Klinische Psychologie 1 PDF Vorlesung 1
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Hochschule Niederrhein
Prof. Dr. Dieter Wälte
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This document is a lecture on Introduction to Clinical Psychology. It's part of modules related to social work, pedagogical psychology, and childhood pedagogy. The lecture is focused on clinical psychology aspects of dealing with individuals. It introduces clinical psychology as a field of psychology dealing with mental issues and disorders.
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Modul 2.2 (Soziale Arbeit) Modul 3.2 (Kulturpädagogik) WS 2024/25 Modul 9.2 (Kindheitspädagogik) Teil 1: Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens Teil 2: Abweichendes und belastendes Erleben und Verhalten...
Modul 2.2 (Soziale Arbeit) Modul 3.2 (Kulturpädagogik) WS 2024/25 Modul 9.2 (Kindheitspädagogik) Teil 1: Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens Teil 2: Abweichendes und belastendes Erleben und Verhalten Vorlesung 1: Einführung in die Klinische Psychologie Prof. Dr. Dieter Wälte Diese Vorlesung ist ausschließt für Studierende konzipiert, die am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein für Modul 2.2 (Soziale Arbeit), Modul 3.2 (Kulturpädagogik) oder Modul 9.2 (Kindheitspädagogik) eingeschrieben sind. Eine weitere Veröffentlichung, auch in Auszügen, ist untersagt. 1 Wälte, D. Prof. Dr. habil. Dieter Wälte Prof. Dr. habil. Dieter Wälte, Diplom.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut. Professur für "Klinische Psychologie und Persönlichkeitspsychologie" am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach. Seit 1998 Supervisior, Selbsterfahrungsleiter und Dozent in der Verhaltenstherapie bei der AVT. Akkreditierter Supervisor bei der Psychotherapeutenkammer NRW. Von 1991 bis 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Klinikum Aachen, dort von 1998-2006 Ltd. Psychologe in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2006 Professur für "Klinische Psychologie und Persönlichkeitspsychologie" am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein (Mönchengladbach). Seit 2007 Leiter der Psychosozialen Beratungsstellung an der Hochschule Niederrhein. Spezielle Lehrgebiete in der Verhaltenstherapie: Somatoforme Störungen, Kognitive Umstrukturierung, Komorbidität, neuropsychologische und neurobiologische Grundlagen der VT. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Psychotherapie, Beratung, Diagnostik, Eingliederungshilfe. Zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie, Familientherapie, Jugendhilfe und Psychiatrie. Lehrpreis am Psychologischen Institut der WWU Münster 2005 im Rahmen der Habilitation und zwei Lehrpreise an der Hochschule Niederrhein für besondere Leistungen in der Lehre 2007 und 2019. Seit 2007 Supervisior in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im UKA Aachen. 2 Wälte, D. Im folgenden möchte ich Sie gerne an meinem Erfahrungsschatz teilhaben lassen und aus meinem Fachgebiet das heraussuchen, was Sie für Ihren Beruf in der Sozialen Arbeit, Kindheitspädagogik oder Kulturpädagogik gewinnbringend einsetzen können. Dabei orientiere ich mich ganz stark an Fragestellungen aus der Praxis, die ich in den Vorlesungen gerne beantworten möchte. Viele dieser Fragen habe ich Laufe meines Lebens intensiv mit meiner Frau diskutiert, die mir als Sozialarbeiterin viele wertvolle fachliche Impulse gegeben hat. Ich finde, Fachkräfte aus dem Sozialwesen und Psychologen ergänzen sich in einem Team hervorragend und können gemeinsam bei Klienten viel erreichen. Sozialwesen Klinische Psychologie Eins „starkes“ Paar !? 3 Wälte, D. Welche Fragen stellen sich Fachkräfte aus dem Bereich des Sozialwesens in der Praxis? 4 Wälte, D. Leitfragen aus der Praxis Leitfragen aus der Praxis Antworten aus der Klinischen Psychologie * (*genaue Angaben finden Sie in den nächsten Vorlesungen zu den einzelnen Störungen) Wie erkennt man eine psychische Diagnostik, Klassifikation Störung? Welche psychischen Störungen Epidemiologie treten am häufigsten auf? Welche Bedingungen und Ursachen Ätiologie führen zu einer psychischen Störung? Wie behandelt man eine psychische Therapie, Beratung Störung? Ich hoffe, dass ich Sie schon etwas neugierig gemacht habe. Bis zum Ende des Wintersemesters sollen Sie einen Einblick darin bekommen, wie man eine psychische Störung erkennt, wie häufig sie auftritt, wie sie entsteht und wie man sie schließlich behandelt. 