Grundbegriffe der Rechtswissenschaften PDF
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Universität Wien
2023
Franz-Stefan Meissel, Helmut Ofner, Bettina Perthold-Stoitzner, Michaela Windisch-Graetz
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This book, "Grundbegriffe der Rechtswissenschaften", 5th edition, provides foundational concepts in legal studies. It discusses the nature of law, its historical development, and its role in society. The authors, all professors at the University of Vienna, examine various schools of thought, including natural law and positivism.
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Grundbegriffe_5Aufl_Sonderdruck 28.02.2024 10:12 Uhr Seite I Aufnahmeverfahren für das Diplomstudium Rechtswissenschaften an der Universität Wien – Auszug aus Grundbegriffe der Rechtswisse...
Grundbegriffe_5Aufl_Sonderdruck 28.02.2024 10:12 Uhr Seite I Aufnahmeverfahren für das Diplomstudium Rechtswissenschaften an der Universität Wien – Auszug aus Grundbegriffe der Rechtswissenschaften 5. Auflage von Univ.-Prof. Dr. Franz-Stefan Meissel Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte Univ.-Prof. Dr. Helmut Ofner, LL.M. Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung ao. Univ.-Prof. Dr. Bettina Perthold-Stoitzner Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Staats- und Verwaltungsrecht Univ.-Prof. MMag. Dr. Michaela Windisch-Graetz Universität Wien, Rechtswissenschaftliche Fakultät Institut für Arbeits- und Sozialrecht Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Manz Ihr verlässlicher Partner im Studium www.manz.at Wien 2023 MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 1 Erstes Kapitel Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache I. Annäherung an den Rechtsbegriff „Das Gesetz (nomos) ist König über alle göttlichen und menschlichen Dinge. Es soll über Gutem und Bösem stehen, es soll Herrscher und Führer der Lebewesen sein, die ihrer Natur nach in Staaten leben, und daher soll es der Maßstab für Recht und Unrecht sein, indem es gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu unterlassen ist.“ Chrysipp (281 – 208 v Chr), stoischer Philosoph A. Recht als Friedensordnung Ohne „Recht“ wäre unsere Gesellschaft nicht denkbar. Rechtsnormen bestim- men unser Leben. Sie dienen dazu, das Zusammenleben in der Gemeinschaft zu regeln, dem Einzelnen bestimmte Rechtspositionen (Befugnisse und Pflichten) zuzuweisen und, für den Fall des Streites, Konfliktlösungsverfahren zur Verfü- gung zu stellen. Wesentliche Aufgabe des Rechts ist damit die Etablierung und die Aufrechterhaltung einer Friedensordnung durch rechtliche Mechanismen. Die Notwendigkeit einer geregelten Ordnung hat Thomas Hobbes (1588 – 1679) in einem berühmten Gedankenexperiment herausgearbeitet: Wie können wir uns das Leben in einem Urzustand ohne Existenz einer staatlichen Ordnung vorstellen? Jeder und jede könnten nach Belieben ihren Bedürfnissen nachgehen, die Freiheit des Einzelnen kennt zunächst keine Schranken. Da jeder ein Recht auf Alles bean- spruchen kann, die Güter, die beansprucht werden, aber begrenzt sind, gerät man notwendigerweise aneinander. Aufgrund des Fehlens einer übergeordneten Instanz kommt es bald zum handgreiflichen Streit. Der oder die Stärkere versucht, die schwächere Person zu unterdrücken. Gewalttätigkeit bricht aus und so herrscht in diesem hypothetischen Naturzustand ohne Ordnungssystem ein „Krieg Aller gegen Alle“ (bellum omnium contra omnes). Der Ausweg aus dieser Situation besteht in der Annahme eines „Gesellschaftsvertrags“, in dem alle Einschränkungen ihres „Rechts auf Alles“ zugunsten einer übergeordneten Instanz zustimmen. Für Hobbes folgt daraus die Notwendigkeit der Einsetzung eines Souveräns, einer Regierung (government), deren primäre Aufgabe die Aufrechterhaltung des Friedens und die Gewährleistung der Selbsterhaltung der Bürger ist.1) 1 ) Zur Staatstheorie Hobbes’ siehe etwa Rawls, Geschichte der politischen Philosophie (2008) 53 ff. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 2 2 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache B. Zur historischen Entwicklung des Rechtsbegriffs Von Jurist*innen erwartet man im Allgemeinen präzise und klare Aussagen. Fragt man aber, was denn das Wesen von „Recht“ sei und was genau den Gegenstand von Rechtswissenschaft bildet, so stellt man fest, dass die Antwor- ten darauf sehr unterschiedlich ausfallen. Die Rechtsordnung selbst kann uns dazu nicht weiterhelfen. Eine gesetzliche Definition dessen, was „Recht“ ist, sucht man vergeblich. Unsere Rechtsordnung enthält unzählige Rechtsvorschriften, die Rechtsbezie- hungen regeln und insofern wird oft formuliert, das Recht im objektiven Sinn2) sei die Summe aller geltenden Rechtsnormen. Aber auch diese Defini- tion führt nur zur nächsten Frage, nämlich jener nach dem Geltungsgrund dieser Normen. Diese Probleme beschäftigen seit langer Zeit Philosophie und Rechtswissenschaft, auch Ethnologie und Soziologie haben dazu interessante Beiträge geliefert, ohne dass man aber Einigkeit über die zugrunde zu legen- den Definitionsmerkmale erzielen konnte. Wichtige Impulse zur Entwicklung unserer gegenwärtigen Rechtsbegrifflichkeit stammen insbesondere von Immanuel Kant (Trennung von Legalität und Mora- lität, Recht als System äußerer Freiheitssphären), von den positivistischen Rechts- lehren des 19. und 20. Jahrhunderts („Befehlstheorie“ John Austins, Theorie des Rechts als zwangsbewehrte Ordnung bei Max Weber, die „Reine Rechtslehre“ Hans Kelsens und seiner Schüler, die Stufenbautheorie Adolf Julius Merkls), von der soziologischen Rechtstheorie (Eugen Ehrlich, Roscoe Pound), der vor allem im Privatrecht vorherrschenden Interessen- bzw Wertungsjurisprudenz (Rudolf von Jhering, Philipp Heck, Josef Esser, Karl Larenz, Franz Bydlinski), der Systemtheorie (Niklas Luhmann) sowie der Diskurstheorie (Jürgen Habermas, Robert Alexy). Diese Autoren haben sehr unterschiedliche und zT miteinander inkompatible Ansätze verfolgt; dennoch lässt sich behaupten, dass sie alle zu unserem Main- stream-Verständnis von Recht wichtige Bausteine geliefert haben. Eine genauere Diskussion der jeweiligen Beiträge und Schilderung der Kontroversen dieser unter- schiedlichen Konzeptionen erfolgt insbesondere im Rahmen der Gegenstände Rechtsphilosophie und Rechtstheorie.3) Die Problematik des Rechtsbegriffs kann hier nur angedeutet werden. Deshalb wollen wir im Folgenden von dem historisch gewachsenen, konventionellen Rechtsbegriff ausgehen, der der österreichischen Rechtswissenschaft heute regelmäßig zugrunde gelegt wird. 2 ) Vom „Recht im objektiven Sinn“ unterscheidet man die aus diesem abgeleiteten „Rechte im subjektiven Sinn“; mit letzteren meint man die Befugnisse von Rechtsunterworfenen, die von diesen auch rechtsförmig durchgesetzt werden können; siehe dazu unten. 3 ) Dazu etwa Maier, Rechtsphilosophie und Rechtsethik (Manz 2019); Koller, Theorie des Rechts2 (1997); Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie7 (2023); Potacs, Rechts- theorie2 (2019); Somek, Rechtsphilosophie (2018). Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 3 I. Annäherung an den Rechtsbegriff 3 C. Eine Lehrbuchdefinition des Rechts Als Ausgangspunkt für unsere Annäherung an den Rechtsbegriff dient uns eine – auf die Reine Rechtslehre4) zurückgehende – Lehrbuchdefinition des geltenden Rechts: „Unter positivem Recht wird jedes von Menschen für Menschen gesetzte, regelmäßig wirksame (effektive), organisierten Zwang androhende Regelungs- system verstanden.“5) 1. Von Menschen erzeugtes Recht a. Das von Menschen „gesetzte“ (dh erzeugte) Recht wird von Jurist*innen als positives Recht (ius positivum) bezeichnet und häufig mit dem „geltenden Recht“ gleichgesetzt. Das Adjektiv „positiv“ impliziert keine Wertungskompo- nente, sondern leitet sich sprachlich von lateinisch ponere („setzen“) ab. Der Ausdruck positives Recht dient vor allem der Abgrenzung von solchen Konzeptionen des Rechts, in denen das Recht nicht auf einen menschlichen Rechtserzeugungsvorgang zurückgeführt wird, sondern auf einen „überpositi- ven“ Geltungsgrund. So wurde von verschiedenen naturrechtlichen Theorien als oberster Geltungsgrund etwa die kosmische Schöpfungsordnung (Logos in der stoischen Philosophie), eine göttliche Ordnung (die lex divina im christ- lichen Naturrecht) oder aber die Vernunft (ratio im Vernunftrecht der Aufklä- rung) angenommen. Die Ableitung der Rechtsgeltung von solchen überpositi- ven Normen wird von Kelsen und seinen Schülern als Proponenten eines Rechtspositivismus strikt abgelehnt. Historisch betrachtet haben Naturrechtskonzeptionen unterschiedliche Funktio- nen gehabt. Auf der einen Seite kann ihnen eine legitimierende Funktion zukom- men, indem sie zB Rechtsregeln auf eine „überpositive“ Geltungsquelle wie „Gott“ oder „die Vernunft“ zurückführen, damit gleichsam überhöhen und gegenüber Kritik abschotten. Die positivistische Ablehnung des Naturrechts ist demgegenüber vom Bestreben nach Aufdeckung solcher „ideologischer Prämissen“ naturrecht- licher Positionen bemüht. Auf der anderen Seite haben naturrechtliche Konzeptionen auch immer wieder dazu gedient, Rechtsregeln im Hinblick auf religiöse, philosophische und ideolo- gische Wertungen zu kritisieren oder aber bewusst vom geltenden Recht unab- hängige „Gegenentwürfe“ zu liefern. So hat etwa für die Herausarbeitung des nach wie vor in Österreich geltenden Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) von 1811 das rationalistische Naturrecht (Karl Anton von Martini und Franz von Zeiller) wichtige Impulse geliefert. Da das rationalistische Naturrecht als wich- tigste Quelle des Rechts schlechthin die Vernunft und nicht das bis dahin geltende 4 ) Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960). 5 ) Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 (2015) Rz 2. