Qualitative Sozialforschung I Vorlesung - Wintersemester 2024/25 PDF
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Institut für Sozialwissenschaften
2024
Prof. Dr. Susanne Vogl
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This document is a lecture for the winter semester 2024/25 course "Qualitative Sozialforschung I" at the "Institut für Sozialwissenschaften". It introduces the history, theories, and methodologies of qualitative research. The course covers different research approaches, including interviews and observations.
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Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25...
Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 1 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Vorstellung und © Prof. Dr. Susanne Vogl Erwartung Inhalte Einführung in Geschichte und Theorie qualitativer Sozialforschung; Überblick über Felder und Ansätze qualitativer Forschung; methodologische Grundlagen und Grundbegriffe qualitativer Forschung; Logik der Forschung und des Forschungsprozesses; Fragestellungen in qualitativen Forschungsdesigns ; Fallauswahl und Stichprobenziehung; Theorie und Praxis ausgewählter qualitativer Erhebungsmethoden: Interviewverfahren, teilnehmende Beobachtung etc. © Prof. Dr. Susanne Vogl 3 Lernziele theoretischen Grundbegriffe und grundlegende theoretische Perspektiven qualitativer Forschung, insbesondere von Erhebungsstrategien verstehen gedankenexperimentell und an kleinen praktischen Aufgaben selbstständig anwenden können © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Arbeitsweisen Tutor*innen: Aurelia Scheuring, Maxine Frank Kontakt: Für inhaltliche oder organisatorische Fragen nutzen sie bitte das Forum auf ILIAS. Individuelle Fragen bitte per Email. Sprechstunde: Nach vorheriger Email-Vereinbarung. LV-Orte und Zeiten: Donnerstags 11.30 bis 13.00 Uhr Reader: auf Ilias in Vorbereitung auf die Vorlesung, exzerpieren und in Kleingruppen diskutieren. © Prof. Dr. Susanne Vogl 5 Formales Teilnahmebedingungen und Voraussetzungen: aktive Mitarbeit in der Diskussion sorgfältige Erarbeitung der angegebenen Literatur (Readertexte) Anwesenheit nicht verpflichtend Leistungsnachweis: 90-minütige Klausur im Modul „Grundlagen Forschungsmethoden“ Fragen zu qualitativen und quantiven Methoden in einer Prüfung 2/3 Single-Choice-Fragen, 1/3 offene Fragen © Prof. Dr. Susanne Vogl 6 Semesterplan 1. Thematische Einführung 2. Grundprinzipien qualitativer Sozialforschung 3. Verhältnis von Theorie und Methoden, Erkenntnislogik 4. Forschungsprozess und Forschungsdesign 5. Sampling 6. Ethnographie und Beobachtung 7. Interviews 8. Internet Research, Online Interviews 9. Gruppendiskussion 10. Visuelle Daten 11. Einzelfallstudien, partizipative Forschung 12. Unterschiedliche Zielgruppen, Interkulturalität 13. Gütekriterien 14. Forschungsethik 15. Offene Fragen (während der quanti Vorlesung) Klausur am 13.2.2025 © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 Grundlagen qualitativer Sozialforschung Begriffliches © Prof. Dr. Susanne Vogl Methoden und Forschungsstrategien Epistemologie Wissenschaftstheorie Ontologie Methodologie © Prof. Dr. Susanne Vogl Ontologie Epistemologie Wissenschaftstheorie Methodologie Methoden und Forschungsstrategien © Prof. Dr. Susanne Vogl 8 Thesen zur Methodologie 1. Soziologie ist eine empirische Wissenschaft. 2. Es gibt eine Vielzahl von Methoden in der empirischen Sozialforschung. 3. Es gibt nicht nur unterschiedliche Methoden, es gibt unterschiedliche Methodologien. 4. Methodologische Annahmen sind Konsequenz einer wissenschaftstheoretischen Position, die ihrerseits auf dahinter liegende philosophische (insbesondere epistemologische) Annahmen zurückzuführen ist. 5. Daten „existieren“ nicht, sie sind in jedem Fall konstruiert. 6. Empirische Sozialforschung ist ein Prozess. 7. Jede Forschung ist beschränkt in Bezug auf Zeit, Ressourcen und durch ethische Regeln. 8. Auch wenn der Ausgangspunkt empirischer Sozialforschung in vielen Fällen das Individuum ist („methodologischer Individualismus“) , werden in der Regel Aussagen auf höherer Aggregatsebene angestrebt. Quelle: Martin Weichbold © Prof. Dr. Susanne Vogl Datenerhebungsverfahren Soziale Wirklichkeit Produkte menschlicher Aktuelles menschliches Tätigkeit Verhalten Verhalten Sprachliche Äußerungen „Nicht-reaktive Verfahren“ „Reaktive Verfahren“ Erhebung Auswahl/Sammlung Beobachtung Befragung von Artefakten Analyse Inhaltsanalyse (i.w.S.) Statistische Auswertung Quelle: Martin Weichbold © Prof. Dr. Susanne Vogl Was ist qualitative Sozialforschung? Häufig definiert in Abgrenzung zu quantitativen Verfahren als „non-numerical“ Es gibt nicht „die“ qualitative Sozialforschung Unterschiedliche Erkenntnis- und Verallgemeinerungslogik Unterschiedliche Gütekriterien Unterschiedlicher Forschungsprozess (Grade von Offenheit und Standardisierung) Differenzierung in qualitativ, interpretativ, rekonstruktiv Interpretativ: manifeste Inhalte und latente Sinnstrukturen interpretative Arbeit = Alltagsarbeit Rekonstruktion: wissenschaftlich-methodische Interpretation; Deutungen sind nur über Material, soziale Praxis zugänglich Grundannahme: sinnhaftes Handeln wobei Sinn nicht vollständig bewusst oder verfügbar ist „Handeln und Interaktion sind nicht allein das Resultat expliziter Intentionen der Handelnden, es drückt sich in ihm auch ein impliziter, in der Regel vorbewusster Bezug auf z. B. milieu- oder generationsspezifische Wertorientierungen und auf kulturelle Distinktionsmuster aus, den es in der rekonstruktiven Analyse zu erhellen gilt“ (Strübing 2018:3) © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Was kann qualitative Sozialforschung? Untersuchung von Unbekanntem und Neuem Nachvollzug des subjektiv gemeinten und Rekonstruktion des latenten Sinns „Wir kennen das Gesicht von jemandem und können es unter Tausenden ja unter einer Million wiedererkennen. Trotzdem können wir gewöhnlich nicht sagen, wie wir ein uns bekanntes Gesicht wiedererkennen. Das meiste dieses Kennens kann also nicht in Worte gefasst werden“ (Polanyi 1985: 14). Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus Rekonstruktion der Komplexität von Handlungsstrukturen am Einzelfall Hypothesen- und Theorieprüfung am Einzelfall Empirisch begründete Hypothesen- und Theoriebildung Quelle: Rosenthal (2014) © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung Für qual und quan gilt: Fehlen einer Einheit ABER: getrennt durch Methoden und v.a. die Kultur Häufige Gegensatzpaare: Datentyp: qualitativ vs. quantitativ Erkenntnismodus: erklärend vs. verstehen Forschungslogik: theorietestend vs. theoriegenerierend Wissenschaftstheorie: normativ vs. interpretativ Schlussverfahren: induktiv vs. deduktiv Methoden: standardisiert vs. offen Quelle: Strübing (2018) © Prof. Dr. Susanne Vogl Zeit für Fragen, Anregungen, Kommentare…. © Prof. Dr. Susanne Vogl 16 Literatur Strübing, J. (2018). Qualitative Sozialforschung: Eine komprimierte Einführung. S. 1-9. Rosenthanl, G. (2015). Interpretative Sozialforschung. S. 13-26. © Prof. Dr. Susanne Vogl 17 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 2 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Methodologie qualitativer Sozialforschung Ausgangspunkt: Common Sense Konstruktionen Sozialwissenschaftliche Konstruktionen, Kategorien und Typenbildungen müssen an die Konstruktionen des Alltags anschließen. wissenschaftlichen Begriffsbildungen sind sekundäre Konstruktionen von implizit im alltäglichen Handeln Verhältnis qualitativer Methoden der Sozialwissenschaft zu ihrem Gegenstand ist rekonstruktiv. Interpretationen der Handelnden sind Konstruktionen ersten Grades – wissenschaftliche Typen und Theorien sind Konstruktionen zweiten Grades © Prof. Dr. Susanne Vogl Methodologie qualitativer Sozialforschung Zugang: Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen Krisenexperimente zeigen, wie voraussetzungsvoll das selbstverständliche Funktionieren von Verständigung ist Fall 5 Das Opfer winkte freundlich. (VP) Wie stehts? (E) Wie steht es mit was? Meiner Gesundheit, meinen Geldangelegenheiten, meinen Aufgaben für die Hochschule, meinem Seelenfrieden, meinem... (VP) (Rot im Gesicht und plötzlich außer Kontrolle). Hör zu. Ich unternahm gerade den Versuch höflich zu sein. Offen gesprochen kümmert es mich einen Dreck, wie es mit Dir steht. (Garfinkel 1981: 207) © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Beispiel Indexikalität der Alltagssprache (Garfinkel) FAKTISCHER GESPRÄCHSVERLAUF REKONSTRUKTION VON BEDEUTUNG Als ich heute Nachmittag unseren vierjährigen Sohn Mann: „Dana hat es heute geschafft, eine Dana aus dem Kindergarten abholte, schaffte er es, Münze in die Parkuhr zu stehen, ohne hoch genug hinaufzulangen, um eine Münze in die Parkuhr zu stecken, als wir in der Parkzone parkten. dass er hochgehoben werden musst.“ Bisher musste man ihn immer hochheben, damit er so weit hinauf reichte. Frau: „Hast du ihn in das Da er eine Münze in die Uhr steckte, musst du angehalten haben, als du ihn bei dir hattest. Ich weiß, Schalplattengeschäft mitgenommen?“ dass du entweder auf dem Hin- oder auf dem Rückweg am Schallplattengeschäft angehalten hast. War es auf dem Rückweg, so dass er bei dir war, oder hast du dort angehalten, als du unterwegs warst, um ihn zu holen und dann noch irgendwo anders auf dem Rückweg? Mann: „Nein zum Schuster“ Nein, beim Schallplattengeschäft habe ich auf dem Hinweg angehalten, beim Schuster war ich auf dem Nachhauseweg, als er bei mir war.