist inkohärent, eine Aussage zu machen, zugleich aber die Wahrheit der Aussage in Zweifel zu ziehen. Es macht es keinen Sinn, zu sagen: Okay, Enten sind Vögel. Aber daher ist es noch lange nicht wahr, dass Enten Vögel sind. Dies verträgt sich nicht mit unserer weiter oben erarbeiteten unaufgeblasenen Wahrheitsdefinition. Der Inhalt einer Aussage gibt gerade ihre Wahrheitsbedingungen an. Daher darf man keiner Aus- sage zustimmen, deren Wahrheit man in Zweifel ziehen möchte. Das ist der Grund, aus dem der globale Wahrheitsskeptiker sich mit seiner These selbst untergräbt. Aber es hat auch eine Konsequenz für die skeptische Rückzugsposition. Wenn der teilbekehrte Skeptiker nun vertreten will, es gebe keine substantiellen Wahrheiten, sondern nur formale, dann darf er nicht gleichzeitig irgendwelche substantiellen Aussagen machen. Er muss sich über die wirkliche Welt komplett ausschweigen: Er darf nicht sagen, Enten seien Vögel; noch darf er sagen, Wien sei eine Stadt; noch, die Sonne scheint; noch sonst etwas über die Welt. Das zeigt zwar nicht, dass die Position des Skeptikers unhaltbar wäre. Aber es zeigt erstens, wie kostspielig und weitrei- chend sie ist: Unser Skeptiker muss sich sozusagen ganz aus dem Geschäft zurückziehen, Behaup- tungen über die Welt zu machen. Zweitens zeigt es, dass diese Art der Skepsis in gewisser Weise gar nichts mit dem Begriff der Wahrheit zu tun hat. Denn nun erstreckt sich die Skepsis ja gar nicht mehr ausschließlich auf den Wahrheitsbegriff, sondern auf alle möglichen Begriffe. Nicht bloß der Wahrheitsbegriff trifft für den Skeptiker auf nichts zu; auch kein substantieller Begriff darf das tun. Denn sonst könnte der Skeptiker eine substantielle Aussage machen, wie Enten sind Vögel. Und indem er das täte, hätte er sich eine substantielle Wahrheit eingehandelt. Zu sagen, wir haben es bei unserem Skeptiker mit einem Wahrheits-Skeptiker zu tun, scheint daher irreführend – wir haben es mit einem Rundum-Skeptiker zu tun. Insofern in diesem Kapitel aber die Wahrheit im Mittelpunkt steht, können wir uns vielleicht zurücklehnen und uns auf Skepsis konzentrieren, die spezifisch etwas mit der Wahrheit zu tun hat und nicht einfach mit allem. Seite 99 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! §5. Ist Wahrheit konstruiert? Was kann es heißen, dass Wahrheit nur konstruiert ist? Gemeint scheint zu sein, dass wir Wahrheiten machen, erschaffen, hervorbringen; und zwar so, wie es uns gefällt. Wir hätten ebenso gut andere Wahrheiten schaffen können als die, die wir erschaffen haben. Wer das bejaht, kann uns ein Kon- struktivist heißen. Hat der Konstruktivist Recht? Dazu müssen wir zwei Fragen nachgehen: ▪ Sind Wahrheiten bloß menschengemacht? ▪ Wenn ja, ist Wahrheit daher beliebig und willkürlich? §5.a Wahrheiten schaffen durch Handeln Zunächst mal lohnt es sich festzustellen, dass die beiden eben gestellten Fragen nicht einfach zu- sammenfallen. Denn in einem Sinne sind manche Wahrheiten zweifelsohne menschengemacht, ohne dass dies eine Beliebigkeit mit sich bringt: Menschen nehmen fortwährend Einfluss auf ihre Umwelt. Dadurch machen sie bestimmte Aussagen wahr. Ich knacke ein Schloss. Dadurch mache ich es wahr, dass es geknackt wurde. Li erfindet ein Medikament gegen Covid. Dadurch macht sie die Aussage wahr, dass Covid behandelbar ist. Also: Wir können oft herbeiführen, dass sich Dinge auf eine bestimmte Weise verhalten. Indem man das aber tut, schafft man zugleich Wahrheiten. Denn man macht es wahr, dass sich die Dinge so verhalten wie herbeigeführt. Dass wir in diesem Sinne Aussagen wahr machen können, ergibt sich aus der deflationären Wahrheitsdefinition zusammen