Lebensbewältigung - Böhnisch 2023 PDF
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2023
Lothar Böhnisch
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This book, "Lebensbewältigung", by Lothar Böhnisch, explores social work theories and practices. It delves into the dynamics of individual struggles to manage problems, while contextualizing behavior within family, school, work, and societal structures.
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Lothar Böhnisch Lebensbewältigung Mit dem unten stehenden Download-Code erhalten Sie die PDF-Version dieses Buches. So laden Sie Ihr E-Book herunter: 1. Öffnen Sie die Website: http://www.beltz.de/ebookinside 2. Geben Sie den unten stehenden Download-Code ein und füllen Sie das Formular aus. 3. Mit dem Klick auf den Button am Ende des Formulars erhalten Sie Ihren persönlichen Download-Link. [Für den Einsatz des E-Books in einer Institution fra- gen Sie bitte nach einem individuellen Angebot unse- res Vertriebs: [email protected]. Nennen Sie uns dazu die Zahl der Nutzer, für die das E-Book zur Verfügung gestellt werden soll.] 4. Beachten Sie bitte, dass der Code nur einmal gültig ist. Bitte speichern Sie die Datei auf Ihrem Computer. Download-Code Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Zukünfte Herausgegeben von Lothar Böhnisch | Wolfgang Schröer Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Lothar Böhnisch Lebensbewältigung Ein Konzept für die Soziale Arbeit 3., überarbeitete und erweiterte Auflage Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Der Autor Lothar Böhnisch, Dr. rer. soc. habil., bis 2009 Professor für Sozialpädagogik und Sozialisation der Lebensalter an der Technischen Universität Dresden, lehrte von 2010 bis 2020 Soziologie an der Freien Universität Bozen/Bolzano. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer- tung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfäl- tigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Dieses Buch ist erhältlich als: ISBN 978-3-7799-7238-9 Print ISBN 978-3-7799-7239-6 E-Book (PDF) 3., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023 © 2023 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel Werderstraße 10, 69469 Weinheim Alle Rechte vorbehalten Herstellung: Ulrike Poppel Satz: text plus form Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Beltz Grafische Betriebe ist ein klimaneutrales Unternehmen (ID 15985-2104-100) Printed in Germany Weitere Informationen zu unseren Autor_innen und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Inhalt Einleitung 9 Teil I Die psychodynamische Sphäre der Lebensbewältigung 1 Warum tun die das? – Warum brauchen die das?! 12 2 Wie innere Hilflosigkeit Bewältigungsdruck erzeugt – Abspaltungen 18 3 Mit dem Bewältigungskonzept kommt die Tiefendimension der Verletzlichkeit in den Blick 33 4 Über die Notwendigkeit, Bewältigungsverhalten geschlechtsdifferent zu betrachten 41 Teil II Die soziodynamische und die gesellschaftliche Sphäre der Lebensbewältigung 5 Auf die Familie kommt es immer noch an, vor allem aber auf die Schule und auf die Clique, in die man hineingerät – Bewältigungskulturen 60 6 Die neue Arbeitswelt erzeugt neue Bewältigungszwänge 74 7 Die digitalen Medien sind grenzenlos – Verdeckte Bewältigungsfallen 80 8 Professionelles sozialpädagogisches Handeln ist bewältigungsdynamischen Herausforderungen ausgesetzt 86 9 Auch die Jugendhilfe kann Hilflosigkeit erzeugen 90 5 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 10 Wie die Soziale Arbeit Zugang zur sozialstrukturellen Dimension finden kann – Lebenslagen und Bewältigungslagen 97 11 Eine Theorie der Sozialen Arbeit muss Handlungsaufforderungen enthalten 113 12 Ein bewältigungstheoretisches Konzept muss Anforderungen an die Organisationen der Sozialen Arbeit entwickeln können 139 13 Bewältigung und Bildung gehen ineinander über 144 14 Wie verhält sich das Bewältigungskonzept zum Konzept der Lebensweltorientierung, zum Capability Approach und zum Programm einer Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession? 149 Teil III Mit dem Bewältigungskonzept kann die Sozialisationstheorie als Bezugstheorie Sozialer Arbeit neu formuliert werden – Bewältigungslagen im Lebenslauf 15 Sozialisation kann heute auch als biografischer Bewältigungsprozess interpretiert werden 165 16 Schon die Kindheit steht in der Spannung zwischen entwicklungsgemäßem Eigenleben und sozialem Bewältigungsdruck 171 17 Im Jugendalter lauern Bewältigungsfallen, in die vor allem sozial benachteiligte Jugendliche hineingeraten können 176 6 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Teil IV Die Soziale Arbeit erkennt soziale Probleme als Bewältigungslagen 18 Die Soziale Arbeit ist mit sozialen Problemen konfrontiert, die sich immer wieder neu formieren – Armut, Arbeitslosigkeit, Sucht, Obdachlosigkeit, familiale Gewalt, Kriminalität und Migration als Bewältigungslagen 186 19 Alter(n) kann als Bewältigungslage und Bewältigungskultur neu verstanden werden 210 20 Das Bewältigungskonzept ermöglicht den sozialpädagogischen Zugang zu prekären Übergängen 215 21 Bewältigung als Konfliktgeschehen 221 22 Die Soziale Arbeit braucht eine Ethik, die sozialpolitisch greifbar ist – Ein bewältigungstheoretischer Zugang zur Gerechtigkeit 224 23 Kann die Soziale Arbeit von den sozialen Bewegungen profitieren? 229 24 Wie sich die Sozialpolitik bewältigungspolitisch öffnen kann 233 25 Eine Gesellschaft ohne Abspaltungszwang – Die Gesellschaft der Sorge (Care) 241 Literatur 246 7 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Einleitung Das Konzept Lebensbewältigung versteht sich als Theorie-Praxis- Modell. Es entwickelt und systematisiert Hypothesen zum Be- troffen-Sein und zum Bewältigungsverhalten von Menschen in kritischen Lebenskonstellationen, die ja den hauptsächlichen Ad- ressatInnenkreis der Sozialen Arbeit bilden. Es macht des Weite- ren die so gewonnenen Erkenntnisse diagnostisch brauchbar und leitet daraus konkrete Handlungsaufforderungen an die Soziale Arbeit ab. Gleichzeitig ist es ein Konzept, das nicht beim Indivi- duum stehen bleibt. Vielmehr ist es in der Lage, die sozial-inter- aktiven und gesellschaftlichen Bedingungen und Kontexte auf- zuschließen, die das individuelle Bewältigungshandeln wie den sozialpädagogischen Zugang dazu beeinflussen. Dies macht die reflexive Qualität des Ansatzes aus, d. h., man ist zwangsläufig aufgefordert, immer wieder die Hintergrundbedingungen psy- chosozialer Arbeit zu diskutieren. Darin können auch die Mög- lichkeiten und Grenzen sozialpädagogischen Handelns reflektiert werden. Das Modell Lebensbewältigung entfaltet sich in drei Sphären, die in einem Zusammenhang miteinander stehen. In der Begrifflichkeit der ‚Sphären‘ ist diese Möglichkeit der gegen- seitigen Durchdringung ausgedrückt. In der psychodynamischen Sphäre führt der Verlust an Selbst- wert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit in kritischen Lebenssituationen (Lebenskonstellationen) zur Hilflosigkeit des Selbst und daraus resultierendem unbedingtem Streben nach Handlungsfähigkeit. Bei Unfähigkeit zur Thematisierung innerer Hilflosigkeit kommt es zum Zwang zu äußerer oder innerer Ab- spaltung. In der soziodynamisch-interaktiven Sphäre der Bewältigungs- kulturen werden die in ihnen enthaltenen Chancen der Themati- sierung von Bewältigungsproblemen und -konflikten diskutiert. Als Bewältigungskulturen werden Familie, Gruppe, Schule, Ar- beitswelt und Medien dargestellt. 9 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann In der gesellschaftlichen Sphäre werden das sozialpolitische Konzept Lebenslage und der sozialpädagogische Zugang dazu entfaltet. Diesen Zugang entwickle ich im Begriff Bewältigungs- lage mit den Dimensionen Ausdruck (Thematisierung), Abhän- gigkeit, Aneignung und Anerkennung. Aus dem Bewältigungsmodell ergeben sich entsprechende Handlungsaufforderungen wie akzeptierende Haltung, bewälti- gungsdynamisches Verstehen, Reframing, funktionale Äquiva- lente und Milieubildung. 10 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Teil I Die psychodynamische Sphäre der Lebensbewältigung Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 1 Warum tun die das? – Warum brauchen die das?! Es ist immer wieder dasselbe. Ein Junge macht mitten im Unter- richt Faxen, gibt den Kasper, zeigt der Lehrerin den Stinkefinger. Die Klasse johlt. Die Lehrerin ist überrumpelt, scheint hilflos. Der Schüler, der sonst als leistungsschwach gilt, ist nun für drei Mi- nuten oben, fühlt sich als der King. Was tun mit dem Jungen? Zum Schulpsychologen, in die Sonderzone der Schulsozialarbeit? Auf ihn einzureden nützt nichts. Er hat ja seinen Auftritt genos- sen. Wenn aber nichts mit ihm geschieht, wird sich die Szene in immer kürzeren Abständen wiederholen. Schnell hat er das Eti- kett des notorischen Störers weg. Manche sagen sogar, er sei „auf- fälligkeitssüchtig“. Auf ihn einzureden, es ihm vorzuhalten fruchtet deshalb nicht, weil im Jungen dieses erlebte Hochgefühl noch nachlebt, er davon nicht runterwill. Er hat ja sonst nichts anderes, um auf sich aufmerksam zu machen. Es war auch nicht bewusst geplant, es ist in ihm aufgestiegen. Ein geiles Gefühl, so im Mittelpunkt zu ste- hen. „Anerkennung“ durch Auffälligkeit. Unbewusst aus einem leibseelischen Antrieb der Selbstbehauptung heraus. Deshalb müssen wir die richtigen Fragen stellen. Nicht: War- um tut er das? Das führt schnell ins Normative, und dagegen ist er ja scheinbar gefeit. Vielmehr müssen wir fragen: Warum braucht er dieses Verhalten?! Hat er denn keine andere Möglich- keit, auf sich aufmerksam zu machen, Anerkennung zu bekom- men? Die Schule bietet sie ihm wohl nicht. Uns verstört auch die Lust, die der Junge bei seinem auffälligen Auftritt zeigt, das Hochgefühl, seinen Frust vor anderen an anderen auslassen zu können. Kein Unrechtsbewusstsein. Deshalb müssen wir auf die Botschaften achten, die hinter diesem Verhalten stecken: in der Schule wenig Anerkennung, zu Hause oft sich selbst überlassen. Selbstbehauptung und Hilferuf gehen in eins über. In dieser Ver- störung begegnen wir auch dem jungen Migranten in Jürgen 12 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Leinewebers Film „Jung und böse“, der, von der Schule gefrustet, den Nächsten, den er auf der Straße antrifft und den er als schwä- cher einschätzt, anmacht und vielleicht sogar zusammenschlägt. Er hat das gebraucht, sagt er, es hat ihn entspannt. Er würde es wieder tun. Viele dieser Fälle führen zurück in die Familie. Zu Vätern, die von Problemen ihrer Kinder nichts wissen wollen, zu Müttern, die überfordert sind. Meist sind es ja die Mütter, die der Bezie- hungsanker im familialen Sorgenalltag sein müssen. Wenn sie aber diesen Druck nicht mehr aushalten können, weil man mit innerer Hilflosigkeit nicht leben kann, dann ist ihnen oft der Weg nach außen versagt. Dann richten sich die aufgestauten Aggres- sionen gegen sie selbst. Autoaggressives Verhalten und entspre- chende Akte findet man deshalb in den Statistiken überwiegend bei Frauen: Medikamentenmissbrauch, Selbstverstümmelungen, aber vor allem auch Depressionen, in denen man sich selbst still- stellt. Frauen, die sich immer wieder zurücknehmen. Eine Sozial- arbeiterin erzählt von einer Frau, die unter wiederholten psychi- schen Störungen leidet und deshalb krankgeschrieben wird. Den- noch hat die Frau den Eindruck, dass sie von ihrer Chefin, der sie das mitteilt, unausgesprochene Signale erhält: Wenn du die nächsten Tage nicht kommst, kann ich dir – bei unserer derzeiti- gen betrieblichen Situation – nicht garantieren, dass wir dich be- halten können. Die Frau spürt, dass ihr die Krankentage guttäten, sucht die Autorität der Ärztin und hat gleichzeitig nicht nur Angst, dass ihr eventuell gekündigt wird, sondern diese Angst verquickt sich mit dem Verständnis für die Lage der Chefin und des Betriebes. Die Frau nimmt alle Schuld auf sich: dass sie