5 Wälte, D. Schwerpunkte Bei der Auswahl der Vorlesungsinhalte waren mir diese Aspekte wichtig. Welche Störungen kommen in der Praxis besonders häufig vor? Was müssen Fachkräfte im Sozialwesen unbedingt wissen, um ihre Klientel erfolgreich beraten zu können? In der nun folgenden Definition wird deutlich, dass Klinische Psychologie genau auf diese Leitfragen der Praxis und auf diese Schwerpunkte zugeschnitten ist. 6 Wälte, D. Definition der Klinischen Psychologie „Klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen/ Krankheiten befasst. Dazu gehören u.a. die Themen Ätiologie/Bedingungsanalyse, Klassifikation, Diagnostik, Epidemiologie, Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation).“ Baumann & Perrez 1998, 4 Mit dieser Definition wird auch deutlich, dass Klinische Psychologie nicht auf die Tätigkeiten eines Psychologen in einer Klinik reduziert werden kann, da viele Klinische Psychologen als Psychologische Psychotherapeuten außerhalb von Krankenhäusern (z. B. in einer ambulanten psychotherapeutischen Praxis oder Beratungsstelle) arbeiten. Klinische Psychologie befasst sich jedoch im wesentlichen Kern mit der Klärung (Diagnostik) und Bewältigung (Psychotherapie) psychischer Störungen bei einzelnen Personen oder bei Störungen im System (Paar, Familie, Gruppe) auf dem Boden einer tragfähigen professionellen therapeutischen Beziehung. Klären und Bewältigen wurden dabei in der Psychotherapieforschung als die beiden wichtigsten Wirkmechanismen identifiziert (Grawe 1998). Das soll in der nächsten Tabelle zusammengefasst werden: 7 Wälte, D. Klinische Psychologie Veränderung psychischer Störungen Wirkmechanismen Systemebene Arbeit mit Einzelnen Arbeit im System (insbesondere Gruppe und Familie) Klären -Diagnostisches -Diagnostisches Einzelgespräch Gruppengespräch -Verhaltensanalyse (z.B. Familiengespräch) -Ätiologie, intraindividuell -Systemische Diagnostik -Ätiologie, systemisch Bewältigen -Verhaltenstherapie -Systemische Intervention -tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie -Gesprächspsychotherapie Tragfähige professionelle Beziehung 8 Wälte, D. Systemebenen der Klärung und Bewältigung Wie aus der Tabelle zu entnehmen ist, kann die Klärung und Bewältigung psychischer Störungen sich auf zwei Systemebenen abspielen: Intrapsychisch (Arbeit mit Einzelnen): Im Mittelpunkt steht hier die Diagnostik und Psychotherapie mit einer einzelnen Person. Interindividuell (Arbeit im System): Hier geht es um Diagnostik und psychotherapeutische Arbeit mit Paaren (Paartherapie), Familien (Familientherapie) oder Gruppen (Gruppentherapie) In bestimmten Arbeitsbereichen (z.B. stationäre Psychotherapie) kann es vorkommen, dass sich die Arbeit mit Einzelnen (Einzelpsychotherapie) und Psychotherapie in der Gruppe (Gruppenpsychotherapie) abwechseln. 9 Wälte, D. Bedeutung der Klinischen Psychologie für das Sozialwesen Der Aufgabenbereich im Sozialwesen (Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik und Kulturpädagogik) weist eine Reihe von Überschneidungen mit den Aufgaben der Klinischen Psychologie auf, in beiden Disziplinen geht es um einzelne Klienten und Systeme sowie um Klärung und Bewältigung. Zudem trifft besonders die Soziale Arbeit auf eine Klientel, die häufig unter einer psychischen Störung leidet. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Sozialen Arbeit bei Klienten mit psychischen Störungen stärker auf Beratung und Unterstützung, während Klinische Psychologie den Fokus auf klinische Diagnostik und Psychotherapie richtet. Aufgrund der erheblichen Schnittmenge zwischen den Fächern im Sozialwesen und Klinischer Psychologie ist Klinische Psychologie deshalb eine „Hilfswissenschaft“ für Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik und Kulturpädagogik. Diese Schnittmenge wollen wir uns im Folgenden noch etwas stärker ansehen, um die Frage zu klären, welche Bedeutung die Klinische Psychologie für Fächer im Sozialwesen hat. 10 Wälte, D. Bedeutung der