mit unserer Fähigkeit, die Welt zu be- einflussen. Allerdings zeigt das nicht, dass man ebenso gut beliebige andere Aussagen hätte wahr machen kön- nen. Einige andere Aussagen, gewiss. Statt das Schloss zu knacken, hätte ich es ölen können; dann hätte ich eine andere Wahrheit hervorgebracht, als ich es tatsächlich getan habe. Aber ich hätte nicht beliebige andere Wahrheiten erzeugen können. Denn was ich im gerade diskutierten Sinne wahr machen kann, hängt davon ab, welche Fähigkeiten ich habe und welchen Einfluss ich mit ihnen auf die Welt nehmen kann. Beispielsweise kann ich es weder wahrmachen, dass Napoleon in Waterloo gesiegt hat, noch dass Giraffen sechsbeinig geboren werden, noch dass Covid behan- delbar ist (das verlangte die Expertise von Li; ich selber habe von Medizin keine Ahnung). Dass viele Wahrheiten menschengemacht sind, ist also für sich genommen noch keine brisante These. Wann wird es zu einer? Eine brisante These liegt vor, wenn behauptet wird, dass man einige Wahrheiten direkt hervorbringen kann, ohne den Umweg über unsere Einflussnahme auf die Welt. Wenn ich es beispielsweise wahr machen könnte, dass Covid behandelbar ist, und das, obwohl ich keinerlei medizinische Kenntnisse habe und kein Medikament erschaffe (und auch niemanden dazu bewege, eines zu erschaffen etc.). Dann wäre Wahrheit in merkwürdiger Weise von Realität entkoppelt und stattdessen der menschlichen Willkür anheimgestellt. Die Frage aber ist: Wieso Seite 100 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! sollte man glauben, dass Wahrheit in diesem Sinne ein Konstrukt ist? Wie sollte ich es bewerkstel- ligen, Wahrheiten direkt hervorzubringen, also nicht vermittelt darüber, dass ich auf die Welt ein- wirke? §5.b Wahrheiten schaffen durch Sprachprägung Vielleicht könnte es wie folgt gehen: Wahrheiten sind Aussagen, die wahr sind. Aussagen aber sind Sätze mit menschengemachter Bedeutung; und diese hätte auch anders gemacht werden können. In Peter Bichsels Geschichte Ein Tisch ist ein Tisch beschließt ein alter Mann, sein Leben aufzupep- pen, indem er Dinge umbenennt. Zum Bett sagt er nicht mehr Bett, sondern Bild. Zum Spiegel sagt er Stuhl etc. So steht er dann bei Sonnenaufgang aus seinem Bild auf, schaut in den Stuhl und freut sich über seine neue, merkwürdige Morgenroutine. Was der Mann dort gemacht hat, steht im Prinzip auch uns frei: Wir können die Sprache ändern, den Wörtern andere Bedeutungen ver- leihen, als sie gerade haben. Und wenn wir das tun, werden Sätze wahr, die es zurzeit nicht sind. Beispielsweise der Satz „Menschen stehen morgens aus dem Schrank auf“. Nur schnell nebenbei: Als Einzelperson kann ich natürlich nicht einfach die Bedeutung von Wör- tern im Deutschen ändern, sondern sozusagen nur ihre Bedeutung in meinem Munde. Und wenn ich das mache, werden mich die anderen wohl nicht mehr verstehen – was tatsächlich das traurige Schicksal des alten Mannes in Bichsels Geschichte ist. Aber die Sprachgemeinschaft als Ganze kann die Bedeutung von Wörtern im Deutschen ändern. Meist geschieht so etwas freilich nicht durch einen punktuellen Beschluss. Es geschieht eher durch einen schleichenden Prozess, nämlich die sich nur allmählich ändernde Wortverwendung durch viele Sprecher*innen. Aber solche Details und Unterscheidungen möchte ich im Weiteren außen vor lassen. Also: Ob ein Satz wahr ist oder nicht, hängt davon ab, was er bedeutet. Und insofern die Bedeutung von Wörtern willkürlich festgesetzt werden kann, können Sätze wahr oder falsch gemacht werden. Ein Konstruktivist könnte nun triumphierend feststellen: Wahrheit ist somit menschengemacht, und wir hätten auch beliebige andere Wahrheiten