krank ist, dass sie den Betrieb im Stich lässt, dass sie am besten gar nicht auf der Welt wäre. Sie nimmt noch mehr Medikamente. Ein weiteres Fallbeispiel aus der Familienhilfe: Vernachlässi- gung. Die Mutter kommt aus einer Familie, in der sie wenig Zu- neigung und Anerkennung erfahren hat, von Eltern, um die sie sich aber nun mit deren zunehmendem Alter kümmern muss und, aus ihrem Verständnis der Frauenrolle heraus, auch küm- mern will. Die Liebe, die ihr entgangen ist, sucht sie nun bei ih- 13 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann rem Kind, spürt aber, dass sie überfordert ist, keine richtige Mut- ter sein kann. In der gleichzeitigen Sorge um die Eltern und dem Schuldgefühl, keine gute Mutter sein zu können, kann sie ihre Sorge um sich selbst nicht ausleben und versinkt deshalb in De- pressivität. Auch hier wieder weibliche Bedürftigkeit – es ist ihr verwehrt, eine gute Mutter zu sein, obwohl sie es gern möchte – und der Zwang, sich selbst noch mehr zu belasten. Und dann die Mädchen, die in Notdiensten Zuflucht suchen, weil sie sich aus ihrer Familie getrieben fühlen. Die mit sich, mit ihren Versagensängsten und ihrem Körper nicht zurechtkom- men, von Eltern bedrängt, die sie nicht verstehen können oder wollen. Mit einer Mutter, die sie überfürsorglich und zugleich schuldgedrängt umklammert und zudeckt, einem Vater, der von Problemen in „seiner“ Familie nichts wissen will. Sie fühlen sich dann selbst schuldig, hassen sich dafür, Essstörungen sind nicht weit. Aus Frauenhäusern wird von geschlagenen Frauen berichtet, die sich nicht wehren, die eher die Schuld bei sich selbst suchen, es nach innen wegdrücken, wo es dann weiterschwelt. Männer die ihre Frauen geschlagen haben, beteuern vor Gericht oder in der Beratung meist, dass sie wohl einen „Aussetzer“ hatten, sie liebten doch ihre Partnerin. Nun kommt bei der häuslichen und – weitergehend – sexuellen Gewalt von Männern das dazu, was man als „Bedürftigkeit“ bezeichnet: Man hält es nicht aus, dass einem die Partnerin Gefügigkeit verwehrt, worauf man als Mann doch ein Recht zu haben glaubt. Männliche Bedürftigkeit ist in Zonen häuslicher Gewalt immer anzutreffen. In den Männerberatungsstellen tauchen sie immer häufiger auf: Männer als Verlierer von Ehescheidungsprozessen, bei denen es darum geht, wem die Kinder zugesprochen werden. Die Fron- ten sind längst klar. Der Mann – in Sachen Vormundschaft fak- tisch immer noch benachteiligt – aktiviert gegenüber seiner Frau maskuline und sexistische Gefühle, die er während der Ehe nie kannte. Der früher partnerschaftlich-empathische Gatte einer gleichberechtigt ausgehandelten Beziehung stürzt nun in das dunkle Loch der Hilflosigkeit, aus dem ihm die bisherigen Bezie- hungsmuster nicht mehr heraushelfen. Um aus dieser Hilflosig- 14 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann keit herauszukommen, klammert er sich an das verborgene „ar- chaisch Maskuline“ in sich, das ihm seiner Empfindung nach noch als einziges bleibt und ihn stärkt: Die Frau wird auf einmal abgewertet, die Kinder werden zum väterlichen Besitz deklariert. Der Mann hat alle Leidensstationen – Feindschaft zur Frau, Spal- tung des Freundeskreises, Anwalt – hinter sich, die Männerbera- tung, so widerwillig er dem Tipp folgt, ist die letzte Möglichkeit. Er sucht Lösungen und will doch Bestätigung. Er versucht, den Berater in seine Version einzustimmen, Hilflosigkeit, die er nicht verbergen kann, und Dominanzstreben beherrschen gleichzeitig die Szene. Der Mann führt einen Kampf um Prinzipien, gegen Frauen, gegen das Unrecht, das Männern zugefügt wird, letztlich einen Kampf gegen sich selbst. Er muss stark sein, und die Hilf- losigkeit, die alles aus ihm heraus antreibt, darf nicht sichtbar werden – Hilflosigkeit wäre gerade jetzt Schwäche. Gehen wir aus der Familie heraus auf die Straße. Street- workerInnen versuchen, Cliquen zu befrieden. Cliquen halten oft durch provokante Aktionen zusammen. Man beweist sich gegen- seitig. Ausgrenzung anderer schafft Zusammenhalt. Das zeigt sich im kleinen Gruppenleben des Alltags genauso wie in den Extremsituationen der Gewalt. Jungen, die mit ihrer Hilflosigkeit nicht zurechtkommen, werden von solchen Cliquen magisch an- gezogen. Sie erhalten Selbstwert, Anerkennung und Wirksamkeit als Gruppenmitglieder, die Gruppe wird zum emotionalen Rück- halt und zur Rechtfertigung ihres Verhaltens. Was bei der Begegnung mit gewalttätigen Jugendlichen im- mer wieder überrascht, ja verstört, ist ihre offensichtliche Lust an der Gewalt. Es überkommt sie wie ein Schauder und danach macht sich Entspannung und Wohlgefühl bei ihnen breit. Einer der jungen Männer in Leinewebers Film sagte: „Wie nach einem Orgasmus“. Der Körper übernimmt die Regie, eine somatische Dynamik, wie sie in der Stressforschung immer wieder beschrie- ben wird. Das versperrt den pädagogischen Zugang. Aufklären, die Jugendlichen mit ihrer Tat konfrontieren wollen, geht erst einmal gar nicht. Sie haben ja das für sie Positive, Entspannende am eigenen Leib gespürt. Sie haben Aufmerksamkeit auf sich ge- zogen, die Umwelt hat Wirkung gezeigt. Und jetzt kommen die 15 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann SozialarbeiterInnen und wollen ihnen das nehmen, ins Negative, ja Verabscheuungswürdige drehen. Diesem Misstrauen begegnen SozialarbeiterInnen oft. Immer dort, wo Menschen die soziale Orientierung verloren haben, sich wertlos fühlen und keine soziale Anerkennung be- kommen, wo sie wenig Möglichkeiten haben, etwas zu bewirken, auf sich aufmerksam zu machen und – vor allem – ihre innere Hilflosigkeit nicht aussprechen können, setzt ein somatisch ange- triebener psychosozialer Bewältigungsmechanismus der Abspal- tung ein, der antisoziale oder selbstdestruktive Züge annehmen kann und die Betroffenen zur Klientel werden lässt. Ob das nun in überforderten Familien passiert, die nicht mehr der Lage sind, ihren Alltag zu regeln und sich dadurch sozial isolieren, bei Kin- dern, die an der Schule scheitern, bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen der soziale Übergang nicht gelingt, bei Er- wachsenen, die die Arbeit verloren haben oder von den Umbrü- chen der Arbeitsgesellschaft überfordert, die von Armut und so- zialem Ausschluss bedroht sind oder von Beziehungsverlusten heimgesucht werden – überall wirkt dieser Grundmechanismus. Wenn ich im Folgenden immer wieder den international ge- bräuchlichen Begriff „antisozial“ (antisocial personality disorder) verwende, so verstehe ich ihn wie den bei uns auch üblichen Be- griff „dissozial“. Damit werden in der sozialpädagogischen Litera- tur Menschen bezeichnet, die nicht (mehr) in der Lage sind, nach sozialen Regeln zu leben, sozialen Pflichten nachzukommen, die oft bindungsschwach sind, sich schwer in andere hineinversetzen können, andere eher abwerten, darüber kein Unrechtsbewusst- sein entwickeln können und ihr Verhalten zu ihrem aktuellen Vorteil zu rationalisieren versuchen. Gewalt ist zwar immer wie- der im Spiel, eher aber aggressive Haltungen (auch gegenüber So- zialarbeiterInnen), oft aber regressives (Rückzugs-)Verhalten. Wir müssen aber nicht in den Zonen der sozialen Ausgren- zung oder des antisozialen Verhaltens bleiben. Auch im Alltag der Jugendarbeit, in den Jugendzentren und Jugendprojekten geht es vielen Jugendlichen darum, auf sich aufmerksam zu ma- chen, anerkannt zu werden. Deshalb schätzen sie auch die Pro- 16 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann jekte, in denen sie mitmachen, sich zeigen können. Vielen Ver- antwortlichen der Jugendförderung ist noch gar nicht so richtig bewusst, dass gerade die offene Jugendarbeit nicht nur Freizeit- ort, sondern auch Bewältigungsort ist, wo den Jugendlichen, so- zialer Druck weggenommen wird, wo sie zu sich kommen, ihre Befindlichkeit anzeigen und aussprechen und prosoziale Bezüge aufbauen können. Ein Ort der Alltagsberatung, wenn man Bera- tung als Hilfe versteht, innere Bedrängnis und Hilflosigkeit zu thematisieren. Das kommt vor allem Jungen zu zugute, die es oft schwer haben, das, was in ihnen ist, auszusprechen und daher leicht unter Druck geraten, das, was sie im Inneren bedrängt, nach außen aggressiv zu kompensieren. Davon profitieren aber auch die Mädchen, die sich in entsprechenden Jugendprojekten eigene Räume aneignen, eigene Öffentlichkeiten schaffen und sich nicht dauernd zurücknehmen müssen (vgl. Kap. 4). Jugend- arbeit wird damit auch zum sozialen Bildungsort, an dem Le- benskompetenzen vermittelt werden. Seine innere Bedrängnis aussprechen und sich in andere hineinversetzen können, gehört zu den basalen Lebenskompetenzen. Das läuft alltäglich ohne großes Aufsehen ab und man möchte der Jugendarbeit raten, die- se Seite ihrer jugendpädagogischen Bedeutung stärker öffentlich zu machen. Auch sonst überwiegen die eher stillen Beispiele in der Sozia- len Arbeit. Die alltägliche Begleitung, die SozialarbeiterInnen für sozial gescheiterte und sozial resignierte KlientInnen organisie- ren, fällt kaum auf. Und doch läuft auch hier eine ähnliche Dy- namik ab, wie in den markanten Fallbeispielen: das Streben der Betroffenen in ihrer Hilflosigkeit, trotz allem etwas wert zu sein, irgendwie doch anerkannt zu werden, sich nicht aufzugeben. Dass dies nicht, wie in den lauten Beispielen, in Selbstzerstörung oder sozialer Aussichtslosigkeit mündet, sondern aussprechbar, beziehbar und darin bewältigbar bleibt, dass der Abspaltungs- druck genommen, die antisoziale Kompensation aufgelöst wer- den kann, beschreibt den Zugang und die Leistung der Sozialen Arbeit. 17 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 2 Wie innere Hilflosigkeit Bewältigungsdruck erzeugt – Abspaltungen Nun ist es aber an der Zeit, diesen Grundmechanismus der Be- wältigung in seiner Wirkungsweise eingehender zu erklären. Un- ter (Lebens-)Bewältigung verstehe ich das Streben nach psycho- sozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen. Lebenssituationen und -konstellationen werden dann als kritisch bezeichnet, wenn die bisherigen eigenen Ressourcen der Pro- blemlösung versagen oder nicht mehr ausreichen und damit die psychosoziale Handlungsfähigkeit beeinträchtigt ist (vgl. Filipp 2008). Die Soziale Arbeit hat es mit solchen kritischen Lebens- konstellationen zu tun, es ist ihr Alltagsgeschäft: Scheitern, Ver- lusterfahrungen, Anerkennungsprobleme und Versagensängste scheinen in den meisten der ihr zugewiesenen Fälle durch. Am Beispiel der Arbeitslosigkeit lässt sich die Dramatik kritischer Le- benskonstellationen zeigen: Der Arbeitslose verliert seine bisheri- gen Ressourcen psychosozialer Handlungsfähigkeit, denn über die Arbeit hat er Anerkennung, Lebenssinn und Selbstwirksam- keit erhalten, hat soziale Kontakte aufgebaut und einen sozialen Status erreicht. Das ist nun zusammengebrochen, und dieses Un- gleichgewicht muss bewältigt werden. Psychosoziale Handlungsfähigkeit ist ein Konstrukt im Ma- gnetfeld des Selbstkonzepts. Ich bin in diesem Sinne handlungs- fähig, wenn ich mich sozial anerkannt und wirksam und darüber in meinem Selbstwert gestärkt fühle. Das Streben nach Hand- lungsfähigkeit, das erst einmal in uns allen ist, macht sich also besonders in kritischen Lebenskonstellationen bemerkbar, wird über sie „freigesetzt“. Wenn es uns entsprechend schlecht geht, macht sich der Selbstbehauptungstrieb, gleichsam als Grund- antrieb des Menschen, bemerkbar. Dieser ist so stark, so existen- ziell, dass Handlungsfähigkeit – also Selbstwert, Anerkennung und Selbstwirksamkeit – um jeden Preis gesucht werden muss. 18 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Wenn dies nicht mit sozial konformem Verhalten erreichbar ist, dann eben auch mit abweichendem Verhalten. Antisoziales, aber auch selbstdestruktives Verhalten ist in diesem Sinne Bewälti- gungsverhalten. Dahinter stecken „Botschaften“ der Hilflosigkeit, des Unvermögens, sich mit seinem gestörten Selbst auseinander- setzen