Lehrskript Rechtstheorie 2. Kapitel: Kleine Normenlehre PDF

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This document is an outline of a legal theory lecture, focusing on the structure and interaction of legal norms. It covers topics such as the concept of legal norms as rules of conduct, the different ways in which norms are formulated, principles of norm hierarchy, and resolution of conflicts between norms.

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Gliederung A. Rechtsnormen als Verhaltensregeln – das Normenquadrat..................................... 1 B. Die technische Umsetzung der Verhaltensanweisungen in Normen........................ 2 I. Die grammatische Gestalt einer Norm.............................................................

Gliederung A. Rechtsnormen als Verhaltensregeln – das Normenquadrat..................................... 1 B. Die technische Umsetzung der Verhaltensanweisungen in Normen........................ 2 I. Die grammatische Gestalt einer Norm.................................................................. 2 II. Normstrukturen..................................................................................................... 3 1. „Voraussetzungsseite“ („Tatbestand“) und „Rechtsfolgenseite“................... 3 2. Hauptnormen und Hilfsnormen..................................................................... 4 C. Die Normenhierarchie.................................................................................................. 6 D. Normenkollisionen........................................................................................................ 6 I. Die drei Kollisionsregeln zur Beseitigung scheinbarer Normwidersprüche......... 6 1. Die höhere Norm geht der niederen vor (lex superior derogat legi inferiori)......................................................................................................... 6 2. Die speziellere Norm geht der allgemeineren vor (lex specialis derogat legi generali).................................................................................................. 7 3. Die jüngere Norm geht der älteren vor (lex posterior derogat legi priori)............................................................................................................. 8 II. Das Verhältnis der drei Kollisionsregeln zueinander............................................ 8 Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 1 A. Rechtsnormen als Verhaltensregeln – das Normenquadrat Eine Rechtsordnung besteht aus einzelnen Rechtsnormen. Eine Norm ist ein Satz, der nicht 58 sagt, wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll. Oft sagt man, eine Norm sei ein Befehls- satz, ein Sollenssatz. Das ist zu eng. Denn die Rechtsordnung kann zu jedem Verhalten vier verschiedene Einstellungen haben: Sie kann den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft ein bestimmtes Verhalten gebieten, verbieten, erlauben und freistellen. Eine Rechtsordnung ar- beitet mit einem komplizierten Zusammenspiel dieser möglichen Verhaltensanweisungen. Machen wir uns das Zusammenspiel dieser Möglichkeiten am „Normenquadrat“ klar! 1 Gebot Verbot konträr kontra- schließt ein schließt ein diktorisch kontra- diktorisch vereinbar Erlaubnis Freistellung (Befreiung) I. Wenn jemand einem anderen Befehle gibt, dann lauten sie entweder „Tu das!“ oder 59 „Lass das!“ Gebot und Verbot sind also die beiden Verhaltensbefehle. Wie verhalten sie sich zueinander? Gebot und Verbot sind technisch austauschbar: Das Verbot „Komm nicht her!“ und das 60 Gebot „Bleib fern!“ bedeuten dasselbe. Bei solchen gleichsinnigen Formulierungen lässt sich aber dennoch sachlich entscheiden, ob der Verhaltensbefehl ein Gebot ist oder ein Verbot. Denn unser menschliches Verhalten ist entweder ein Handeln (ich tue etwas, z. B. schlagen oder jemandem helfen) oder ein Unterlassen (ich tue etwas nicht, z. B. unterlasse ich es, jemanden zu schlagen; oder ich unterlasse es, jemandem zu helfen). Für die Unter- scheidung zwischen Gebot und Verbot kann man nun immer genau auf das Handeln bli- cken, zu dem der Normbefehl gegeben wird. Im Beispiel geht es um das Handeln „kom- men“. Dieses Handeln wird verboten, auch wenn der Befehlende die äußere Form des Ge- botes wählt („Bleib fern!