Klinischen Psychologie für das Sozialwesen Wirkmechanismen Aufgaben im Sozialwesen (Systemebene) Arbeit mit Einzelnen Arbeit im System (insbesondere Gruppe und Familie) Klären Welche Bedeutung hat die Klinische Psychologie Bewältigen für das Sozialwesen ? Tragfähige professionelle Beziehung 11 Wälte, D. Bedeutung der Klinischen Psychologie für das Sozialwesen Klinische Psychologie Sozialwesen Arbeit mit Einzelnen Arbeit mit Einzelnen Arbeit im System (Familie) Arbeit im System (Familie) Klären Klären Bewältigen Bewältigen Hohe Ähnlichkeit in den Aufgaben Alle Berufsgruppen im Sozialwesen (Soziale Arbeit, Kindheitspädagogik und Kulturpädagogik) arbeiten täglich in Institutionen mit Klienten zusammen, die unter einer psychischen Störung leiden könnten. Und weil psychische Störungen so häufig vorkommen, sind Erkenntnisse aus der Klinischen Psychologie für Fachkräfte im Sozialwesen so wertvoll. Die weiteren Ausführungen in der Vorlesung haben das Ziel, Fachkräfte im Sozialwesen einen Grundstock aus dem Basiswissen der Klinischen Psychologie zu liefern, mit dem sie die psychischen Störungen und Probleme ihrer Klientel erkennen und verstehen können. 12 Wälte, D. Epidemiologie (Häufigkeit psychischer Störungen in den letzten 12 Monaten=12-Monats-Prävalenz bei Erwachsenen) *Datenquellen: Jacobi et al. 2016; die Angaben zu den Persönlichkeitsstörungen stammen von Lenzenweger et al. 2007; die Angaben zu den illegalen Drogen finden sich in der Publikation vom Fachverband Sucht e.V. 2018 Aus dieser Grafik können Sie erkennen, dass annähernd jeder dritte erwachsene deutsche Bundesbürger im Alter zwischen 18 und 79 Jahren im Laufe eines Jahres an einer psychischen Störung leidet (vgl. Jacobi/Klose/Wittchen 2016). Vergleichbare Ergebnisse finden sich auch in anderen Ländern (vgl. Kessler et al. 2005). 13 Wälte, D. Epidemiologie (Häufigkeit psychischer Störungen in den letzten 12 Monaten=12-Monats-Prävalenz bei Erwachsenen) Deutsche PsychotherapeutenVereinigung e.V. (Hrsg.) 2020. Report Psychotherapie 2020. S. 21 Fast die Hälfte der Patienten mit psychischen Störungen hat mehr als eine Diagnose, psychische Störungen treten also oft komorbide auf. 14 Wälte, D. Epidemiologie (Häufigkeit psychischer Störungen in den letzten 12 Monaten=12-Monats-Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen) Deutsche PsychotherapeutenVereinigung e.V. (Hrsg.) 2020. Report Psychotherapie 2020. S. 17 Besonders für die Kindheitspädagogik ist es wichtig zu wissen, dass viele Kinder bereits unter einer psychischen Störung leiden können. 15 Wälte, D. Epidemiologie (Häufigkeit psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen nach sozioökonomischem Status) Besonders bei Kindern und Jugendlichen stehen psychische Störungen im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status (der Eltern). S. 140 16 Wälte, D. Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen bei Erwachsenen Gesundheitsreport der TK 2024, S. 28 Die Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen haben sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt. Fachkräfte im Sozialwesen sind oft mit den Folgen, die sich aus den Fehlzeiten ergeben, befasst. Klinische Psychologie liefert das Wissen, um die mit psychischen Störungen einhergehenden Probleme besser zu verstehen. 17 Wälte, D. Antidepressiva bei Studierenden S. 57 18 Definition und Klassifikation psychischer Störungen Aus den vorherigen Tabellen und Grafiken geht klar hervor, dass viele Tätigkeitsfelder von Fachkräften im Sozialwesen sich im Schnittpunkt der psychosozialen Versorgung befinden, in denen Personen mit psychischen Störungen um Hilfe bitten. Deshalb ist es für solche Fachkräfte hilfreich, mögliche psychische Störung zumindest in Ansätzen erkennen zu können. Sozialarbeiter/innen sollten sich in speziellen Arbeitsbereichen (z.B. Drogenberatung, Forensische Psychiatrie, ambulante sozialpsychiatrische Versorgung) sogar mit spezifischen Diagnosen und deren Symptomatik vertieft auskennen, um den Klienten optimal unterstützen zu können. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass nur Personen mit einer Spezialausbildung (z.B. Psychologische Psychotherapeuten oder Psychiater) psychische Störungen diagnostizieren dürfen. 