zu können. Es muss einfach – und das ist ein unbewusster Vorgang – abgespalten werden. Damit sind wir beim Modell der äußeren Abspaltung. Äußere Abspaltung Im Mittelpunkt steht das bedrohte Selbst in seiner Hilflosigkeit. Der Begriff des Selbst bezeichnet hier sowohl den inneren, emo- tionalen Pol des Selbstkonzepts, den Selbstwert: wie spüre ich mich und wie schätze ich mich ein? Sowie den sozialen Pol: wie sehen mich die anderen, erhalte ich Anerkennung? Und schließ- lich – gleichsam als Resultante – die emotionale wie kognitive Einschätzung der Selbstwirksamkeit: habe ich Zutrauen in mei- ne Fähigkeit, unterschiedliche Lebenssituationen in den Griff zu bekommen. Das Selbst bewegt sich also im Magnetfeld von Selbstwert, sozialer Anerkennung und Selbstwirksamkeit. Man- gelnde Anerkennung verbunden mit geringer bis fehlender Selbstwirksamkeit führt zu dieser Hilflosigkeit des Selbst. Wir er- leben dies alltäglich, es muss nicht gleich ein katastrophaler Zu- stand sein. Man ist von sozial negativen Erlebnissen gefrustet, und das geht nicht über den Kopf, sondern vor allem über den Bauch. Man fühlt sich mies, es entsteht ein körperlich-seelischer (somatischer) innerer Druck, den man loswerden muss. Man kann nicht mit dieser Bedrückung schlafen gehen. Entlastung ist möglich, wenn man mit jemandem darüber sprechen, ihm oder ihr das belastende Problem erzählen kann. Im Bewältigungs- modell wird dies mit dem Begriff der Thematisierung umschrie- ben. Beratung ist in diesem Sinne nichts anderes als Hilfe zur Thematisierung. Wenn ich es jemandem anderen, z. B. einem Freund oder einer Freundin, erzähle, sprechen wir von Alltags- beratung. Wenn ich aber jemanden brauche, der mir dabei helfen 19 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann kann, suche ich eine professionelle Beratung auf. Unter Themati- sierung verstehe ich dabei nicht nur den sprachlichen Akt, son- dern vor allem auch den sozial-interaktiven Vorgang des Mittei- lens und damit des Anknüpfens von Beziehungen bis hin zum Eintreten in soziale Netzwerke. Dazu muss ich aber in der Lage sein, die Fähigkeit haben, meine innere Hilflosigkeit zum Sprechen zu bringen. Es gibt aber genug Menschen, die dies nicht können, in ihrer bisherigen Bio- grafie nicht die Chance hatten, nie gelernt haben, das, was in ih- rem Inneren ist, aussprechbar, thematisierbar zu machen. Darauf werde ich in den Kapiteln zu den Bewältigungskulturen (Kap. 4–7) näher eingehen. Sie stehen aber unter somatischem Druck, die Spannung muss gelöst werden, der Körper fordert das, der emo- tionale Drang zur Entspannung bekommt die Oberhand. Da die Hilflosigkeit nicht thematisiert werden kann, muss sie herausge- drängt, also abgespalten und kompensiert werden. Die Kompen- sationen können vielfältig sein. Sie äußern sich in unterschiedli- chen Inszenierungen und Aktivitäten der Entlastung, Ablenkung oder des Umleitens der inneren Bedrängnis. Für die Soziale Ar- beit kommen aber nur die antisozialen Kompensationen in Be- tracht. Sie sind ja der Ausgangspunkt für Interventionen und Hil- fen. Auch hier kann man unterschiedliche Formen beobachten, die von der Verweigerungshaltung bis zur Gewalttätigkeit rei- chen. Eine immer wieder anzutreffende Form ist die der Projek- tion der eigenen Hilflosigkeit auf andere. Man lässt seine Hilf- losigkeit und den damit verbundenen Frust an anderen aus. Das kann in körperlicher Gewalt ausarten, oft aber sind es psychische Gewaltformen. Dass letztere mehr von Mädchen und Frauen aus- gehen, erstere mehr von Jungen und Männern, und dass Männer eher nach außen abspalten, soll im dritten Kapitel näher betrach- tet werden. Indem diese Ablaufdynamik von innerer Hilflosigkeit – Un- fähigkeit zur Thematisierung – Abspaltung durch Projektion/Kom- pensation einem nicht bewusst, sondern somatisch angetrieben ist, entzieht sich auch das Abspaltungsverhalten der Selbstkon- trolle. Man weiß in dem Moment nicht, was man da tut. Dieser Vorgang wird in der Psychoanalyse mit dem Begriff der Abstrak- 20 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann tion umschrieben. Abstraktion meint die Abwesenheit des Kon- kreten, das (zeitweise) Verschwinden des realen Verhaltens im Bewusstsein der Handelnden. Gewissermaßen ein Blackout. Neh- men wir das Gewaltbeispiel, daran kann man es am besten deut- lich machen. Es überkommt, „übermannt“ den Täter („überfraut“ gibt es bezeichnenderweise nicht), er kennt sich nicht mehr und – vor allem – er hat dadurch keinen Bezug zu dem Opfer. Er kennt es vielleicht gar nicht. Das Opfer ist gewissermaßen Träger seiner eigenen Hilflosigkeit. Auf die schlägt er ein. Er meint sich selbst. Aber das Gewaltbeispiel ist nicht so weit weg vom Alltag. Denn auch im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen spit- zen sich nicht selten Situationen zu, in denen man seine eigene Hilflosigkeit, seinen Frust an anderen ablässt, sie demütigt. Und dann über sich selbst erschrocken ist, dass es einen so wegtragen konnte, dass man den anderen nicht mehr erkannt, ihn oder sie so runtergemacht und abgewertet hat. Das muss ja nicht un- bedingt in körperliche Gewalt ausarten, es können genauso gut psychische Demütigungen sein. Gerade das macht den Vorteil des Bewältigungskonzepts aus, dass es sich nicht auf eine Sonderwelt bezieht. Die Übergänge aus dem Alltag heraus in kritische Zonen hinein sind fließend. Wir entdecken vieles im Kleinen bei uns selbst. Es ist ein Zugang, der die Betroffenen nicht ausgrenzt, sondern sie trotz allem unserer Welt weiter zugehörig sieht. Der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen (1992) hat die These aufgestellt, dass Männer mit innerer Hilflosigkeit schlech- ter umgehen könnten als Frauen, die aufgrund ihrer Gebärfähig- keit eine besondere Nähe zur inneren Natur des Menschen ent- wickeln könnten. Männer dagegen seien eher gedrängt, diese Hilflosigkeit nach außen abzuspalten. Wenn sie dabei gewalttätig werden, dann sind die Opfer in der Öffentlichkeit vor allem Män- ner, im häuslichen Bereich eher Frauen. Diesem Muster der äu- ßeren Abspaltung begegnen wir aber nicht nur in den Zonen der physischen und psychischen Gewalt. Wir sind ihm im Beispiel des randalierenden Jungen in der Schule genauso begegnet, wie wir es immer auch dort finden, wo versucht wird, auf Kosten anderer aus eigenen Lebensschwierigkeiten herauszukommen, 21 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Selbstwertprobleme antisozial zu kompensieren. Das können auch Rationalisierungen, Lügen, können Ausflüchte auf Kosten anderer sein. Ohne Unrechtsbewusstsein, weil auch hier das Ab- straktionsprinzip wirkt. Und andere abzuwerten gehört zu den alltäglichen kleinen Übungen der Selbstaufwertung. Sozialarbei- terInnen erzählen immer wieder, dass ihre KlientInnen nahezu alles abwerten, was um sie herum ist. Und noch einmal: Diese Abspaltungsdynamik ist emotional aufgeladen, bringt Entspannung, das antisoziale Verhalten, das wir als negativ bewerten, wird von den Betroffenen als positiv, als entspannend empfunden, als (oft letztes) Mittel eben, Anerken- nung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert zu erlangen. Deshalb kann man es ihnen nicht einfach ausreden, muss ihnen Möglich- keiten anbieten, in denen sie mit der Zeit spüren können, dass sie nicht mehr auf dieses Verhalten angewiesen sind. Ich werde im Abschnitt zu den funktionalen Äquivalenten (Kap. 11) näher auf solche Möglichkeiten eingehen. Innere Abspaltung Ich habe in den einleitenden Beispielen von Frauen und Mäd- chen erzählt, die in Konflikten die Schuld eher auf sich nehmen, Probleme bis zur Selbstzerstörung auszuhalten versuchen. Wir haben es hier mit Abspaltungen von Hilflosigkeit zu tun, die nach innen gerichtet sind. Wir sprechen dann von Autoaggression, Ge- walt gegen sich selbst. Wir finden sie in den verschiedenen For- men der Selbstverletzung, der Ernährungsstörungen, aber auch des Medikamentenmissbrauchs und der Depressivität. Sie sind – statistisch gesehen – vor allem eben unter Mädchen und Frauen verbreitet. Wir sind beim Muster der inneren Abspaltung. Im Mittelpunkt steht wieder die Hilflosigkeit des Selbst vor dem Hintergrund mangelnder sozialer Anerkennung, fehlender Selbstwirksamkeit und darin gestörtem Selbstwert. Dieses Selbst aber ist nun gespalten, von Selbsthass gezeichnet. In der klini- schen Psychologie spricht man von „Dissoziation“, es sind gleich- sam zwei Selbste, die gegeneinanderstehen. Das Ich und sein 22 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Körper. Ich versuche das immer wie folgt den Studierenden an- schaulich zu machen, rede vom „intradialogischen Selbst“: Bevor ihr morgens den Bus besteigt, die Uni oder eure Arbeit erreicht, habt ihr schon mehr mit euch selbst gesprochen als vielleicht den ganzen Tag über mit anderen: „Wie sehe ich heute wieder aus, hoffentlich treffe ich die/den nicht, wie werde ich das wieder durchstehen“ etc. Dabei kann man sich auch selbst hassen („Ich kann mich nicht mehr sehen“). Das sind wiederkehrende Anflü- ge. Problematisch wird es, wenn es sich zur Gewalt gegen sich selbst, am eigenen Körper entwickelt. Dieser autoaggressive Selbsthass setzt den entsprechenden Projektionsvorgang in Gang. Die Betroffenen sind sich der Selbstverletzung nicht bewusst, für sie zählt, dass sie die Auf- merksamkeit anderer auf sich ziehen können. Gefühlte Anerken- nung durch extreme Auffälligkeit. Es sind in der Mehrzahl Mäd- chen und junge Frauen, die in ihrem bisherigen Leben meist Ab- wertung erfahren und keine Anerkennung bekommen haben. In psychotherapeutischen Befunden spiegelt sich diese innere Ab- spaltungsdramatik wider: „Der Körper kann durch die Dissozia- tion wie ein äußeres Objekt verwendet werden. [Er] tritt an die Stelle des damals misshandelten Kindes. […] Da sich die Aggres- sivität nur gegen einen abgespaltenen Teil des Selbst richtet, kann das Selbst als Ganzes erhalten bleiben“ (Hirsch 2002: 41). Was ich als Kind erlitten habe, muss ich in mir abtöten. Dass mit Selbstverletzungen Aufmerksamkeitserregung und darin Entschädigung für entgangene Anerkennung gesucht wird, wird auch in der therapeutischen Praxis bestätigt: „Selbstverlet- zungen werden in der Regel in offener Weise durchgeführt. Diese Offenlegung lässt selbstverletzende Akte als eine Körper- und Aktionssprache erkennen“ (ebd.: 164). Die Betroffenen schämen sich nicht, auch wenn die Umwelt entsetzt reagiert. Sie fühlen ja Entspannung und erhalten gleichzeitig dramatische Aufmerk- samkeit. Gerade die Essstörungen der Magersucht und Bulimie lassen sich nach diesem Modell rekonstruieren. Hier spielen ebenso massive Selbstwert- und Anerkennungsstörungen eine ausschlag- gebende Rolle. „Dabei kann Nahrung bei den Betroffenen nach 23 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann psychoanalytischem Verständnis auch für Sehnsucht nach Aus- tausch in Beziehungen, Wertschätzung […] stehen“ (Subkowski 2003: 113). Dass die Betroffenen eher aus der Mittelschicht stam- men, weist darauf hin, dass es die dort eher verbreiteten neuroti- schen Erziehungskonstellationen sein können, die zur Überfor- derung der Mädchen führen. Dass inzwischen auch – zu einem wesentlich kleineren Teil – Jungen von solchen Essstörungen heimgesucht werden, lässt darauf schließen, dass die Suche nach Männlichkeit heute in dem Maße fragiler geworden ist, in dem die Männerrolle in unserer Gesellschaft ihre frühere selbstver- ständliche Dominanz und damit Orientierungssicherheit einge- büßt hat. Gleichzeitig fühlen sich nicht wenige Jungen und junge Männer durch das neue weibliche Selbstbewusstsein ihnen ge- genüber irritiert und darin ambivalenten Erwartungen ausgesetzt (gleichzeitig maskulin und beziehungsfähig zu sein), zu deren Erfüllung es keine alltagskonkreten Vorbilder gibt. Wieder habe ich die spektakulären Beispiele gewählt, um das Ablaufmodell innerer Abspaltung verdeutlichen zu können. Im Alltag der Sozialen Arbeit