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 4 4 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache ius commune ansah, konnte es das Material des ius commune neu ordnen und sys- tematisieren sowie in eine aufklärerisch-liberale Grundauffassung des Privatrechts integrieren. b. Rechtserzeugung durch Menschen geschieht durch eine Anordnung der zur Rechtserzeugung befugten Autorität („Gesetzgebung“ in einem weiten Sinn). Führt die Rechtserzeugung zu niedergeschriebenem Recht, so spricht man auch von „gesatztem Recht“. c. In manchen Rechtsordnungen ist auch die Rechtserzeugung in Form von Gewohnheitsrecht (consuetudo) anerkannt. Auch hier liegt insofern ein von Menschen geschaffenes Recht vor, als das Gewohnheitsrecht eine lang an- dauernde Übung (usus) und die Überzeugung der Rechtsgemeinschaft (Rechtsüberzeugung, opinio iuris ac necessitatis) darstellt, dass es sich dabei um rechtlich gebotenes Verhalten handle. Eine Anerkennung von Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle enthält zB Art 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB), aber auch im Völkerrecht wird das Völkergewohnheitsrecht als Rechtsquelle angesehen. 2. Organisierten Zwang androhend Als wesentliches Merkmal einer Rechtsnorm wird die der Norm inhärente Sanktionsandrohung angesehen. Im Fall der Nichtbefolgung treten Rechtsfol- gen ein, die letztlich durch organisierten Zwang durchsetzbar sind. In unserer Rechtsordnung wird dieser organisierte Zwang durch staatliche Organe voll- zogen. Unter rechtlichen Sanktionen sind nicht nur Vollstreckungsmaßnahmen (Androhung von Zwangsmitteln zur Durchsetzung von Pflichten) und Stra- fen (Geldstrafen, Freiheitsstrafen, strafweiser Vermögensverfall) zu verstehen, sondern auch andere für den Normadressaten unangenehme Folgen wie die Entziehung von Befugnissen (zB Führerscheinentzug, Verlust der Berechti- gung für ein bestimmtes Gewerbe) oder die Nichterreichung eines ge- wünschten Rechtserfolges (zB Nichtzuerkennung einer angestrebten Bauge- nehmigung, Unwirksamkeit eines beabsichtigten Rechtsgeschäftes). Die Sanktionsbewehrung des Rechts findet sich nicht bei allen rechtlichen Phäno- menen. So gibt es manchmal Verbote, die nicht mit einer unmittelbaren Sanktion verbunden sind, man spricht hier von einer lex imperfecta. Vor allem im Bereich internationalen Rechts spielt auch das sog soft law eine große Rolle, darunter ver- steht man nicht rechtsverbindliche Resolutionen, Absichtserklärungen und Leit- linien (codes of conduct). Rechtliche Relevanz kommt dem soft law insbesondere im Hinblick darauf zu, dass sich aus ihm im Laufe der Zeit verbindliches hard law ent- wickeln kann. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 5 I. Annäherung an den Rechtsbegriff 5 3. Effektivität Die Geltung von Recht setzt nach der zitierten Definition voraus, dass dem zur Rechtssetzung berufenen Organ im Allgemeinen von den Normadressaten Gehorsam geleistet wird und die von ihm geschaffenen Regeln tatsächlich im Großen und Ganzen befolgt werden. Damit ist ein Aspekt der Rechtsbefol- gung bzw -akzeptanz angesprochen. Obwohl die Reine Rechtslehre die Geltung der Rechtsordnung streng normativ deuten möchte und auf die vorausgesetzte sog „Grundnorm“ zurückführt, deren Inhalt darin besteht, die geltende Verfassung zu befolgen, so konzediert sie doch, dass ein Normensystem, dem keinerlei faktische Wirksamkeit zukommt, auch nicht als Rechtsordnung beschrieben werden kann. Die tatsächliche Wirksamkeit von Rechtsnormen stellt sich nicht nur als eine Funktion der Gewaltandrohung durch einen, über entsprechende Durchset- zungsmacht verfügenden Rechtserzeuger dar, sondern beruht in der Regel auf der Plausibilität und „Akzeptanz-Eignung“ der Rechtsnormen. Hervorzuhe- ben ist aber, dass es nicht auf die Effektivität einer einzelnen Regel, sondern auf die Effektivität der Rechtsordnung insgesamt ankommen soll. Dass etwas gesollt ist, ist nicht damit gleichzusetzen, dass dieses Sollen auch tat- sächlich befolgt wird. Zwischen Sein und Sollen ist begrifflich zu unterscheiden. So betont insbesondere die Reine Rechtslehre, dass sich die Rechtswissenschaft nur mit der Beschreibung der Rechtsnormen (dessen, was „gesollt“ ist) beschäftigt; der Inhalt dieser Normen könne nur aus Analyse des Normensystems, nie aber aus einem Sein abgeleitet werden. Aus der Tatsache, dass manche Menschen die Sonn- tagszeitung entnehmen, ohne sie zu bezahlen, folgt nicht, dass dieses Verhalten rechtlich gesollt ist. Umgekehrt kann man aus der Rechtspflicht, für die Zeitung den entsprechenden Preis zu entrichten, nicht schließen, dass alle auch tatsächlich zahlen. Die Existenz einer Rechtsnorm kann auch nicht empirisch erhoben wer- den, sondern wird als normative Größe mit dem Begriff „Geltung“ erfasst. 4. Und die Gerechtigkeit? a. Vergleichen wir damit nun die Definition, die sich im führenden Zivil- rechtslehrbuch findet. Welser/Kletečka, Bürgerliches Recht Band I15 (2018) Rz 13, definieren das Recht als: „die für eine Rechtsgemeinschaft verbindliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die unter der Anforderung der Gerechtigkeit steht und allenfalls mit Zwang durchgesetzt wird.“ Auffallend ist, dass in dieser Definition explizit auf ein materiales (inhalt- liches) Kriterium abgestellt wird, dessen Erfüllung die Qualifikation einer Norm als Rechtsnorm bestimmt: die „Anforderung der Gerechtigkeit“. Damit Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 6 6 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache ist eine Rechtsidee angesprochen, der zufolge Recht nicht rein formal be- stimmt werden kann, sondern auch Gerechtigkeitspostulaten entsprechen muss. Angesichts der häufig ins Treffen geführten Schwierigkeit der Bestim- mung dessen, was unter Gerechtigkeit zu verstehen sei, wird in dieser Defi- nition nicht schlechthin Gerechtigkeit als notwendiges Element des Rechts genannt, immerhin aber eine Orientierung an einer Gerechtigkeitsidee als immanente Voraussetzung der Rechtsgeltung postuliert. b. Der Gegensatz zwischen beiden Definitionen erscheint nicht gar so weitge- hend, wie man glauben könnte, bezieht man ihn auf unsere geltende Rechts- ordnung. Die positivistische Rechtslehre anerkennt, dass die geltende öster- reichische Verfassung für die Gesetzgebung inhaltliche Postulate aufstellt (Garantie von Grundrechten und insbesondere der Gleichheitssatz als Sach- lichkeitsgebot auch für die Gesetzgebung), die man durchaus als „Anforderun- gen der Gerechtigkeit“ interpretieren mag. Bestritten wird von den positivisti- schen Autoren allerdings, dass „die Gerechtigkeit“ schlechthin ein Kriterium für die Rechtsqualität darstellt, zumal keine wissenschaftliche Klarheit dahin- gehend zu erzielen sei, was unter Gerechtigkeit genau zu verstehen sei (eine Frage, die nach Meinung Kelsens nicht wissenschaftlich beantwortbar ist). Umgekehrt ist auch für jene Autor*innen, die das Recht als „unter Gerechtig- keitsanspruch stehend“ beschreiben, unbestritten, dass Recht und Gerechtig- keit nicht einfach gleichzusetzen sind und dass die bloße Qualifikation einer Regel als „unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten wünschenswert“ diese noch lange nicht zu einer geltenden Rechtsnorm macht. Die Erlassung durch das zur Normerlassung kompetente Organ erscheint für sie vielmehr als eine notwendige (wenngleich nicht zwingend zureichende) Voraussetzung der Rechtsgeltung. c. Auf die Nikomachische Ethik des Aristoteles (384 – 322 v Chr) geht die Unterscheidung zweier Arten von Gerechtigkeit zurück: die austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit. (i) Gegenstand der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva) ist die Zuteilung von Rechten und Gütern. Als Anwendungsfall der austeilenden Gerechtigkeit kann man den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz (Art 7 B-VG) sehen, demgemäß grundsätzlich alle Staatsbürger*innen vor dem Gesetz gleich sind und ihnen insofern gleiche formale Freiheiten zukommen. Aus dem Gleichheitssatz resultiert die Verpflichtung, Gleiches gleich und Unglei- ches ungleich zu behandeln. Differenzierung ist demnach dort zulässig, wo es sachlich gerechtfertigt ist („Sachlichkeitsgebot“). Art 7 Abs 1 B-VG: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechts, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausge- schlossen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. …“ Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 7 I. Annäherung an den Rechtsbegriff 7 Beachte: Verfassungsrechtlich sind auch bestimmte Bevorzugungen zulässig, zB um die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern zu erzielen. Vgl dazu Art 7 Abs 2 B-VG: „Bund, Länder und Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsäch- lich bestehender Ungleichheiten sind zulässig.“ (ii) Ausgehend von einer existierenden Güterzuweisung stellt sich die Frage der Gerechtigkeit für die durch die Interaktion von Menschen verursachten Veränderungen der Güterzuordnung. Solche Veränderungen können durch Verträge (Tausch im weiten Sinn), aber auch durch rechtswidrigen Eingriff in fremde Güter, zB durch Schädigung einer fremden Sache, zustande kommen. Dies wirft typischerweise folgende Fragen auf: Unter welchen Voraussetzun- gen ist ein Tausch von Gütern als gerecht anzusehen? Oder: Wie kann der Schaden in gerechter Weise wieder gut gemacht werden? Diese Probleme ge- hören in den Bereich der Austauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) bzw der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia correctiva). Als Manifestationen der Austauschgerechtigkeit sind zB jene Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu sehen, die sittenwidrige Vereinbarungen für unwirk- sam erklären (§ 879 ABGB) sowie speziell die Bestimmungen über Wucher einerseits (§ 879 Abs 2 Z 4 ABGB) und Verkürzung über die Hälfte (laesio enormis, §§ 934 f ABGB) andererseits, welche grobe Äquivalenzstörungen in Austauschbeziehungen verhindern sollen. § 879 Abs 1 ABGB: „Ein Vertrag, der gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ § 879 Abs 2 ABGB: „Insbesondere sind folgende Verträge nichtig: … 4. wenn jemand den Leichtsinn, die Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung eines anderen dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten für eine Leistung eine Gegenleistung versprechen oder gewähren lässt, deren Vermögenswert zu dem Werte der Leistung in auffallendem Missverhältnis steht.“ § 934 ABGB: „Hat bei zweiseitig verbindlichen Geschäften ein Teil nicht einmal die Hälfte dessen, was er dem andern gegeben hat, von diesem an dem gemeinen Wer- te erhalten, so räumt das Gesetz dem verletzten Teile das Recht ein, die Aufhebung und die Herstellung in den vorigen Stand zu fordern. Dem andern Teile steht aber bevor, das Geschäft dadurch aufrecht zu erhalten, dass er den Abgang bis zum ge- meinen Werte zu ersetzen bereit ist. Das Missverhältnis des Wertes wird nach dem Zeitpunkte des geschlossenen Geschäftes bestimmt.