19 Wälte, D. Definition und Klassifikation psychischer Störungen Definition einer psychischen Störung nach DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association, APA, 5. Auflage): „Eine psychische Störung ist als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen. Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamem Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten. Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie z.B. der Tod einer geliebten Person sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. Sozial abweichende Verhaltensweisen (z.B. politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft sind keine psychischen Störungen, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine der oben genannten Dysfunktionen zugrunde.“ (Falkai/Wittchen 2018, 26) 20 Wälte, D. Definition und Klassifikation psychischer Störungen Für die Klassifikation psychischer Störungen liegen zwei Manuale vor. Zum einen das Kapitel V (F) der ICD (International Classification of Diseases), das von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird (vgl. Dilling/Mombour/Schmidt 2015), und zum anderen das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association in der aktuellen Ausgabe aus dem Jahre 2013 (vgl. Falkai/Wittchen 2018). Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F) lassen sich 10 Hauptkategorien unterscheiden: F0: Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen: Erfasst werden hier psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung. F1: Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen: Hier werden psychische Störungen klassifiziert, die durch Alkohol, Opioide, Cannabinoide oder andere psychotrope Substanzen verursacht werden: akute Intoxikation, schädlicher Gebrauch, Abhängigkeitssyndrom, Entzugssyndrom, psychotische Störung und sonstige Folgen. F2: Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen: In diese Kategorie fallen alle nicht-organischen psychotischen Störungen. 21 Wälte, D. Definition und Klassifikation psychischer Störungen F3: Affektive Störungen: Hierzu zählen die verschiedenen Formen der Depression, Manie und bipolaren Störung. F4: Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen: In diese Gruppe fallen die Angststörungen, die Zwangsstörungen, die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, die dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) und die somatoformen Störungen. F5: Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren: Hierzu zählen die Essstörungen, die nichtorganischen Schlafstörungen, die sexuellen Funktionsstörungen, die psychischen und Verhaltensstörungen im Wochenbett, psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei hauptsächlich körperlich verursachten Störungen und schädlicher Gebrauch von nicht abhängigkeitserzeugenden Substanzen. F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: In diese Kategorie fallen die spezifischen Persönlichkeitsstörungen, die andauernden, nicht durch eine Schädigung oder Krankheit des Gehirns bedingten Persönlichkeitsveränderungen, die abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle, die Störungen der Geschlechtsidentität sowie der Sexualpräferenz und psychische und Verhaltensprobleme in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und 22 Wälte, D. Orientierung. Definition und Klassifikation psychischer Störungen F7: Intelligenzminderung: Diese wird nach unterschiedlichen Schweregraden aufgeschlüsselt. F8: Entwicklungsstörungen: In diese Gruppen fallen zum einen die umschriebenen Entwicklungsstörungen (Sprechen, Sprache, schulische Fertigkeiten, motorische Funktionen) und tiefgreifende Entwicklungsstörungen wie z. B. der frühkindliche Autismus. F9: Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Hierzu zählen hauptsächlich die hyperkinetischen Störungen, die Störungen des Sozialverhaltens, die kombinierten Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen, die emotionalen Störungen des Kindesalters, die Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und die Ticstörungen. Selbstverständlich können wir uns in dieser Vorlesung nicht mit allen Störungsbildern beschäftigen. Das wird Ihnen deutlich, wenn man bedenkt, dass es im ICD-10 schon 