überwiegen aber die weniger spekta- kulären, oft verdeckten, aber deshalb nicht weniger problemati- schen inneren Abspaltungsformen: Das Sich-Entwerten, die er- zwungene Selbstisolation, die Unterwerfung bis in die Co-Ab- hängigkeit, das Aushalten von Demütigungen oder überhaupt der Zwang zum Schweigen über die eigene innere Not. Das sind psychische Abspaltungsmuster, die aber nicht selten in die physi- sche Form des Medikamentenmissbrauchs münden können. Sie laufen nach dem Modell ab, wie es im Beispiel Magersucht ge- schildert wurde: Es kommt zur Spaltung des Selbst, die innere Hilflosigkeit wird unbewusst an sich selbst ausgelassen, die Illu- sion temporären Ausgleichs zieht auf. Manche Betroffene klam- mern sich deshalb an diese Abspaltungsdynamik und sind schwer davon wegzubringen. Dass es eher Frauen sind, bei denen man dieses nach innen gerichtete Abspaltungsmuster beobachten kann, hängt vor allem mit immer noch wirkenden Besonderhei- ten weiblicher Sozialisation und der Stellung der Frau im Ge- schlechterverhältnis zusammen. Viele der KlientInnen der Sozia- len Arbeit sind noch in traditionellen Geschlechterkontexten ge- 24 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann fangen. Die Betroffenen stehen unter innerem Abspaltungsdruck, da ihnen die Thematisierung ihrer inneren Not geschlechts- typisch verwehrt ist. Dieser Zusammenhang wird in der Begriff- lichkeit der weiblichen „Symptomatik der Verschwiegenheit“ im dritten Kapitel näher beleuchtet. Abspaltung „per Delegation“ Abspaltung innerer Hilflosigkeit und ihre Projektion auf Schwä- chere kann auch dadurch geschehen, dass man sich einer Gruppe anschließt, zu deren Programm und Gruppenzusammenhalt es gehört, antisozial zu sein. Man „delegiert“ – freilich unbewusst – die Abwertung von anderen an die Gruppe und geht damit in ihr auf. Man tut die antisozialen Handlungen für die Gruppe, für deren Zusammenhalt eben, in einem emotional erhebenden und darin entspannenden Wir-Gefühl. Da kann kein Unrechts- bewusstsein entstehen. Nicht das Opfer steht im eigenen Fokus der Wahrnehmung, sondern die Gruppe. Übrigens: Die meisten Delikte, die vor allem männliche Jugendliche und junge Erwach- sene begehen, werden aus Cliquen heraus begangen. In dieser Logik kann auch rechtsextreme Gewalt bzw. Ge- waltbereitschaft als besondere Form extremen Bewältigungsver- haltens interpretiert werden, indem sich auch hier Abspaltung und Projektion nicht nur direkt auf konkrete Einzelne richten, son- dern im Magnetfeld eines Programms verortet werden können. Rechtsextremistische Programme bieten eine Projektionsfläche für die Abspaltung von biografisch verfestigten Selbstwert- und An- erkennungsstörungen. Ihre ethnozentrische bis rassistische Pro- grammatik bietet nicht nur die Möglichkeiten der Abwertung an- derer und damit der Selbsterhöhung der eigenen Person an, son- dern offeriert auch ihre kollektive Einbindung und Bestätigung in gleichgesinnten sozialen Gruppen. Wilhelm Heitmeyer sieht im Rechtsextremismus eine Form der Verarbeitung von Desintegra- tionserfahrungen. Im Mittelpunkt dieser dem Bewältigungsansatz nahen These steht die Annahme von der Umformung „erfahrener Handlungsunsicherheit in Gewissheitssuche, […] von Ohn- 25 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann machtserfahrungen in Gewaltakzeptanz, […] von Vereinzelungs- erfahrungen in die Suche nach leistungsunabhängigen Zugehö- rigkeitsmöglichkeiten“ (Heitmeyer 1994: 47). Rechtsextremistische Konzepte bieten danach entsprechende „Stabilitätsversprechen“ in nationalistischen und rassistischen Überlegenheits- und Durch- setzungskonzepten. In der Bewältigungsperspektive lässt sich der Zusammenhang wie folgt formulieren: Jugendliche wie Erwach- sene, die nicht in der Lage sind, Hilflosigkeit und Ohnmacht an- gesichts erfahrenen psychosozialen Drucks in kritischen Lebens- konstellationen zu thematisieren, können in den Sog der Projek- tion und Abspaltung dieser Gefühle auf Schwächere geraten. In diesem Kontext bilden sich dann schnell rassistische und rechts- extremistische Projektions- und Abstraktionsmuster aus. Das scheinbare Paradox, dass man sich dabei einer autoritären Grup- pen- und Führerideologie unterwerfen muss, wird dadurch auf- gelöst, dass die Unterwerfung unter die Gruppe und die Teilhabe an der Ideologie bzw. Programmatik in ihrer Gleichzeitigkeit einen positiven Effekt erzeugt: Ich unterwerfe mich, dadurch erfahre ich Eindeutigkeit in der Orientierung und kann gleichzeitig mit die- ser Teilhabe an der politischen Programmatik auch an der Stärke, die diese verheißt, partizipieren. Diese Macht und Stärke sind für mich erreichbar, da sich im rechtsextremen Programm eben jene tiefenpsychischen Mechanismen der Abspaltung und Projektion auf Schwächere und ihre Abstraktion manifestieren, die mich von meinem Inneren her bewegen (vgl. auch Reinhardt 2006). Die Suche nach unbedingtem sozialen Anschluss – ambivalente soziale Integration Diese hier geschilderte Suche nach Anschluss an die rechtsextre- me Gruppe kann auch bewältigungstheoretisch verallgemeinert werden. In der inzwischen klassischen Studie von Ralf Bohnsack et al. „Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt in der Gruppe“ (1995) wurde am Beispiel von Jugendcliquen gezeigt, dass auch die biografische Erfahrung sozialer Desintegration Zu- sammengehörigkeit konstituieren und Milieus (im Sinne sozial- 26 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann emotionaler Gegenseitigkeitsstrukturen) schaffen kann. Kritische Lebenskonstellationen, Erfahrungen sozialen Ausschlusses kön- nen nicht nur zur sozialen Isolation führen, sondern die Betrof- fenen auch zusammenbringen, ja zusammentreiben. Solche aus desintegrativen Erlebnissen entstandene Milieus wirken sozial- integrativ nach innen, nach außen aber antisozial und sozial des- integrativ, haben meist eine sozial „regressive“ Ausrichtung. Wir sprechen deshalb von einer bewältigungsdynamisch angetriebe- nen ambivalenten Integration. Auch wenn also das aktuelle Bewältigungshandeln auf der Su- che nach Handlungsfähigkeit von den herrschenden und gelten- den normativen Mustern der Sozialintegration abweicht, gegen die Regeln und gesellschaftlich einverständlichen Formen des so- zialen Zusammenlebens verstößt, hat es immer auch eine subjek- tiv sozialintegrative Absicht. Um es wiederum an unserem Bei- spiel zu verdeutlichen: Sozial orientierungslose Jugendliche – so zeigt uns die entsprechende Forschung – versuchen, (unbewusst) mit ihren Handlungen antisozial auf sich aufmerksam zu ma- chen, zeigen, dass sie da sind, schließen sich devianten Gruppen an, um soziale Bindung und Integration auf diese Weise zu erlan- gen. Solche Gruppen wirken dann in ihrer Anziehungskraft wie ein Magnetfeld. Sie werden dann auch vor allem durch abwei- chendes Verhalten zusammengehalten (vgl. Böhnisch 2017). Gegenseitige Abspaltungen „Während die nationale Herkunft für einen Teil der Jugendlichen kaum oder gar keine Bedeutung hat […], ermöglicht sie [den anderen, L. B.] die Verarbeitung von Exklusions- und Stigmatisie- rungserfahrungen“ (Yazici 2011: 178 f.). Dieser Befund aus einer qualitativen Fallstudie mit türkischstämmigen Jugendlichen führt uns wieder in die Zone des Bewältigungsverhaltens: ethnisch demonstrative Maskulinität als Ausdruck der Selbstbehauptung, als Mittel, Selbstwert zu erhalten, in einer Umwelt, die einen im- mer wieder abwertet. In dieser Umwelt gibt es wenig Verständnis dafür, warum diese Jugendlichen so sind, warum sie dieses mas- 27 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann kuline Verhalten „brauchen“. Und so gibt es auch wenige Brü- cken zur Verständigung. Im Gegenteil: Diese scheinbar selbstver- ständlich demonstrierte Maskulinität von jungen Ausländern reizt manche deutschen Jugendlichen bis aufs Blut. Als deutscher junger Mann, verunsichert mit der eigenen Männlichkeit, hast du keine Chance mehr, als Macho irgendwo zu landen. Du machst dich lächerlich, und es gibt nur noch wenige Frauen, die darauf abfahren. Die Hiesigen fühlen sich also irritiert und provoziert. Inzwischen hat sich die einheimische Umwelt ihr Bild gemacht. Junger Türke und Macho, das gehört doch irgendwie zusammen. Man hätte doch meinen können, in der dritten Generation junger Männer mit Migrationshintergrund hätte sich das deeska- liert, mit der heimischen Jugendkultur vermischt. An den Real- schulen und Gymnasien gibt es durchaus positive Hinweise dar- auf. Dort aber, wo soziale Benachteiligung den Alltag beherrscht, sieht es anders aus. Alarm lösen in Deutschland Studien aus, nach denen die in unseren Augen zwanghaft überhöhte Maskuli- nität bei den ausländischen Jugendlichen heute sogar noch we- sentlich stärker ausgeprägt scheint als bei ihren Vätern. Gerade die, die sich hier entwickelt, hier gelernt haben, die als integriert gelten, aber sozial nicht weiterkommen, zeigen diese Fixierungen auf die männliche Ehre. Der Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und dem Klammern an tradierte Männlichkeits- riten, die Selbstwert und Erhöhung bei dauernd empfundener Er- niedrigung versprechen, ist hier offensichtlich. Sie haben ja etwas, was die einheimischen Jugendlichen nicht haben, und deswegen werden sie wieder türkischer und islamischer als ihre Väter, ob- wohl sie inzwischen ohne Bezug zur Kultur des Herkunftslandes ihrer Großeltern sind. Dadurch fühlen sie sich den Einheimi- schen überlegen, dass sie es in aufreizender Maskulinität ausdrü- cken können. Denen ist es ja verwehrt. Dadurch können die, die einen als Türken abwerten, nun selbst abgewertet werden. Die Abspaltungen verlaufen gegenseitig. 28 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Hilferufe Aus der Bewältigungsperspektive ergeben sich paradoxe Auffor- derungen, die uns erst einmal fremd sind. Antisoziales Verhalten soll man nicht als negativen Akt, sondern als inneren Hilferuf be- greifen?! Der englische Kinder- und Jugendpsychiater Donald W. Winnicott, der sich viel mit vernachlässigten und in der Folge ag- gressiven Kindern beschäftigt hat, verlangt das von uns. Seine Erklärung: Das vernachlässigte, d. h. ganz auf sich gestellte Kind traut sich nichts mehr, unterwirft sich und ist „hoffnungslos un- glücklich und wird erst einmal nicht auffällig“. Verbessern sich die Umweltbedingungen, dann – so Winnicott – „gewinnt das Kind wieder Zuversicht und organisiert hoffnungsvoll antisoziale Handlungen“ (Winnicott, zit. n. Davis/Wallbridge 1983: 127). „Die antisoziale Tendenz ist ein Hinweis auf Hoffnung“ (Winni- cott 1988: 161). Durch Delikte, wie vor allem das Stehlen, sucht das Kind unbewusst die Anteilnahme anderer, will auf sich auf- merksam machen oder begeht destruktive Handlungen – Gewalt an Sachen, gegenüber anderen Kindern –, um die soziale Umwelt bzw. deren entschiedenes Handeln und ihre Stärke herauszufor- dern (um dadurch Aufmerksamkeit zu erlangen). Dieses Para- doxon des hoffnungsvollen Auf-sich-aufmerksam-Machens als Grundantrieb antisozialen Verhaltens löst sich wie folgt auf: Dem in seinem Selbst zurückgewiesenen und von einer überforderten familialen Umwelt nicht empathisch begleiteten Kind scheinen die legitimen Zugänge zu sozialer Zuwendung verschlossen. Treten Personen auf, die sich ihm zuwenden – z. B. JugendpädagogIn- nen –, keimt in ihnen die Hoffnung auf, dass es doch noch ange- nommen wird, so wie es ist. Es greift aber eine Zeit lang – gleich- sam im Übergang – immer noch nach den gewohnten Mitteln abweichenden Verhaltens, weil es ihm mit konformen Mitteln bisher nie gelungen ist (und im Wettbewerb zu anderen schlecht gelingen kann), auf sich aufmerksam zu machen. Wenn Sozial- arbeiterInnen diesen Zusammenhang erkennen, können sie auch selbst diese für sie negative Übergangssituation leichter aushalten. Antisoziales und selbstdestruktives Verhalten als Hilferuf können wir ähnlich bei Jugendlichen und Erwachsenen vermu- 29 