schaffen können. Hat der Konstruktivist damit Recht? Ich denke, in einem Sinne hat er das in der Tat. Allerdings sollten wir sorgfältig erwägen, welches Gewicht dieses Ergebnis hat, und insbesondere, ob es zeigt, dass die Wahrheit nicht wichtig sei, weil sie beliebig ist. Um dies zu beurteilen, gilt es, die Reichweite des konstruktivistischen Ergebnisses zu prüfen. Zwei Fragen sind dafür sinnvollerweise zu stellen: (i) In welchem Maß ist die Wahrheit damit unserer Willkür ausgesetzt? (ii) Und betrifft das Ergebnis tatsächlich alle Wahrheiten, oder vielleicht nur einige? Beginnen wir mit Frage (i): Wieviel Macht verleiht uns die Überlegung tatsächlich über die Wahr- heit? Wir haben eine Bedeutungshoheit über Sätze und können insofern steuern, welche Sätze wahr sind. Aber nur in einem begrenzten Grade. Denn die Wahrheit eines Satzes hängt nicht allein davon ab, was er bedeutet. Nehmen Sie einmal den Satz „Enten sind Vögel“. Für seine Wahrheit ist das Zusammenspiel zweier Faktoren verantwortlich: Seite 101 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! ▪ Was bedeutet der Satz, bzw. was wird mit ihm ausgesagt? ▪ Verhält es sich so, wie er sagt, dass es sich verhält? Nur der erste der beiden Faktoren liegt direkt in unserer Hand, kann von uns durch willkürlichen Beschluss festgesetzt werden. Der zweite nicht. Der liegt in der Hand der Welt. Insofern untersteht uns die Wahrheit hier nur in einem bedingten Grade. Sobald wir die Bedeutungen unserer Wörter festgesetzt haben, haben wir die Wahrheitsbedingungen unserer Sätze festgelegt. Ob die Bedin- gungen dann aber erfüllt sind oder nicht, können wir nicht mehr willkürlich festlegen. Leicht anders ausgedrückt: Mit Sätzen drücken wir beurteilbare Inhalte aus. Welchen Inhalt ein Satz ausdrückt, können wir festlegen. Aber ob ein gegebener Inhalt die Welt korrekt beschreibt, ob er also wahr ist, können wir nicht einfach festlegen. Daher stellt das konstruktivistische Ergebnis die Wahrheit höchstens zu einem bestimmten Grade unserer Willkür anheim; ab einem bestimmten Punkt bleibt Wahrheit in jedem Fall eine Angelegenheit von Umständen, die wir nicht einfach willkürlich ändern können. Das konstruktivistische Ergebnis verliert aber noch weiter an Gewicht, wenn wir uns der zweiten oben genannten Frage zuwenden: Betrifft das Ergebnis tatsächlich alle Wahrheit? Denn hier muss die Antwort lauten: Nein. Vielmehr betrifft das Ergebnis nur einiges, was wahr ist: Es betrifft nur Aussagen bzw. Sätze, also etwas Sprachliches. Denn das war ja gerade die Idee: Über die Bedeutung unserer Sprache können wir selbst entscheiden. Doch bereits im letzten Kapitel habe ich betont, dass neben sprachlichen Sätzen auch noch anderes wahr ist, nämlich Urteile und Überzeugungen; also etwas Gedankliches, etwas in unserem Geiste. In Bezug auf unsere Gedanken kann man aber nicht dieselbe Argumentation anstellen wie in Bezug auf die Sprache: Denn hier haben wir es eben nicht mit Zeichen zu tun, denen wir eine andere Bedeutung verleihen können. Ob eine meiner Überzeugungen wahr ist oder nicht, hängt in keiner Weise an willkürlichen Entscheidungen mei- nerseits. Es hängt an der Welt. Und selbst, wenn wir willkürlich unsere Sprache ändern, ändert sich damit nicht der Wahrheitsgehalt unserer Überzeugungen. Beispielsweise bin ich der Überzeu- gung, dass Kühe wiederkäuen, und das ist wahr. Wenn wir nun die Bedeutung des Worts „Kuh“ ändern und mit dem Wort fortan Menschenaffen bezeichnen, wird dadurch zwar der Satz „Kühe kauen wieder“ falsch, nicht aber meine Überzeugung. Für sich genommen ändert sich an der Über- zeugung überhaupt nichts. Lediglich ein äußerer Umstand ändert sich: Welchen Satz ich nämlich verwenden kann, um die Überzeugung auszudrücken. Während dafür zuvor noch der Satz „Kühe kauen wieder“ geeignet war, ist er das jetzt nicht mehr. Doch meine Überzeugung kann ich behal- ten, und liege mit ihr noch immer so richtig wie zuvor. Lassen Sie mich ein Fazit ziehen: Der Konstruktivist hat Recht, dass wir durch unsere Sprachho- heit eine gewisse Macht haben, per Dekret bestimmte Wahrheiten zu schaffen. Denn wir können per Dekret einem gegebenen Satz eine bestimmte Bedeutung verleihen, so dass er wahr ist. Aber diese Macht ist in zweierlei Weise begrenzt: Erstens erstreckt sie sich nur darauf, einem Satz be- stimmte Wahrheitsbedingungen zu verleihen; sie erstreckt sich nicht darauf, ob die Bedingungen erfüllt sind. Zweitens erstreckt sie sich nicht auf alles, was wahr ist. Denn sie betrifft nur sprachliche Seite 102 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Wahrheiten, d.h. Sätze bzw. Aussagen. Aber mit Sätzen drücken wir Gedanken aus und auch die sind wahr bzw. falsch. Deren Wahrheit oder Falschheit können wir aber nicht durch willkürliche Beschlüsse festlegen. Daher kann man dem Konstruktivisten den Punkt über die Sprachhoheit einräumen, ohne dass die Wahrheit dadurch im Allgemeinen zu einer Sache der Willkür wird. §5.c Konstruierte Unterscheidungen An dieser Stelle sind zwei Warnhinweise sinnvoll: Unter dem Stichwort Konstruktivismus werden zahlreiche unterschiedliche Positionen verhandelt. Von diesen habe ich oben nur eine einzige be- sprochen; all die anderen bleiben von meiner Diskussion unberührt und sie bedürften einer ge- sonderten Diskussion. Dafür ist hier aber nicht der geeignete Ort. Doch lassen Sie mich zumindest noch eine konstruktivistische Idee erwähnen und ihre Beziehung zum Begriff der Wahrheit an- deuten. Eine Position betrifft bestimmte Unterscheidungen, die wir treffen. Wenn wir Dinge klassifizieren, dann haben wir dabei oft den Anspruch, echte Unterschiede in der Wirklichkeit auszumachen. Wir teilen Kleinstpartikel in Kategorien ein, chemische Stoffe, Lebewesen; dabei meinen wir, die von uns unabhängige Welt zu erkunden. Aber selbst, wenn wir das oft tun, misslingt das vielleicht manchmal – und zwar ohne, dass wir das merken. Beispielsweise unterscheiden wir Obst und Gemüse. Da es sich bei beidem um Pflanzen(teile) handelt, könnte man meinen, dies sei eine bio- logische Unterscheidung; ihr zugrunde lägen also systematische Unterschiede des biologischen Auf- baus und/oder der biologischen Funktionen. Dem ist aber eher nicht so. Was wir zum Obst zäh- len, hat biologisch betrachtet keine systematischen Gemeinsamkeiten, die es vom Gemüse unter- scheiden würde. Es handelt sich um eine sozusagen speisenkulturelle Unterscheidung: sie richtet sich nach Essgewohnheiten und Geschmacksrichtungen, für die es keine in der Biologie studierbare Grundlage gibt. Insofern könnte man sagen, diese Unterscheidung sei konstruiert oder menschen- gemacht, da sie keine Merkmale aus der menschenunabhängigen Realität wieder spiegelt, sondern Merkmale die erst durch menschliche Geschmäcker und Gewohnheiten zustande kommen. Die Einteilung in Obst und Gemüse hat nun keine brisanten Folgen. Es hängt nichts daran, ob sie bloß menschengemacht ist; auch richtet es keinen Schaden an, wenn man sie fälschlich für eine biologische Unterscheidung hält. Aber bei anderen Einteilungen kann die Sache anders aussehen. Insbesondere Kategorisierungen, die auf Menschen angewandt werden, können brisante Folgen für den Alltag und das Wohlbefinden der betroffenen Menschen haben. Nehmen Sie beispiels- weise die Einteilung in männlich und weiblich. Sie hat zahlreiche Konsequenzen, von