“ sprachliche Äußerungen lediglich Hinweise auf Bedeutungsgehalte © Prof. Dr. Susanne Vogl Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2014: 15), nach Garfinkel (2004, 38) Umgang mit Indexikalität und Vagheit Zwei Strategien empirische Forschung, um mit Vagheit umzugehen: 1. Kommunikation mit Erforschenden aus dem Verweisungszusammenhang (Indexikalität) lösen Standardisierung = Verlust der Verwobenheit mit Handlungspraxis 2. Kontrollierte Methode des Fremdverstehens: „Kommunikation wird so weit wie möglich in ihrem je spezifischen Verweisungszusammenhang „eingefangen“ und somit das für die Kommunikation konstitutive Moment der Indexikalität nicht ausgeblendet, sondern bewusst einbezogen“ (Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014: 17) Äußerungen werden im Kontext interpretiert Frage nach subjektiven Deutungen und Einstellungen/Alltagstheorien = subjektiver Sinn Frage nach formalen Strukturen/sozialen Regeln = objektiver Sinn © Prof. Dr. Susanne Vogl „Äußerungen stehen immer in einem spezifischen Verweisungszusammenhang, d. h. sie sind indexikal. Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen heißt, Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Erforschten ihre Relevanzsysteme formal und inhaltlich eigenständig entfalten können. Die einzelnen Äußerungen werden erst in diesem Kontext, innerhalb der Selbstreferenzialität der gewählten Einheit, interpretierbar. Der Prozess des Fremdverstehens ist insofern methodisch kontrolliert, als der Differenz zwischen den Interpretationsrahmen der Forscher und denjenigen der Erforschten systematisch Rechnung getragen wird“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2021: 21). © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 Methodologische Grundprinzipien qualitativer Forschung Offenheit in Bezug auf Gegenstandsangemessenheit Forschungsprozess und Design inkl. (konkrete) Forschungsfrage(n) – eher Methoden der Erhebung und Analyse vages Interesse richten sich nach dem Verzicht auf Hypothesenbildung ex Forschungsgegenstand und den ante Gegebenheiten des Feldes Forschungsablauf Auswahl der untersuchten Personen untersuchte Personen und ihren Kommunikativität Relevanzen Datengewinnung ist an den Strukturen Kontextualität von Bedeutungen des Alltagshandelns ausgerichtet Untersuchungssituation Aushandlungsprozesse in möglichst Methoden natürlichen Situationen Analyse/Interpretation © Prof. Dr. Susanne Vogl 8 Methodologische Grundprinzipien qualitativer Forschung Prozesshaftigkeit Flexibilität Forschungsgegenstand Kontaktaufnahme Forschungsthema Auswahl der untersuchten Forschungsteam Personen Art der Interviewführung Dokumentieren und Notizen Interviewsituation machen Datenauswertung Reflexivität & Explikation In jeder Phase des Forschungsprozesses Jeder Schritt wird dokumentiert und expliziert © Prof. Dr. Susanne Vogl 9 Methodologische Grundprinzipien qualitativer Forschung UNTERSCHEIDUNGSKRITERIEN GEMEINSAMKEITEN Überprüfung oder Entdeckung Soziale Realität wird durch offene von Theorien und Hypothesen Verfahren erschlossen Grad der Offenheit in Erhebung Prinzip der und Auswertung Gegenstandsangemessenheit Interpretation auf Basis häufigen Ziel: gemeinsamen Auftretens von Welt zunächst aus der Perspektive Phänomenen ODER der Handelnden in der Alltagswelt Rekonstruktion von erschließen Wirkungszusammenhängen und Soziale Praktiken im sozialen Sinnstrukturen Alltagskontext untersuchen „Sinnebenen“ und Relation Implizites und bewusstes Wissen zueinander Methoden sollen Interpretationen der handelnden Akteure erschließen © Prof. Dr. Susanne Vogl 10 Erkenntnisinteressen qualitativer Forschung „Daten“ entstehen aus Zusammenspiel von Forschungsfeld und Forschungsfrage Keine Hypothesen aus bereits vorliegenden Theorien abgeleitet Untersuchung von Neuem initialen Forschungsfragen nicht zu genau und eng „What the hell is going on here?“ (Geertz, 1973) „it could have been otherwise“ (Star, 1988: 198) Rekonstruktion von Handlungsentscheidungen Selbstverständlichkeiten aufdecken „Frage nach dem Wie bestimmter Handlungsweisen wichtiger als die Bestimmung, dass eine bestimmte Handlungsweise vorliegt“ (Strübing 2018: 27). © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Qualitative Forschung Erkenntnisinteresse: Sinn der handelnden Individuen (=subjektiver Sinn); dieser ist den handelnden Menschen verfügbar erzählbar Erhebung und Analyse: Häufig Interviews und verdichtende Analyse Quelle: Reichertz (2016: 27) © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Interpretative Forschung Erkenntnisinteresse: Subjektiver und sozialer Sinn von Handeln „Ziel ist nachzuvollziehen, welche ´überindividuellen und sozial verankerten Sinnstrukturen dem Handeln und Denken der Akteure zugrunde liegen“ (Kleemann/Krähnke/Matuschek (2013): Interpretative Sozialforschung. Springer. S. 17) Erhebung: Daten aus beiden Sinnbereichen (= Interviews und Beobachtung) Analyse: subjektives Wissen als subjektive Perspektive gerahmt, die vor dem Hintergrund der sozialen Perspektive zu verstehen und in diese einzurücken ist. Ziel: integrierende Zusammenschau und zusätzliche Erkenntnis im Vergleich zu Verdichtung der subjektiven Sicht der Individuen oder des sozialen Sinn für sich genommen. Quelle: Reichertz (2016: 27) © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Rekonstruktive Verfahren Erkenntnisinteresse: objektive, latente Sinnstrukturen, die für menschliches Handeln wesentlich sind (aber meist unbewusst) Rekonstruktion von Wirklichkeit(en), die Akteure mit ihrem Handeln vollziehen Rekonstruktion impliziter Wissensbestände und impliziter Regeln sozialen Handelns Verstehender Nachvollzug der Relevanzstrukturen, die dem Handeln zugrunde liegen Erfassung sozialer Verhältnisse der Sinnzusammenhänge Erhebung: Skeptischer gegenüber Nützlichkeit subjektiver Deutungen und deren Erhebung Ideologie- oder Irrtumsverdacht nur sehr begrenzt Interviews Analyse: Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Sinn und dem Verhältnis der beiden zueinander Quelle: Reichertz (2016: 27) © Prof. Dr. Susanne Vogl 15 Beispiel für rekonstruktive Verfahren „In der Narrationsanalyse im Rahmen der Biographieforschung zum Beispiel geht es um die Unterscheidung zwischen den bekundeten Handlungsabsichten und Theorien über das eigene Selbst einerseits und der sich „im Schatten“ dieser Theorien dokumentierenden Handlungspraxis sowie den Prozessen des Erleidens andererseits. Oft liegt der Zugang zum handlungsleitenden Wissen der Akteure gerade nicht in deren expliziten Theorien und Erklärungen, sondern ist in den Beschreibungen und Erzählungen ihrer Handlungspraxis aufgehoben. Aus diesem Grund kommt es etwa bei der Narrationsanalyse wesentlich auf das Verhältnis von Erzählung und Argumentation an. (Przyborski, Wohlrab- Sahr 2014: 20). © Prof. Dr. Susanne Vogl 16 Lernziele Wie kann man qualitative Sozialforschung von anderen Arten empirischer Sozialforschung unterscheiden? Mit welchen unterschiedlichen Begriffe werden qualitative Verfahren auch bezeichnet werden? Was steht hinter dieser Differenzierung? Was sind Grundprinzipien qualitativen Forschens? Was kennzeichnet Forschungsfragen qualitativer Forschung? Wie tritt qualitativ-interpretative Forschung an ihre empirischen Gegenstände heran? © Prof. Dr. Susanne Vogl 17 Literatur Strübing, J. (2018). Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.). De Gruyter Oldenbourg. S. 21-30 Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2021). Qualitative Sozialforschung (5., Aufl). Oldenbourg. S. 13-24 Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung (5. Aufl.). Beltz Juventa. S. 40-57 Reichertz, J. (2016). Qualitative und interpretative Sozialforschung. Springer. S. 49-72 © Prof. Dr. Susanne Vogl 18 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/5 - Einheit 3 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Wie kann man qualitative Sozialforschung von anderen Arten empirischer Sozialforschung unterscheiden? Mit welchen unterschiedlichen Begriffe werden qualitative Verfahren auch bezeichnet werden? Was steht hinter dieser Differenzierung? Was sind Grundprinzipien qualitativen Forschens? Was kennzeichnet Forschungsfragen qualitativer Forschung? Wie tritt qualitativ-interpretative Forschung an ihre empirischen Gegenstände heran? © Prof. Dr. Susanne Vogl 3 Verhältnis von Theorie © Prof. Dr. Susanne Vogl und Methoden 4 Methodologie Theorie hinter den Methoden/theoretischer Begründungsrahmen methodischer Vorgehensweisen Argumente für Legitimation von Methoden Methodologische Argumentation bezieht sich/impliziert ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis und Erkenntnistheorien Zusammenhang Ontologie – Epistemologie – Wissenschaftstheorie - Methodologie – Methoden ABER: Methoden können auch im Forschungsprozess entstehen © Prof. Dr. Susanne Vogl Methoden Ergebnis forschungspraktischer Problemlösungsprozesse Alltagsheuristiken gehen auch in wissenschaftliche Praxis ein Nicht nur als Step-by-step-Anleitung, sondern als begründete Lösung forschungslogischer Probleme Gütekriterien können nicht „einfach“ übertragen werden Methoden sind keine neutralen Werkzeuge: „Daten allein sprechen nicht, sie müssen zum Sprechen gebracht werden“ (Strübing 2018: 35). © Prof. Dr. Susanne Vogl 6 Rolle von Theorie Sozialtheorie: Annahmen über die Beschaffenheit von Sozialität Setzung vor empirischer Forschung Gegenstandsbezogene Theoriebildung: „Theorien begrenzter Reichweite“ (Merton) Gesellschaftstheorien: beziehen sich auf Sozialität im Ganzen © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 „Theorieereignisse“ für qualitativ- empirisches Grundverständnis Definition der Situation: „If men define situations as real, they are real in their consequences“ (Thomas/Thomas 1928: 572). Generalisierte Anderen und das signifikante Symbol (Mead): Sozialisation ersetzt verlorene Verhaltenssicherheit durch Instinktentbundenheit Unterscheidung von Ausdrucks-, Objekt- und Dokumentsinn (Mannheim) „Weltanschauungen“ werden im Handeln, Kommunizieren und in Artefakten ausgedrückt Typisierungen und Idealisierungen der Alltagswelt (Schütz) sinnhaftes Handeln und Wissen der Subjekte erzeugt soziale „Strukturen der Lebenswelt“ Typisierungen als „Erfahrungsspeicher“ erlauben situatives Fremdverstehen Bestimmung sozialwissenschaftlicher Theorien als Konstruktionen zweiter Ordnung „Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln der Wissenschaft zu erklären versucht“ (Schütz 2004: 159). © Prof. Dr. Susanne Vogl 8 Quelle: Strübing (2018: 38 ff.) Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen Status der Daten: „Datengewinnung“ statt „Datensammlung“ Unterscheidung Material vs. Daten Rolle der Forscherin: konstitutiven Rolle des Forschers für Forschungsprozesse und -ergebnisse Möglichkeit bestimmter wissenschaftlicher Schlussverfahren: Induktion, Deduktion, Abduktion Theoriebegriff: „the published word is not the final one, but only a pause in the never-ending process of generating theory“ (Glaser/Strauss 1967: 40) Verhältnis Alltagswissen – Wissenschaft Gleiche Erkenntnisbedingungen aber Forschende sind Beobachter zweiter Ordnung Graduelle Unterschiede © Prof. Dr. Susanne Vogl 9 Quelle: Strübing (2018: 51.ff.) Lernzielkontrolle Worin unterscheiden sich Methoden von Methodologien? Worin unterscheiden sich Methodologien von Wissenschafts- und Erkenntnistheorien? Welchen Einfluss haben sozialtheoretische und epistemologische Vorentscheidungen auf Methodenwahl? Welche Auffassungen über die Genese und Beschaffenheit von Realität hat welche methodologischen Konsequenzen? © Prof. Dr. Susanne Vogl 10 Literatur Reichertz, J. (2016). Qualitative und interpretative Sozialforschung. Springer. Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung (5. Aufl.). Beltz Juventa. Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2021). Qualitative Sozialforschung (5., Aufl). Oldenbourg Strübing, J. (2018). Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.). De Gruyter Oldenbourg. © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 4 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Subjektivität in der © Prof. Dr. Susanne Vogl Forschung Subjektivität Subjektivität: jeder Menschen hat eine aufgrund seiner Lebensgeschichte eigene psychische, emotionale und kognitive Verfasstheit, die Handeln deutlich beeinflusst Handeln als Ausdruck von Subjektivität Subjektivität als Ressourcen für den Forschungsprozess „Die beobachteten Menschen sind vor allem Akteure, die einen Leib und einen Körper haben, die denken, hoffen, fühlen, leiden, lachen, glücklich oder unglücklich sind und deren Denken und Handeln immer mit dieser körperlichen Befindlichkeit, mit dieser Subjektivität, verwoben sind. Deshalb haben Sozialforschende, wollen sie das Handeln von Menschen verstehen, auch deren subjektive körperliche Befindlichkeit zu erheben und zu ‚verstehen‘. Der Weg zur Subjektivität des anderen kann dabei immer nur über die eigene Subjektivität führen“ (Reichertz 2016: 79). © Prof. Dr. Susanne Vogl „Manifestation der Subjektivität“ in Forschung Themenfindung Formulierung der Fragestellung Datenerhebung Datenauswertung Theoriebildung „Die Daten, also der Text, die im Interview gemachten Äußerungen etc. gehören alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung“ (Reichertz 2016: 81). Publikation Lesen © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Gültigkeit von Aussagen/Erkenntnissen Frage nach Glaubwürdigkeit und Güte wichtig und richtig Verfahren zur Sicherung von Güte sind aber recht unterschiedlich Zentrale Kriterien: Intersubjektive Nachvollziehbarkeit Anzahl und Auswahl der Fälle Methodenentscheidung bezogen auf Gegenstand Kanonisierung von Methoden kooperative und konkurrierende Teamarbeit © Prof. Dr. Susanne Vogl 5 Forschungsdesign © Prof. Dr. Susanne Vogl Qualitative Forschungsdesigns Allgemein: Forschungsdesigns explizieren den Untersuchungsplan = Leitlinie Besonderheiten qualitativer Forschung: Zirkularität des Forschungsprozesses Rekonstruktion von sozialem Sinn und der Methoden © Prof. Dr. Susanne Vogl Zentrale Fragen einer empirischen Arbeit Was will ich wissen? Formulierung des Erkenntnisinteresses und der Fragestellung Welches methodologische Paradigma ist meiner Fragestellung angemessen und welche Konsequenzen folgen daraus? Methodologische Positionierung Wo und von wem erfahre ich am ehesten etwas über das, was ich wissen will? Bestimmung des Forschungsfeldes Welches sind die geeigneten Verfahren, um in einem bestimmten Forschungsfeld Daten zu erheben, die im Hinblick auf mein Erkenntnisinteresse besonders aussagekräftig sind? Wahl der Erhebungsverfahren Welche Art der Auswertung ist aufgrund der erhobenen Daten möglich und diesen Daten angemessen? Wahl der Auswertungsmethoden Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2014, S. 1) © Prof. Dr. Susanne Vogl 12 Forschungsfragen © Prof. Dr. Susanne Vogl Forschungsfragen Entwicklung einer Fragestellung: Interesse für ein Phänomen Interessierendes Phänomen Beobachtungen, Überlegungen und Fachliteratur als Quelle Das interessierende Phänomen ist noch keine Forschungsfrage! Das Phänomen lässt Vorläufige verschiedene Fragestellungen Fragestellung zu. Fachliteratur, Neugierige Fragestellung kann sich im Beobachtung ForscherIn Verlauf der Forschung ändern. etc. Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2014, S. 1) © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Funktionen von Forschungsfragen Forschungsfragen definieren ein regulatives Ideal Forschungsfragen dienen als Kommunikationsinstrument Forschungsfragen schlagen eine Brücke zwischen Theorie und Empirie Forschungsfragen liefern ein übergeordnetes Entscheidungskriterium © Prof. Dr. Susanne Vogl 15 Zusammenspiel Forschungsfrage und Forschungsdesign Für die Gestaltung von Design und Methodik lassen sich für die gegenstandsorientierte Arbeit an und mit Forschungsfragen folgende Leitfragen formulieren: 1) Mit welchem konzeptuellen Rahmen wird das interessierende soziale Phänomen als Forschungsgegenstand gefasst? 2) Welche metatheoretischen Annahmen sind mit dieser Form der theoretischen Gegenstandskonstruktion verbunden? 3) Welche „Materialien“ (~ Daten) können zur empirischen Gegenstandskonstruktion genutzt oder hergestellt werden? 4) Welche „Werkzeuge“ (~ Methoden) sind dem konzeptuellen Rahmen, den metatheoretischen Annahmen und den Erkenntniszielen angemessen? (Horvath, 2022, pp. 43–45) © Prof. Dr. Susanne Vogl 17 Was macht eine gute Forschungsfrage aus? Was macht eine „gute“ Forschungsfrage aus? Eine gute Forschungsfrage ist beantwortbar. Eine gute Forschungsfrage ist für ein breites sozialwissenschaftliches Publikum auf Anhieb verständlich. Eine gute Forschungsfrage ist umfassend begründet. Eine gute Forschungsfrage gibt die Reichweite der zu erwartenden Befunde treffend wieder. Eine gute Forschungsfrage ist interessant. (Horvath, 2022, p. 46) © Prof. Dr. Susanne Vogl 18 Problemstellungen in der interpretativen Soziologie „Wie“-Fragen –nicht „Warum“-Fragen – Beispiele Sucht nicht nach Kausalitäten, sondern nach der Art und Weise, wie ein soziales Phänomen in der Wahrnehmung und im Handeln entsteht –Beispiele Ihr konkreter Gegenstandsbezug entwickelt sich im Forschungsprozess (Anschlüsse an die Grounded Theory) – Beispiele Zielt auf Herausfinden kontraintuitiver Zusammenhänge - Beispiele Wissensgenerierung zu spezifischen Sinnbezügen und Praktiken – Beispiele Entwicklung einer Theorie mittlerer Reichweite – Beispiele © Prof. Dr. Susanne Vogl 19 Qualitative Forschungsfragen „What the hell is going on here?“ (Geertz 1973) Qualitative Forschung frägt nach subjektiver Bedeutung sozialen Interaktionen, soziale Praxis latenten Sinnstrukturen und zugrunde liegenden Mechanismen Muster und Differenzierung von Entstehungs- und Verlaufsprozessen © Prof. Dr. Susanne Vogl 20 Qualitative Forschungsfragen Qualitative Forschungsfragen sind offen formuliert! Das heißt: Keine geschlossene Frage (z.B. ja-nein) Keine Ursache-Wirkungsfrage Kausalzusammenhänge dürfen nicht vorweggenommen werden (z.B. „Inwiefern beeinflusst das Geschlechterrollenbild die Studienwahl“) Keine wertenden Fragen: „Weshalb ist ein geisteswissenschaftliche Studium für Männer weniger attraktiv als für Frauen?