“ Die ausgleichende Gerechtigkeit liegt insbesondere den Prinzipien des Scha- denersatzrechts (§§ 1293 ff ABGB) zugrunde, demzufolge grundsätzlich der rechtswidrig und schuldhaft handelnde Schädiger zum Ausgleich des Scha- dens verpflichtet ist. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 8 8 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache Vgl § 1295 Abs 1 ABGB: „Jedermann ist berechtigt, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schade mag durch Übertretung einer Vertragspflicht oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden sein.“ D. Das Proprium des Rechts 1. Das Recht stellt in unserer Gesellschaft nicht das einzige Normensystem dar, das menschliches Verhalten zu steuern sucht. So gibt es neben rechtlichen Vorschriften auch solche der Religion („Du sollst Gottes Gebote achten!“), der Moral bzw Ethik („Du sollst Deinem Gewissen folgen!“) oder der gesellschaft- lichen Konvention („Wenn Du gegrüßt wirst, sollst Du zurückgrüßen!“, „Wenn jemand Dir die Türe aufhält, sollst Du Dich bedanken!“). Was ist aber das Eigentümliche des Rechts im Vergleich zu diesen anderen Normensystemen? Dass man nicht stehlen oder töten soll, das lehrt doch auch die Religion und die Moral? Dadurch, dass ein Verhalten rechtlich normiert ist, kann es auch in einem rechtsförmigen Verfahren und unter Androhung von Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Zur Durchsetzung von Rechts- pflichten steht in unserer Rechtsordnung ein breites Instrumentarium staat- licher Mittel zur Verfügung, um Rechtspflichten zu implementieren. Weigert sich jemand zu Unrecht, der Eigentümer*in seine Sache herauszu- geben, so kann er von der Eigentümer*in geklagt werden. Wird er dann auf Herausgabe verurteilt und kommt er dieser Verpflichtung wiederum nicht nach, so kann im Wege der zivilrechtlichen Vollstreckung („Exekution“) die Herausgabe erzwungen werden. Letztlich ist damit der Eigentumsherausgabe- anspruch mit Zwangsmitteln durchsetzbar. Im Gegensatz zur staatlichen Rechtsdurchsetzung erzeugt der Verstoß gegen Normen der Religion, der Moral und der gesellschaftlichen Konventionen an- dere Arten der „Sanktion“. Diese bestehen vielleicht in einer priesterlichen Aufforderung zur Umkehr und zur Buße, einem „schlechten Gewissen“ oder aber „verschnupften Reaktionen der Umwelt“. Unter Umständen sind diese Sanktionen für die Betroffenen sogar unangenehmer als es rechtliche Sanktio- nen wären, sie werden aber nicht durch staatliche Behörden durchgesetzt. 2. Das Gesagte bezieht sich allerdings nur auf Gesellschaften, die durch eine Ausdifferenzierung der Normensysteme gekennzeichnet sind. Dieser Trennung von Recht, Religion und Konvention liegt eine bestimmte säkulare und liberale Konzeption zugrunde, die geschichtlich ein relativ rezentes Phänomen darstellt. Die heute vorherrschende Trennung von Legalität und Moralität geht auf den Philosophen Immanuel Kant (1724 – 1804) zurück. Für ihn ist das Recht „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 9 I. Annäherung an den Rechtsbegriff 9 anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann.“ Funktion des Rechts ist es dabei, den äußeren Freiraum für die Selbstverwirk- lichung abzustecken. Die Frage der Moral bzw Ethik betrifft nach Kant hingegen die innere Haltung des Menschen. Ethisch handelt, wer einer gewissenbestimmten inneren Pflicht genügt; legales Handeln setzt demgegenüber bloß die äußere Über- einstimmung des Verhaltens mit den rechtlichen Geboten voraus. In theokratischen Systemen fehlt typischerweise die Trennung von Staat und Religion. In vielen vorstaatlichen Gesellschaften wiederum fällt es schwer, Recht und Brauch zu trennen, weil spezifisch staatliche Durchsetzungsformen von Verhaltensnormen gar nicht feststellbar sind.6) Überall aber wird man ge- wisse Regeln des Zusammenlebens innerhalb der Gemeinschaft und im Ver- hältnis nach außen feststellen, die man als „Recht“ ansehen kann. In diesem Sinn lässt sich also behaupten, dass jede Gemeinschaft auch über ein „Recht“ verfügt (ubi societas, ibi ius), freilich ist dieses Recht je nach Art der Gemein- schaft mehr oder weniger komplex und differenziert. 6 ) Vgl dazu etwa Wesel, Juristische Weltkunde16 (2020) 21 ff; ausführlicher ders, Frühfor- men des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften (1985). Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 11 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem 11 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem Die Rechtsordnung stellt sich uns als ein Normensystem dar. Rechtsnormen sagen uns, was wir sollen (Gebote und Verbote) und was wir dürfen (Ermäch- tigungen). Rechtsnormen zielen auf die Steuerung des Verhaltens der Norm- adressaten. Dazu ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Normtypen erfor- derlich: A. die Festlegung der Verhaltensregeln der Normunterworfenen (Verhaltens- normen), B. die Regelung der Rechtserzeugung selbst (Rechtserzeugungsnormen) sowie C. die Organisation des rechtlichen Zwanges zur Durchsetzung der Verhal- tenspflichten (Normvollzugsnormen). A. Verhaltensnormen 1. Das Recht ordnet an, wie wir uns verhalten sollen. Es tritt den Rechtsunter- worfenen häufig mit dem Anspruch gegenüber, ein bestimmtes Verhalten zu setzen. Dieses kann in einem Tun, Dulden oder Unterlassen bestehen. Wir sprechen hier von Verhaltensnormen oder Gebotsnormen. Da für den Fall der Nichtbefolgung von Verhaltensnormen regelmäßig Sank- tionen angedroht sind, die letztlich durch Zwang durchsetzbar sind, werden solche Verhaltensnormen auch als Zwangsnormen bezeichnet. Sucht man nach Beispielen für Verhaltensnormen, so denkt man spontan meist an elementare Regeln des friedlichen Zusammenlebens wie „Du sollst nicht töten!“ und „Du sollst nicht stehlen!“. Im geltenden Recht finden sich diese beiden Verbote im Strafgesetzbuch verankert: § 75 StGB: „Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwan- zig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.“ § 127 StGB: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen mit dem Vorsatz wegnimmt, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu be- reichern, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen7) zu bestrafen.“ Zu den Verhaltenspflichten gehören aber keineswegs nur jene, die mit einer Strafdrohung verbunden sind. Welche Verhaltensregeln ergeben sich aus den folgenden Bestimmungen? 7 ) Was unter „Tagessatz“ zu verstehen ist, ergibt sich aus § 19 StGB: Demgemäß sind Geld- strafen in Tagessätzen zu bemessen, die sich „nach den persönlichen Verhältnissen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Rechtsbrechers im Zeitpunkt des Urteils erster Instanz zu bemessen“ (§ 19 Abs 2 StGB). Für den Fall der Uneinbringlichkeit ist eine Ersatzfreiheitsstrafe festzusetzen (§ 19 Abs 3 StGB). Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 12 12 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache § 231 Abs 1 ABGB: „Die Eltern haben zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse des Kindes unter Berücksichtigung seiner Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten nach ihren Kräften antei- lig beizutragen.“ § 364 Abs 2 ABGB: „Der Eigentümer eines Grundstückes kann dem Nachbarn die von dessen Grund ausgehenden Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterung und ähnliche insoweit untersagen, als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten und die ortsübliche Benutzung des Grundstücks wesentlich beeinträchtigen. Unmittelbare Zuleitung ist ohne besonderen Rechtstitel unter allen Umständen unzulässig.“ § 770 ABGB:8) „Ein Pflichtteilsberechtigter kann enterbt werden, wenn er 1. gegen den Verstorbenen eine gerichtlich strafbare Handlung begangen hat, die nur vorsätz- lich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, 2. gegen den Ehegatten, eingetragenen Partner, Lebensgefährten oder Verwandten in gerader Linie, die Geschwister des Verstorbenen und deren Kinder, Ehegatten, einge- tragenen Partner oder Lebensgefährten sowie die Stiefkinder des Verstorbenen eine gerichtlich strafbare Handlung begangen hat, die nur vorsätzlich begangen werden kann und mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedroht ist, 3. …“ 2. Aus den Verhaltenspflichten ergeben sich umgekehrt Rechte derjenigen, zu deren Schutz diese Normen aufgestellt sind. Können diese Rechte auch rechts- förmig von den Berechtigten durchgesetzt werden, handelt es sich um subjek- tive Rechte oder „Rechte im subjektiven Sinn“. So ist aus dem oben zitierten § 364 Abs 2 ABGB das subjektive Recht der Eigen- tümer*in gegen ihre Nachbar*in auf Untersagung von Immissionen wie Rauch, Lärm usw abzuleiten, wenn diese das ortsübliche Maß überschreiten und die orts- übliche Benutzung des Grundstücks wesentlich beeinträchtigen. Wurde die Pflicht- teilsberechtigte enterbt, ohne dass einer der in § 770 ABGB genannten Gründe vor- liegt, so kann sie die Erben auf Auszahlung seines sog Pflichtteiles klagen. Subjektive Rechte ergeben sich aus dem Recht im objektiven Sinn, aber nicht jedes Verhalten, das nach dem Recht im objektiven Sinn geboten oder zulässig ist, kann auch von jedermann rechtlich erzwungen werden. 3. Dazu ein Beispiel: Wird mir meine Sache gestohlen, so habe ich als Eigen- tümer das Recht, meine Sache vom Dieb, aber auch von jeder anderen Person, die sie in der Folge in ihren Besitz gebracht hat, herauszuverlangen. Als Klage steht mir dazu die Eigentumsklage (rei vindicatio) vor einem Zivilgericht zur Verfügung. Ich kann damit mein Eigentum als subjektives Recht durchsetzen. Vgl § 366 Satz 1 ABGB: „Mit dem Rechte des Eigentümers, jeden andern von dem Besitz seiner Sache auszuschließen, ist auch das Recht verbunden, seine ihm vorent- haltene Sache von jedem Inhaber durch die Eigentumsklage gerichtlich zu fordern.“ 8 ) Geändert durch BGBl I 2015/87 (ErbRÄG 2015). Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 13 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem 13 Es besteht gegen den Dieb aber auch ein Verfolgungsanspruch des Staates aufgrund des Strafrechts. Als Bestohlener kann ich die Verfolgung des Diebes bei den Strafbehörden zwar anregen, ein subjektives Recht auf Strafverfolgung kommt mir aber nicht zu. Es liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaft, ob sie den Dieb einer Anklage gem § 127 StGB unterzieht. Ist es nun „Recht“, dass der Dieb verfolgt und bestraft werden soll, oder nicht? Die Bestrafung des Diebes ist durchaus „gesollt“, allerdings ermächtigt unser Strafrecht nicht den einzelnen dazu, diese Bestrafung durchzusetzen, sondern sieht dies als eine staatliche Aufgabe an, die durch die jeweils kompetenten Behörden wahrzunehmen ist. Fazit: Nach dem „Recht im objektiven Sinn“ (der Summe der geltenden Rechts- normen) ist eine Bestrafung des Diebes durch Geld- oder Freiheitsstrafe vorgesehen, Bestohlene haben diesbezüglich aber kein „Recht im subjektiven Sinn“. B. Rechtserzeugungsnormen Wer ist aber zur Erzeugung von Verhaltensnormen befugt? Es ist das Recht selbst, das auch seine eigene Erzeugung regelt. Rechtserzeugungsnormen geben an, welche Verfahren eingehalten werden müssen, um neues Recht zu schaffen. Sie ermächtigen dazu, unter bestimmten Voraussetzungen bestehen- des Recht zu ergänzen, abzuändern oder aufzuheben. Ist ein bestimmtes Verfahren zur Rechtserzeugung von der Rechtsordnung vor- gesehen, so handelt es sich dabei um eine Rechtsquelle (im technischen Sinn). Beispiele für solche Rechtserzeugungsnormen sind die im B-VG 1920 idF 19299) normierten Regeln für die Schaffung von Bundesgesetzen (dazu ausführlicher unten). Unsere Rechtsordnung ermächtigt aber auch Privatpersonen, im Rahmen der Privatautonomie untereinander Rechte und Pflichten zu begründen. Dies geschieht durch Rechtsgeschäfte. Paradebeispiel eines Rechtsgeschäftes ist der Ver- trag: Durch ihn schaffen die Vertragsparteien untereinander Recht. Die römischen Juristen (der Antike) haben dieses Phänomen der Rechtschöpfung durch Privat- parteien anschaulich ausgedrückt, indem sie Vertragsklauseln als lex privata, dh „privates Gesetz“ bezeichneten. Von den Rechtsquellen als Verfahren der Rechtserzeugung sind die Rechts- erkenntnisquellen zu unterscheiden, aus denen wir über Rechtsquellen infor- miert werden. Rechtserkenntnisquellen sind zT amtlicher Natur (zB Bundes- gesetzblatt, Landesgesetzblätter, Amtsblatt der Europäischen Union), zT beru- hen sie auf privater Initiative (zB die von Verlagen publizierten Gesetzesaus- gaben). Sowohl amtliche als auch private Normsammlungen sind heute über das Internet verfügbar. 9 ) Das „Stammgesetz“ der österreichischen Bundesverfassung ist das Bundesverfassungs- gesetz (B-VG). Es trat 1920 erstmals in Kraft und wurde 1929 grundlegend reformiert (BGBl 1930/1), daher wird es als „B-VG 1920 in der Fassung (idF) 1929“ zitiert. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 14 14 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache Zu nennen ist hier vor allem das Rechtsinformationssystem des Bundeskanz- leramtes (RIS), welches kostenfrei über österreichisches Bundes- und Landesrecht informiert: http://www.ris.bka.gv.at. Einen umfassenden Zugang zum Gemeinschaftsrecht liefert dagegen: https://eur-lex. europa.eu/homepage.html?locale=de Im Folgenden sollen die wichtigsten Arten von Rechtsquellen des geltenden Rechts vorgestellt werden. Diese Rechtserzeugungsverfahren unterscheiden sich im Hinblick auf die zur Normsetzung berufene Autorität, im Hinblick auf den Inhalt (abstrakte oder konkrete Regelung) und im Hinblick auf den Adressatenkreis (generell, dh an die Allgemeinheit gerichtet oder an einen nach generellen Merkmalen bestimmten Adressatenkreis oder aber indivi- duell). 1. Normen mit generellem Adressatenkreis Normen mit generellem Adressatenkreis werden auch Gesetzgebung im mate- riellen Sinn genannt. Nur ein Teil von ihnen kommt aber als Gesetz im for- mellen Sinn zustande. a. Gesetze Gesetze im formellen Sinn sind generelle Rechtsnormen, die von einem Gesetzgebungsorgan erlassen wurden. In der österreichischen Rechtsordnung gibt es aufgrund der föderalen Struktur Bundesgesetze und Landesgesetze bzw, bei Einhaltung der dafür vorgesehenen schwereren Erzeugungsverfahren, Bundesverfassungsgesetze und Landesverfassungsgesetze. Gesetzgebungsor- gane sind der Nationalrat und der Bundesrat sowie die Landtage. (Ausführ- licher zum Weg der Gesetzgebung unten.) b. (Innerstaatliche) Verordnungen Art 18 Abs 2 B-VG ermächtigt jede Verwaltungsbehörde „aufgrund der Gesetze innerhalb ihres Wirkungsbereiches“ Verordnungen zu erlassen. Solche Verord- nungen sind generelle Normen (daher handelt es sich um Gesetzgebung im materiellen Sinn), die aber nicht von einem Gesetzgebungsorgan, sondern von Verwaltungsbehörden erlassen werden. Die in Art 18 Abs 2 B-VG angesprochenen sog Durchführungsverordnungen dienen dazu, Gesetze im formellen Sinn näher zu konkretisieren. Daneben ermächtigt die Verfassung vereinzelt Verwaltungsbehörden auch zur Erlassung gesetzesergänzender oder -ändernder „selbständiger“ Verordnungen. Ein Beispiel für gesetzesergänzende Verordnungen stellen die ortspolizeilichen Verordnungen gem Art 118 Abs 6 B-VG dar. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 15 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem 15 Art 118 Abs 6 B-VG: „In den Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches hat die Gemeinde das Recht, ortspolizeiliche Verordnungen nach freier Selbstbestim- mung zur Abwehr unmittelbar zu erwartender oder zur Beseitigung bestehender, das örtliche Gemeinschaftsleben störender Missstände zu erlassen, sowie deren Nichtbefolgung als Verwaltungsübertretung zu erklären. Solche Verordnungen dürfen nicht gegen bestehende Gesetze und Verordnungen des Bundes und des Landes verstoßen.“ c. EU-Gesetzgebung Von den Verordnungen des nationalen Rechts sind die Verordnungen des Unionsrechts zu unterscheiden. EU-Verordnungen sind generelle Normen, die unmittelbar für die Normunterworfenen in den Mitgliedstaaten anwend- bar sind. Sie kommen in einem Gesetzgebungsverfahren zustande, bei dem die Initiative von der EU-Kommission ausgeht und in der Regel Rat und Europäisches Parlament an der Rechtserzeugung mitwirken müssen. Auch die ebenfalls in Zusammenwirken von Kommission, Rat und Europäi- schem Parlament erzeugten EU-Richtlinien sind als Gesetzgebung im formel- len Sinn anzusehen. Die Richtlinien legen für die Mitgliedsstaaten verbind- liche Ziele fest, sind aber erst durch nationale Gesetzgebung umzusetzen und daher grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. 2. Normen mit individuellem Adressatenkreis Auf der Grundlage genereller Normen sieht unsere Rechtsordnung eine Reihe von Rechtserzeugungsverfahren vor, in denen für einen individuell bestimm- ten Adressatenkreis Rechte und Pflichten konkretisiert werden. a. Bescheid Bescheide sind von Verwaltungsbehörden erlassene Rechtsnormen mit indivi- duell bestimmten Adressaten. Es handelt sich dabei um einen individuellen, hoheitlichen, an einen Rechtsunterworfenen adressierten Verwaltungsakt. Als hoheitliches Verhalten bezeichnet man Rechtsakte der Verwaltung, die auf- grund von staatlichem imperium (Hoheitsgewalt) gesetzt werden. Hoheits- gewalt impliziert die Befugnis zu autonomer (einseitiger) Rechtssetzung im Rahmen der jeweils gegebenen Kompetenzen. Durch Bescheid kann das Bestehen eines Rechtes festgestellt (Feststellungsbe- scheid, zB Gewerbefeststellungen) werden, die Rechtslage gestaltet werden (Rechtsgestaltungsbescheid, zB Verleihung der Staatsbürgerschaft, Genehmi- gung einer Anlage, Ernennung eines Beamten) oder aber die Erbringung einer bestimmten Leistung angeordnet werden (Leistungsbescheid, zB Entrichtung einer Verwaltungsgebühr, Straferkenntnisse, Abbruchaufträge). Bescheide er- gehen aufgrund eines förmlichen Verwaltungsverfahrens. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 16 16 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache Zentrale Rechtsgrundlage für das Verwaltungsverfahrensrecht bildet das All- gemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG, BGBl 1991/51 idgF10)). Während Bescheide förmliche individuelle Verwaltungsakte sind, die aufgrund eines Verwaltungsverfahrens zustande kommen, sind Akte unmittelbarer verwal- tungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (zB die Vornahme einer Fest- nahme im Zuge einer unerlaubten Demonstration, vorläufige Abnahme eines Füh- rerscheins) durch Verfahrensfreiheit gekennzeichnet. Gegen solche „faktische Amtshandlungen“ ist gem Art 130 Abs 1 Z 2 B-VG eine Beschwerde beim Verwal- tungsgericht zulässig. Die Parteien des Verfahrens können gegen einen Bescheid in der Regel auch Rechtsmittel (Beschwerde) ergreifen. Erst wenn kein Rechtsmittel mehr offen steht, erlangt die Entscheidung „Rechtskraft“. b. (Verwaltungsrechtliche) Weisung Der hierarchische Aufbau der Verwaltungsbehörden ist durch die Weisungsge- bundenheit der Organe charakterisiert. Weisungen sind von einem Verwaltungs- organ an ein bestimmtes untergeordnetes Organ gerichtete interne Normen. Vgl dazu Art 20 Abs 1 B-VG: „Unter der Leitung der obersten Organe des Bundes und der Länder führen nach den Bestimmungen der Gesetze auf Zeit gewählte Organe oder ernannte berufsmäßige Organe die Verwaltung. Sie sind, soweit nicht verfassungsgesetzlich etwas anderes bestimmt wird, an die Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe gebunden und diesen für ihre amtliche Tätigkeit verantwort- lich. Das nachgeordnete Organ kann die Befolgung einer Weisung ablehnen, wenn die Weisung entweder von einem unzuständigen Organ erteilt wurde oder die Befolgung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde.“ c. Urteil Urteile sind von einem Gericht erlassene individuelle Rechtsnormen, durch die ein Rechtsstreit entschieden wird. Durch Urteil werden für die Parteien des Verfahrens Rechtsverhältnisse gestaltet (Rechtsgestaltungsurteile), beste- hende Rechte festgestellt (Feststellungsurteile) oder die Erbringung bestimm- ter Leistungen angeordnet (Leistungsurteile). Das Verfahrensrecht unterscheidet zwischen Urteilen im eigentlichen Sinn und den (in der Regel bloß verfahrensleitenden) Beschlüssen. 10 ) Gesetze werden üblicherweise mit der Fundstelle in der amtlichen Sammlung zitiert, Bundesgesetze mit ihrer Erstpublikation im Bundesgesetzblatt. Im konkreten Fall wurde das AVG in seiner Stammfassung 1925 erlassen und 1950 sowie 1991 amtlich „wiederver- lautbart“ (dh in einer konsolidierten Fassung des geltenden Standes neu publiziert). Mitt- lerweile wurde das AVG wiederum mehrfach novelliert, worauf der Zusatz „idgF“ = „in der geltenden Fassung“ hinweist. Vgl dazu http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Bundesnormen/ NOR11005853/NOR11005853.html. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 17 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem 17 Ein Zivilurteil ist die in feierlicher Form „im Namen der Republik“ gefällte Sach- entscheidung („meritorische Entscheidung“) über das Klagebegehren. Durch ein Strafurteil wird die angeklagte Person entweder freigesprochen oder aber eines bestimmten Verbrechens oder Vergehens schuldig befunden (und dann idR zu einer Strafe verurteilt). Im Unterschied zu Verwaltungsbehörden sind Richter*innen durch die ver- fassungsrechtlich verankerte Unabhängigkeit im Rahmen ihrer richterlichen Tätigkeit charakterisiert (Art 86 B-VG). Sie sind weisungsfrei und können ge- gen ihren Willen nicht abgesetzt oder versetzt werden. Gem Art 87 Abs 3 B-VG sind die bei einem Gericht anfallenden Geschäftsfälle nach einer festen Geschäftsverteilung zuzuweisen, dh dass im Vorhinein für jede Rechts- sache festgelegt ist, welche Richterin oder welcher Richter bzw welcher Senat für sie zuständig ist. Gerichtsurteilen kommt im österreichischen Recht in der Regel nur für den konkreten Streitfall Verbindlichkeit zu. Vgl dazu § 12 ABGB: „Die in einzelnen Fällen ergangenen Verfügungen und die (…) gefällten Urteile haben nie die Kraft eines Gesetzes, sie können auf andere Fälle oder auf andere Personen nicht ausgedehnt werden.“ Im EU-Recht ist hingegen die Rechtsprechung als Rechtsquelle des Unions- rechts anerkannt („Richterrecht“). Besondere Bedeutung hat dies beim Vorab- entscheidungsverfahren gem Art 267 AEUV („Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“). Hier entscheidet der EuGH aufgrund einer Frage nationaler Instanzen über die Auslegung unklarer Bestimmungen der Verträge (EU-Primärrecht), wobei die Rechtsansicht des EuGH in der Folge von der nationalen Instanz ihrer Sachentscheidung zugrunde zu legen ist. Materiell betrachtet handelt es sich hier um einen Fall der Gesetzgebung durch den EuGH, da seine Rechtsansicht über den Ausgangsfall hinaus als „authentische Inter- pretation“ des EU-Rechts wirkt. Damit entfaltet die EuGH-Judikatur nicht nur für den Anlassfall Rechtswirkungen, sondern verfügt über generelle Normqualität. d. Rechtsgeschäfte des Privatrechts Zweiseitige Rechtsgeschäfte wie etwa schuldrechtliche Verträge erzeugen indi- viduelles, unter den Vertragsparteien verbindliches Recht. Grenzen der privat- autonomen Rechtsgestaltung durch Vertrag ergeben sich insbesondere da- raus, dass Verträge weder gegen Gesetze noch gegen die guten Sitten verstoßen dürfen (§ 879 ABGB). Rechtsgestaltung unter Privatrechtsparteien (inter privatos) erfolgt aber auch durch einseitige Rechtsgeschäfte wie zB die Errichtung eines Testaments, eine (in der Regel) formgebundene letztwillige Verfügung, durch die Erblasser*innen eine oder mehrere Personen zu Erb*innen (Universalrechtsnachfolger*innen) einsetzen. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 18 18 Erstes Kapitel: Vom Recht, von den Juristen und von der Juristensprache C. Normvollzugsnormen 1. Wie wird der in den Verhaltensnormen angedrohte Zwang ausgeübt? Dies regeln jene Normen, die die staatlichen Behörden mit der Durchsetzung des Rechts, zB durch Erlassung von Bescheiden oder Urteilen ermächtigen. Sie regeln einerseits die Organisation der zur Rechtsdurchsetzung zuständigen Organe (Organisationsnormen), aber auch die dabei einzuhaltenden Verfah- ren (Verfahrensrecht). Diese Normen dienen dem Vollzug der Verhaltensnormen (Zwangsnormen), man nennt sie deshalb auch Zwangsnormvollzugsnormen. Verhalten der Normunterworfenen regelnde Normen (Verhaltensnormen) werden manchmal auch Primärnormen genannt, die Normen, die zur Umsetzung und Durchsetzung der Primärnormen das Verhalten der vollziehenden Organe steuern sollen, Sekundärnormen. Während die Verhaltensnormen auch als „materielles Recht“ bezeichnet wer- den, wird für die Vollzugsnormen der Ausdruck „formelles Recht“ gebraucht. Das materielle Strafrecht umfasst damit die Normen, die bestimmte Verhal- tensweisen unter Strafe stellen, das formelle Strafrecht hingegen die Regelun- gen des Strafverfahrens und des Strafvollzuges. 2. Das österreichische Verfassungsrecht geht davon aus, dass zur Vollziehung des Rechts auf der einen Seite Verwaltungsbehörden und auf der anderen Seite die Gerichte berufen sind. § 1 Jurisdiktionsnorm (JN) bestimmt, dass die „Gerichtsbarkeit in bürger- lichen Rechtssachen“, soweit dieselben nicht durch besondere Gesetze vor andere Behörden oder Organe verwiesen sind, durch die ordentliche Gerichts- barkeit ausgeübt wird. Die ordentliche Gerichtsbarkeit in bürgerlichen Rechtssachen (Zivilsachen) erfolgt durch Bezirksgerichte, Bezirksgerichte für Handelssachen, Landesgerichte, Han- delsgerichte, durch Oberlandesgerichte (OLG) und durch den Obersten Gerichts- hof (OGH). 3. Die Zuweisung der „bürgerlichen Rechtssachen“ an die Zivilgerichte in § 1 JN erfordert eine Abgrenzung dieser Materien von anderen Rechtsgebieten. Der Begriff Zivilrecht ist auch kompetenzrechtlich von Bedeutung, da „Zivilrechts- wesen“ gem Art 10 Abs 1 Z 6 in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache ist. Das positive österreichische Recht erfordert somit die Bestimmung des Begriffs der „Bürgerlichen Rechtssachen“ (Zivilrecht, Privatrecht), dem als Gegenstück der Begriff des Öffentlichen Rechts gegenübersteht. Diese Unterscheidung findet sich vor allem in den römischrechtlich geprägten Rechtsordnungen des Civil Law, sie fehlt dagegen im Common Law. Normlogisch ist sie jedenfalls nicht zwingend. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 19 II. Der Aufbau der Rechtsordnung als Normensystem 19 4. Exkurs: Zur Abgrenzung von Privatrecht und Öffentlichem Recht Was aber sind „bürgerliche Rechtssachen“ (Privatrecht, Zivilrecht, Bürger- liches Recht)? Bereits im römischen Recht wurde zwischen ius privatum (Pri- vatrecht) einerseits und ius publicum (Öffentlichem Recht) andererseits diffe- renziert. Das Privatrecht bezieht sich dabei auf die Rechtsverhältnisse der Bürger*innen untereinander, das Öffentliche Recht hingegen auf Aufbau und Funktionsweise des Staates. Ulpian D 1.1.2: Ius publicum est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem. – Öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ord- nung des römischen Staatswesens bezieht, Privatrecht das, was sich auf das Interesse der Einzelnen bezieht. § 1 ABGB: „Der Inbegriff der Gesetze, wodurch die Privatrechte und Pflichten der Einwohner des Staates unter sich bestimmt werden, macht das bürgerliche Recht in demselben aus.“ Zur typologischen Abgrenzung von Öffentlichem Recht und Privatrecht wer- den üblicherweise drei Gesichtspunkte herangezogen. Es kommt demnach darauf an, ob es um die Verfolgung privater oder öffentlicher Interessen geht, ob ein hoheitlich handelndes Rechtssubjekt beteiligt ist, sowie ob die Beteiligten in einem Verhältnis der Über- und Unterordnung zueinander ste- hen oder im Verhältnis der Gleichrangigkeit. 1. Im Privatrecht steht die Verfolgung privater Interessen im Vordergrund, während im öffentlichen Recht Gesichtspunkte des Gemeinwohls und über- individueller Interessen im Vordergrund stehen („Interessentheorie“). 2. Öffentliches Recht ist dadurch gekennzeichnet, dass regelmäßig staatliche Organe beteiligt sind, dh Rechtssubjekte, die hoheitlich handeln und denen Befugnisse zur einseitigen Rechtssetzung zukommen („Subjektstheorie“). 3. Öffentliches Recht ist in der Regel durch Über- und Unterordnung der be- teiligten Subjekte gekennzeichnet, während im Privatrecht die Rechtssub- jekte grundsätzlich im Verhältnis der Gleichrangigkeit einander gegenüber- stehen („Subjektionstheorie“). 4. Das Privatrecht enthält häufig Regeln, die als nachgiebiges Recht (ius dis- positivum) durch Vereinbarung der Parteien abgeändert werden können; im öffentlichen Recht dominiert dagegen zwingendes Recht (ius cogens). Öffentliches Recht wird in der Regel durch Verwaltungsbehörden vollzogen. Eine wichtige Ausnahme bildet das (gerichtliche) Strafrecht, das zum Öffent- lichen Recht zählt, aber durch Gerichte (Strafjustiz) vollzogen wird. Daher ist der Oberste Gerichtshof (OGH) höchste Instanz nicht nur in privat- rechtlichen, sondern auch in strafgerichtlichen Verfahren. Neben dem gericht- lichen Strafrecht gibt es auch Verwaltungsstrafrecht, welches von den Verwaltungs- behörden vollzogen wird. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 49 Zweites Kapitel Grundbegriffe des Verfassungsrechts: Österreich als demokratischer Rechtsstaat I. Das österreichische Verfassungsrecht A. „Verfassungsrecht“ ist eines der zentralen Rechtsgebiete, mit denen sich Jurist*innen befassen. Das Verfassungsrecht stellt die rechtliche Grundord- nung des Staates dar; es handelt sich dabei um einen politisch äußerst be- deutsamen Teil der Rechtsordnung. Nach politischen Umbrüchen wird „die Verfassung“ eines Staates oft neu geregelt oder geändert, während die übrigen Rechtsnormen oft – jedenfalls großteils – unverändert bleiben und übernom- men werden („Rechtsüberleitung“). Beispiele für solche politischen Umbrüche aus der neueren österreichischen Ge- schichte, die auch einen Verfassungsbruch mit sich brachten, sind der Wechsel von der Monarchie zur Republik in der Folge des Ersten Weltkrieges, der zur Ver- fassung der Republik Österreich 1920 führte, der Ständestaat 1934 – 1938, der „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 sowie die Zweite Republik 1945. Über all diese Zeit hindurch war ein Großteil des einfachen Bundesrechts (wie zB das im ABGB kodifizierte Bürgerliche Recht) weitgehend konstant. B. Im juristischen Sprachgebrauch unterscheidet man Verfassungsrecht im materiellen Sinn und Verfassungsrecht im formellen Sinn. 1. Der Begriff Verfassungsrecht im materiellen Sinn wird zum einen ver- wendet, um Regelungen mit einem bestimmten Inhalt zu umschreiben. Ver- fassungsrecht im materiellen Sinn regelt den Aufbau, die Organisation und die „Machtverteilung“ in einem Staat. Dabei geht es um folgende Fragestellungen: – Welche grundlegenden Prinzipien gelten für den Staatsaufbau? – Wer ist zur Rechtssetzung ermächtigt? Wer erlässt in welchem Verfahren Gesetze? – Wer konkretisiert die allgemeinen Anordnungen für den Einzelfall? – Wer kontrolliert die Einhaltung der Regelungen der Verfassung, der Gesetze, der Anordnungen von Behörden? – Wie sind einzelne Personen gegenüber dem Staat geschützt? Welche grund- legenden Rechte haben sie? Können sie ihre Ansprüche mit rechtlichen Mit- teln durchsetzen? Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 50 50 Zweites Kapitel: Grundbegriffe des Verfassungsrechts – Welche Stellung hat das Staatsoberhaupt des Staates? – Wie ist die Beziehung zu anderen Staaten gestaltet? 2. Zum anderen spricht man von Verfassungsrecht im Zusammenhang mit Regelungen, die in einem bestimmten – aufwändigerem – Rechtserzeugungs- verfahren, einer aufwändigeren „Form“, erzeugt wurden, als Gesetze im „Nor- malfall“ erlassen werden. Man spricht daher einmal von „einfachen Gesetzen“, das andere Mal (bei aufwändiger erzeugten Gesetzen) von Verfassungsgeset- zen. Da man auf die „Form“ abstellt, verwendet man auch die Bezeichnung „Verfassungsrecht im formellen Sinn“. Aufgrund der geltenden Rechtslage ist für einfache Bundesgesetze ein Beschluss des Nationalrates nötig, bei der mindestens ein Drittel der Abgeordneten anwesend sind und die Mehrheit zustimmt; für Bundesverfassungsgesetze bestimmt die österreichische Bundesverfassung: Art 44 Abs 1 B-VG: „Verfassungsgesetze oder in einfachen Gesetzen enthaltene Verfassungsbestimmungen können vom Nationalrat nur in Anwesenheit von min- destens der Hälfte der Mitglieder und mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der ab- gegebenen Stimmen beschlossen werden; sie sind als solche („Verfassungsgesetz“, „Verfassungsbestimmung“) ausdrücklich zu bezeichnen.“ Vergleichbares ist für Landesverfassungsrecht vorgesehen. Verfassungsrecht ist damit in einem aufwändigerem, man sagt auch „schwierige- rem“, Verfahren (erhöhte Anwesenheits- und Zustimmungsquoren) als andere (einfachgesetzliche) Regelungen zu erzeugen. C. Die Schwierigkeit der Erzeugung schützt Normen vor Veränderungen. Eine nach den Vorschriften der Erzeugungsform „Bundesverfassungsrecht“ zustande gekommene Norm kann grundsätzlich auch nur durch eine nach derselben (oder einer schwierigeren) Erzeugungsregel zustande gekommenen Norm abgeändert oder beseitigt werden. Daraus ergibt sich ua, dass eine als Verfassungsrecht im formellen Sinn erzeugte Regelung nur durch Verfassungs- recht im formellen Sinn geändert oder beseitigt werden kann (im juristischen Sprachgebrauch: „die eine Norm derogiert der anderen“). Ein einfaches Gesetz kann folglich einem Verfassungsgesetz oder einer Verfassungsbestim- mung nicht derogieren, sehr wohl aber umgekehrt eine Verfassungsbestim- mung einem einfachen Gesetz. Je nach Schwierigkeit der Erzeugung und Abänderkeit von Normen lässt sich in der Rechtsordnung folglich ein „Stufenbau nach der derogatorischen Kraft“ (Adolf Julius Merkl) erkennen. Die Derogation setzt allgemein voraus, dass die neue Regel sich auf denselben Geltungsbereich (sachlicher, persönlicher, zeitlicher und territorialer Art) bezieht. Für die Derogation von Rechtsnormen gelten darüber hinaus zwei Maximen: Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 51 I. Das österreichische Verfassungsrecht 51 1. Lex-Posterior-Regel: Das spätere Gesetz derogiert dem früheren (lex pos- terior derogat legi priori). 2. Lex-Specialis-Regel: Das speziellere Gesetz derogiert dem allgemeinen (lex specialis derogat legi generali). Erfasst die neuere Regel nur einen speziellen Fall des bislang von einer anderen Regel erfassten Bereiches, so bleibt die generelle Regel für die übrigen Fälle in Geltung. D. Grundsätzlich gilt nach österreichischem Recht, dass Verfassungsrecht im materiellen Sinn durch Verfassungsrecht im formellen Sinn zu erzeugen ist, wobei die Verfassung selbst einige Ausnahmen vorsieht. So enthält beispielsweise Art 26 B-VG nähere Regelungen über den Nationalrat und die Wahl seiner Mitglieder. Abs 7 der Bestimmung lautet: „Die näheren Bestimmun- gen über das Wahlverfahren werden durch Bundesgesetz getroffen“. Damit wird die Ermächtigung erteilt, Verfassungsrecht im materiellen Sinn in einfachgesetzlicher Form zu regeln. Die näheren Regelungen finden sich im „Bundesgesetz über die Wahl des Nationalrates (Nationalrats-Wahlordnung 1992 – NRWO)“. E. Die Regelungen einer Verfassung beziehen sich immer auf einen bestimmten Staat und damit auf ein bestimmtes Gebiet („Staatsgebiet“ – man spricht auch vom territorialen Geltungsbereich). Für dieses Gebiet – oder einen Teil dessel- ben – gelten auch die Regelungen, die sich aus dieser Verfassung ableiten. Die Grenzen des österreichischen Staatsgebietes sind weitgehend durch die Rege- lungen des Staatsvertrages von St. Germain 1919 bestimmt, zT auch durch Völker- gewohnheitsrecht (gegenüber der Schweiz und Deutschland). Nicht eindeutig ge- klärt ist der Verlauf der Staatsgrenze am Bodensee. Die Regelungen eines Staates gelten zum Teil für alle Personen, die sich auf die- sem Gebiet aufhalten ohne Rücksicht darauf, ob sie Angehörige des Staates sind (zB Straßenverkehrsordnung; „Territorialitätsprinzip“), zum Teil gelten Sie nur für Angehörige dieses Staates („Staatsbürger*innen“) – und zwar ohne Rücksicht darauf, wo sie sich aufhalten (zB Wahlrecht; „Personalitätsprinzip“). Staaten stehen aber auch mit anderen Staaten in Rechtsbeziehungen. Diese werden durch das Völkerrecht geregelt. Völkerrechtliche Regelungen beeinflussen auch das staatliche Recht und haben Einfluss auf das Verfassungsrecht eines Staates. So ist beispielsweise Österreich im Jahr 1958 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK oder MRK) – einer völkerrechtlichen Vereinbarung – beigetreten und hat sich dabei verpflichtet, grundlegende Menschenrechte zu schützen. Im Jahr 1964 wurde diese völkerrechtliche Vereinbarung rückwirkend als innerstaatliches Verfas- sungsrecht in Kraft gesetzt. Regelungen von internationalen Organisationen, bei denen ein Staat Mitglied ist, können auch unmittelbare Rechtswirkungen in einem Staat entfalten Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 52 52 Zweites Kapitel: Grundbegriffe des Verfassungsrechts („supranationales Recht“) bzw können sie den Staat verpflichten, bestimmte Normen zu erlassen (zB im Rahmen der Mitgliedschaft Österreichs in der EU). F. Wenn man von „der österreichischen Verfassung“ spricht, meint man in der Regel das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG). Es wurde 1920 erlassen, 1925 und 1929 wesentlich verändert (novelliert), 1930 wiederverlautbart (weshalb als „Stammfassung“ des Gesetzes BGBl 1930/1 angegeben wird), danach mehrfach geändert, 1934 außer Kraft gesetzt, 1945 wieder in Kraft gesetzt und ist seitdem ununterbrochen in Geltung. Immer wieder erfolgen Novellierungen. Im sogenannten „Österreich-Konvent“ wurde in den Jahren 2003 bis 2005 über eine umfassende Neuregelung der Österreichischen Bundesverfassung diskutiert. Die dort erarbeiteten Vorschläge wurden aber nur zum Teil umgesetzt. Die Bestimmungen des B-VG werden durch andere Verfassungsnormen er- gänzt. Wesentliche Rechtsquellen sind dabei insbesondere das „Staatsgrund- gesetz vom 21. 12. 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder“ (abgekürzt: StGG). Es regelt – wie der Titel schon sagt – grundlegende Rechte der Bürger*innen; auf Grund von Art 149 Abs 1 B-VG wurde es übergeleitet und es gilt seit Inkraft- treten des B-VG als Bundesverfassungsgesetz. Weiters die bereits erwähnte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK oder MRK), die allen Menschen bestimmte Rechte einräumt und Einschrän- kungen dieser Freiheiten nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Die österreichische Bundesverfassung kennt kein Inkorporationsgebot. Als Inkorporationsgebot bezeichnet man die Verpflichtung, alle Verfassungsbe- stimmungen in einer Urkunde zu normieren. Anders ist dies etwa nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland geregelt. Art 79 Abs 1 Satz 1 dt GG normiert: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich än- dert oder ergänzt.“ Daher finden sich im österreichischen Recht neben dem B-VG Bundesver- fassungsgesetze und auch Verfassungsbestimmungen. Darunter versteht man in einfachen Bundesgesetzen enthaltene Bestimmungen, die gem Art 44 B-VG in der für Bundesverfassungsrecht bestimmten erschwerten Form erzeugt wurden. Sie sind besonders gekennzeichnet („Verfassungsbestimmung“, vgl den bereits zitierten Art 44 Abs 1 B-VG) und normieren in der Regel Ausnahmen von Bestimmungen des B-VG. Zum Teil wurde versucht, das Bundesverfassungsrecht zu vereinheitlichen. So wur- de mit BGBl I 2008/2 ein „Bundesverfassungsgesetz zur Bereinigung des Bundesver- fassungsrechts (Erstes Bundesverfassungsrechtsbereinigungsgesetz – 1. BVRBG)“ erlassen, in welchem Verfassungsbestimmungen zum Teil als nicht mehr geltend festgestellt, zum Teil aufgehoben und zum Teil als einfachgesetzliche Regelungen er- lassen wurden. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 54 54 Zweites Kapitel: Grundbegriffe des Verfassungsrechts II. Die Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung A. Jeder Staat – und damit jede Verfassung – baut auf verschiedenen „Staats- ideen“ auf. Solche Staatsideen haben in der österreichischen Bundesverfas- sung in den sogenannten „Grundprinzipien“ (oder „Baugesetzen“) ihren Niederschlag gefunden. Dass in der österreichischen Bundesverfassung solche Prinzipien verankert und vor Änderungen besonders geschützt sind, kann man aus Art 44 Abs 3 B-VG ableiten. Dieser lautet: Art 44 Abs 3 B-VG: „Jede Gesamtänderung der Bundesverfassung, eine Teilände- rung aber nur, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates verlangt wird, ist nach Beendigung des Verfahrens gemäß Art. 42, jedoch vor der Beurkundung durch den Bundespräsidenten, einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen.“ Nach Abs 3 der Bestimmung ist also zwischen einer „Gesamtänderung“ der Bundesverfassung und einer „Teiländerung“ der Bundesverfassung zu unterscheiden. Nach herrschender Auffassung erfolgt eine „Gesamtänderung“ dann, wenn die Grundprinzipien der Verfassung geändert werden. Welche Prinzipien das sind, muss der Verfassung durch Interpretation entnommen werden; sie sind (anders als Verfassungsgesetze und Verfassungsbestimmun- gen) nicht besonders gekennzeichnet. Daher ist es nicht immer leicht zu beur- teilen, ob eine Teiländerung oder eine Gesamtänderung erfolgt. Die Begriffe „Grundprinzipien“ und „Baugesetze“ sind keine verfassungsrechtlichen Ter- mini. Sie wurden von Lehre und Judikatur eingeführt. B. Die Grundprinzipien stehen also nach Art 44 Abs 3 B-VG unter besonde- rem Schutz. Sollen sie durch Verfassungsgesetz abgeändert werden, ist ein ver- fassungsändernder Gesetzesbeschluss (nach dem Abschluss des Gesetzge- bungsverfahrens beim Bundesrat) verpflichtend (= obligatorisch) einer Volks- abstimmung zu unterziehen. Nur wenn bei der Volksabstimmung die unbe- dingte Mehrheit der gültig abgegebenen Stimmen für den Gesetzesbeschluss stimmt, darf das Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt werden. Weil durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung geändert wurden (insbesondere das demo- kratische, das rechtsstaatliche und das bundesstaatliche) wurde vor Abschluss des völkerrechtlichen Beitrittsvertrages ein gesamtänderndes „Bundesverfassungsge- setz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union“, BGBl 1994/744 erlas- sen, dessen Artikel I bestimmt: „Mit der Zustimmung des Bundesvolkes zu diesem Bundesverfassungsgesetz werden die bundesverfassungsgesetzlich zuständigen Organe ermächtigt, den Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäi- schen Union entsprechend dem am 12. April 1994 von der Beitrittskonferenz fest- gelegten Verhandlungsergebnis abzuschließen.“ Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 55 II. Die Grundprinzipien der österreichischen Bundesverfassung 55 Die Diskussion, ob der Vertrag von Lissabon einer Volksabstimmung unterzogen hätte werden müssen, hing mit der Frage zusammen, ob mit diesem Beitritts-BVG auch die Ermächtigung zum Abschluss von weiteren Verträgen (Änderungen) des EU-Primärrechts erteilt wurde, sofern damit keine weiteren Gesamtänderungen bewirkt werden. C. Bereits die ersten Artikel des B-VG zeigen Grundprinzipien, auf die die österreichische Verfassung aufbaut: Art 1 B-VG: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Art 2 B-VG: „(1) Österreich ist ein Bundesstaat. (2) Der Bundesstaat wird gebildet aus den selbständigen Ländern: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg, Wien. (...)“ Mit diesem Regelungen sind drei Grundprinzipien angesprochen: das demo- kratische, das republikanische und das bundesstaatliche. Der genauere Inhalt der Grundprinzipien ergibt sich aus den weiteren Bestimmungen der österrei- chischen Bundesverfassung, etwa den Regelungen über die Gesetzgebung. Man kann aber aus dem B-VG erkennen, dass der Verfassung auch noch wei- tere Grundprinzipien zu Grunde liegen: So das gewaltentrennende, wonach die drei „Staatsgewalten“ Gesetzgebung – Verwaltung – Gerichtsbarkeit unter- schieden und voneinander getrennt werden. Vgl Art 94 B-VG: „Die Justiz ist von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt.“ Verfassungsrechtlich garantiert werden – darauf wurde ja bereits hingewiesen – Rechte, die allen Staatsbürger*innen bzw allen Menschen zustehen und ih- nen einen Bereich garantieren, in den der Staat nicht bzw nur aus bestimmten Gründen eingreifen darf (insb persönliche Freiheit, Hausrecht, Meinungsfrei- heit, Glaubensfreiheit, Eigentum, etc). Zum Zeitpunkt der Erlassung des B-VG waren derartige „Grundrechte“ bereits garantiert (vgl das StGG 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, das durch Art 149 Abs 1 B-VG als Bundesverfassungsrecht übergeleitet wurde). Aus der Existenz dieser verfas- sungsgesetzlich garantierten Rechte, leitet man ab, dass die österreichische Bundesverfassung (auch) auf einem liberalen Grundprinzip aufbaut. Denn ebendiese Rechte garantieren einzelnen Personen in einem gewissen Sinne eine Freiheit vom Staat. Diese fünf Prinzipien werden durch ein weiteres ergänzt: das rechtsstaatliche Grundprinzip. Das rechtsstaatliche Prinzip soll garantieren, dass alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar in der Verfassung begründet sind Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 56 56 Zweites Kapitel: Grundbegriffe des Verfassungsrechts (also Gesetze auf der Verfassung beruhen; Akte der Verwaltung und Gerichts- barkeit auf Gesetzen) und Rechtsschutzeinrichtungen vorhanden sind, die dieses gewährleisten können. Zusammenfassend ist also davon auszugehen, dass der österreichischen Bundesverfassung folgende sechs Grundprinzipien zu Grunde liegen: – das bundesstaatliche, – das demokratische, – das gewaltentrennende, – das rechtsstaatliche, – das liberale und – das republikanische Grundprinzip. Zwei dieser Grundprinzipien dienen vor allem der Aufteilung der staatlichen Gewalt: Es sind dies das gewaltentrennende Grundprinzip und das bundes- staatliche Grundprinzip. Zwei andere Grundprinzipien dienen vor allem der Freiheitssicherung: das demokratische Grundprinzip und das liberale Grundprinzip. Die Grundprinzipien stehen nicht isoliert nebeneinander, ihre Funktionen greifen vielmehr – wie in der konkreten Ausgestaltung der Prinzipien in der österreichischen Bundesverfassung deutlich wird – ineinander. Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 89 Drittes Kapitel Grundbegriffe des Strafrechts I. Allgemeines A. Aufgabe des Strafrechts ist die Regelung des Zusammenlebens der Men- schen im Staat. Das Strafrecht ist jener Teil der Rechtsordnung, der regelt, welche Angriffe auf welche Rechtsgüter als gerichtlich strafbare Delikte an- zusehen sind und welche Sanktionen bei Verwirklichung dieser Delikte von Strafgerichten (Justiz) zu verhängen sind. Aufgrund der verhaltenssteuern- den Funktion des Strafrechts gibt es keine Strafbarkeit ohne Verhaltensun- recht, das entweder in einer vorsätzlichen oder in einer fahrlässigen Tat bzw Unterlassung liegen kann. Zudem muss das Verhalten dem*der Betroffenen subjektiv vorwerfbar sein. Der Eintritt eines strafrechtlichen Erfolgs (dh Ver- letzung eines Rechtsguts) allein reicht hingegen nicht aus (keine Erfolgshaf- tung im geltenden Strafrecht). B. Um die Ordnungsfunktion des Strafrechts gewährleisten zu können, ord- net das Strafrecht den Schutz bestimmter Rechtsgüter gegenüber besonders gravierenden Eingriffen an. Zu diesen Rechtsgütern gehören insbesondere Leib und Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen, religiöser Frieden, sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, Landesverrat und Völkermord. Mit dem Wandel der Ge- sellschaft verändern sich auch die rechtlich geschützten Werte. So stellte zB Ehebruch bis 1997 und Homosexualität in manchen Ausformungen bis 2002 noch eine strafbare Handlung dar. Andererseits kamen im Laufe der Jahre schutzbedürftige Rechtsgüter auf, welche bei Inkrafttreten des StGB im Jahr 1975 nicht als schutzbedürftig angesehen wurden, weshalb etwa die Delikte Stalking (§ 107a StGB) oder Cybermobbing (§107c StGB) neu geschaffen wur- den. Auch der Schutz der sexuellen Integrität wurde erst in den letzten Jahren zunehmend ausgebaut. Ebenso verändern sich mit dem Wandel der Zeit die technologischen Möglichkeiten, eine Straftat zu begehen, weshalb das Compu- terstrafrecht zunehmend an Bedeutung gewinnt. Zu den wichtigsten Straftat- beständen in diesem Bereich gehören der widerrechtliche Zugriff auf ein Com- putersystem (§ 118a StGB), die Datenbeschädigung (§ 126a StGB) oder die Störung der Funktionsfähigkeit eines Computersystems (§ 126b StGB). C. Der Kernbereich strafrechtlicher Regelungen findet sich im Strafgesetz- buch (StGB). Es gliedert sich in einen allgemeinen Teil, der die grundlegenden Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 90 90 Drittes Kapitel: Grundbegriffe des Strafrechts Bestimmungen über die Strafbarkeit der Delikte im Allgemeinen und ihre Rechtsfolgen regelt. Der besondere Teil besteht im Wesentlichen aus einem umfangreichen Katalog der zentralen strafrechtlichen Delikte. Daneben gibt es aber eine Vielzahl von weiteren Gesetzen, die für die Verwirklichung bestimm- ter Straftatbestände Strafen androhen, wie zB das Suchtmittelgesetz oder das Finanzstrafgesetz. Diesen ständig wachsenden Bereich bezeichnet man als Nebenstrafrecht. D. Vom Strafrecht zu unterscheiden ist das Privatrecht. Im Strafrecht steht der Konflikt des*der Einzelnen mit der Gesellschaft im Mittelpunkt. Das Opfer spielt dabei meist lediglich als Zeug*in eine Rolle. Erlangt die zuständi- ge Behörde im Zuge ihrer Amtstätigkeit von einer strafrechtlich relevanten Handlung Kenntnis, kann das Opfer auf die weitere Verfolgung nicht mehr verzichten. Im Privatrecht steht dagegen der Konflikt von Einzelpersonen untereinander im Mittelpunkt. Dem Parteiengrundsatz kommt eine zentrale Bedeutung zu. Es bleibt den betroffenen Personen selbst überlassen, welche Streitigkeiten sie vor Gericht austragen und welche nicht. II. Strafen A. Strafen sind das schärfste dem Staat zur Verfügung stehende Mittel und werden erst in letzter Konsequenz eingesetzt (ultima-ratio-Prinzip). Als Stra- fen kommen Freiheits- und/oder Geldstrafen in Betracht. Die Mindestdauer einer zeitlich begrenzten Freiheitsstrafe beträgt einen Tag, die Höchstdauer 20 Jahre, daneben sind auch lebenslange Freiheitsstrafen möglich (§ 18 StGB). Die Geldstrafe wird nach dem Tagessatzsystem bemessen und ergibt sich aus der Multiplikation der Höhe mit der Anzahl der Tagessätze. Eine Geldstrafe beträgt zwischen € 4,– und € 5.000,– pro Tag; es müssen mindestens 2 Tages- sätze verhängt werden (§ 19 StGB). Die Höhe des Tagessatzes richtet sich nach den persönlichen Verhältnissen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des*r zu Bestrafenden. Somit unterliegen Menschen mit niedrigerem Einkom- men auch einem niedrigeren Tagessatz als Menschen mit hohem Einkommen. Gemäß dem Einbußesystem muss die Höhe der Geldstrafe auf einen Betrag festgesetzt werden, der den Lebensstandard des*r zu Bestrafenden spürbar be- einträchtigt. Zu jeder Geldstrafe ist im Urteil eine Ersatzfreiheitsstrafe für den Fall der Uneinbringlichkeit festzusetzen. Wird die Geldstrafe nach Aufforde- rung nicht bezahlt, wird der geschuldete Betrag durch Zwangsvollstreckung eingetrieben. Bleibt die Eintreibung der Geldstrafe erfolglos, erfolgt von Amts wegen die Aufforderung zum Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe. Es besteht kein Wahlrecht, an Stelle der Geldstrafe lieber die Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen. Unter der Strafzumessung versteht man die Festsetzung der Dauer der Frei- heitsstrafe bzw der Anzahl der Tagessätze. Für die Strafzumessung ist sowohl Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 91 II. Strafen 91 bei der Geld- als auch bei der Haftstrafe das Ausmaß der Schuld der Täter*in- nen unter Einbeziehung von Erschwerungs- oder Milderungsgründen aus- schlaggebend. Den Richter*innen kommt bei der Strafzumessung ein gewisser Ermessensspielraum zu. Strafen können auch bedingt, dh unter Bestimmung einer Probezeit verhängt werden. Die bedingte Strafnachsicht wird widerrufen, wenn während der Probezeit eine strafbare Handlung begangen wird oder gegen Weisungen des Gerichtes oder der Bewährungshilfe verstoßen wird. § 18 StGB: „(1) Freiheitsstrafen werden auf Lebensdauer oder auf bestimmte Zeit verhängt. (2) Die zeitliche Freiheitsstrafe beträgt mindestens einen Tag und höchstens zwan- zig Jahre.