der Frage, welche öffentlichen Toiletten man benutzen darf, über die Frage, wie man bei ersten Begegnungen wahrgenommen wird, wie man angesprochen und sonstwie behandelt wird, bis hin zu finanziellen Fragen, wenn man z.B. Versicherungen abschließt. Nun pochen die Leute in der öffentlichen Dis- kussion oft darauf, dass die Einteilung in männlich und weiblich einfach die objektive Realität beschreibt. Allerdings wird dies von einigen auch bezweifelt; vielmehr gehen, so die Idee, in die Einteilung eine ganze Reihe inhomogener Aspekte ein: einige sind biologisch, andere sind kulturell. Seite 103 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Insoweit aber die Unterscheidung teilweise kulturell geprägt sei, erwachsen besondere gesellschaft- liche Pflichten im Umgang mit ihr, vor allem in Hinsicht auf Toleranz und der Vermeidung von mit der Unterscheidung verbundenen Benachteiligungen. Positionen, denen zufolge bestimmte Unterscheidungen mindestens teilweise durch menschliche Interessen und Willkür festgelegt sind, statt echte Unterschiede in der Außenwelt widerzuspiegeln, werden oft als konstruktivistisch bezeichnet. In diesem Zusammenhang gibt es dann auch noch eine radikalere konstruktivistische Position: Ihr zufolge gibt es tatsächlich gar keine menschenun- abhängige Realität, die wir erkunden könnten. Alle Unterscheidungen sind menschengemacht, und was wir Realität nennen, wird erst durch unser eigenes Denken erschaffen. Wie genau man sich das vorzustellen hätte, bliebe weiter zu erläutern. Wie gesagt kann und will ich diese Positionen hier nicht diskutieren. Aber ich möchte kurz die Frage stellen: Sind dies Positionen, welche die Wahrheit angreifen und entwerten? Sicherlich könnte man das erstmal denken und die Positionen auf den Nenner bringen: Wahrheit ist bloß konstruiert (sei es in einigen, sei es in allen Fällen). Das ist gewiss ein ganz passender Ausdruck für die Position. Denn nehmen wir an, eine bestimmte Unterscheidung sei konstruiert, menschenge- macht; dann haben Aussagen, in denen wir sie verwenden, auch nur eine menschengemachte Wahrheit. Soweit, so gut. Allerdings lassen Konstruktivisten es manchmal so klingen, als ob hier die Wahrheit sozusagen der Buhmann sei; also ob hier ein Defekt im Begriff der Wahrheit aufge- deckt wurde, als ob der Wahrheitsbegriff ein Problem darstelle. Und das scheint zumindest weni- ger klar zu sein. Denn zugrundeliegend ist ein Defekt und Problem in unseren Unterscheidungen; und bei der radikal-konstruktivistischen Position, in der Idee der Realität. Dieser Defekt kommt nicht erst ins Spiel, wenn wir von Wahrheit reden; er kommt ins Spiel, sobald wir die Unterschei- dungen machen. Nur wirkt er sich dann mittelbar auch auf die Wahrheit aus. Denn die Wahrheit hat sozusagen die Rolle eines Spiegels: sie soll widerspiegeln, wie die Dinge sind. Dadurch erbt sie dann Konstruiertheit, wenn bestimmte Unterscheidungen in den Dingen nur konstruiert sind. Aber die Wahrheit scheint, bei nüchterner Betrachtung, hier nicht die Quelle des Problems zu sein; sie hat keinen eigenen Defekt, der Ursache der Lage wäre. Die Wurzel des Problems liegt anderswo – in der Bewertung einiger unserer Unterscheidungen oder (beim radikalen Konstruktivismus) vielleicht sogar in der Idee einer menschenunabhängigen Realität. Deshalb halte ich den Slogan, Wahrheit sei bloß konstruiert, hier zwar nicht für schlicht verfehlt; aber man sollte sich von ihm nicht irreführen lassen und einfach schließen, es ginge um ein ureigenes Problem mit der Idee der Wahrheit. Seite 104 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! §6. Ist Wahrheit relativ? Ist Wahrheit relativ? Um