“ Qualitative Forschung ist ein Prozess, das heißt: Die Forschungsfrage kann/darf im Laufe des Forschungsprozesses auch umformuliert werden. © Prof. Dr. Susanne Vogl 21 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 1: Welchen Einfluss hat x unter Bedingung y auf z? Beispiel: Welchen Einfluss hat die soziale Herkunft auf die Schulleistung (wenn Kinder auf eine integrierte Gesamtschule gehen)? © Prof. Dr. Susanne Vogl 22 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 2: Unter welchen Umständen führt x zu y? Beispiel: Unter welchen Bedingungen führt der Besuch einer integrativen Schule für Kinder mit Behinderung zum erfolgreichen Schulabschluss? © Prof. Dr. Susanne Vogl 23 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 3: Welche Möglichkeiten hat x unter Bedingung von y im Hinblick auf z? Beispiel: Welche Möglichkeiten haben Kinder, die eine integrative Schule besuchen, im Hinblick auf ihren Berufserfolg? © Prof. Dr. Susanne Vogl 24 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 4: Gibt es einen Zusammenhang zwischen x und y? Wie gestaltet sich der Zusammenhang? Beispiel: Gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg? Wie gestaltet sich der Zusammenhang? © Prof. Dr. Susanne Vogl 25 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 5: Wie wird x von y wahrgenommen? Beispiel: Wie werden Kinder mit Behinderung in integrativen Schulen wahrgenommen? Typ 6: Was bedeutet x für y? Beispiel: Was bedeutet ein Schulwechsel für ein Kind? © Prof. Dr. Susanne Vogl 26 Mögliche Typen von Fragestellungen Typ 7: Welche Biographien haben Personen mit dem Merkmal X? Beispiel: Welche Bildungsgeschichten erzählen AkademikerInnen, die aus nicht-akademischen Elternhäusern stammen? Typ 8: Was passiert im Prozess X? Wie verläuft der Prozess X? Welche Rolle spielt Y im Prozess X? Beispiel: Wie handeln Kindergartenkinder Konflikte mit Gleichaltrigen aus? Wie laufen Gespräche in der Arbeitsmarktberatung für Migrantinnen ab? © Prof. Dr. Susanne Vogl 27 Übung 1 Überlegen Sie sich eine offene Forschungsfrage im Sinne der qualitativen Forschungslogik. Diskutieren Sie ihre Forschungsfrage mit Ihrem/r SitznachbarIn. © Prof. Dr. Susanne Vogl 28 Checkliste qualitative Forschungsfragen Ist meine Frage… …offen formuliert? …klar und eindeutig formuliert? Enthält die Frage Vorannahmen? Impliziert die Frage ein Kausalverhältnis? Sind verwendete Begriffe klar? © Prof. Dr. Susanne Vogl 29 Beispiele für qualitative Forschungsfragen Wie erleben Jugendliche mit Migrationshintergrund ihre Umwelt? Wie gehen sie mit Benachteiligungen um? Welche Folgen hat das Leben in einer psychiatrischen Klinik für ihre Patient:innen? Auf welchen Grundlagen beruht die Möglichkeit zu Verständigung und zu gemeinsamen Handeln in beliebigen Situationen? Was sind die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit? Wie wird sie individuell und in der Gemeinschaft verarbeitet? Was bedeutet „Mannsein“ heute? Welche Potentiale haben betriebliche Geschlechterkulturen für Gleichstellung? Wie werden Hierarchien im Polizeialltag gelebt? Welche Faktoren beeinflussen den Studienerfolg, wie wird die Situation im Technikstudium von unterschiedlichen Studierenden erlebt? © Prof. Dr. Susanne Vogl 30 Literatur Horvath, K. (2022). Forschungsfragen. In N. Baur & J. Blasius (Eds.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (pp. 35–50). VS Verlag für Sozialwissenschaften Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2019). Forschungsdesigns für die qualitative Sozialforschung. In N. Baur & J. Blasius (Eds.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (2nd ed.). Springer VS. S. 105-124 Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2021). Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch (4. Aufl.) Oldenbourg. Reichertz, J. (2016). Qualitative und interpretative Sozialforschung. Springer. © Prof. Dr. Susanne Vogl 31 Methodenentscheidung © Prof. Dr. Susanne Vogl 32 Wahl der Erhebungsverfahren Wie kommen wir der Fragestellung möglichst nahe? Welches Material brauchen wir? Wie kommen wir an das Material? Ist bereits Material vorhanden oder muss Material gesammelt werden? Welches Material könnte bereits vorhanden sein? Was sind Formen von Datengenerierung? Sind diese Formen der Fragestellung/dem Phänomen und der Untersuchungsgruppe angemessen? Was sind Vor- und Nachteile? Was sind praktische Schwierigkeiten? © Prof. Dr. Susanne Vogl 33 Leitfragen für den Feldzugang Wie ist das Feld beschaffen? (offen, geschlossen?) Nehme ich eine offene oder verdeckte Position als Forschende*r ein? Gibt es ‚gatekeeper‘, über die der Einstieg erleichtert / erschwert werden kann? Wie funktioniert ein ‚Schneeballsystem‘ zur Gewinnung von Interviewpartner*innen? Welche Informationen zum Forschungsprojekt müssen für den Feldzugang kommuniziert werden, welche nicht? Können Medien (Anzeigen, Flyer, Internetaufrufe, …) genutzt werden? Wie gehen die ersten Felderfahrungen in die Forschung ein? Wie detailliert werden Feldprotokolle erstellt? Sollen sie später systematisch ausgewertet werden? © Prof. Dr. Susanne Vogl 34 Mögliche auftretende Probleme Revision von Forschungsfrage und Vorgehen Theoretische Anbindung nicht hinauszögern Ressourcenintensität Methodenpraxis © Prof. Dr. Susanne Vogl 35 Welche Phasen im Forschungsprozess können unterschieden werden? Welche Grundsatzentscheidungen sind zu treffen? Was sind Kennzeichen qualitativer Forschungsfragen? © Prof. Dr. Susanne Vogl 36 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 5 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Sampling in qualitativer © Prof. Dr. Susanne Vogl Forschung Lernziele Definieren von Grundbegriffen: Sample, Datenkorpus, Fall, Untersuchungseinheit, Samplingeinheit Beschreiben des Forschungsprozesses in qualitativer Forschung Nennen und Beschreibenen verschiedener Samplingstrategien mit Vor- und Nachteilen Bennen der Logik hinter Generalisierung, Unterscheiden von Generalisierungsstratgien Definieren von Typenbildung © Prof. Dr. Susanne Vogl Warum über Sampling nachdenken? Frage nach Verallgemeinerbarkeit und Gütekriterien schneidet auch Probleme des Samplings an Auswahl der Fälle bestimmt, wie Ergebnisse verallgemeinert werden können Fälle stehen nicht nur für sich selbst, sondern „repräsentieren etwas“ Frage der adäquaten Fallauswahl ABER: Schluss einer „Stichprobe“ auf die Gesamtheit nicht einfach, weil „Gesamtheit“ keine homogene Masse Bedeutung des Samplings! Ziel: Strukturiertheit des Phänomens und Spektrum seiner Ausprägungen erfassen © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Grundbegriffe Sample Datenkorpus Datensammlung Fälle Erhebungs-/Beobachtungs-/Untersuchungseinheit Samplingeinheit © Prof. Dr. Susanne Vogl 5 Forschungsprozess und Stichprobenziehung 1. Ebene: Forschungsfrage/Forschungsdesign: Was oder wen will ich wie untersuchen? Fallkonstruktion Absteckung der Grundgesamtheit/Erschließung des Untersuchungsfeldes Festlegung der Stichprobenstrategie im Einklang mit gewähltem Forschungsdesign und qualitativer Methode Datenerhebung: Wie wähle ich den Fall/die Fälle konkret aus? Wie komme ich an den Fall/die Fälle? Festlegung des Ausgangspunktes der Datenerhebung Feldzugang Sammlung des Datenmaterials/Erstellung des Datenkorpus Quelle: Akremi (2019: 314) © Prof. Dr. Susanne Vogl 6 Forschungsprozess und Stichprobenziehung 2. Ebene: Datenauswertung: Welche Fälle sind letztlich in meine Stichprobe gelangt? Was wird aus den erhobenen Daten konkret ausgewertet? Wie können die Ergebnisse verallgemeinert werden? Sichtung des erhobenen Datenmaterials evtl. Einteilung in primäre, sekundäre usw. Daten Sampling innerhalb der gesammelten Daten: Welche erhobenen Daten sollen auch ausgewertet werden? Was soll innerhalb der ausgewählten Daten ausgewertet werden? Was sind die Analyseeinheiten? Nach welchen Kriterien werden sie festgelegt? Quelle: Akremi (2019: 314) © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 Forschungsprozess und Stichprobenziehung 3. Ebene: Datenpräsentation: Was wird für die Veröffentlichung der Ergebnisse (Aufsatz, Monographie, Forschungsbericht etc.) genutzt? Entscheidung darüber, welche Teile der Daten für welchen Zweck präsentiert werden (Validierung, intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Veranschaulichung, Illustration etc.). Erläuterung der Generalisierbarkeit der Ergebnisse und Güte der Stichprobe Quelle: Akremi (2019: 314) © Prof. Dr. Susanne Vogl 8 Formen des Sampling Theoretical Sampling Ziel: theoretische Verallgemeinerbarkeit Geht auf Glaser und Strauss (1967) und die Entwicklung der Grounded Theory zurück Samplingstrategie im Verlauf einer Studie nach theoretischen Gesichtspunkten entwickelt Auf Basis bereits gewonnener, vorläufiger Interpretationen verändern sich die Auswahlkriterien für weitere Fälle nach theoretischen Kriterien Prinzip des ständigen Vergleichens zentral Minimale und maximale Kontrastierung Theoretische Sättigung © Prof. Dr. Susanne Vogl Formen des Samplings Qualitative Stichprobenpläne/Quotenpläne Deckt verschiedene theoretisch relevante Merkmalsdimensionen ab Wenn bereits Vorwissen besteht und Auswahlkriterien definiert werden können. Willkürliche Auswahl/Convenience-Sample Kein statistische Zufallsmechanismus Varianten: Gelegenheitsstichprobe, sich selbst generierende Stichprobe, Schneeball-Sampling Nachteil: mögliche Homogenität der Stichprobe © Prof. Dr. Susanne Vogl 10 Wie viele sind genug Fälle? Was ist ein Fall? Nicht die Anzahl der Fälle ist ausschlaggebend für die adäquate Erfassung eines Gegenstandsbereiches, sondern die „theoretische Sättigung“ (Strauss 1991 : 21). Fallzahl abhängig vom Feld und der Art der Forschungsarbeit Reichweite der Fragestellung Zahl der untersuchten Kriterien Beschaffenheit der untersuchten Population Art der Datenerhebung und Auswertungsmethode Theoretische Sättigung soll erreicht werden © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Singularität und Spezifität „Der entscheidende Schritt der Interpretation besteht in der Konstruktion einer Kategorie, die die konkrete Fülle eines Falls repräsentiert. […] Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit der bloßen Einzigartigkeit von Individuen und Ereignissen, sondern mit dem, was an ihnen gleichzeitig allgemein und besonders ist. Ihr Ziel ist die Freilegung eines Falls, nicht die Erinnerung an ein Individuum oder ein Ereignis“ (Bude, 2010: 577). Qualitative Sozialforschung hat es immer mit individuellen Fällen zu tun. Sie interessiert sich aber nicht für die Individualität als solche, sondern versucht sie zu begreifen. © Prof. Dr. Susanne Vogl Sonderfall: Einzelfallanalyse Einzelfallanalyse bedeutet nicht n = 1 Meist nicht eine Person des alltäglichen Lebens, sondern Herrscher, Regime, Großereignisse etc. Vielzahl unterschiedlicher Daten bilden einen Datenkorpus für die Beschreibung eines Einzelfalls Erhebungs-/Beobachtungs-/Untersuchungseinheit muss nicht mit dem Fall übereinstimmen Selbst die Identifikation eines besonderen Falls setzt eine Form der Generalisierung voraus, weil nur so dieser Fall von anderen abgegrenzt werden kann. © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Generalisierung © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Generalisierung Schluss von einzelnen Ereignissen oder Erfahrungen auf Zusammenhänge oder Regeln, die über diese Ereignisse oder Erfahrungen hinaus Gültigkeit haben Identifikation eines besonderen Falls setzt zwei Arten von Generalisierung voraus Einbettung eines Falls in den größeren Zusammenhang allgemeiner Regeln (Generalisierung I) Schluss von Fall auf andere Fälle (Generalisierung II) Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2021: 451) © Prof. Dr. Susanne Vogl Generalisierung Statt Gesetzmäßigkeiten suchen Sozialwissenschaften nach Regelmäßigkeiten Keine allgemeine zeit- und ortsunabhängige Gesetze, sondern Theorien über Mechanismen, die bestimmte Resultate erzeugen Bedeutung von Sampling für die Generalisierbarkeit: Statistische Generalisierung (statistische Inferenz): von ausgewählten Fällen auf Population Zufallsauswahl Theoretische Generalisierung (logische Inferenz): Auf Basis eines/weniger Fälle werden Regeln oder Mechanismen herausgearbeitet, die über den/die Fälle hinaus gelten Problem: Verhältnis zwischen Abstraktion und Konkretion © Prof. Dr. Susanne Vogl Idealtypus (Weber)/Dichte Beschreibung Ziel: „Kausalität“ so verdichten, dass das Ergebnis auf mehrere Erscheinungen und den Prozess ihrer Herausbildung anwendbar ist Besonderes und Gemeinsames mehrerer erfassen Nicht primär Resultat der Forschung, sondern Anleitung/Methode für Forschung Kein Abbild der empirischen Realität, sondern eine wissenschaftliche Konstruktion durch Abstraktion und Herstellen von Kohärenz = „Utopie“ Zunächst objektiv mögliche Resultate konstruiert, um das Tatsächliche schärfer fassen zu können Ständiger Vergleich zwischen Möglichem und in der Empirie entdeckter Strukturen Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2021: 467 ff) © Prof. Dr. Susanne Vogl Varianten von Typenbildung Typenbildung ermöglicht systematische Vergleiche entlang zentraler theoretischer Linien im Untersuchungsfeld Typik: Typus: Soziale Zusammenhänge, die nicht Akteurszentriert, z.B. Person, ohne weiteres individualisiert Familie, Institution dargestellte werden können Individualität, z.B. biographische Orientierungsmuster Basistypik, z.B. Geschlechtstypik, Abstrahiert Fallstruktur systematisch Generationstypik, dient für ähnlicher Fälle in Bezug auf kontrastive Vergleiche und wird wesentliche Dimensionen spezifiziert Verschiedene Typen werden systematisch zueinander in Beziehung gesetzt Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2021) © Prof. Dr. Susanne Vogl Fallstruktur und Typus Zwei Ebenen der Generalisierung: 1. Fall wird mit anderen „objektiven Möglichkeiten“ konfrontiert, um soziale Regeln zu erschließen, die bestimmte Dinge ermöglichen und andere ausschließen = Rekonstruktion der Fallstruktur 2. Verallgemeinerung der gefundenen Struktur/des Typischen auf andere Fälle = Konstruktion von Typen Abstrahierung: Differenziertheit der Fälle tritt in den Hintergrund, Fallstruktur (Reproduktionsgesetzlichkeit) bleibt wichtig Kontextualisierung: Typen sind gleichzeitig spezifischer und allgemeiner als Fallstrukturen Kohärenz: Ausgangspunkt ist sinnhafte Kohärenz der Fallstruktur, konstruierter Typus verdichtet Sinnstruktur ähnlich gelagerter Fälle Quelle: Przyborski, Wohlrab-Sahr (2021) © Prof. Dr. Susanne Vogl Zusammenfassung Ziel qualitativer Sozialforschung ist… … nicht die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse auf eine Grundgesamtheit aufgrund von Repräsentativität. ! Trotzdem muss das Sampling wohl überlegt sein. ! … sehr wohl eine Verallgemeinerbarkeit und zwar auf theoretischer Ebene. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen auf Theorieebene auch für andere Fälle gelten. Auch wenn Studien auf Einzelfällen basieren oder nicht dem Prinzip der Wahrscheinlichkeitsauswahl folgen, können (und sollen) verallgemeinerbare Ergebnisse erzielt werden. Über das Sampling, die Fallauswahl, wird die Verallgemeinerbarkeit legitimiert. © Prof. Dr. Susanne Vogl Literatur Akremi, L. (2019). Stichprobenziehung in der qualitativen Sozialforschung. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (2. Aufl.). Springer VS. S. 313-331 Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2021). Qualitative Sozialforschung (5. Aufl.). Oldenbourg. S. 227-238 Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung (5. Aufl.).Beltz Juventa. S. 89-105 © Prof. Dr. Susanne Vogl 22 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 6 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Lernziele Unterscheidung Beobachtung und Interview Beschreiben was mit qualitativer Forschung als Feldforschung gemeint ist. Unterscheidung verschiedener Beobachtungsvarianten und Beobachtendenrollen Benennen von Herausforderungen bei Beobachtung mit Beispielen Erklären der (methodologischen) Grundprinzipien der Ethnographie Unterscheidung Beobachtung und Ethnographie Bedeutung der Balance zwischen Nähe und Distanz begründen Funktion des Schreibens in der Ethnographie erklären Erläutern des Feldbegriffs © Prof. Dr. Susanne Vogl Ethnographie und © Prof. Dr. Susanne Vogl Beobachtung Qualitative Forschung als Feldforschung Qualitative Forschung als Feldforschung Primat der Anwesenheit Beobachtung und Befragung als zentrale Vorgehensweisen mit je eigenen Stärken bzw. Zielsetzungen Felderschließung: Reflexion über Bedingungen des Forschungsfeldes und dessen Ausdehnung Wer und was zum Feld gehört ergibt sich oft erst im Lauf der Forschung Rolle im Feld Inklusion vs. Exklusion // Nähe vs. Distanz Perspektive der Handelnden im Feld vs. Zeuge Beobachtung der Anderen aber auch des Selbst © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Beobachtung © Prof. Dr. Susanne Vogl Warum Beobachtung? An Alltagspraxen von Menschen teilnehmen, um mit diesen Praxen vertraut zu werden und sie in ihren alltäglichen Vollzügen beobachten zu können In der Beobachtung wird deutlich, was Menschen konkret (nicht) tun, nicht was sie darüber denken. Unterschied zum Interview: keine Rationalisierungen über Handlungen/Verhaltensweisen, sondern Handlungsweisen/Verhalten selbst erkennbar, aber keine Bedeutungen dahinter © Prof. Dr. Susanne Vogl 6 Beobachtungsvarianten Offen versus verdeckt Unterschiedliche Grade der Teilnahme Fokussiert versus offen (Analytische) Unterscheidung zwischen: Fokussierte Beobachtung Beispiele Teilnehmende Beobachtung Beispiele Beobachtende Teilnahme Beispiele © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 Beobachtungspositionen The stances of the observer (Gold 1958) 1. Complete Participant 2. Participant as Observer 3. Observer as Participant 4. Complete Observer = idealtypische Gliederung © Prof. Dr. Susanne Vogl 8 Herausforderungen bei Beobachtungen Zu bedenken: Unterschiedliche praktische, methodische und rechtliche Probleme Feld beschränkt oft Möglichkeit der Beobachtungsformen Ressourcenrestriktionen beschränken Wahlmöglichkeit Beobachtung hat Grenzen in Feldern… in denen die Handlungspraxis die Beobachtung behindert (z.B. Intensivstation, Polizei, Privatleben). in denen Normen, Tabus oder Gesetze verletzt werden (z.B. organisiertes Verbrechen). in denen die Abwesenheit einer Beobachtung für die Handlung konstitutiv ist (z.B. Geheimritual). in denen der Zugang mit Macht korreliert. Quelle: Reichertz (2016: 210) © Prof. Dr. Susanne Vogl 9 Verschriftlichung der Beobachtung - Beobachten ist nicht nur ein Wahrnehmungsprozess, sondern viel mehr ein Schreibprozess! - Um Vorgang des Beobachtens intersubjektiv nachvollziehbar zu machen Feldnotizen: Beobachtungen Kontextinformationen Methodische und Rollenreflexion Theoretische Reflexion © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Ethnographie © Prof. Dr. Susanne Vogl Was ist Ethnographie? Ethnographie ist schreiben! Sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm Teilnehmende Beobachtung zentral, aber meist multimethodisch Kennzeichen: einzigartige Nähe zum Forschungsgegenstand, wenig standardisiert Soziale Wirklichkeit im Vollzug untersucht Erkenntnisziel: mehr oder weniger unbekannte ethnische, kulturelle oder soziale Einheiten und deren Handlungsweisen, Wissensformen und materielle Kulturen © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Hintergründe Ethnographie Entdecken als Erkenntnisstrategie: methodologische Befremdung des Vertrauten Grundprinzipien: Feldforschung/dem Feld aussetzen für längere Zeit Binnenperspektive der beforschten Gesellschaft als Erkenntnisziel Befremdung/ „Othering“ Unvertrautheit/Verstehensproblem © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Kennzeichen ethnographischer Forschung Gegenstand: „Soziale Praktiken“ Theoretische Annahme: Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, eine eigene Ordnung, die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt“ (S. 38) Feldforschung als andauernde unmittelbare Erfahrung Methodenopportunismus als integrativer Forschungsansatz Ethnographie ist keine Methode Kombiniert feldspezifisch opportun Datentypen sind davon abhängig, wie sich das Feld präsentiert Schreiben und Versprachlichen von Sozialem Soziale Wirklichkeit ist zu einem großen Teil bereits sprachlich verfügbar, ABER ein großer Teil existiert unterhalb der Schwelle der Aussprechbaren Sprache Erschließung von nicht-sprachlichen Phänomenen Sprache bildet nicht ab, sondern schafft etwas Neues © Prof. Dr. Susanne Vogl 16 Feld und Felderschließung Das Feld ist kein Ort. „Der Ort der Untersuchung ist nicht der Gegenstand der Untersuchung. Ethnologen untersuchen nicht Dörfer (…), sie untersuchen in Dörfern.