“). Würde er sagen „Hau ab!“, wäre es anders. Dann hätte er sich zu einem anderen Verhalten geäußert, nämlich zum „sich entfernen“. Dies soll der Ange- sprochene tun, also ist es ein Gebot, auch wenn der Befehlende die Formulierung wählte „Bleib bloß nicht hier!“ 1 Die beste Darstellung findet sich bei Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 38–45. Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 2 Mit Blick auf dieselbe Handlung können Gebot und Verbot nicht gleichzeitig gelten. Wenn 61 wir Ihnen befehlen würden „Kommen Sie in die Vorlesung!“ und gleichzeitig „Kommen Sie nicht in die Vorlesung!“, wüssten Sie nicht, was Sie tun sollen. Gebot und Verbot kön- nen also nicht gleichzeitig gelten. Wohl aber können beide gleichzeitig nicht gelten; dann haben Sie eben weder Pflicht, in die Vorlesung zu kommen, noch ihr fern zu bleiben. Diese logische Beziehung nennt man einen konträren Gegensatz. II. Ein schärferer Gegensatz ist der kontradiktorische Gegensatz. Er besteht zum Beispiel 62 zwischen Verbot und Erlaubnis. Die Erlaubnis ist das genaue Gegenteil des Verbotes, nämlich die Nichtgeltung des Verbotes. Zu jedem Verhalten gilt immer eins von beidem: Entweder das Verbot oder die Erlaubnis; beide können nicht gleichzeitig gelten und auch nicht gleichzeitig nicht gelten. Dasselbe gilt für Gebot und Freistellung (Befreiung). Die Freistellung ist das genaue 63 Gegenteil des Gebotes, nämlich dessen Nichtgeltung. Die Freistellung kommt viel seltener zur Sprache als Gebot, Verbot und Erlaubnis; sie ist aber als Ergänzung dieser drei nötig, um eine Rechtslage vollständig und eindeutig zu beschreiben. Wenn Sie uns zum Beispiel fragen würden: „Verbieten Sie mir, in die Vorlesung zu kommen?“ würden wir antworten: „Nein, wir erlauben es Ihnen.“ Nun wüssten Sie erst, dass Sie die Erlaubnis zum Vorle- sungsbesuch haben. Sie wüssten aber noch nicht, ob wir Ihnen den Vorlesungsbesuch sogar gebieten. Um sicher zu gehen, könnten Sie nachfragen: „Gebieten Sie mir, in die Vorlesung zu kommen?“ und wir würden antworten: „Nein, wir stellen es Ihnen frei.“ Erst jetzt wäre Ihnen die „Rechtslage“, also unsere Einstellung zu Ihrem Vorlesungsbesuch eindeutig klar. III. Das Gebot schließt die Erlaubnis ein. Wenn wir Ihnen gebieten „Kommen Sie in die 64 Vorlesung!“, dann liegt darin logisch zwingend die Erlaubnis „Sie dürfen kommen.“ Eben- so umgekehrt: Das Verbot schließt die Freistellung ein: Das Verbot „Kommen Sie nicht in die Vorlesung!“ enthält logisch zwingend unsere Entscheidung, dass Sie von uns freige- stellt (befreit) sind von der Pflicht, zur Vorlesung zu kommen. IV. Erlaubnis und Freistellung sind miteinander vereinbar. Sie können gleichzeitig gel- 65 ten und es kann auch nur eines davon gelten. Nur können sie nicht gleichzeitig nicht gel- ten, positiv formuliert: eins von beidem muss gelten. B. Die technische Umsetzung der Verhaltensanweisungen in Normen I. Die grammatische Gestalt einer Norm Wie setzt ein Gesetzgeber die soeben besprochenen vier inhaltlich möglichen Verhaltens- 66 anweisungen sprachlich um? Ein plumpes Beispiel für ein Verbot wäre der Satz: »Tu keinem weh!« In der geschriebenen Sprache pflegt man das eleganter zu formulieren: 67 »Jeder hat das Recht auf... körperliche Unversehrtheit.« (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) Hier ist der Verhaltensbefehl grammatisch in einen Aussagesatz gekleidet. Das passiert häufig. Oft wählt der Gesetzgeber eine noch verdecktere Sprachtechnik. Zwei Beispiele: 68 Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 3 »Wer... den Körper [oder] die Gesundheit... eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.