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann ten. Beispielhaft ist hier der Ladendiebstahl von Frauen aus der Mittel- oder Oberschicht, die das eigentlich gar nicht nötig haben und dementsprechend auch oft eher belanglose Produkte klauen. Interpretiert wird dies z. B. als Hilferuf von Ehegattinnen, die von ihren Partnern in strikter finanzieller Abhängigkeit gehalten wer- den und die mit dem Diebstahl unbewusst auf ihre Lage aufmerk- sam machen. Auch in Selbstverletzungen liegen solche Hilferufe, nicht bewusste, weil somatisch entfachte Signale. Abspaltungen weisen ja auf innere Hilflosigkeit hin. Natürlich ist das daraus ab- geleitete Bild des „Hilferufs“ auch eine Konstruktion, die den Be- troffenen gleichsam „angeboten“ wird und in der sich sozialpäd- agogische Hilfe begründet. Die Frage, inwieweit jene KlientInnen diese Interpretation annehmen, die ihr Abspaltungsverhalten zu- mindest temporär als subjektive Lösung empfinden, führt uns zum Grundproblem von Konflikt und Verständigung in der hel- fenden Interaktion. Dennoch bleibt: Da alle Abspaltungsprozesse gegen die eigene Hilflosigkeit gerichtet sind, die Betroffenen sich im Grunde also selbst meinen und deshalb erst einmal zu sich selbst kommen müssen, liegt hier eine wesentliche Begründung für die sozialpädagogische Intervention. Kohärenz und Bewältigung Wenn innere Hilflosigkeit aber ausgesprochen, thematisiert wer- den kann, dann verweist das auf einen stabilen Bewältigungs- zusammenhang. Die betreffenden Menschen fühlen sich sozial anerkannt und wirksam, in einem Zustand des personalen und sozialen Wohlbefindens. Im salutogenetischen Modell der Ge- sundheitswissenschaften wird diese Befindlichkeit als Kohärenz- gefühl bezeichnet. Darunter wird ein positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit verstanden, die von dem Gefühl der Bewäl- tigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der Selbststeuerungsfähigkeit und der Gestaltbarkeit der Lebensverhältnisse getragen ist. 30 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann „Der Kohärenzsinn ist durch das Bestreben charakterisiert, den Le- bensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu kön- nen. Das Kohärenzgefühl repräsentiert auf der Subjektebene die Er- fahrung, einer Passung zwischen der inneren und äußeren Realität geschafft zu haben“ (Keupp 2012: 195). Dieses Kohärenzgefühl des psychosozialen Wohlbefindens be- deutet etwas grundlegend anderes als das akzidenzielle somati- sche Entspannungsgefühl bei den Abspaltungsvorgängen. Es fußt auf einer biografisch gelernten reflexiven Abwehr, ist widerstän- dig gegenüber Abstraktionen. Das bedingt aber auch, dass in Situationen innerer Hilflosig- keit Verlass darauf ist, dass diese innere Hilflosigkeit ihre positive äußere Resonanz findet, d. h. als menschliche Grundtatsache an- erkannt und so in Sprache umgewandelt werden kann. Eine sol- che Kultur der Anerkennung von Hilflosigkeit, sei es in Familien, Gruppen, Organisationen oder überhaupt in der Gesellschaft, kann sich nicht entwickeln, wo Hilflosigkeit als Problem, als psy- chosoziales Defizit diskreditiert ist. Im fünften Kapitel zu den Be- wältigungskulturen wird darauf näher einzugehen sein. Der Kohärenzsinn entwickelt sich also interaktiv, braucht Ge- genseitigkeit. Richard Sennett (2002) bemängelt generell, dass das „Moment der Gegenseitigkeit“ in den sozialen Entwürfen kaum zur Geltung komme. Letztlich sei nur die Philosophie der Aner- kennung dieser Herausforderung einigermaßen gerecht gewor- den. Jedoch stellt Sennett klar, dass es nicht ausreicht, Anerken- nung zu propagieren. Entsprechend versucht er, die Grenzen der Anerkennung in einer Theorie der Gegenseitigkeit zu bestimmen. Seine Intentionen richten sich insgesamt auf die Frage, wie und ob angesichts der sozialen Ungleichheitsverhältnisse Respekt zwi- schen den Menschen möglich ist. Er sieht letztlich Respekt vor den anderen, insbesondere vor den sozial Schwachen und auch gegenüber anderen Herkünften und Lebensformen, als das Regu- lationsmedium der Gegenseitigkeit, welches auch in den Diskur- sen zur sozialen Ungleichheit häufig übersehen werde. Dieser Be- griff von Respekt findet sich auch bei Martha Nussbaum (1999/ 31 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 2010) wieder, und zwar als Achtung vor der Eigenheit der Ande- ren, Achtung vor ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Integrität und Achtung vor ihrer Verletzbarkeit. Respekt wird hier zu einem Begriff, der weit über Toleranz hinausweist. Es geht nicht mehr darum, die anderen zu dulden, ihnen etwas zu gestat- ten, sondern sie in ihrer Würde und Eigenheit so anzuerkennen, dass diese Anerkennung in das eigene Selbst integriert ist, dass man also bereit ist, auch etwas in seinen eigenen Einstellungen und Fremdbildern zu verändern. Diese Integration in das eigene Selbst ist der weitergehende Schritt. 32 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 3 Mit dem Bewältigungskonzept kommt die Tiefendimension der Verletzlichkeit in den Blick Hilflosigkeit in kritischen Lebenskonstellationen – Ausgangs- punkt der Bewältigungsperspektive – weist auf die psychosoziale Tiefendimension der Verletzlichkeit (Vulnerabilität) des Men- schen hin. Mit dem entsprechenden subjektiven Zugang ‚Ver- letzbarkeit‘ kommen wir der leibseelischen Befindlichkeit der KlientInnen näher als nur mit der Zuschreibung Hilflosigkeit. Verletzt-Sein kann Hilflosigkeit auslösen. Verletzlichkeit ist nicht nur als humane Grundtatsache zu begreifen, sondern auch in so- zialen Zusammenhängen zu verorten. Die Bewältigungsperspek- tive als Streben nach Handlungsfähigkeit darf diese basale Be- findlichkeit nicht zu schnell überblenden, sondern muss sie als möglichen Ausgangspunkt dieser Hilflosigkeit erst einmal klären können. Vulnerabilität als Grundkategorie pädagogischer Erkenntnis ist in der Erziehungswissenschaft bisher wenig thematisiert, ob- wohl gerade in der Sozialpädagogik von vulnerablen Gruppen und Personen als KlientInnen dauernd die Rede ist. „Das liegt unter anderem daran, dass die in den Erziehungswissen- schaften dominierenden kategorialen Strömungen seit den späten 1990er Jahren in die entgegengesetzte Richtung weisen. Sie fokussie- ren ihr Interesse tendenziell einseitig auf die Stärken, die Resilienz, die Kompetenzen und Ressourcen von Individuen und setzen kon- zeptionell vor allem auf Selbstbestimmung und Empowerment. Die- se Einseitigkeit des Fokus ist jedoch nichts grundlegend Neues, sie hat vielmehr eine historische Dimension. Seit Beginn der Neuzeit sind Topoi wie Verletzbarkeit, Leiden, Zerbrechlichkeit, Hinfälligkeit und Endlichkeit zunehmend problematisch geworden. Sie wurden als Ausdruck eines Mangels, als nicht hinnehmbare Fehlerhaftigkeit und zu korrigierende Schwäche verstanden. Daher wurde ein ganzes 33 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Arsenal von ‚Andropotechniken‘ […] entwickelt, die die Funktion hatten – und immer noch haben –, den Menschen gegen seine Ver- wundbarkeit zu immunisieren“ (Burghardt et al. 2017: 10). Nicht zuletzt hat auch die Professionalisierung der Sozialen Ar- beit dazu beigetragen, dass man aus dieser dunklen Zone der Verletzlichkeit herauskommen und sich in der hellen Zone der Ermächtigung etablieren wollte. Das Bewältigungskonzept hingegen verlangt eine Kultur der Anerkennung von Hilflosigkeit, in der Verletzlichkeit themati- siert werden kann und nicht tabuisiert oder übergangen werden muss. Das bedeutet aber auch, dass Verletzlichkeit als kritisches Memento im Prozess der Modernisierung und damit als Teil des humangesellschaftlichen Entwicklungsprozesses selbst erkannt wird, von dem man sich weder moralisch noch technologisch ab- setzen kann. So gesehen braucht es eine Theorie der Verletzlich- keit als gewissermaßen ‚Rückseite‘ der Theorie der Bewältigung. Denn dann wird erst die tiefere Befindlichkeit aufschließbar, aus der heraus wir die Bewältigungsperspektive entwickeln. Das ver- langt, „dass Vulnerabilität als ein erziehungswissenschaftlicher Grundbegriff ausgewiesen werden kann, der die notwendige Be- dingung der Möglichkeit für die Diskurse und Praktiken um Re- silienz und Empowerment etc. ist. Mit anderen Worten: ohne die im Hintergrund stehende Vulnerabilität würde der Fokus auf Empowerment, Resilienz etc. keinerlei Sinn ergeben“ (ebd.: 16). Verletzbar zu sein, oder vorher gewesen zu sein, muss deshalb allen KlientInnen zugestanden werden. Verletzlichkeit ist für das menschliche Leben konstitutiv und kann nicht aus der Welt geschafft werden, ist nicht aufhebbar (vgl. Janssen 2018), zuvörderst nicht als leibseelische Verletzbar- keit. Diese ist durch die biologische Anfälligkeit des menschli- chen Körpers und seine Endlichkeit als Sterblichkeit bestimmt. Ähnlich kann man auch die soziale Verletzbarkeit dimensionie- ren. Sie resultiert aus der gegenseitigen Angewiesenheit und da- mit auch Abhängigkeit der Menschen als sozialem Wesen. Sie ist weiter bestimmt durch die Begrenztheit des Menschen gegenüber der Natur trotz technologischen Fortschritts und durch die An- 34 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann fälligkeit ökonomischer und sozialer Systeme mit ihren inhären- ten Tendenzen der Desintegration, die immer wieder kritische Lebenskonstellation hervorbringen können. Verletzlichkeit be- deutet also die doppelte Möglichkeit eines Ausgesetzt-Seins. Der Begriff Möglichkeit ist hier zentral, denn er weist darauf hin, dass Verletzbarkeit in menschliches Leben und soziales Geschehen eingebettet ist und damit zur Normalität und nicht zur Beson- derheit des Lebens gehört. Viele Verletzlichkeiten sind entwick- lungsbedingt programmiert, schon in der Kindheit, dann in der Pubertät und schließlich im Alter. Sie sind sozial programmiert in den Übergängen und Brüchen der Erwerbsbiografie und in den desintegrativen Tendenzen moderner Gesellschaften. Aber auch in den sozialen Hilfen lauert Verletzlichkeit, wenn wir an die Etikettierungen und Stigmatisierungen denken, die manche Fallgeschichten durchziehen. Vor diesem Hintergrund erhalten wir drei unterschiedlich gelagerte, aber aufeinander beziehbare ‚Schichten‘ im tiefen- psychischen Sockel der Bewältigungsperspektive, nämlich Ver- letzlichkeit, Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit, wobei Ver- letzlichkeit als Grundtatsache vor Hilflosigkeit und Handlungs- unfähigkeit steht. Das ist eine Grundhypothese, mit der sich der bewältigungspädagogische Zugang weiter vertiefen lässt. Schon mit der Annahme Hilflosigkeit ist viel erreicht. Wir erkennen blockierte Handlungsfähigkeit, Abspaltungszwang, können aber auch verdeckte Botschaften und Hilferufe vermuten. Dabei blei- ben wir aber in Distanz zu den KlientInnen. Wir versuchen sie aus einer professionellen Methodik heraus zu verstehen, sonst verbindet uns aber nichts mit ihnen. Mit der Verletzlichkeit ist es anders, geht es tiefer. Wenn wir nach dem biografischen Punkt fragen, an dem sie so verletzt wurden, dass ihr Leben die Rich- tung verändert hat, dann werden wir selbst an unsere eigenen Verletzungen erinnert. In diesem unbewussten Übertragungsakt sind wir mit den KlientInnen verbunden. Jetzt erst kann Empa- thie entstehen, vorher war es eine pädagogisch-programmatische Hülse in der Distanz. Ich bezeichne dies als endothymes dialogi- sches Verstehen im Band der Verletzlichkeit. Gerade weil die Qualität des Bewältigungsansatzes in seiner 35 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann psychodynamischen Ausgangsform darin besteht, dass mit ihm das Übergangene aufgedeckt werden kann, Botschaften erkenn- bar und hinter dem Verhalten Hilferufe gehört werden können, ist die vorgängige Annahme von Verletzlichkeit pädagogisch pro- duktiv. Sie bestimmt dann auch das Hilfeverständnis. Denn man kann nicht einfach aktivieren und empowern, bevor man nicht die Tragweite des Verletzt-Seins der Betroffenen erkannt