die Frage fruchtbar zu behandeln, sollte zunächst geklärt werden, wie genau sie eigentlich gemeint ist. Zwei Nachfragen sind hier sinnvoll: ▪ Erste Nachfrage: Worauf soll sich die Relativität der Wahrheit beziehen? Wenn etwas re- lativ ist, dann ist es relativ zu etwas Anderem. Nichts ist einfach nur so relativ, sozusagen ganz für sich alleine. Daher ist für das Verständnis der Frage wesentlich zu wissen, in Bezug auf welchen Faktor die Wahrheit relativ sein soll. ▪ Zweite Nachfrage: Wie allgemein ist die These gemeint? Wird vertreten, dass alle Wahrheit relativ ist, oder nur, dass Wahrheit in bestimmten Fällen relativ ist? Wenn die These, die Wahrheit sei relativ, in einer ganz allgemeinen Form vertreten wird, kann damit vor allem gemeint sein, dass Wahrheit relativ zu den Überzeugungen einer denkenden Per- son ist. In diesem Geiste wird in einer Diskussion manchmal eingeworfen: Okay, das ist vielleicht Deine Wahrheit, aber meine Wahrheit ist eine andere. Aber dann scheint die Relativitätsthese hinauszulaufen auf die Gleichsetzung von Wahrheit mit dem, was man glaubt. Und die These habe ich im Zuge der epistemischen Wahrheitstheorie bereits besprochen und verworfen. Denn jeder Mensch sollte einen prinzipiellen Unterschied anerkennen zwischen dem, was wahr ist, und dem, was er glaubt. Ansonsten hielte er sich für einen unfehlbaren Denker und den Maßstab aller Dinge. Das ist keine gute Idee. Im Hintergrund der so verstandenen These steht wahrscheinlich eine Verwechslung. Denn es gibt hier gewiss etwas, das relativ zu einer denkenden Person ist. Nur ist das nicht die Wahrheit; vielmehr ist es das Für-wahr-gehalten-werden. Denn das findet im Geiste eines denkenden Subjekts statt, und was in dem einen Geist abläuft, muss sich noch lange nicht im nächsten Geist genauso vorfinden. Neben dem Für-wahr-gehalten-werden ist überdies auch die Plausibilität oder die Begründetheit einer These relativ zum Meinungssystem einer Person. Denn eine These kann im Lichte einer Gruppe von Überzeugungen plausibel bzw. begründet sein, im Lichte einer anderen Gruppe hingegen nicht. Hier besteht also eine Relativität; aber eben nicht die Relativität der Wahrheit. Damit habe ich eine mögliche Ausbuchstabierung der These, Wahrheit sei relativ, verworfen. Diese Ausbuchstabierung beantwortet die oben gestellten Nachfragen zur These wie folgt: ▪ Wahrheit ist immer relativ zu den Überzeugungen eines Individuums. Das heißt nun natürlich nicht, dass an der These, Wahrheit sei relativ, gar nichts dran ist. Denn erstens könnte Wahrheit noch immer relativ zu etwas Anderem als den Überzeugungen eines In- dividuums sein. Und zweitens kann die These eben mit einer begrenzteren Reichweite vertreten werden, so dass nur behauptet wird, dass manche Wahrheiten nur relativ zu etwas wahr sind. Und die Wahrheit mancher Aussagen scheint in der Tat relativ zu bestimmten Faktoren zu sein. Nehmen Sie zum Beispiel die Aussage: Ben sitzt. Ist die wahr oder nicht? Sitzen ist etwas, was man Seite 105 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! zu einer Zeit tut und zu einer anderen Zeit nicht. Daher könnte man sagen, die Aussage sei nur in Relation zu einer bestimmten Zeit wahr (bzw. falsch). Oder nehmen Sie die Aussage: Rhabarber ist köstlich. Ist die Aussage wahr oder falsch? Hier könnte man begründet meinen, sie sei nur in Relation zu bestimmten Geschmacksvorlieben wahr oder falsch. Anna mag Rhabarber, so dass die Aussage relativ zu ihr wahr ist. Ben mag Rhabarber nicht, so dass die Aussage relativ zu ihm falsch ist. Man kann daher bei Aussagen bestimmter Arten begründet meinen, ihre Wahrheit sei relativ zu be- stimmten Faktoren. Was