“ (Geertz 1987/1973, 32). Wir untersuchen die Kultur „dahinter“, also Orte, in denen sich Praktiken und Artefakte manifestieren. Felderschließung: Getting in & Getting on Beides bedarf ständiger Reflexion Feldzugang ist Chance und Einschränkung gleichermaßen © Prof. Dr. Susanne Vogl 17 Methodologische Prinzipien Methode der Befremdung: Fremdheit und Vertrautheit = Fremdheit als Modus der Welterfahrung erzeugen 1. Teilnahme: (teilweises) „going native“ Mimesis: sich Methodenzwängen aussetzen Gleichörtlichkeit: Sozialität aufsuchen und sich steuern lassen Gleichzeitigkeit: Sinnbildungsprozess synchron begleiten 2. Distanzierung: „coming home“ (Heuristik der Befremdung) Professionelle Sozialisation: Beobachtungskompetenz erwerben Rolle als Beobachter:in: Beobachtungslizenz im Feld, Aufzeichnung Distanz im Teilnehmen, auch durch Medien, laufende Verschriftlichung: Erfahrungen in Daten transformieren Rhythmische Unterbrechung: Rückzug ins „Büro“, analytisch disziplinieren Der mikroskopische Blick: Fokussierung auf Mikroprozesse der Interaktion © Prof. Dr. Susanne Vogl 18 Methodische Umsetzung Teilnehmende Beobachtungen (oder beobachtend Teilnehmen?) Verschiede Arten von Aufzeichnungen und Datensammlungen Ziel: Natürliche Situationen - Beispiele Routinen des Alltagshandelns, die nicht verbalisiert werden, weil sie selbstverständlich sind - Beispiele Nicht-sprachliche Vorgänge - Beispiele Situationen, die nicht aufgezeichnet werden können - Beispiele Umgang mit Krisensituationen - Beispiele © Prof. Dr. Susanne Vogl 19 Methodische Umsetzung Beobachten und Protokollieren vs. Aufzeichnen Klassische vs. fokussierte Ethnographie Regelmäßiger vs. dauerhafter Feldaufenthalt Protokollierung im Feld vs. nach dem Feldaufenthalt Auswertung während der Erhebung, ethnographisches Schreiben © Prof. Dr. Susanne Vogl 20 Herausforderungen Nähe –Distanz-Balance zu verschiedenen Personen und Gruppen im Feld „Going native“ Memorierungstechniken sind unterschiedlich ausgeprägt Reflexion des unhintergehbar subjektiven Fokus der Beobachtung Emotionale / körper-leibliche Eindrücke, die sprachlich nur schwer zu vermitteln sind Zusammenführung und Theoretisierung der Feldprotokolle Ethische Fragen © Prof. Dr. Susanne Vogl 21 Vergleich Beobachtung und Ethnographie BEOBACHTUNG: ETHNOGRAPHIE: Methode Forschungsprogramm (Serie) kurzer Lang anhaltende Feldaufenthalte Beobachtungszeiträume Erkenntnisinteresse: kulturelle Erkenntnisinteresse: Abläufe, Praktiken und Artefakte Muster und Strukturen Teilnahme und Befremdung zentral Verschiedene Ausprägungen, aktive Teilnahme nicht unbedingt notwendig © Prof. Dr. Susanne Vogl 22 Beobachtungsprotokolle © Prof. Dr. Susanne Vogl Beobachtungsprotokolle Beobachtungsprotokolle sind …. perspektivisch und selektiv. Ergebnis eines „Übersetzungsprozesses“ von Beobachtungen in sprachliche Darstellungen. kein Abbild sozialer Wirklichkeit. „rekonstruierende Konservierung“ und keine „registrierende Konservierung“ (Bergmann, 1985: 308). Quelle: Rosenthal (2015: 116) © Prof. Dr. Susanne Vogl 24 Feldnotizen Arten von Feldnotizen: Empirische Notizen (Beobachtungen) Kontextinformationen Methodische Notizen (und Rollenreflexion) Theoretische Notizen © Prof. Dr. Susanne Vogl 26 Praxis: Beobachtungsprotokolle Regelmäßiges Festhalten von Beobachtungen in Feldnotizen oder Forschungstagebüchern Festgehalten werden Ort, Zeit und Sequenz beobachteter Abläufe, Interaktionen Kann Fokussierung auf spezifische Szenen erfordern Reflexion von Eindrücken und Gefühlen Unterscheidung zwischen eigener Einschätzung/Interpretation und Beschreibung der Handlungsabläufe Beispiel: „Der Jugendliche verhielt sich provokativ gegenüber den anderen Jugendlichen“ = Einschätzung ≠ Verhaltensbeschreibung © Prof. Dr. Susanne Vogl 27 Beobachtungsprotokolle: Praktisches Alles notieren, das für die Fragestellung potentiell relevant ist Chronologisch sequentielle Darstellung Je genauer, desto eher kann man auf Abstraktionen und Generalisierungen verzichten Verbatims wörtlich festhalten Idealerweise wird möglichst zeitnah protokolliert, doch es ist je nach Kontext zu entscheiden, ob mitnotiert werden kann und WANN protokolliert wird Im Beobachtungsprotokoll bereits anonymisieren © Prof. Dr. Susanne Vogl 28 Zusätzliches zum Protokoll Kontextinformationen: Informationen, die nicht aus der aktuellen Beobachtung stammen, sondern aus anderen Quellen Methodische und Rollenreflexion: Dinge, die ich im weiteren Forschungsverlauf im Kopf haben muss Theoretische Reflexion: Erste Interpretationen des Beobachteten © Prof. Dr. Susanne Vogl 29 Literatur Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2021). Qualitative Sozialforschung (5. Aufl.). Oldenbourg. Reichertz, J. (2016). Qualitative und interpretative Sozialforschung. Springer. Rosenthal, G. (2015). Interpretative Sozialforschung (5. Aufl.).Beltz Juventa. Strübing, J. (2018). Qualitative Sozialforschung (2. Aufl.). De Gruyter Oldenbourg. © Prof. Dr. Susanne Vogl 35 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 7 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Datengenerierung mit © Prof. Dr. Susanne Vogl Interviews Wenn Sie wissen wollen, welche Erfahrungen SchülerInnen am Ende der Neuen Mittelschule machen, was würden Sie tun? © Prof. Dr. Susanne Vogl 3 Erkenntnismöglichkeiten in Interviews Prinzipiell kann in Interviews Verbalisierbares erfasst werden. Survey Interviews Qualitative Interviews Verbalisierbares: Verbalisierbares: Meinungen, Einstellung Denkweisen und Orientierungen Verhaltensweisen Motivation Verhaltensweisen Wissen Grundidee des „Nachvollziehens“ Soziodemographie und Subjektorientierung Grundidee des „Messens“ Rekonstruktion von Quantifizierung Sinnstrukturen (vermittelt über Verbalisiertes); subjektiver und sozialer Sinn © Prof. Dr. Susanne Vogl Zurück zur Forschungsfrage… Welche Erfahrungen machen SchülerInnen am Ende der Hauptschule? Zum Beispiel: Welche Bildungsaspirationen Wie können die Erfahrungen am haben Jugendliche am Ende der Ende der Neuen Mittelschule in Neuen Mittelschule? der Biographie verortet werden? Hängt die Bildungsaspiration der Welche Rolle spielen die Eltern SchülerInnen mit dem bei der Bildungsorientierung der Bildungsstand der Eltern Jugendlichen? zusammen? © Prof. Dr. Susanne Vogl Online-Survey Häufigkeit Prozent Allgemeinbildende Höhere Schule 415 (AHS, Gymnasium) 14,8% Berufsbildende Höhere Schule 1.163 (BHS, HAK, BAKIP, HLW, HTL etc.) 41,3% Berufsbildende Mittlere Schule 274 (BMS, HASCH, Fachschule etc.) 9,7% Lehre 565 20,1% Polytechnische Schule 136 4,8% Arbeiten (ohne Lehre) 63 2,2% etwas anderes 83 2,9% weiß nicht 115 4,1% Gesamt 2.815 100,0% Flecker,©J.; Vogl, Prof. S.;Susanne Dr. Astleithner, VoglF. (2018). Wege in die Zukunft. Welle 1 des quantitativen Panels. Astleithner, F.; Vogl, S.; Mataloni, B. (im Erscheinen). Bildungsaspirationen von Schüler_innen in Wiener Neuen Mittelschulen In Flecker, J.; Wöhrer, V.; Rieder, I. (Hrsg.) Wege in die Zukunft. Vienna University Press. Qualitative Interviews I: Gut. Wenn du an dein bisheriges Leben denkst, was fällt dir da alles so dazu ein? B: (---) Hm (-----) also ab (--) dem Tag (/) nachher halt? I: Wie du magst. Alles, was dir einfällt. (---) >Schulglocke läutet< B: Mobbing. I: Mobbing. B: (-----) sonst eigentlich nichts. (----) hm, sonst eigentlich nichts. Sonst fällt mir nichts ein. I: (----) Du kannst dir gern a bissi Zeit lassen. Und nachdenken, wenn du magst. (-----) B: Ja, Geburt von meinem Bruder. (Pause 23) Falsche Freundinnen. (-- -------) und (Pause 14) ja, sonst lief eh alles normal. (Pause 11) Das wars. (spricht sehr leise) I: Ok. Ja du hast als Erstes Mobbing erwähnt. Magst du mir da mehr drüber erzählen? B: Also. In der Volksschule hatte ich nicht so viele Freundinnen. Äh, ich weiß auch nicht wieso. Und in dieser Schule wars dann auch genauso, (--) dass, obwohl ich mich voll verändert hab, und so, keine Ahnung. Zur Zeit läufts eh ganz normal (---) und manchmal hab ich Streitigkeiten (--) und sonst bin ich jetzt mit jedem befreundet. (-----) ©J.; Flecker, Prof. Dr. Susanne Jesser, Vogl A.; Wöhrer; V. (2017). Wege in die Zukunft. Welle 1 des qualitativen Panels. Zartler, U.; Vogl, S; Wöhrer, V. (im Erscheinen). Familie als Ressource. In Flecker, J.; Wöhrer, V.; Rieder, I. (Hrsg.) Wege in die Zukunft. Vienna University Press Kennzeichen von Surveys und qualitativen Interviews Surveys Qualitative Interviews Vorstrukturiert Offene Fragen Vorgegeben Fragen und Orientierung an den Antworten Festgelegte Reihenfolge Relevanzen der Befragten Vorwiegend geschlossene Flexibilität bei Formulierung und Fragen Reihenfolge Großteils standardisierte Anlehnung an alltägliche Gesprächssituation Gesprächssituation Antworten numerisch erfasst Antworten wörtlich erfasst Statistische Analyse Interpretative Analyse Vorsicht: Sowohl bei qualitativen Interviews als auch bei Surveys gibt es große Unterschiede. Sie sehen hier einen pauschalisierten Vergleich. © Prof. Dr. Susanne Vogl Möglichkeiten, Grenzen, Perspektiven Surveys Qualitative Interviews Vergleichbarkeit Offenheit und Subjektorientierung Testen von Hypothesen Tiefe, Exploration Statistische Generalisierung Theoretische Generalisierung Abhängigkeit von Vorwissen, Zeitintensiv Operationalisierung und Messung geringe Fallzahlen Sinkende Response Rates Kontextabhängigkeit Unflexibel Interviewvarianten haben (teils) unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen. Durch eine Kombination können sie komplementäre Aspekte erfassen oder sie können sich gegenseitig informieren. © Prof. Dr. Susanne Vogl Qualitative Interviews © Prof. Dr. Susanne Vogl Leitfragen für die Erhebung Welche Aspekte sozialer Wirklichkeit sollen mit dem zu erhebenden Material adressiert werden? Soll eigenes Datenmaterial erhoben oder vorgefundene Daten (Texte aller Art, Bilder, Artefakte) analysiert werden? Sind die Erhebungsmethoden offen oder