“ § 19 StGB: „(1) Die Geldstrafe ist in Tagessätzen zu bemessen. Sie beträgt mindes- tens zwei Tagessätze. (2) Der Tagessatz ist nach den persönlichen Verhältnissen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Rechtsbrechers im Zeitpunkt des Urteils erster Instanz zu bemessen. Der Tagessatz ist jedoch mindestens mit 4 Euro und höchstens mit 5 000 Euro festzusetzen.“ § 32 StGB: „(1) Grundlage für die Bemessung der Strafe ist die Schuld des Täters. (2) Bei Bemessung der Strafe hat das Gericht die Erschwerungs- und die Milde- rungsgründe, soweit sie nicht schon die Strafdrohung bestimmen, gegeneinander abzuwägen und auch auf die Auswirkungen der Strafe und anderer zu erwartender Folgen der Tat auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft Bedacht zu nehmen. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, inwieweit die Tat auf eine gegen- über rechtlich geschützten Werten ablehnende oder gleichgültige Einstellung des Täters und inwieweit sie auf äußere Umstände oder Beweggründe zurückzuführen ist, durch die sie auch einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen naheliegen könnte. (3) Im allgemeinen ist die Strafe umso strenger zu bemessen, je größer die Schädi- gung oder Gefährdung ist, die der Täter verschuldet hat oder die er zwar nicht her- beigeführt, aber auf die sich sein Verschulden erstreckt hat, je mehr Pflichten er durch seine Handlung verletzt, je reiflicher er seine Tat überlegt, je sorgfältiger er sie vorbereitet oder je rücksichtsloser er sie ausgeführt hat und je weniger Vorsicht gegen die Tat hat gebraucht werden können.“ B. Mit der Verhängung von Strafen werden verschiedene Zwecke verfolgt. Traditionellerweise sind hier die Vergeltung, die Generalprävention und die Spezialprävention angesprochen. In der Wissenschaft wird heute der Vergeltungsgedanke als selbstständiger Strafzweck mehrheitlich abgelehnt. Bei der Generalprävention steht die erzie- herische Wirkung der Strafe auf die Allgemeinheit im Vordergrund: Strafen Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 92 92 Drittes Kapitel: Grundbegriffe des Strafrechts werden angedroht und verhängt, um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken. Der Gedanke der Spezialprävention orientiert sich an der individuellen Ge- fährlichkeit des*der Einzelnen: Strafen werden angedroht und verhängt, um den*die Täter*in von künftigen strafbaren Handlungen abzuhalten und zu rechtstreuem Verhalten zu erziehen. C. Neben der Verhängung von Strafen kommen als strafrechtliche Reaktionen auch „vorbeugende Maßnahmen“ in Betracht. Dabei kommt es nicht auf die Schuld der Täter*innen, sondern ausschließlich auf ihre besondere Gefähr- lichkeit an. Eine vorbeugende Maßnahme ist ein nicht mit Tadel verbundenes Übel, das wegen einer strafbaren Handlung von einem Strafgericht aufgrund und nach Maßgabe der besonderen Gefährlichkeit der Täter*innen verhängt wird. Das StGB kennt drei Arten von freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen: die strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-thera- peutischen Zentrum, die Unterbringung in einer Anstalt für entwöhnungs- bedürftige Rechtsbrecher*innen und die Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfallstäter*innen. D. Da sich in der Praxis herausstellte, dass die Bestrafung zusammen mit der Vorbestrafung der Täter*innen nicht immer eine adäquate Rechtsfolge dar- stellt, wurde – nach positiven Erfahrungen im Jugendstrafrecht – mit 1.1.2000 die Möglichkeit der Diversion eingeführt: Die Staatsanwaltschaft hat gem §§ 198 ff StPO von der Strafverfolgung abzusehen, wenn eine Bestrafung nicht geboten erscheint, um die Beschuldigten von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch an- dere entgegenzuwirken. Stattdessen leistet der*die Täter*in einen Geldbetrag an den Bund, erbringt gemeinnützige Leistungen, bekommt eine Probezeit unter Beiziehung von Bewährungshelfer*innen auferlegt oder erklärt sich zu einem Tatausgleich bereit. In den außergerichtlichen Tatausgleich ist das Opfer miteinzubeziehen; für einen Ausgleich der Folgen ist grundsätzlich die Zustimmung des Opfers notwendig (§ 204 StPO). Der Diversion sind je nach der Schwere der Delikte und des Verschuldens Grenzen gesetzt: Es darf sich weder um schwere Straftaten (keine Zuständigkeit des Landesgerichts als Schöffen- oder Geschworenengericht) noch um schweres Verschulden der Täter*innen handeln, und der Tod darf grundsätzlich keine Folge der Tat sein. E. Mit einer gerichtlichen Verurteilung wird ein gesellschaftlicher Tadel be- sonderen Charakters ausgesprochen, der zu zahlreichen rechtlichen und tat- sächlichen Nachteilen führt. Rechtsfolgen treten ex lege ein. Den Richter*in- nen kommt kein Ermessensspielraum zu. Mit der gerichtlichen Verurteilung kann der Verlust bestimmter Rechte einhergehen, wie zum Beispiel der Verlust des Wahlrechts zum Nationalrat, der Verlust einer Gewerbeberechtigung, und Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 93 III. Durchsetzung des Strafrechts 93 der Verlust des Rechts auf die Staatsbürgerschaft. Nebenfolgen sind vor allem im sozialen Bereich der Täter*innen zu erwarten. Mit einer strafgerichtlichen Verurteilung kann der Verlust des Arbeitsplatzes verbunden sein, da diese einen Entlassungsgrund darstellen kann. Das Führerscheingesetz enthält die gesetzliche Vermutung, dass Personen, die wegen bestimmter Straftaten verur- teilt wurden, nicht verkehrszuverlässig sind. Nur vom Gericht verurteilte Personen sind als vorbestraft (im engeren Sinn) zu bezeichnen, nur diese Strafen werden im Strafregister eingetragen, bis Til- gung eintritt. Mit der Tilgung erlöschen alle nachteiligen rechtlichen Folgen, die mit einer Verurteilung verbunden sind. Der*die Verurteilte gilt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als „vorbestraft“. Auskunft aus dem Strafregister erhalten ua inländische Behörden, Dienststellen der Bundespolizei und Jugendwohl- fahrtsträger. Die Auskunftsmöglichkeit ist bereits vor Tilgung eingeschränkt, wenn eine maximal dreimonatige Freiheitsstrafe verhängt wurde (oder eine maximal sechsmonatige Freiheitsstrafe bei einer Verurteilung vor Vollendung des 21. Lebensjahres) oder bei einer strafrechtlichen Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum. Sondervorschriften bestehen für Sexual- strafdelikte. Diese Daten unterliegen nicht der beschränkten Auskunft und können nur bestimmten Behörden, wie etwa den Strafgerichten, Pflegschafts- gerichten oder Dienstbehörden bei Einstellung von Pädagog*innen erteilt wer- den. Die Daten sind zwei Jahre nach Ablauf der Tilgungsfrist aus dem Strafre- gister zu löschen. Jede Person kann für sich selbst eine Strafregisterbescheinigung bei der Bür- germeister*in bzw bei der Landespolizeidirektion beantragen. Ist man nicht vorbestraft bzw besteht hinsichtlich der Verurteilung nur eine beschränkte Auskunftsmöglichkeit, hat die Strafregisterbescheinigung zu lauten: „Im Straf- register der Republik Österreich – geführt von der Landespolizeidirektion Wien – scheint keine Verurteilung auf.“ (vgl § 11 StRegG). F. Wird einer Rechtsbrecher*in die Strafe oder eine vorbeugende Maßnahme bedingt nachgesehen oder wird sie bedingt entlassen, hat das Gericht gem § 50 StGB, soweit das notwendig oder zweckmäßig ist, um die Rechtsbrecher*in von weiteren mit Strafe bedrohten Handlungen abzuhalten, Weisungen zu er- teilen oder Bewährungshilfe anzuordnen. Die Gerichte machen hiervon großzügig Gebrauch. Im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz bietet der Verein NEUSTART österreichweit diese Betreuungsangebote an. III. Durchsetzung des Strafrechts A. Die Durchsetzung des Kriminalstrafrechts unterscheidet sich von der Durchsetzung des Verwaltungsstrafrechts. Das Kriminalstrafrecht wird von den Strafgerichten durch Einzelrichter*innen, Schöffen- oder Geschworenen- Grundbegriffe_5Aufl_Umbruch 01.09.2023 14:17 Uhr Seite 94 94 Drittes Kapitel: Grundbegriffe des Strafrechts senate vollzogen. Das Verfahren ist in der Strafprozessordnung (StPO) gere- gelt. Das Verwaltungsstrafrecht ist dagegen von den Verwaltungsbehörden, zB Polizei oder Magistrat, zu vollziehen. Das dabei anzuwendende Recht fin- det sich im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG). B. Das Ziel des Strafverfahrens ist die Wahrheitsermittlung. Gericht, Staats- anwaltschaft und Kriminalpolizei haben mit allen ihnen rechtlich zur Verfü- gung stehenden Mitteln die Wahrheit zu erforschen. Im Verfahren gilt freie Beweiswürdigung. Die Richter*in hat nach freier Überzeugung zu entschei- den, was für wahr zu halten ist. Ihre Entscheidung muss jedoch rational nach- vollziehbar sein. Der Offizialgrundsatz besagt, dass allein der Staat Österreich dazu ermächtigt ist, eine Strafe wegen einer begangenen Straftat zu verhängen. Gemäß dem Anklagegrundsatz kann das Strafgericht eine Beschuldigte*n nur dann recht- mäßig verurteilen, wenn die Anklage von einer berechtigten Ankläger*in er- hoben wurde. Als berechtigte Ankläger*in kommen sowohl der Staatsanwalt als auch eine Privatankläger*in in Betracht. Bei der Privatankläger*in handelt es sich in der Regel um das Opfer selbst. Die Privatankläger*in darf nur dann Anklage erheben, wenn ein Privatanklagedelikt vorliegt. Ob das der Fall ist, er- gibt sich aus dem materiellen Recht. Darunter fallen zB die Verletzung der Ehre oder die Begehung bestimmter strafbarer Handlungen im Familienkreis. Wenn die zur Anklage berechtigten Personen nicht Anklage erheben, darf das Str