folgt daraus, wenn dies so ist? Vielleicht ein Vorsichtsgebot: Bei der Be- urteilung von Aussagen sollte man auf der Hut sein, ob eine möglicherweise versteckte Relativität vorliegt. Sonst kann man sich in fruchtlose Diskussionen verheddern. Beispielsweise könnten zwei Leute über die Wahrheit einer Aussage streiten, ohne zu merken, dass sie sie auf verschiedene Zeiten beziehen. Oder sie könnten sich darüber streiten, ob Rhabarber köstlich ist oder nicht, als sei das eine intersubjektiv zu entscheidende Angelegenheit. Es folgt aber nicht, dass Wahrheit generell relativ ist, oder gar, dass sie wertlos wäre. Hier scheint insbesondere noch folgende Überlegung wichtig: Nehmen wir an, Wahrheit sei in bestimmten Fällen relativ zu einem bestimmten Faktor. Beispielsweise relativ zu den Geschmacksvorlieben einer Person, wie bei der Aussage „Rhabarber ist köstlich“. In solchen Fällen kann von den jewei- ligen Aussagen Varianten bilden, die den entsprechenden Faktor explizit benennen. Bei dem vor- liegenden Fall kann man zum Beispiel die folgenden Aussagen bilden: ▪ Rhabarber ist für Annas Geschmack köstlich. ▪ Rhabarber ist für Bens Geschmack nicht köstlich. Diese Aussagen sind dann nicht mehr bloß relativ zum fraglichen Faktor wahr. Oder nehmen Sie Aussagen, die nur relativ zu einer Zeit wahr sind. Dass Anna 27 Jahre alt ist, ist heute wahr, morgen nicht mehr, da sie dann Geburtstag hat. Die Aussage, dass Anna 27 Jahre alt ist, scheint daher nur in Beziehung auf bestimmte Zeiten wahr zu sein. Sie ist beispielsweise wahr am 7. Juli 2021 und falsch am 8. Juli 2021. Dann aber können wir auch entsprechende Aussagen bilden, welche bereits explizite Zeitangaben enthält: ▪ Am 7. Juli 2021 ist Anna 27 Jahre alt. ▪ Am 8. Juli 2021 ist Anna 27 Jahre alt. Diese Aussagen sind nun anscheinend nicht mehr bloß relativ zu einer bestimmten Zeit wahr bzw. falsch. Die erste der beiden ist schlichtweg wahr; die zweite schlichtweg falsch. Man kann also zu relativen Wahrheiten sozusagen de-relativierte Gegenstücke bilden. Die Relativität in einem Bereich zeigt daher allemal nicht, dass Wahrheit im Allgemeinen relativ wäre. Und auch ansonsten sehe ich keine guten Gründe, eine ganz allgemein geltende Relativität der Wahrheit anzunehmen. Insbesondere auch, da mir der einzige überhaupt in Frage kommende Kandidat für Seite 106 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! einen allgemein relativierenden Faktor eben das Überzeugungssystem eines Individuums wäre – und diese Relativität sollte man ausschließen, um sich den Raum für Irrtum zu erhalten. §7. Schluss Zeit für eine Bestandaufnahme: Ich habe drei Slogans vorgestellt, die oft angeführt werden, um die Wahrheit abzuwerten und ihre Wichtigkeit herunterzuspielen. Aber ich habe argumentiert, dass es guten Grund zum Versuch gibt, die Wahrheit in Schutz zu nehmen: Sie ist wertvoll für uns. Bei flüchtiger Betrachtung könnte man die Slogans für den Ausdruck derselben These halten. Aber in der Philosophie geht man gerade über die flüchtige Betrachtung hinaus und schaut genauer hin – selbst, wenn dann eben alles rasch komplizierter wird. Das gehört zur Philosophie leider dazu. Wie das geht, habe ich jedenfalls hier vorgeführt: Ich habe diskutiert, was die Slogans tatsächlich bedeuten; wobei sich schnell zeigt, dass sie unterschiedliche Thesen aufstellen, die einzeln disku- tiert werden müssen. Auch hat sich gezeigt, dass die Thesen teilweise näher ausgeführt werden müssen, damit sie überhaupt beurteilbar sind; wer z.B. sagt, Wahrheit sei relativ, muss erklären, in Bezug worauf sie relativ sein soll. Erst, wenn uns die Thesen klar sind, kann man sie fruchtbar diskutieren. Solche