durch die Fragestellung vorstrukturiert? Welche methodischen Kompetenzen sind notwendig, um die Erhebung planen und durchführen zu können? © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Erkenntnismöglichkeiten und –grenzen in Interviews Interviews scheinen als einfache Methode, auch auf Grund der Nähe zum Alltagsgesprächs Grundgedanke: (verbaler) Stimulus (verbale) Reaktion Verbalisierbares = Bewusstes d.h. Einstellungen, Meinungen, Verhalten, Motive, subjektives Verständnis ABER: Was kommuniziert wird ist nicht nur Ausdruck von Einstellungen etc., sondern ergibt sich auch aus der Dynamik der Situation. © Prof. Dr. Susanne Vogl 12 Interviews als soziale Situation Analogie zu alltäglichen Gesprächssituationen und Interaktionserfahrungen Dynamik der Situation Wechselseitige Interpretationen der Beteiligten Verständigung über gemeinten Sinn Je nach Interviewform mehr oder weniger Hinweisreize Soziale Erwünschtheit „setting of the interview stage“ Kvale/Brinkmann 2009:128) © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Grundgedanke qualitativer Interviews Offenheit, Kommunikativität und Natürlichkeit erlaubt Untersuchung der Perspektive verschiedener Akteure sinnvoll, wenn unterschiedliches Vorverständnis oder Relevanzsystem angenommen wird Kontext ist kein Störfaktor, sondern definiert Interpretationen mit Aushandlung von Bedeutungen © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Leitfadeninterview Sinnvoll bei eng begrenzter Fragestellung „Pretest“ des Leitfadens ist sinnvoll Leitfaden besteht aus Fragen bzw. Themenbereichen und ist Gedächtnisstütze/Orientierungshilfe Leitfaden wird flexibel gehandhabt Ablauf: vom Allgemeinen zum Spezifischen Themenkomplexe können je mit offenen, erzählgenerierenden Fragen eingeleitet werden © Prof. Dr. Susanne Vogl 15 Expert:innen-Interview Sonderform des Leitfadeninterviews Wer ist Experte/Expertin? Zugeschriebener Status (und damit verbundene Deutungsmacht) Spezifisches Wissen (Betriebswissen, Deutungswissen, Kontextwissen) © Prof. Dr. Susanne Vogl 16 Fokussiertes Interview Entstanden im Rahmen der Propagandaforschung von Merton und Kendall Grundidee: Teilnehmende erhalten einen identischen medialen Stimulus Vorab formulierte Hypothesen werden getestet Aber auch nicht-antizipierte Reaktionen sollen festgestellt werden Differenz zwischen erwarteter und beobachteter Reaktion Erfordert Vorwissen/Vorannahmen Gütekriterien und qualitätssichernde Maßnahmen Nicht-Beeinflussung Spezifität Erfassung eines breiten Spektrums Tiefgründigkeit und personaler Bezugsrahmen © Prof. Dr. Susanne Vogl 17 Problemzentrierte Interviews Vorwissen als heuristisch-analytischer Rahmen für Frageideen im Dialog zwischen Interviewer und Befragten Spezifische Relevanzsetzungen der untersuchten Subjekte durch Narrationen anregen Kennzeichen Problemzentrierung Gegenstandsorientierung Prozessorientierung Ablaufphasen: Einleitungsfrage Allgemeine Sondierung (immanente Nachfragen und Ad-hoc-Fragen) Spezifische Sondierung Quelle: Witzel (2000) © Prof. Dr. Susanne Vogl 18 Narrative Interviews Erkenntnismöglichkeiten: Große Zusammenhänge des Lebensablaufs Prozessstrukturen des Lebenslaufs Lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung Äußeren Ereignisablauf & subjektive Interpretation und Verarbeitung Subjektive Relevanzsetzungen © Prof. Dr. Susanne Vogl 19 Narrative Interviews Grundlagen und Prinzipien: Kommunikationsschemata: Erzählen, Beschreiben, Argumentieren (Kallmeyer/Schütze 1977) Narrative Erzählzwänge: Detaillierung, Kondensierung, Gestaltschließung ‚Kognitive Figuren des Stegreiferzählens‘ sind auch unabhängig von der Interaktionssituation des Interviews wirksam (Schütze 1984) Erfahrungs- und Ereignisketten als Prozessstrukturen: biographische Handlungsschemata, institutionelle Ablaufmuster, Verlaufskurven, Wandlungsprozesse Soziale Rahmen: Situationen, Lebensmilieus, soziale Welten Gesamtgestalt der Lebensgeschichte © Prof. Dr. Susanne Vogl 20 Narrationstheoretische Annahmen Erzählen ist (in modernen Gesellschaften) eine der wichtigsten Formen der Darstellung von Biographien bzw. der Kommunikation über Biographisches („biographische Kommunikation“, „biographischesErzählen“ im Alltag). Es gibt eingeübte kulturelle Praxen und Formen des Erzählens. Erzählen ist ein spezifisches „Kommunikationsschema“ für die Darstellung von Sachverhalten (hier: von selbsterlebten Ereignissen). Weil das so ist, kann unterstellt werden, dass die meisten Erwachsenen fähig sind, Geschichten aus ihrem Leben oder auch ihre „ganze Lebensgeschichte“ zu erzählen. Das biographisch-narrative Interview macht sich diese Kompetenz zunutze und knüpft an eine verbreitete soziale Alltagspraxis an. © Prof. Dr. Susanne Vogl 21 Narratives Interview Phasen: Erklärung des Interviewsettings Erzählgenerierende Einstiegsfrage Erzählphase Nachfragephase (immanent – exmanent) Bilanzierungsphase © Prof. Dr. Susanne Vogl 22 „Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozeß der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen, darstellt und expliziert.“ (Schütze 1983: 286) © Prof. Dr. Susanne Vogl 23 Planung und Vorbereitung qualitativer Interviews © Prof. Dr. Susanne Vogl Durchführung © Prof. Dr. Susanne Vogl qualitativer Interviews Leitfaden-Konstruktion für Interviews Funktion des Leitfadens: Ressource aber kein Korsett Vier bis fünf Themen bei einer Dauer von 1 Stunde Eingangsfrage: offen aber mit klaren Bezügen zum Alltag der Befragten Thematische Verengung: Vom Allgemeinen zum Spezifischen (Trichter) © Prof. Dr. Susanne Vogl 39 Aufgaben des Interviewers/der Interviewerin Formalen und inhaltlichen Gesprächsverlaufs steuern und kontrollieren Rahmenbedingungen und Grundregeln vorgeben Herstellen von Vertrauen und einer entspannten Atmosphäre Aktives Zuhören Zwischen Abwarten und Beteiligen vermitteln Interesse demonstrieren, Expertenstatus der Interviewperson verbal und nonverbal unterstreichen Offen und flexibel reagieren Orientierungshilfe geben Selbstverständliches hinterfragen, sich der Bedeutungsäquivalenz versichern © Prof. Dr. Susanne Vogl 45 ALLGEMEINE REGELN ZUM INTERVIEWERINNENVERHALTEN Keine Leitfaden-Bürokratie klare Aussprache Informationen gewinnen keine Baby-Sprache oder Informationen nutzen aufgesetzte „Jugend-Sprache“ Redefluss nicht unterbrechen (das Widerspricht dem Prinzip der Uninteressante Themen „Echtheit“) abschließen keine Ironie oder Metaphern Keine Angst vor Gesprächspausen Sprache an die vom Befragten Anonymität wahren verwendete Sprache anpassen Nicht belehren Pronomen durch Namen ersetzen einfache und eindeutige Sprache Verneinungen vermeiden © Prof. Dr. Susanne Vogl Aktives Zuhören Interesse bekunden (Körpersprache, Mimik, Nicken, Pausen, Blickkontakt, etc.) Bestärkungen Paraphrasieren, Spiegeln Verbalisieren von emotionalen Erlebnisinhalten Pausen halten!!! Wertschätzende Haltung Notizen machen © Prof. Dr. Susanne Vogl Immanentes Nachfragen Narrative Nachfragen Kurzes Zusammenfassen der Äußerung des/der Interviewpartner:in Zu Lasten des (unmittelbaren) eigenen Verständnisses Mit offenen Fragen beginnen und dann erst einzelne Bereiche fokussieren © Prof. Dr. Susanne Vogl 54 Exmanentes Nachfragen Bereiche, die nicht angesprochen wurden, aber für das eigene Erkenntnisinteresse wichtig sind Zuerst immanentes Nachfragen ausschöpfen Narrative Nachfragen Vorab interessierende Bereiche definieren © Prof. Dr. Susanne Vogl 55 Bilanzierendes Nachfragen Zielt ab auf theoretische Erklärungen für das Geschehene Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit der InterviewpartnerInnen Aufzeigen von Widersprüchlichkeiten Verweis auf andere Ansichten und Meinungen Provokante Fragestellungen © Prof. Dr. Susanne Vogl 56 Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 8 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Internet research © Prof. Dr. Susanne Vogl Das Internet in der Sozialforschung „Das Internet“ ist ein Sammelbegriff für viele Technologien, Verwendungsweisen und soziale Orte Web 2.0 macht das Internet nicht nur nutzbar für Informationssuche, sondern ermöglicht auch die Verbreitung und Produktion eigener Inhalte „Produsage“ (Bruns 2008): gleichzeitig Nutzer und Produzent Rolle des Internets in der Sozialforschung: Internet als Tool zur Datensammlung Kulturelles Feld, internet-mediated oder digitally-saturated Internet als „way of being“: Unser soziales Leben ist durch das Internet vermittelt © Prof. Dr. Susanne Vogl Quelle: Markham/Stavrova (2016) Internetforschung Das Verständnis vom „Internet“ beeinflusst was und wie geforscht wird; Beispiele: Frage: Wie beschreiben ehemalige Brustkrebspatientinnen ihre Erfahrungen? Internet als Werkzeug, um Teilnehmende zu kontaktieren, Interviews zu terminieren, Tagebücher zu sammeln etc. Internet nur als Medium, es wird nicht selbst zum Gegenstand der Studie Frage: Wie fühlen sich Frauen als Mitglieder einer Brustkrebs-Facebook- Gruppe? Internet als soziales Feld , in dem Interaktionen und Gruppennormen untersucht werden Die Einzigartigkeit der Online-Community steht im Zentrum Frage: Wie werden Bedeutungen rund um Brustkrebs ausgehandelt und reproduziert? Netzwerk aus Blogs, Verlinkungen zwischen Websites, gleiche Elemente auf verschiedenen Seiten Vernetzungen im Internet sind das zentrale Phänomen © Prof. Dr. Susanne Vogl 4 Quelle: Markham/Stavrova (2016) Kennzeichen von Netzwerk-Soziabilität Communicating and connecting Viele Möglichkeiten der Selbstdarstellung, zum „Netzwerken“ und Gruppenbildung Unterschiedliche Arten von Daten: visuelle, textuelle, Audi-Information Kommunikationsformen haben sich durch das Internet verändert Funktion von Kommunikation auf Inhalts- und Beziehungsebene Presence and placeness Geographische Distanz