« (§ 823 Abs. 1 BGB) »Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« (§ 223 Abs. 1 StGB) Beide Vorschriften sind grammatisch Aussagesätze. Aber inhaltlich sind es Befehlssätze, und sie enthalten sogar jeweils zwei Befehle. Zum einen: § 823 Abs. 1 BGB befiehlt, dass derjenige, der einen anderen körperlich verletzt hat, ihm Schadenersatz leisten soll; und § 223 Abs. 1 StGB befiehlt dem Strafrichter, dass er denjenigen, der eine Körperverletzung begangen hat, bestrafen soll. Zum anderen: Die Befehle, Schadenersatz zu leisten und den Körperverletzer zu bestrafen, sind nur verständlich, wenn die Körperverletzung Unrecht war; wäre sie ein rechtmäßiges Verhalten, gäbe es keinen Grund zu Schadenersatz oder Be- strafung. Deshalb schwingt in den genannten Vorschriften etwas Vorrangiges mit, nämlich das logisch vorgelagerte Verbot, einen anderen körperlich zu verletzen. Machen Sie sich noch einmal klar, dass auch in einem Gesetz, das grammatisch ein Aussa- 69 gesatz ist, inhaltlich trotzdem keine Aussage steht, sondern ein Verhaltensbefehl! Noch ein Beispiel: »Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) Aber das wäre als Aussagesatz ganz falsch; natürlich kann man einen Menschen grundlos einsperren und so seine Fortbewegungsfreiheit verletzen. Gemeint ist vielmehr: „Die Fort- bewegungsfreiheit der Person darf nicht verletzt werden.“ II. Normstrukturen 1. „Voraussetzungsseite“ („Tatbestand“) und „Rechtsfolgenseite“ 1. Viele Normen enthalten in ihrem Text nur einen Verhaltensbefehl und sonst nichts. Man- 70 che dieser Verhaltensbefehle haben in der Tat absolute Geltung, so zum Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (s. o.): Die Fortbewegungsfreiheit der Person darf wirklich niemals verletzt werden. Vertiefung: Damit ist natürlich nicht gemeint, dass eine Person niemals in ihrer Fortbewegungsfreiheit beein- 71 trächtigt, also z. B. eingesperrt werden darf. Denn ganz genau besehen bedeutet Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG: „Kei- ne Person darf in ihrem Recht auf Fortbewegungsfreiheit verletzt werden.“ Das Fortbewegungsrecht kann aber durchaus rechtmäßig beeinträchtigt werden, z. B. durch eine ordnungsgemäße Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Deshalb heißt es in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ja auch weiter: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Man pflegt in solchen Fällen zu sagen, das Recht sei zwar „beeinträch- tigt“ worden oder „betroffen“, aber nicht „verletzt“. Eine „Verletzung“ ist also in der Tat niemals zulässig. Bei den meisten Normen scheint die Rechtsfolge aber nur absolut zu sein; in Wahrheit ist 72 sie relativ, d. h. sie hängt von Voraussetzungen ab. Die stehen nur an einer anderen Stelle. Noch einmal: »Jeder hat das Recht auf... körperliche Unversehrtheit.« (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) Der Text klingt, als gewähre die Vorschrift ein absolutes Recht auf körperliche Unversehrt- 73 heit. So ist die Norm aber nicht gemeint; denn Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG erklärt gleich darauf, dass in dieses Recht auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden kann. Ein solches Ge- setz ist z. B.: Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 4 »Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben... ohne Einwilli- gung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.« (§ 81a Abs. 1 StPO) 2. In den meisten Normen ist also der Verhaltensbefehl an Voraussetzungen geknüpft. Ler- 74 nen Sie die Voraussetzungsseite (sie wird in der Rechtstheorie auch „Tatbestand“ genannt) und die Rechtsfolgenseite einer Norm zu unterscheiden! In der reinsten Form beginnt die Vorschrift mit einem „Wenn...“ und endet mit einem „dann...“: „Wenn die Voraussetzung X vorliegt, dann gilt die Rechtsfolge Y.“ In dieser ausdrücklichen Wenn-dann-Form sind Normen aber so gut wie nie formuliert. Meist benutzt der Gesetzgeber gefälligere Formu- lierungen, häufig schreibt er auch die Rechtsfolge vor die Voraussetzungen. Beispiele: »Wenn eine Beleidigung auf der Stelle erwidert wird, so kann der Richter beide Beleidiger oder einen derselben für straffrei erklären.