Diskussionen konnte ich hier nur anreißen. Dabei hat sich gezeigt: ▪ Einige der mit den Slogans verbundenen Thesen sind schwer vertretbar (beispielsweise untergräbt sich die Position, dass es keine Wahrheiten gibt, selbst). ▪ Einige der mit den Slogans manchmal verbundenen Thesen richten sich gar nicht auf die Wahrheit (wie z.B. der Appell an intellektuelle Bescheidenheit, der eigentlich auf sicheres Wissen abzielt), oder zumindest nicht primär (wie z.B. die These, dass Wahrheit konstru- iert ist, weil die gesamte Realität konstruiert ist). Wie angekündigt, waren diese Diskussionen natürlich keineswegs abschließend. Man kann über das Thema lange weiterstreiten; und es ist auch gut, wenn man das tut. Aber dafür muss man sich die Ärmel hochkrempeln und sich wirklich auf die Untersuchung einlassen, welche Thesen vertre- ten werden sollen und wie sie zu beurteilen sind. Vom unreflektierten und undifferenzierten Ge- brauch der Slogans sollte man die Finger lassen in der Philosophie. Auch sollte man die hier ange- sprochenen Thesen nicht einfach als erwiesene Fakten hinstellen; einige der Thesen mögen korrekt sein, aber sie sind allemal nicht erwiesen oder offensichtlich. In Zusammenhang damit ergibt sich ein letzter Appell: Wirklich unterlassen sollte man es, die Slogans in irgendwelchen Diskussionen als dialektisches Manöver einzusetzen. Das ist in aller Regel ein billiger Move, weil er einfach dann herausgeholt wird, wenn es einem gerade passt. Immerhin nimmt man ja gerade willentlich an einem Streitgespräch teil; dabei macht man die ganze Zeit Behauptungen und stellt damit Dinge als wahr hin. Der argumentative Austausch setzt eine minimale Akzeptanz der Wahrheit voraus – sonst wäre er einfach pointless. Seite 107 Kap VI. Wahrheit? Ach nö! Rekapitulation 1. Drei unterschiedliche skeptische Thesen KEINE WAHRHEIT Wahrheit gibt es nicht. KONSTRUIERTE WAHRHEIT Wahrheit ist lediglich ein Konstrukt. RELATIVE WAHRHEIT Wahrheit ist nur relativ. Wichtig: Die Thesen enthalten verschiedene Begriffe und implizieren einander nicht einfach. 2. Wert der Wahrheit ▪ Praktischer Wert: Wahrheit lässt uns erfolgreich mit der Welt interagieren. ▪ Ideeller Wert: Manche halten Wahrheit an sich für erstebenswert. 3. KEINE WAHRHEIT ▪ Manchmal wird mit KEINE WAHRHEIT zur epistemischen Bescheidenheit aufgerufen; dann aber scheint die Rede von Wahrheit verfehlt; passen täte eher: festes Wissen. ▪ Die These, es gebe keine Wahrheit, kann heißen: Es gibt keine Wahrheiten. ▪ Diese These scheint selbstwidersprüchlich zu sein; denn wenn sie zuträfe ist, wäre sie eine Wahrheit, weshalb sie dann zugleich falsch wäre. ▪ Auch die These, es gebe nur eine Wahrheit (nämlich diese), scheint selbstwider- sprüchlich, denn aus einer Wahrheit folgen stets weitere. ▪ Die These, es gebe keine Wahrheiten über die reale Welt, führt zum Globalskeptizis- mus: Man dürfte dann Aussagen über die Welt nie als wahr hinstellen/behaupten. 4. RELATIVE WAHRHEIT ▪ Für die These RELATIVE WAHRHEIT besteht zweifacher Klärungsbedarf: - Was relativ ist, ist immer bezogen auf einen zu benennenden Faktor relativ. - Geht es um alle Wahrheit oder nur um Wahrheit in einem bestimmten Bereich? ▪ Ist Wahrheit stets relativ zu den Überzeugungen einer einzelnen Person? Damit käme man zu einem epistemischen Wahrheitsbegriff, der keinen Irrtum zulässt. ▪ Die Wahrheit einiger Aussagen scheint relativ auf bestimmte Faktoren zu sein, wie z.B. auf die Zeit (Anna friert) oder Geschmäcker (Das ist lecker). ▪ Wenn die Wahrheit einiger Aussagen relativ zu einem bestimmten Faktor ist, kann man de-relativierte Aussagen bilden, indem man den Faktor explizit benennt. Seite 108