Präsenz erfordert nicht unbedingt Nähe sondern Teilhabe Unterscheidung zwischen sozialer und physischer Präsenz (Meyrowitz 1985) Communities können online, offline oder in beiden Domänen bestehen Malleable time „Stop“ und „Start“ in einer Konversation möglich = Manipulation der Zeit Abhängigkeit von Internetverbindung Multimodalität der sozialen Interaktion © Prof. Dr. Susanne Vogl 5 Quelle: Markham/Stavrova (2016) Kontext sozialer Konstruktionen Mehrere Versionen des „Selbst“ – je nach Medium und Publikum = multiphrenic self (Gergen 1991) Das Internet hinterlässt sichtbare Spuren von Handeln, Bewegungen und Interaktionen. “Display of social reality“ und Aushandlungen über die Zeit © Prof. Dr. Susanne Vogl 6 Quelle: Markham/Stavrova (2016) Ethische Aspekte in Internet Research Perception of privacy: Privatheit als Kontinuum und in Abhängigkeit vom Kontext Informierte Einwilligung “How can a researcher ensure they have gained actual consent from participants who are not physically co-located? How can we gain consent from anonymous chatroom or online forum participants? How can we ensure our participants don’t fall into a vulnerable category? How can we obtain informed consent when we’re using a person’s information rather than interacting with the person? What sort of protection should we afford information in large-scale digital databases?” (Markham/Stavrova 2016) Personally identifiable information Reflection and adaption © Prof. Dr. Susanne Vogl 7 Quelle: Markham/Stavrova (2016) Online Interviews © Prof. Dr. Susanne Vogl 9 Online Interviews in der Sozialforschung Hintergrund: Technologischer Wandel und Expansion des Internets Vergleich zu face-to-face Interviews: Geographische Streuung Synchrone und asynchrone Konversation Technische Kenntnisse Schriftliche Kommunikation „erspart“ Transkription Mehr Nonresponse Mehr Selbstreflexion in asynchronen Interviews Online und Offline-Interviews können unterschiedliche Konversationen initiieren Face-to-face Methoden können nicht einfach „importiert“ werden. © Prof. Dr. Susanne Vogl Quelle: James/Busher (2016) Formen von Online Forschung Instant Messenger Interview: real-time chat Schnell(ere) Kommunikation Günstiger Vertraulicher, weniger persönlich Visuelle stimuli Synchrone Online Audio und Video Interviews Zeitliche Flexibilität, Unterbrechung möglich Synchrone Online Focus Groups Vertraulichkeit und Anonymität Vertraute, freundliche Atmosphäre schwerer herzustellen „Immediacy“ Erschwerte Moderation © Prof. Dr. Susanne Vogl 11 Quelle: James/Busher (2016) Online Interviews VORTEILE NACHTEILE Kostengünstig Zeitverzögerung Ort, geographische Streuung Ablenkung Flexibilität Interesse und Motivation Geschwindigkeit Sprachliche Kompetenz Anonymität Technische Fähigkeiten Interviewer:innen-Effekte Zugang Research Relationship © Prof. Dr. Susanne Vogl 12 Quelle: James/Busher (2016) Ethische Aspekte in Online-Interviews Aushandlung der Forschungsbeziehung Vertrauen Authentizität, Vertraulichkeit und Privatheit Verschwommene Grenze zwischen öffentlich und privater Kommunikation Datensicherheit: Hosting, Datensicherung Anonymität © Prof. Dr. Susanne Vogl 13 Quelle: James/Busher (2016) Anwendung von Online Interviews Was ist anders, was ist neu? Art der sozialen Interaktion und Kommunikation und individuelle Beteiligung berücksichtigen Kommunikationsform (synchron – asynchron) je nach Forschungsziel Ethische Fragen bedenken Rolle im “Feld” eruieren Mehr Forschung zum Einfluss von Technologie auf die Grundannahmen qualitative face-to-face Interviews © Prof. Dr. Susanne Vogl 14 Quelle: James/Busher (2016) Literatur Markham, A., & Stavrova, S. (2016). Internet/Digital Research. In D. Silverman (Ed.), Qualitative Research (4th ed.). Sage. S. 229–244 James, N., & Busher, H. (2016). Online Interviewing. In D. Silverman (Ed.), Qualitative Research (4th ed.). Sage. S. 245–260 © Prof. Dr. Susanne Vogl Institut für Sozialwissenschaften Qualitative Sozialforschung I Vorlesung Wintersemester 2024/25 - Einheit 9 - © Prof. Dr. Susanne Vogl Gruppendiskussionen © Prof. Dr. Susanne Vogl Gruppendiskussion Gespräch mehrerer Personen zu einem Thema, das von Forschenden vorgegeben wird Gewissermaßen unter Laborbedingungen © Prof. Dr. Susanne Vogl Erkenntnismöglichkeiten in Gruppen- diskussionen Öffentliche Meinung und Einstellung Kontextuell bedingte Einzelmeinung und nicht-öffentliche Meinung (Pollock 1955) Informelle Gruppenmeinung (Mangold 1960, 1973) Kollektive Orientierungen in statu nascendi (Bohnsack; Loos/Schäffer) Sinn- und Bedeutungszuschreibungen sind sozial konstruiert und entstammen gemeinsamen Erfahrungsräumen Im Gespräch muss man die eigene Meinung behaupten Tieferliegende Einstellungen kommen zum Vorschein Gruppeninterne Abläufe Gruppenbildungs- und Meinungsbildungsprozesse © Prof. Dr. Susanne Vogl Interviews als soziale Situation Analogie zu alltäglichen Gesprächssituationen und Interaktionserfahrungen Dynamik der Situation Wechselseitige Interpretationen der Beteiligten Verständigung über gemeinten Sinn Je nach Interviewform mehr oder weniger Hinweisreize Soziale Erwünschtheit Gilt für Gruppendiskussionen und Interviews gleichermaßen! © Prof. Dr. Susanne Vogl Gruppendiskussionen als Interaktionsform Mehr als eine Befragung mehrerer Personen gleichzeitig Gruppendynamik Kollektive Phänomene (im Entstehungsprozess) Gruppenmeinung wird arbeitsteilig vorgebracht © Prof. Dr. Susanne Vogl Vor- und Nachteile von Gruppendiskussion im Vergleich zu Einzelinterviews Vorteile Nachteile breiteres Meinungsspektrum – höhere Anforderungen an die größerer Bereich von Reaktionsweisen Kooperationsbereitschaft der freundlichere, entspanntere Atmosphäre Teilnehmenden größere Nähe zur alltäglichen – höhere Ausfälle, Problem der Schweiger Gesprächssituation – quasi-öffentliche Atmosphäre verhindert, spontanere Reaktionen „private“ Meinungen und Erfahrungen zu äußern Abbau psychischer Kontrollen – auf einzelne Gruppenmitglieder erleichtert Erörterung privater, intimer bezogene Auswertungen nur bedingt Fragen möglich tieferliegende Meinungen – Untersuchungs- und Aussageeinheiten detailliertere und gründlicher sind Gruppen durchdachte Äußerungen – Arbeitsaufwand sehr hoch (zeitintensive auch widersprüchliche Meinungen Erstellung und Auswertung der nicht-öffentliche Meinung Wortprotokolle) Dr.©Susanne Prof. Dr.Vogl Susanne Vogl 7 Anforderung an die Teilnehmer an Gruppendiskussionen parallel mehrere Aufgaben Sprachproduktion und –verständnis Auch kognitive und soziale Fähigkeiten Koordination und Kooperation in der Gruppe „Diskussionskultur“ (selbst-)darstellerische, narrative und argumentative Fähigkeiten © Prof. Dr. Susanne Vogl Vorteile von Gruppendiskussionen, Beispiel Kinder Vertraute Gleichaltrigen-Umgebung Kinder steuern „Datenproduktion“ stärker selbst geringere Gefahr Sprachrohr Erwachsener sind (Richter 1997). Kinder sind Erwachsenen zahlenmäßig überlegen, Interaktion mit Gleichaltrigen im Mittelpunkt (Vogl 2005). Machtgefälle zwischen Forschenden/Interviewenden und Kindern kann ausgeglichen werden. Realgruppen bieten Einblicke in die Meinungen, Werthaltungen und Teil der „Kinderkultur“ © Prof. Dr. Susanne Vogl Herausforderungen in Gruppendiskussionen Beispiel Kinder Bereits bei geringem Altersunterschied prägnante Unterschiede in Fä- higkeiten und Verhaltensweisen spezifische und angepasste, gleichzeitig aber offene und flexible Vorgehensweise Kommunikations- und Diskussionsregeln eventuell noch wenig internalisiert Gruppendynamik evtl. wichtiger als Inhalt © Prof. Dr. Susanne Vogl Ethische Überlegungen Wahrung des Persönlichkeitsrechts Informierte Einwilligung Integrität der Untersuchungsteilnehmer Vertraulichkeit der Informationen © Prof. Dr. Susanne Vogl Ethische Fragen Was ist eine angemessen Datenerhebungsstrategie? Wie muss die Untersuchungssituation gestaltet werden? Wie ist mit Vertraulichkeit der Aussagen umzugehen? Ist es ethisch, Belohnungen für die Teilnahme anzubieten? Wie wird das Feld verlassen? Wie kann es ermöglicht werden, informiert in die Teilnahme einzuwilligen? Wie ist mit heiklen Themen umzugehen? Wie können negative Affekte vermieden oder aufgelöst werden? © Prof. Dr. Susanne Vogl Praktische Fragen Wer sind die beteiligten Personengruppen (Teilnehmende, Moderator:in, Techniker:in) und wie werden sie rekrutiert? Welche Rahmenbedingungen sollen geschaffen werden? Was sind technische und örtliche Bedingungen? Zu welchem Grad soll die Gruppendiskussion strukturiert sein? (Wie wichtig ist Vergleichbarkeit?) Wie stark soll der Moderator:in involviert sein? Wie groß soll eine Gruppe sein? Wie viele Gruppen sollen befragt werden? Was sind die Erkenntnisabsichten? Wie wird transkribiert und analysiert? Wie werden die Ergebnisse dargestellt und präsentiert? © Prof. Dr. Susanne Vogl Praktische Überlegungen Gruppenzusammensetzung: Homogen oder heterogen Künstlich oder natürlich Lose Gruppenverbände oder starke Kohäsion Art der Diskussion Thematische strukturiert oder Offenheit, strukturiert oder unstrukturiert Neutralität oder Engagement Direktive oder non-direktive Gesprächsführung © Prof. Dr. Susanne Vogl Teilnehmerrollen Gruppenaufgaben bezogene Rollen Meinungsführer:in Mitläufer:in Gruppenbildungsrollen „Harmonizer“ Koordinierer:in Graue Eminenz Selbst-zentrierte/individuelle Rollen Aggressor:in Aufmerksamkeitssuchende Schweiger:in Vielredner:in © Prof. Dr. Susanne Vogl Durchführung von Interviews und Gruppendiskussionen Gestaltung der Erhebungssituation Autoritätsgefälle Expertenstatus Regeln der Interviewtechnik Ausdrucksmöglichkeiten Gesprächsführung = Verkehr in beide Richtungen „Einbahnverkehr“ vermeiden Klarheit über Erwartung und Vorgehen Vertrauensverhältnis und Glaubwürdigkeit Empathie Abwar