hat. Daraus lassen sich dann auch die Projektionen und Abspaltungen besser verstehen. Wenn Verletzlichkeit ein zentrales Moment der conditio humana ist (vgl. Janssen 2018: 18 f.), dann kann sie eben nicht nur negativ, als Mangel oder Schwäche, verstanden werden, sondern genauso als humaner und sozialer Antrieb. In dieser Ambivalenz wird sie zur komplexen pädagogischen Herausforde- rung. Hilflosigkeit hingegen ist eher einlinig-negativ konnotiert, verweist nur auf Abhängigkeit. Verletzbarkeit geht tiefer, lässt ein Grundgefühl erkennen, einen Schmerz, in dem auch Sehnsucht nach Umkehr des Gefühls steckt. Hier sind wir wieder bei den Hilferufen, die in antisozialem Verhalten stecken können. Wenn wir in diesem Sinne die Erfahrung sozialer Unterdrückung und Benachteiligung als sozialen Schmerz begreifen, dann entwickelt sich nicht nur Mitgefühl, sondern auch Respekt gegenüber de- nen, die dem Leiden an der Gesellschaft besonders ausgesetzt sind. Daraus kann Solidarität auf der einen, Selbstwert auf der anderen Seite entstehen. Die Anerkennung von Verletzbarkeit als schmerzhaftem Ausdruck von Angewiesenheit kann Angewie- senheit sozial mobilisieren. Verletzbarkeit kann Schwäche als Offenheit bedeuten. Hilde- gard Keul gebraucht dafür ein anregendes Bild aus der Alltags- sprache: „Eine Schwäche für jemanden haben, das sagt man im Deutschen, wenn man eine besondere Zuneigung zu jemandem hat […]. Liebe, Zuneigung und Freundschaft sind ohne Verletz- lichkeit nicht zu haben. Denn man baut Barrieren ab, man öffnet sich und wird damit verletzlich“ (Keul 2021: 102). Zur diagnosti- schen Hypothese gewendet, bezweifelt diese Idee die Hermetik antisozialer und selbstdestruktiver Verhaltensmuster, nimmt ver- schüttete innere Möglichkeiten der Öffnung an, ermuntert zur hoffnungsvollen Zuwendung. 36 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann In der Geschichte der Sozialen Arbeit, im deutschsprachigen Raum, waren es die SozialpädagogInnen der Wiener Individual- psychologie der 1920er und 1930er Jahre, die Verletzlichkeit zum Ausgangspunkt von sozialpädagogischer Diagnose und Interven- tion gemacht haben. Sie sahen die Minderwertigkeitsgefühle pro- letarischer Jugendlicher und darin ihre Verletzbarkeit als Grund für die in diesem Milieu vorherrschenden autoritären Abspaltun- gen. Sie machten die sozial ungleichen Verhältnisse, welche gera- de bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zu einem Minderwertigkeits- und gestörten Gemeinschaftsgefühl führten, als Hintergrund für deren autoritäres Geltungsstreben aus, aber auch für ihre autoritäre Unterwerfung. In der Gemeinschafts- erziehung, der sozial produktiven pädagogischen Aktivierung der gegenseitigen Angewiesenheit, sahen sie das geeignete Mittel der Behandlung und Heilung autoritärer Charaktere (vgl. Böhnisch 2022 a). Da sich die Soziale Arbeit vornehmlich mit sozialer Verletz- lichkeit konfrontiert sieht, kommt es darauf an, diese in ihrem sozialen Kontext aber auch in ihrer personalen Ausformung zu bestimmen. Von Robert Castel (2000) können wir die Begriff- lichkeit „Zonen der Verwundbarkeit“ als gesellschaftlichen Kon- text potenzieller Verletzlichkeit übernehmen. Damit sind jene Be- reiche der Arbeitsgesellschaft der Zweiten Moderne gemeint, in denen prekäre Beschäftigungs- und sozial belastete und überfor- derte Familienverhältnisse vorherrschen, aber auch Grenzberei- che, in denen die Gefahr sozialen Abstiegs droht. Dass prekäre Arbeitsverhältnisse inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, wird öffentlich kaum thematisiert, eher abgespal- ten und in Zwischenwelten verdrängt. Zwar hat sich herumge- sprochen, dass das Normalarbeitsverhältnis längst nicht mehr die Regel ist. „Was den Neoliberalismus gegenwärtig auszeichnet, ist – entgegen noch immer weit verbreiteter Annahmen – dass die Prekären nicht mehr allein diejenigen sind, die an den gesellschaftlichen Rändern marginalisiert werden können. Durch den individualisierenden Um- bau des Sozialstaats, die Deregulierung des Arbeitsmarkts und die 37 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse befinden wir uns gegenwärtig in einem Prozess der Normalisierung von Prekarisie- rung“ (Leroy 2020: 33). Das ist aber ein Tabu, dessen Tücke daran liegt, dass sich so in der Zwischenwelt ein verstecktes Prekariatsregime aufbauen konn- te, das konträr zum sozialstaatlichen Wohlfahrtsregime steht. Das wird aber eher den betroffenen Menschen angelastet als den so- zialstaatlichen Instanzen. Schuld und Scham liegen deshalb bei den Betroffenen eng bei- einander und verhärten die Verletzlichkeit und Hilflosigkeit. Pa- thologische Scham ist Ausdruck des Verlusts der Würde. Dies wird durch Beschämung sozial forciert. Die soziale Blöße tritt hervor. Scham gilt als soziales Konstrukt, das mit Strukturen so- zialer Ungleichheit, vor allem mit Armut, korreliert (Becker 2011: 152). Dass Armutspolitik auch Beschämungspolitik ist, ist in Deutschland vor allem an den Hartz IV-Gesetzen diskutiert wor- den. Armut habe im Sozialstaat nicht nur eine disziplinierende, sondern auch eine machterhaltende Funktion, indem bei den Be- troffenen Ohnmacht und Hilflosigkeit und bei der Mehrheits- bevölkerung Selbstbestätigung und soziale Abgrenzung erzeugt wird. Damit wird die sozialstrukturelle Ausgangslage in die in- nerpsychischen Erschöpfungszonen des Selbstzweifels verscho- ben. „In einer Gesellschaft, in der sozialer Status – scheinbar oder tatsäch- lich – auf Eigenleistung basiert und zugleich als Anerkennungsres- source dient, wird niedriger sozialer Status […] als persönlicher Misserfolg gedeutet. Für ihren vermeintlichen Misserfolg werden die Betroffenen verantwortlich gemacht, die diese Sichtweise oftmals tei- len […] Gleichwohl bleibt Scham eine schwer darstellbare Emotion in einer von Erfolgs- und Leistungsprinzip geprägten Gesellschaft“ (Becker/Gulyas 2012: 88). Viele Menschen wehren sich dagegen bis zur Erschöpfung. Aus- gehend von diesem Bild kann der Begriff der ‚sozialen Erschöp- fung‘ Hilflosigkeit und Verletzbarkeit näher beschreiben. Soziale 38 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Erschöpfung ist ein Prozess, an dessen Ende sich psychosozialer Stillstand in der Vergeblichkeit ausbreitet. „Erschöpfung ist in ih- ren Konsequenzen das sichtbare Zeichen eingeschränkter Hand- lungsmöglichkeiten. Das Autonomieversprechen der Moderne verflüssigt sich für viele in einer Autonomieerwartung, die sie aufgrund eines verweigerten Zugangs zu Ressourcen und einer höheren Verwundbarkeit nicht wirklich einlösen können“ (Lutz 2017: 14). Soziale Erschöpfung, darin gesteigerte Verletzbarkeit sind auch hier wieder von Scham umgeben. Scham beschädigt nicht nur das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl der Be- troffenen, „sondern sie führt dazu, dass sich Menschen möglichst konform verhalten, mutlos agieren und kein eigenverantwort- liches, reflektiertes Verhalten mehr praktizieren“ (Neckel 1991: 95). Sie sind nicht mehr als Akteure erkennbar, resignative bis depressive Tendenzen nehmen zu. Es sind oft überforderte Men- schen. Überforderung als Kern von Depressionen finden wir in den inzwischen verbreiteten psychosozialen Erklärungsansätzen, die diese Überforderung aus den Irritationen sozialer Anforde- rungen ableiten: „Deutlich ist der Einfluss des gesellschaftlichen Umfeldes, vor allem auch, wenn es um Brüche in der Berufsbio- grafie geht. Gesellschaftliche Umbrüche, technologischer Wandel und Informationsüberflutung führen zu Gefühlen von Ohnmacht, Selbstzweifel und Sinnlosigkeit, zumal traditionelle, Halt gebende soziale Strukturen dem postmodernen Menschen verloren gegan- gen sind“ (Payk 2010: 58). Auch Alain Ehrenberg unterstreicht diesen gesellschaftlichen Bezug: „Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare“ (Ehrenberg 2004: 277). Die Betroffenen nehmen sich als hand- lungsunfähig wahr und spalten diese Hilflosigkeit nach innen ab. „Es ist nicht unmittelbar die individuelle materielle Not, die depres- siv macht, sondern das Gefühl des grundlegenden individuellen Ver- sagens und deshalb Nicht-Handeln-Könnens in einer Welt, die nach gesellschaftlich vorgegebener, aber auch individuell vielfach geteilter Sicht alle Möglichkeiten des Fortkommens bereithält“ (Summer 2008: 58). 39 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Durch viele der Abspaltungen und der damit verbundenen pre- kären Bewältigungslagen zieht sich die Unfähigkeit, innere Hilf- losigkeit zu thematisieren, auszusprechen. Diese Stummheit wird immer wieder in Beratungssituationen erlebt. Bei Männern, die unter Externalisierungszwang stehen, ist sie besonders ausge- prägt. Bei Frauen, die zwar wesentlich sprechoffener sind, ist die Sprache im Sorge- und Schuldzwang gefangen (s. u.). Das bedeu- tet nicht, dass die Betroffenen nicht in der Lage sind, über sich und ihre Befindlichkeit zu sprechen. Sie sind verstummt. Deshalb wähle ich den Begriff der Verstummung, weil er darauf hinweist, dass es in der Biografie dieser Klientinnen Erfahrungen gab, die sie verletzbar, hilflos und damit sozial stumm gemacht haben. Diese gilt es, erzählbar zumachen. 40 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann 4 Über die Notwendigkeit, Bewältigungsverhalten geschlechtsdifferent zu betrachten Bei Männern und Frauen finden wir in deutlicher empirischer Tendenz unterschiedliche Abspaltungsmuster. Das wurde schon in den einführenden Beispielen deutlich. Aber wie gesagt, es ist eine Tendenz. Männer und Frauen sind nicht so, sie neigen mehr- heitlich dazu. Letztlich zeigen das die Fall- und Deliktstatistiken. Gerade bei den KlientInnen der Sozialen Arbeit, die oft aus Mi- lieus sozialer Benachteiligung stammen, ist meist noch eine tradi- tionale und darin rigide Praxis im Umgang mit den Geschlech- terrollen anzutreffen. Dieser für die Soziale Arbeit wichtige Zusammenhang einer ‚sozial- und geschlechtstypischen‘ Haltung kann mit dem Begriff des Habitus erfasst werden. So wie der soziale Habitus allgemein auf die jeweilige soziale Herkunft des/der Betreffenden verweist, bezieht sich der Geschlechterhabitus auf das System der ge- schlechtshierarchischen Arbeitsteilung, in dem (weiblich konno- tierte) Beziehungsarbeit immer noch geringer bewertet wird als (männlich konnotierte) Erwerbsarbeit. Dieses System wird in den alltäglichen Interaktionen zwischen Männern und Frauen, Män- nern und Männern symbolisch reproduziert. Frauen nehmen sich eher in der öffentlichen Sphäre gegenüber den Männern zu- rück, Männer bringen ein entsprechendes Überlegenheitsgefühl von der frühen Kindheit an „mit“. Der männliche Habitus ist da- nach also an ein gesellschaftlich und kulturell tradiertes männ- liches Dominanz-Streben (vgl. dazu Meuser 2010) – und an die damit verbundene Wirkmächtigkeit einer „patriarchalen Divi- dende“ (Connell 1987) geknüpft. Mit letzterem Begriff ist die al- len Männern gleichsam kulturgenetisch eingeschriebene, in der Entwicklungsdynamik des Kindes- und Jugendalters immer wie- der aktivierte und einstellungswirksame Grunddisposition ge- meint, dass der Mann „im Grunde“ doch der Frau überlegen sei, 41 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann egal ob das der Überprüfung durch die soziale Wirklichkeit auch standhält. Die Erfahrungen in der Beratungspraxis (vgl. Neu- mann/Süfke 2004) zeigen, dass diese männliche Dividende in kritischen Lebenssituationen quer durch alle Schichten aktiviert wird. Gleichzeitig wird aber auch sichtbar, dass es von den sozia- len Spielräumen der jeweiligen Lebenslage abhängt, ob Männer darauf „angewiesen“ sind, diese männliche Dividende zu aktivie- ren. Ähnlich verhält es sich mit dem weiblichen Habitus. Das „Sich-Zurücknehmen“, das als typisch für den weiblichen Habi- tus gilt, ist zwar kulturgenetisch tradiert und in die Geschichte der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung eingeschrieben, va- riiert aber wiederum mit den Spielräumen der Lebenslage. Diese haben sich für viele Frauen im Zeichen der Bildungsmobilisie- rung, der sozialpolitischen Anerkennung der Vereinbarkeit zwi- schen Familie und Beruf und der sozialstaatlichen Gleichstel- lungspolitik wesentlich erweitert. Gleichzeitig haben sich auch die körperlichen Repräsentationen von Männlichkeit und Weib- lichkeit pluralisiert. Das Konzept des Geschlechterhabitus muss also immer auf die Lebenslage (vgl. Kap. 10) rückbezogen wer- den, das auf die gesellschaftlichen Strukturen in ihren Verände- rungen verweist. Es erscheint vor diesem Hintergrund sinnvoll, nicht länger von einem eindeutigen männlichen oder weiblichen Habitus zu sprechen. Vielmehr sollten Männlichkeit und Weib- lichkeit als Bewältigungsmuster im Streben nach biografischer Handlungsfähigkeit betrachtet werden, die aktiviert werden, wenn es Druck und Dynamik der Lebenslagenkonstellation „er- fordern“. Nun ist man auch im Jugendhilfe-Diskurs immer wieder und bis heute skeptisch, wenn die Kategorie Geschlecht so herausge- strichen wird. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist die Argumen- tation des 11. Kinder- und Jugendberichts (1998). Dort wird zu Recht festgestellt, dass z. B. soziale Schicht und Bildung erheblich die Art und Weise des Geschlechterverhaltens beeinflussen, „während mit der geschlechtstypischen Brille Dramatisierungen vorgenommen werden und gezielt auf die Kategorie Geschlecht aufmerksam gemacht wird“. Mit der 42 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann „Entdramatisierung kommen auch andere Kategorien ins Blickfeld (Alter, Nationalität, Schicht etc.), die der Pluralität von Geschlechts- typen Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund könne man dann erneut fragen, wann, wie, wo und warum Geschlecht zum dominan- ten Kriterium sozialer Differenzierung wird“ (ebd.: 108). Hier sind die Gebote der Diversität und der Intersektionalität an- gesprochen, d. h. die Notwendigkeit, neben dem Geschlecht auch soziale Herkunft, ethnische Zugehörigkeit, Alter oder Wohn- quartier in ihrer Differenzierungskraft wie in ihrem Zusammen- wirken zu berücksichtigen. Das ist richtig, man muss aber dabei aufpassen, dass man damit die Besonderheit der Kategorie Ge- schlecht gegenüber den anderen Kategorien nicht verwischt. Denn – das zeigen zahlreiche Befunde (z. B. zu Männlichkeit und abweichendem Verhalten von Jungen und Männern bis hin zu häuslicher Gewalt oder zu Weiblichkeit und Überforderung von Frauen in der Familie) – die Kategorie Geschlecht tritt dann – quer durch alle Schichten und Ethnien – dominant hervor, wenn es um die Bewältigung kritischer Lebenssituationen geht. Und darum geht es ja in der Sozialen Arbeit. Keine soziale Kate- gorie entfaltet und vermittelt sich in so vielen Dimensionen – leibseelische, psychosoziale, sozial-interaktive und gesellschafts- strukturelle – wie das Geschlecht. Dass sich hinter „geschlechts- typischen“ Bewältigungsmustern vor allem auch soziale, kulturel- le oder/und ethnische Benachteiligungen verbergen, wird dabei nicht außer Acht gelassen. In diesem Buch gibt es immer wieder Beispiele, mit denen gezeigt wird, wie geschlechtstypische Muster sozial und auch ethnisch freigesetzt werden. Die Gültigkeit der folgenden Typologie geschlechtsdifferenter Bewältigungsmuster ist uns durch Rückmeldungen aus der Praxis immer wieder bestätigt worden. So wird z. B. im männerthera- peutischen Klassiker „Den Mann zur Sprache bringen“ (Neu- mann/Süfke 2004: 24 ff., 68 ff.) ausdrücklich auf die von uns (vgl. Böhnisch/Winter 1997) entwickelten Muster männlicher Lebens- bewältigung zurückgegriffen: 43 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann „Zudem erklären Böhnisch und Winter nicht nur, wie und warum die kontinuierliche Entfernung von den eigenen Impulsen während der Kindheit und Jugend zustande kommt, sondern sie geben uns auch direkte Hinweise auf die Strategien, mit denen dieser Zustand der Gefühlsferne im Erwachsenenalter aufrechterhalten wird. […]. Diese ‚Strategien der Bewältigung des Mann-Seins‘ sind natürlich für unser Anliegen, Anregungen für die therapeutische Arbeit mit Män- nern zu geben, von zentraler Bedeutung, denn – kurz gesagt – sind es genau diese gefühls- und bedürfnisfeindlichen Strategien, die wir im therapeutischen Prozess verändern können und müssen“ (Neu- mann/Süfke 2004: 24). Männer Es wurde bereits dargestellt, dass vieles an antisozialem und sozial destruktivem männlichen Bewältigungsverhalten in Krisensitua- tionen nach außen abgespaltene und in Unterdrückung Schwä- cherer umgewandelte innere Hilflosigkeit ist. Da in unserer Ge- sellschaft Hilflosigkeit nicht als positives soziales und kulturelles Gut anerkannt ist, vielmehr als Schwäche gilt, als soziale Impo- tenz, ist sie in einer männlich dominierten Gesellschaft ein Tabu. Es gibt kaum Räume, in denen Männer ihre Hilflosigkeit ausdrü- cken können. Alles muss erklärt, rationalisiert werden können. Wenn – wie bei kritischen Lebensereignissen – die Außenwelt zusammenbricht, bisherige soziale Beziehungen nicht mehr greif- bar sind, wird die Unfähigkeit, der Mangel im Umgang mit ihrer eigenen Hilflosigkeit, sie sich einzugestehen und auszudrücken, für viele Männer zum psychosozialen Bumerang. Nicht umsonst sind Männer gewaltgefährdeter, wenn sie dazu getrieben werden, ihre Hilflosigkeit außen zu bekämpfen, indem sie sie auf andere, Schwächere projizieren. Viele Männer sind in einer riskanten Zwangslage und spüren dies. Auf der einen Seite nimmt die Intensivierung der Arbeit zu, werden sie noch mehr nach außen getrieben, gleichzeitig bietet die Arbeit nicht mehr die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der das Mann-Sein bei den meisten bisher im Außen aufge- 44 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann hen konnte. Das Gespenst des rollenlosen Mannes geht in der Männerwelt genauso um wie der damit verbundene Drang, sich wenigstens als maskulin zu inszenieren, wenn schon die männ- liche Dominanz, die patriarchale Dividende, nicht mehr arbeits- gesellschaftlich abgesichert ist. Nun rächt sich oft, dass Männer über Generationen hinweg keine Erfahrungen mit dem Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben, keine alternati- ven Rollenvorgaben, an denen sie sich neben und außerhalb der Arbeit sozial orientieren könnten. Dieses Nach-außen-gedrängt-Sein, Nicht-innehalten-Können, das wir als Externalisierung bezeichnen, kann dazu führen, dass Männer es schwer haben, Empathie zu zeigen, d. h., sich in die Gefühle anderer hineinversetzen zu können. Der Mangel an Em- pathie stärkt natürlich das Konkurrenzverhalten, das von Män- nern traditionell in der Arbeitswelt erwartet wird, und schwächt die Sensibilität für Fürsorglichkeit. Männer mögen es nicht so sehr, wenn jemand Probleme hat, sie wollen, dass es oder er funk- tioniert. Wenn Männer arbeitslos werden, dann fühlen sie sich vor allem deswegen entwertet, weil sie die Angst überfällt, dass sie nicht mehr funktionieren und dass sie nun überhaupt nichts mehr wert sind. Deshalb ist es auch so wichtig, z. B. bei Wieder- eingliederungsprojekten mit langzeitarbeitslosen Männern, dar- auf zu achten, dass sie Gelegenheiten bekommen, zu zeigen, dass sie auch Fähigkeiten und Kompetenzen außerhalb der Arbeit – im kulturellen und sozialen Bereich – haben und dass sie diese Fähigkeiten entwickeln können. Die Orientierung am Funktionieren-Müssen durchzieht alle männlichen Lebensbereiche. Auffällig und problematisch ist hier der Bereich der männlichen Sexualität. Auffällig, weil die Porno- industrie, aber auch die Medien den sexuell potenten, den funk- tionierenden Mann in einer Art und Weise kreiert haben, dass Jungen und Männer – zumindest wenn sie unter sich sind – die- sem Maßstab überhaupt nicht mehr entgehen können. Gerade weil die Suche nach männlicher Geschlechteridentität im Jugend- alter tiefenstrukturell durch Idolisierung des Männlichen und Abwertung des Weiblichen gekennzeichnet ist (vgl. Böhnisch 2013) und dieses Muster in der Pornoindustrie nicht nur repro- 45 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann duziert wird, sondern in den mechanischen Rahmen des Funk- tionierens gestellt wird, eignet es sich als Verständigungsmuster über männliche Sexualität. Schon in den Jungencliquen wird da- mit geprotzt, dass es wieder und wie oft es funktioniert hat, und keiner wird es wagen, zuzugeben, dass es bei ihm nicht funktio- niert. Hier fangen die Probleme für viele Jungen schon an: In einer pornografisierten Welt, in der Männern vorgegaukelt wird, sie könnten so viel Sex haben, wie sie wollen, wenn sie nur funk- tionieren, scheint es für Jungen, die Probleme mit ihrer Sexualität haben, sozial tödlich zu sein, dies gegenüber anderen zuzugeben. Das Gefühle-zurückhalten-Müssen, der fehlende Selbstbezug und der Zwang, sich und andere unter Kontrolle zu haben, füh- ren oft dazu, dass Männer eigenartig stumm sich selbst gegen- über sind. Mit dieser männlichen Eigenart, der Stummheit, ist nicht gemeint, dass Männer nicht reden. Sie reden viel und wie- derholt, ritualisiert, über alles Mögliche – Autos, Wetten, Tech- nik, Frauen, Fußball, Chefs, abwesende Konkurrenten etc. –, kaum über sich selbst. Über was soll man(n) auch von sich reden, wenn der Kontakt zu sich selbst fehlt? Männer verstehen sich auch ohne Worte, sie funktionieren ja in einer externalisierten Rationalität. Viele ‚moderne‘ Männer – vor allem aus der Mittelschicht – haben Alltagsstrategien entwickelt, um ihre Maskulinität ‚auszu- balancieren‘: sich da zurückzunehmen, wo es inzwischen in einer Kultur der Gleichberechtigung der Geschlechter verlangt wird, um Maskulinität dort wieder hervorkehren zu können, wo Män- ner ‚unter sich‘ sind. Ich habe dies als „modularisierte Männlich- keit“ bezeichnet (vgl. Böhnisch 2018a). Kritische Lebensereig- nisse aber – wie z. B. Überforderungen in Beruf und Beziehung, Arbeitslosigkeit, Verlust der Partnerin, Berufsunfähigkeit, Alters- übergang, Sucht – erzeugen Stresszustände, in denen traditionel- les männliches Bewältigungsverhalten dann doch wieder freige- setzt wird und nach der oben gezeichneten externalisierten Logik abläuft. Ein ähnliches Bewältigungsdilemma verspüren aber auch Männer in mittleren Jahren, wenn sie eine kritische Phase oder Brüche in ihrer Lebens- und Arbeitsbiografie erleben, und vor al- lem junge Männer, die als junge Erwachsene unter sozialem Sta- 46 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann tusdruck stehen, aber keinen Zugang zur Arbeitswelt und selbst- ständiger Lebensführung finden. Gerade junge Männer können schwer diese Hilflosigkeit aushalten, sie haben Angst vor dieser Hilflosigkeit und versuchen, sie wegzudrücken. Wir können am Muster der männlichen Sozialisation sehen, wie es männlichen Jugendlichen seit ihrer Kindheit verwehrt ist, zu sich und den ei- genen Ängsten und Gefühlen zu kommen, und wie sie in ihren Empfindungen und Verhaltensweisen immer mehr nach außen gedrängt werden (vgl. Böhnisch 2013). Die Soziale Arbeit hat es meist mit männlichen Klienten zu tun, die traditionellen Ge- schlechterbildern verhaftet sind und unter dem Zwang externali- sierter maskuliner Bewältigungsmuster stehen. In der Jungen- arbeit und in der Männerberatung sind deshalb Projekte ent- wickelt worden, in denen den Jungen und Männern die Chance geboten wird, ohne soziale Angst zu sich selbst zu kommen und vermeintliche ‚Schwächen‘ als soziale Stärken erfahren zu kön- nen. Frauen (mit Heide Funk) Sozialarbeiterinnen berichten immer wieder von der „Konfliktfal- le“, in die Frauen geraten. Da Frauen mehr in Beziehungen den- ken, suchen sie Konflikte und Mängel auch eher im Beziehungs- bereich und geraten damit zwangsläufig in den Sog, die Fehler erst dort und dann bei sich zu suchen. In Konfliktsituationen sind sie oft verunsichert, welche Ansprüche sie für sich und an Umgangsregeln stellen sollen, da sie sich gleich den