« (§ 199 StGB) »Wenn der Bundesrat eine Vorlage ausnahmsweise als besonders eilbe- dürftig bezeichnet hat, beträgt die Frist drei Wochen...« (Art. 76 Abs. 3 S. 4 GG) »Ist eine Willenserklärung dem Verein gegenüber abzugeben, so genügt die Abgabe gegenüber einem Mitglied des Vorstands.« (§ 28 Abs. 2 BGB) »Wird ein anfechtbares Rechtsgeschäft angefochten, so ist es als von An- fang an nichtig anzusehen.« (§ 142 Abs. 1 BGB) »Ein Minderjähriger erhält einen Vormund auch dann, wenn sein Fami- lienstand nicht zu ermitteln ist.« (§ 1773 Abs. 2 BGB) »Die Tat kann... nicht von Amts wegen verfolgt werden, wenn der Ver- letzte widerspricht.« (§ 194 Abs. 1 S. 3 StGB) Zur Terminologie: Wenn man in der Rechtstheorie die Voraussetzungsseite auch „Tatbestand“ nennt, dürfen 75 Sie das nicht verwechseln mit dem „Tatbestand“ im sog. dreistufigen Deliktsaufbau, der im Strafrecht üblich ist. Ein Beispiel dazu. § 223 Abs. 1 StGB lautet: „Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Der strafrecht- liche Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB (in Verbindung mit § 15 StGB) lautet also: „Wer eine andere Person vorsätzlich körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt“. Für die Rechtsfolge „wird... bestraft“ enthält der vollständige rechtstheoretische Tatbestand aber viel mehr Voraussetzungen; mindestens muss man in die Voraussetzungen der „Strafbarkeit“ noch aufnehmen, dass der Körperverletzer rechtswidrig (z. B. nicht in Notwehr, § 32 StGB) und schuldhaft (z. B. nicht als siebenjähriges Kind) gehandelt hat (vgl. Rn 85 f.). 2. Hauptnormen und Hilfsnormen Hauptnormen nennt man solche Normen, die einen Normbefehl enthalten. Normen, die 76 keinen Normbefehl enthalten, nennt man Hilfsnormen. Sie dienen der Ausfüllung der Hauptnormen. Die klarsten Beispiele dafür sind gesetzliche Definitionen; sie können Be- griffe auf der Voraussetzungs- und der Rechtsfolgenseite einer Hauptnorm erklären. Ande- re Hilfsnormen ergänzen die Hauptnormen mit weiteren Voraussetzungen; auch das kann auf der Voraussetzungs- und der Rechtsfolgenseite geschehen. Ein Beispiel: Fall 1: Polizeihauptmeister P geht in der Fußgängerzone Streife. Als der Fußgänger F ihn 77 nach dem Beate-Uhse-Shop fragt, überwältigt den P sein Gefühl von Sittlichkeit und er schlägt den F mit einem gekonnt-gezielten Faustschlag nieder. Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 5 Welche Straftat kommt in Betracht? 78 »Ein Amtsträger, der während der Ausübung seines Dienstes... eine Kör- perverletzung begeht..., wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.« (§ 340 Abs. 1 S. 1 StGB) Was ist ein Amtsträger? 79 »Im Sinne dieses Gesetzes ist... Amtsträger: wer nach deutschem Recht Beamter oder Richter ist...« (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB) Was ist ein Beamter? 80 »Polizeivollzugsbeamte im Sinne des Landesbeamtengesetzes... sind: 1. Beamte, denen ein in Absatz 4 aufgeführtes Amt verliehen ist...« (§ 2 Abs. 1 Polizeilaufbahnverordnung M-V – LVOPol M-V) »Die Laufbahnen umfassen folgende Ämter der Besoldungsordnungen A und B des Bundes und des Landes: 1. Mittlerer Dienst:... Polizei-/Krimi- nalhauptmeister...« (§ 2 Abs. 4 LVOPol M-V) Was ist eine Körperverletzung? 81 »§ 223. Körperverletzung. (1) Wer eine andere Person körperlich miss- handelt oder an der Gesundheit schädigt...« Ist auch eine „aus Versehen“ begangene Körperverletzung aus § 340 Abs. 1 StGB strafbar? 82 »Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässi- ges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.« (§ 15 StGB) Was ist „vorsätzliches Handeln“? 83 »Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzli- chen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.« (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) Was bedeutet „bei Begehung der Tat“? 84 »Eine Tat ist zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter... gehandelt hat...