Kopf über die Probleme anderer mit zerbrechen. Hier zeigt sich ein Grundmus- ter weiblichen Bewältigungsverhaltens in Konflikt- und Krisen- situationen: Frauen tendieren dazu, das Problem erst nach innen zu nehmen und zu bearbeiten und es dann erst wieder nach au- ßen zu geben, anstatt einen Punkt zu setzen und die Grenzen gleich nach außen zu signalisieren. So nehmen sie den Konflikt in sich hinein und bringen sich damit wieder um ihre Eigenständig- keit im offenen Konfliktaustausch anderen gegenüber, sie ma- 47 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann chen es von Anfang an zu ihrem Konflikt, schieben sich nicht selten die Schuld zu. In diesem innengerichteten Bewältigungsmodell haben es Mädchen und Frauen auch schwer, mit ihrer Aggressivität – als Selbstbehauptung gegenüber der sozialen Umwelt – umzugehen. Frauen rasten oft erst aus, wenn sie nicht mehr können, gehen erst dann in den Konflikt, wenn das Maß überschritten ist. Wenn dann Aggressivität ausbricht, werden ihre Reaktionen eher als „Kontrollverlust“ interpretiert. So wird ihnen das aggressive Ver- halten dann als anormal („die spinnt“), pathologisch („die ist ja hysterisch“) oder als sozial destruierend zurückgespiegelt: „Wie kannst du hier diesen Staub aufwirbeln, du machst uns damit al- les kaputt“. An diesem Konfliktdilemma wird deutlich, wie weib- liches Bewältigungsverhalten rückgebunden ist an ein kulturelles Bild, das die sozialen Erwartungen steuert, und daran, wie dieses Bild übernommen wird und psychodynamisch wirkt. Dass sich Frauen selbst disziplinieren und reduzieren, dass sie die Schuld bei sich suchen, Aggressionen eher gegen sich selbst wenden und ihre Probleme mit Befindlichkeitsstörungen verbinden und sich deshalb meist nur über Krankheitssymptome nach außen wenden können, kann also aus diesem Modell des innengeleiteten Kon- flikts erklärt werden. Viele kritische und belastende Lebenssitua- tionen bei Frauen lassen sich in der Erkenntnis aufschließen, dass sie zu spät in den Konflikt gegangen sind. Um ein Extrembeispiel zu nennen: Nicht wenige Frauen, die wegen Totschlags in der Partnerbeziehung eine Gefängnisstrafe verbüßen, sind deshalb in ihre Taten getrieben worden, weil sie zu spät den Konflikt ge- sucht haben. Dazu gibt es einen von dem Filmschauspieler Humphrey Bogart kolportierten makabren Spruch: „Eine Frau drückt hundertmal beide Augen zu, das letzte Mal aber nur eines“ (um zu zielen). Vor diesem Hintergrund ist es Hauptaufgabe der Sozialarbei- terin oder des Sozialarbeiters, in entsprechenden helfenden Be- ziehungen Frauen darin zu bestärken, dass sie Normen nach au- ßen setzen, Grenzen früh aufzeigen und damit auf ihre persönli- che Integrität und Selbstständigkeit achten. Dazu gehören aber auch – und vor allem – der Wille und die Kraft zur Veränderung, 48 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann mit dem sich Mädchen oder Frauen selbst nach außen wenden müssen: „Du willst für dich etwas ändern“. Damit ist natürlich das Risiko verbunden, dass sie gleich in Konflikt geraten oder scheitern und – da sie ja doch vor allem in Beziehungen denken – Verlustängste auftreten. Deshalb brauchen sie Rückhalt, um die Erfahrung machen zu können, dass sie für ihre Konfliktbereit- schaft und im Konfliktgeschehen nicht fallen gelassen werden. Dem Prinzip der männlichen Externalisierung entspricht also im Bewältigungsspektrum vieler Frauen das Prinzip Innen. Diese Innenorientierung werde allerdings von der Außenwelt – in der Kindheit und Jugend auch von manchen Eltern – als minderwer- tig gegenüber der Außenorientierung der Jungen und Männer empfunden. Mädchen und Frauen werden Schwäche, Trauer und das Bedürfnis nach Geborgenheit eher zugestanden als Jungen und Männern, sie werden aber nicht zu den Stärken von Mäd- chen und Frauen gerechnet, die man fördern soll, sondern eher zu den Eigenheiten, die sie haben und die man den Männern nicht unbedingt zumuten sollte. Angesichts der mangelnden An- erkennung dieser Fähigkeiten von außen versuchen Mädchen und Frauen in der Regel auch nicht, sich nach außen zu artikulie- ren, sondern fressen vieles in sich hinein und empfinden es als selbstverständlich, dass sie ihre Lebensschwierigkeiten bei sich behalten, in einer Symptomatik der Verschwiegenheit verbergen. SozialarbeiterInnen müssen deshalb einen Blick dafür entwickeln können, was Mädchen und Frauen mit sich herumtragen, und es stellvertretend deuten können. In der sozialpädagogischen Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen sind deshalb weibliche Persön- lichkeiten als Gewährsfrauen gefragt; Frauen, die Mädchen und junge Frauen ermuntern und ihnen vorleben können, dass man seine Lebensschwierigkeiten nach außen tragen kann. Dabei gilt es, tradierte Muster aufzulösen, die Frauen auf die ihnen zuge- schriebenen fürsorgerischen und empathischen Fähigkeiten fest- legen. Sie sollten sich vielmehr in ihrem Eigensinn und ihrer Dif- ferenz selbst thematisieren können, die Angst verlieren, sich ohne männliche Rückendeckung öffentlich zu bewegen, und nicht im- mer versuchen – von der Familie bis in den Beruf hinein –, ihre Autorität von der männlichen abzuleiten. 49 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann Über die Schwierigkeiten, in der Sozialen Arbeit geschlechtssensibel zu arbeiten Die Soziale Arbeit in der Familien- und Lebensberatung hat also nicht nur mit der Stummheit der Männer, sondern auch mit der Symptomatik der Verschwiegenheit bei den Frauen zu kämpfen. Deshalb müssen SozialarbeiterInnen einen Blick für das Sprech- und das Ausdrucksverhalten der betroffenen Männer und Frauen entwickeln können, um ihnen – gebunden an eine konkrete Ein- zelsituation – ihren Zustand gleichsam „auf den Kopf zusagen“ zu können. So können sie eine Situation schaffen, in der Abwehr- verhalten zurückgedrängt und zunehmend die eigene Befindlich- keit offengelegt werden kann. SozialarbeiterInnen berichten, dass sich damit schon zu Beginn der Beratung ein Gefühl der Erleich- terung bei den KlientInnen einstellen kann. Nun darf diese wegen der Systematik vielleicht doch etwas zu sehr ins Duale geratene Typologie nicht den Eindruck aufkom- men lassen, Männer „besäßen“ vorwiegend externalisierte und Frauen „hätten“ nur nach innen gerichtete Fähigkeiten. Schon das geschlechtstypische Sozialisationsmodell im Kindes- und Ju- gendalter (vgl. Böhnisch 2013) zeigt, dass es Mädchen und Jun- gen unterschiedlich verwehrt wird, Außen- und Innenkompeten- zen zu entfalten, aber auch und vor allem mit beiden Seiten offen und anerkennend wahrgenommen zu werden. Die Geschlechter- dualität konstituiert sich also nicht aus einem Kompetenz-, son- dern aus einem Dominanzproblem: Die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung als unterschiedliche Bewertung „männlicher“ Er- werbs- und „weiblicher“ Familienarbeit gibt vor, was sich in den verschiedenen Lebensbereichen durchsetzt, und selektiert gleich- zeitig die Zugänge und Gratifikationen für Männer und Frauen. Auch wenn in den lebensweltlichen Bereichen Männer und Frau- en sich längst aufeinander zubewegen und sich im Alltäglichen Selbstverständlichkeiten der gegenseitigen Anerkennung und Ver- ständigung schaffen, ist damit dieser tiefer liegende Geschlech- tergegensatz nicht außer Kraft gesetzt. Gerade in Krisensituatio- nen kann er immer wieder aufbrechen, wenn kommunikative und diskursive Lösungen nicht mehr gelingen: in der Arbeits- 50 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann losigkeit, bei konflikthaften Scheidungen, in überforderten Fami- lienkonstellationen, aber auch in alltäglich verschärften Konkur- renz- und Stresssituationen. Uns geht es also in der Sozialen Arbeit nicht darum, die Geschlechterdualität zu verstärken, son- dern zu erkennen, dass in psychosozialen Krisensituationen, dort, wo kommunikative Verständigungsmuster versagen, männliche und weibliche Bewältigungsprinzipien hervortreten. Man muss dabei nicht Feministin oder männerbewegt sein, um geschlechts- bezogen arbeiten zu können. Es geht aber schließlich darum, der zentralen Bedeutung des Geschlechts für den sozialpädagogisch- therapeutischen Zugang zu Betroffenheit gerecht zu werden. Wer trotzdem meint, „geschlechtsneutral“ arbeiten zu können, arbei- tet meines Erachtens unprofessionell. Allerdings ist eine geschlechtssensible und darin auch ge- schlechtsdifferente Orientierung dadurch erschwert, dass bis heu- te die Familie im Mittelpunkt der Jugendhilfe steht, eine Institu- tion, die hartnäckig als Ganzes gesehen und hochgehalten wird. Dabei ist es nicht nur das Elternrecht, das den Primat der Familie in den Vordergrund spielt, sondern vor allem auch die gesell- schaftlich hohe Wertigkeit der Familie, welche der Jugendhilfe ihre Familienzentrierung vorgibt. Alles, was sich außerhalb der Familie – in der Jugendhilfe selbst – abspielt, gilt daher als „fami- lienersetzend“. Eigene, von der Jugendhilfe generierte Erzie- hungsdefinitionen fehlen eigentlich bis heute, obwohl doch die Jugendhilfe im Verlauf ihrer „fremdplatzierenden“ Maßnahmen vielen Kindern und Jugendlichen den Aufbau eigener Biografien außerhalb der Familie ermöglicht. Man kann sich in diesem Zu- sammenhang des Eindrucks nicht erwehren, dass die Familien- zentrierung der Jugendhilfe einer besonderen Resistenz unter- liegt. Wir kennen aus der Familiensoziologie die Hypothese, dass man sich – privat und öffentlich – umso stärker an die Familie klammert, je mehr sie in ihrem inneren Zusammenhalt gefährdet ist. Die Jugendhilfe hat es ja oft mit desorganisierten Familien zu tun, und somit stehen diese besonders unter dem öffentlichen Druck, die Familie erst recht hochzuhalten. Unter diesem Zwang, die Familie als Ganzes zu sehen, treten in den Familien die tradi- tionellen Familienrollen zwangsläufig wieder stärker in den Vor- 51 Lizenziert für Helen Melike Hiddemann dergrund und verdecken, dass gerade die Familie sowohl in ih- rem Zusammenhalt als auch in ihrer Beziehungsfunktion einer geschlechtstypischen Dynamik unterliegt. Denn über die Familie wird die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung reproduziert, und hier entscheidet sich auch im Alltag, inwieweit sich Männer und Frauen gegenüber den traditionellen Geschlechterrollen emanzi- pieren können. Die Klientel der Sozialen Arbeit kommt oft aus sozial prekä- ren Lebenslagen, befindet sich in kritischen Lebenskonstellatio- nen, in denen die sozialen und kulturellen Ressourcen der Ord- nung und Orientierung im Alltag schwach oder weggebrochen sind und in denen man nach dem greift, was man vermeintlich noch hat, was einem nicht genommen werden kann. Der Griff nach der tradierten Geschlechterrolle schafft in diesem Bewälti- gungszusammenhang Orientierungs- und Verhaltenssicherheit und erscheint damit als selbstverständlich. Soziale Orientierung und leibseelische Befindlichkeit werden wieder eins. Der Kern ei- ner geschlechtsreflektierenden Sozialen Arbeit besteht nun gera- de darin, diese bewältigungsbezogene Orientierung an tradierten Geschlechterrollen aufzubrechen, das Klammern an sie vorsichtig zu lösen. Denn es ist abzusehen, dass sich dadurch die Lage der betroffenen Männer und Frauen mittel- und langfristig ver- schlechtern wird, wenn die Männer nicht zu sich kommen und die Frauen nicht aus sich heraus. Für die Betroffenen zählt aber der spürbare, kurzfristige Bewältigungserfolg, wenn sie sich an traditionelle Männlichkeit und Weiblichkeit klammern. Sie füh- len sich darin umso mehr bestärkt, wenn ihre soziale Umgebung insgesamt – wie das in sozial benachteiligten Milieus oft der Fall ist – an traditionelle Männer- und Frauenrollen als Orientie- rungs-, Ordnungs- und Interaktionskategorien gewöhnt ist. Aus alldem kann man nun den professionellen Schluss zie- hen, dass geschlechtsreflektierende Arbeit zwei Dimensionen ha- ben muss: Zum einen gilt es zu verstehen und in diesem Sinne zu akzeptieren, dass und wie eine