« (§ 8 S. 1 StGB) Ist jede vorsätzliche Körperverletzung strafbar aus § 340 Abs. 1 StGB? 85 »Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.« (§ 32 Abs. 1 StGB) Ist jede rechtswidrige vorsätzliche Körperverletzung strafbar aus § 340 Abs. 1 StGB? 86 »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung... unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.« (§ 20 StGB) Kann P zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten und 10 Tagen bestraft werden? 87 »Freiheitsstrafe unter einem Jahr wird nach vollen Wochen und Monaten... bemessen.« (§ 39 StGB) »Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verhängt das Gericht nur, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters lie- gen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 6 oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen.« (§ 47 Abs. 1 StGB) § 340 Abs. 1 S. 1 StGB beschreibt also nur den Kern der Strafbarkeitsvoraussetzungen; die 88 Vorschrift wird definitorisch ergänzt von §§ 11 und 223 und inhaltlich ergänzt von § 16 (nebst definitorischer Ergänzung in § 8) sowie beispielsweise von §§ 32 und 20. Ebenso beschreibt § 340 Abs. 1 S. 1 StGB nur den groben Rahmen der Rechtsfolge und wird in- haltlich ergänzt z. B. von §§ 39 und 47. Und das ist nur eine beispielhafte Auswahl der Normen, die zusätzlich zu § 340 StGB beachtet werden müssen, um den simplen Fall 1 zu lösen. C. Die Normenhierarchie Eine Rechtsordnung wird im Laufe ihrer Entwicklung immer umfangreicher und kompli- 89 zierter. Eine Eigenheit ist, dass die vielen Vorschriften in einem Stufenverhältnis zu einan- der stehen, so wie die Gliederung dieses Textes. So steht zum Beispiel in der Rechtsord- nung der Bundesrepublik Deutschland die Bundesverfassung, das Grundgesetz (GG), auf der höchsten Stufe und setzt allen anderen Vorschriften der Rechtsordnung einen verbindli- chen Rahmen. Auch der Gesetzgeber ist bei jedem Gesetz, das er gibt, an die Verfassung gebunden (Art. 20 III Halbs. 1 GG). Ein Beispiel am unteren Ende der Normenhierarchie sind Ihre Zwischenprüfungsleistungen: Sie sind vorgesehen z.B. in der Prüfungsordnung der Juristischen Fakultäten der Universität Rostock oder Passau. Diese Vorschriften müs- sen sich wiederum richten nach dem Landeshochschulgesetz (M-V) bzw. dem Bayerischen Hochschulgesetz, dem Juristenausbildungsgesetz (M-V) und der Juristenausbildungs- und Prüfungsordnung (JAPO) des Landes Mecklenburg-Vorpommern bzw. des Freistaats Bay- ern. Für die Landesvorschriften zur Juristenausbildung gibt es im Deutschen Richtergesetz (DRiG) des Bundes verbindliche Vorgaben. Das DRiG muss wiederum höherrangiges Recht beachten, nämlich das Grundgesetz. D. Normenkollisionen Normen dürfen nicht in Widerspruch zueinander geraten; sonst weiß der Normadressat 90 nicht, welches Verhalten seine Rechtsordnung von ihm erwartet (vgl. Rn 61–63). Bei der Vielzahl von Normen in einer Rechtsordnung kommt es aber immer wieder vor, dass zwei Normen einander widersprechen. So gut wie immer sind das aber keine echten Normwid- ersprüche, sondern nur scheinbare. Denn es gibt Regeln, nach denen sich entscheidet, ob eine der kollidierenden Normen Vorrang vor der anderen hat. Greift eine solche Regel, dann verschafft sie der vorrangigen Norm Geltung und führt zur Nichtanwendung der nachrangige Norm. Es gibt drei Regeln dieser Art. Sie alle beruhen auf den Regeln zur Auslegung von Gesetzen, die im 3. Kapitel ausführlicher behandelt werden. I. Die drei Kollisionsregeln zur Beseitigung scheinbarer Normwidersprüche 1. Die höhere Norm geht der niederen vor (lex superior derogat legi inferiori) Vergleichen Sie diese zwei Vorschriften: 91 »Die Todesstrafe ist abgeschafft.« (Art. 102 GG) »Für besonders schwere Verbrechen kann [der Täter] zum Tode verurteilt werden.« (Art. 21 Abs. 1 S. 2 Landesverfassung Hessen) Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 7 Wenn zwei kollidierende Normen einer Rechtsordnung von verschiedenen Normsetzern 92 stammen, muss es in der Rechtsordnung zusätzliche Regeln geben zu der Frage, wer von beiden Normsetzern im konkreten Fall das Sagen hat. In unserer Rechtsordnung gilt die allgemeine Vorrangregel: Die höhere Norm geht vor. Eine der wichtigsten Ausprägungen dieser allgemeinen Regel lautet: »Bundesrecht bricht Landesrecht.“ (Art. 31 GG) Ähnliche hierarchische Vorrangregeln lauten: 93 »Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollzie- hende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebun- den.« (Art. 20 Abs. 3 GG) »Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden.« (Art. 80 Abs. 1 S. 1 und 2 GG) Diese Vorrangregeln sind in unserer Rechtsordnung angelegt, die vom Gedanken einer 94 Normenhierarchie und Normenpyramide lebt (soeben bei Rn 89). Sie ist also bei der sys- tematischen Auslegung angesiedelt. 2. Die speziellere Norm geht der allgemeineren vor (lex specialis derogat legi gene- rali) Fall 2: T hat dem O im Streit aus Ärger mit einem Bierkrug auf den Kopf geschlagen. 95 »Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« (§ 223 Abs. 1 StGB) »Wer die Körperverletzung... mittels... eines... gefährlichen Werkzeugs... begeht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren... bestraft.« (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) Eine Norm ist gegenüber einer anderen spezieller, wenn die andere Norm alle Fälle erfasst, 96 die auch die eine Norm erfasst, und zusätzlich noch weitere Fälle. So ist es hier: § 223 StGB erfasst alle Fälle des § 224 StGB und noch zusätzliche, nämlich alle Körperverlet- zungen ohne gefährliche Werkzeuge. Also ist § 224 StGB spezieller. – Anders herum ge- sagt: Eine Norm ist gegenüber einer anderen spezieller, wenn ihr Tatbestand alle Voraus- setzungen der anderen Norm enthält und zusätzlich mindestens eine weitere. § 224 StGB enthält genau die Voraussetzungen des § 223 StGB und zusätzlich die Voraussetzung der Tatbegehung mittels eines gefährlichen Werkzeugs; also ist § 224 StGB spezieller. Wenn zwei kollidierende Normen einer Rechtsordnung von demselben Normsetzer stam- 97 men, muss es Regeln geben zu der Frage, welche Norm im konkreten Fall den Vorrang hat. Die Regeln, nach denen das zu entscheiden ist, sind nicht spezielle Rechtsregeln (wie oben, Rn 92, Art. 31 GG) und auch keine Regeln der Logik, sondern ganz allgemeine Kommuni- kationsregeln (und damit auch Auslegungsregeln), die immer gelten, wenn jemand schein- bar Widersprüchliches sagt und die anderen vor der Frage stehen, was er meint. Banales Beispiel: Wenn die Mutter zum Sohn sagt, er soll leise sein, ihm aber auch aufträgt, dass er Staub saugen soll, ist klar, dass er zwar Staub saugen und dabei auch durchaus den unver- meidlichen Lärm machen soll, sonst aber leise zu sein hat; bei einer anderen Deutung liefe die Aufforderung, Staub zu saugen, ins Leere, sie wäre überflüssig. Dies der Mutter zu un- terstellen, bekäme dem Sohn nicht gut... Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 8 Ebenso muss man unterstellen, dass der Gesetzgeber jeder Vorschrift einen Anwendungs- 98 bereich zukommen lassen wollte. 2 Die speziellere Vorschrift hätte aber keinen Anwen- dungsbereich, wenn die allgemeinere den Vorrang bekäme. Umgekehrt hat die allgemeine- re Vorschrift hingegen durchaus noch einen Anwendungsbereich, wenn im Konfliktfall die speziellere Vorrang bekommt. Auch diese Überlegung gehört zur systematischen Ausle- gung. – T wird also aus dem Strafrahmen des § 224 Abs. 1 StGB bestraft. 3. Die jüngere Norm geht der älteren vor (lex posterior derogat legi priori) Fall 3: Nehmen Sie an: Der Bundesgesetzgeber hat den strafrechtlichen Tierschutz ver- 99 stärken wollen und deshalb die Strafvorschriften zum Schutz der Tiere ins Straf- gesetzbuch aufgenommen. Er hat mit Wirkung vom 1. Januar 2005 den 29. Ab- schnitt des StGB umbenannt in „Straftaten gegen Tiere und gegen die Umwelt“ und hat § 323d StGB eingeführt, der auszugsweise lautet: „Wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Bei diesem Gesetzgebungsverfahren ist es nicht zu einer Aufhebung des § 17 TierSchG gekommen, der schon seit vielen Jahren in Kraft ist und auszugsweise lautet: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld- strafe wird bestraft, wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet.“ T hat im Sommer 2005 eine herrenlose streunende Katze gefangen und aus purer Mordlust grausam getötet. Aus welchem Strafrahmen muss das Gericht seine Strafe nehmen? Eine andere allgemeine Kommunikationsregel ist, dass ein Sprecher aktuell dasjenige will, 100 was er zuletzt gesagt hat. Ein einfaches Beispiel dafür ist es, wenn wir den Kontext des Beispiels von oben (Rn 97) leicht verschieben: Wenn die Mutter zuerst dem Sohn befiehlt, er solle Staub saugen, und etwas später sagt, sie habe Kopfschmerzen, er möge leise sein, dann ist klar, dass damit der frühere Befehl, lärmend Staub zu saugen, aufgehoben ist. Auch diese Regel gilt genauso in unserem Rechtssystem, das von der Anschauung lebt, 101 dass wir Mitglieder der Rechtsgemeinschaft uns unser Recht selber setzen und die vorhan- denen Vorschriften deshalb jederzeit durch neue Vorschriften ersetzen können. Dieses grundlegende Verständnis findet seinen Niederschlag zum Beispiel in den Grundgesetzarti- keln über die Bundesgesetzgebung (Art. 76 ff. GG). Vertiefung: Diese Ansicht ist nicht selbstverständlich. In früheren Jahrhunderten, als man das Recht noch als 102 etwas „Vorgegebenes“ ansah, galt deshalb eine Vorschrift um so mehr, je älter die Rechtsquelle (der Rechtstext, die Urkunde) war, in der sie stand. 3 Dass es dabei gute Übung ist, die alten Vorschriften aufzuheben, ist sozusagen nur eine 103 Freundlichkeit gegenüber dem Rechtsanwender, weil es der Übersichtlichkeit dient. Aber rechtstheoretisch erforderlich ist es nicht, um der neuen Vorschrift Geltung und Vorrang vor der alten zu verschaffen. – T muss also aus dem strengeren § 323d StGB bestraft wer- den. II. Das Verhältnis der drei Kollisionsregeln zueinander Wenn zwei Normen einer Rechtsordnung von verschiedenen Normsetzern stammen, gilt 104 wie gesagt die höhere Norm. Denn die Hierarchie der Normen beruht ihrerseits auf Nor- 2 Man bräuchte schon gute Gründe, wenn man annehmen wollte, dass eine Norm gar keinen Anwendungs- bereich haben sollte. Ein Grund könnte etwa sein, dass der Gesetzgeber bei der Reform eines Rechtsge- bietes vergessen hat, eine Vorschrift aufzuheben. Ein Beispiel dafür ist uns allerdings nicht bekannt. 3 Genauer dazu Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, 8. Aufl. 1995, S. 21 ff. Hardtung: Lehrskript Rechtstheorie, 2. Kapitel: Kleine Normenlehre 9 men, die keine Auslegungsspielräume zulassen (s. vor allem Art. 31 GG, oben Rn 92). Die höhere Norm hat vor der niederen also immer Vorrang, auch dann, wenn die niedere Norm spezieller ist oder jünger oder beides. Nur wenn zwei Normen einer Rechtsordnung von demselben Normsetzer stammen, kom- 105 men die beiden anderen Kollisionsregeln zur Geltung. Sie stehen zueinander nicht in einem förmlichen rechtlichen Verhältnis, sodass immer die eine und nie die andere Kollisionsre- gel Geltung hätte. Denn sie sind wie gesagt in erster Linie Kommunikationsregeln; und deshalb kann je nach kommunikativem Kontext mal die speziellere und mal die jüngere Anordnung den Vorrang haben (vgl. die beiden Alltagsbeispiele in Rn 97 und 100). Für den rechtlichen Bereich lässt sich aber als Faustregel sagen: Die speziellere Norm geht der jün- geren so gut wie immer vor. Denn wenn der Gesetzgeber eine neue allgemeine Vorschrift in Kraft setzt, bedeutet das normalerweise nicht, dass er damit zugleich eine ältere, aber speziellere außer Kraft setzen will. Will er das, hebt er sie auf. Eine Ausnahme kann man nur dann machen, wenn erkennbar ist, das die ältere Spezialnorm aufgehoben werden soll- te, aufgrund eines Fehlers im Gesetzgebungsverfahren aber in Kraft geblieben ist. höhere Norm 106 speziellere Norm jüngere Norm

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