79 verschiedene Haupt- Diagnosen gibt, wenn man sie lediglich zweistellig (z.B.: F51= Nichtorganische Schlafstörung, F84= Tiefgreifende Entwicklungsstörungen) kodiert, ICD-10 erlaubt jedoch sogar eine Klassifikation bis in die vierte Stelle. Eine vollständige und differenzierte Kenntnis über die Diagnostik psychischer Störungen kann nur erreicht werden durch eine langjährige Ausbildung als Psychologischer Psychotherapeut oder als Psychiater. Allerdings werden Sie im Laufe des Semesters so viele Kenntnisse über psychische Störungen vermittelt bekommen, dass Sie im späteren Berufsleben bei Ihrer Arbeit davon profitieren können. Dafür werde ich in den nächsten Vorlesungen die psychischen Störungen behandeln, mit denen Sie in Ihrem Beruf besonders häufig zu tun haben, wie z.B. die 23 Angststörungen oder Depressionen. Wälte, D. Wirkfaktoren in der Beratung und Psychotherapie Wegen der hohen Affinität zwischen Psychotherapie und Beratung lassen sich Erkenntnisse, die in der Klinischen Psychologie für die Psychotherapie gewonnen wurden, auch für den Beratungsprozess im Sozialwesen nutzen, insbesondere wenn Sie auf Klienten mit psychischen Störungen treffen. 24 Wälte, D. Wirkfaktoren in der Beratung und Psychotherapie In der Klinischen Psychologie konnten mindestens sieben Wirkfaktoren identifiziert werden, die auch Beratungsprozesse im Sozialwesen optimieren können, unabhängig davon ob ein Klient eine manifeste psychische Störung hat oder mit anderen Belastungen (z.B. Krisen, Konflikte) kommt: 1. Die Gestaltung einer professionellen Beziehung: Die Beziehung zwischen Berater und Klient ist eine der tragenden Säulen für jeden Beratungsprozess, der im Regelfall durch die drei Basisvariablen (Kongruenz, Wertschätzung und Empathie) moduliert werden kann. 2. Analyse und Klärung der Probleme: Eine Problemanalyse kann dem Klienten dabei helfen, dass er seine Probleme, Konflikte und psychischen Störungen besser versteht. Darüber hinaus ist es jedoch auch für den Klienten wichtig, dass er sich über sich selber klarer wird, um sich im Endeffekt besser annehmen zu können. 25 Wälte, D. Wirkfaktoren in der Beratung und Psychotherapie 3. Analyse und Vereinbarung von Beratungszielen: Ohne die Analyse und Vereinbarung von Beratungszielen bleibt unklar, was der Klient und der Berater erreichen möchten. Vor allem in Beratungen, bei denen ein Paar oder die ganze Familie teilnehmen, sind die Ziele auf die einzelnen Personen abzustimmen. Dieser Schritt macht für alle deutlich, wohin sich der Beratungsprozess bewegen soll. Insbesondere bei Klienten mit psychischen Störungen kann transparent gemacht werden, welche Ziele Gegenstand der Beratung sein können und welche Ziele im Rahmen einer Psychotherapie oder medizinischen Behandlung durch einen Psychiater erreicht werden sollen. 4. Motivation zur Veränderung: Klienten im Bereich des Sozialwesens und insbesondere solche mit psychischen Störungen sind in der Regel so stark belastet, dass sie sogar den Sinn für eine Veränderung verloren haben. Ungünstige soziale Ausgangsbedingungen oder die Eigendynamik der Probleme hindern sie daran, einen Vorsatz in die Tat umzusetzen. In dieser Situation haben Fachkräfte im Sozialwesen die Aufgabe, mit den Methoden einer motivierenden Gesprächsführung den Klienten in einen Prozess der kontrollierten Selbstregulation zu bringen. In der Klinischen Psychologie sind zwei Strategien zur Steigerung der Motivation zur Veränderung als besonders nützlich herausgestellt worden: Steigerung der Selbstwirksamkeit und Ressourcenaktivierung beim Klienten. 26 Wälte, D. Wirkfaktoren in der Beratung und Psychotherapie 5. Problemaktualisierung: Eine Steigerung der Selbstwirksamkeit ist nur möglich, wenn der Klient das, was verändert werden soll, in der Beratung real erfahren kann. Nur so kann er abschätzen, ob er nach der Beratung etwas besser kann als vorher. 6. Ressourcenaktivierung: Therapeuten und Berater sind schnell dazu verführt, nur die Schwächen des Klienten zu sehen mit der fatalen Konsequenz, dass der Klient seine negativen Seiten verstärkt wahrnimmt. Erkenntnisse aus der Psychotherapieforschung legen aber nahe, dass der Beratungsprozess dadurch optimiert werden kann, dass der Klient sich auch in seinen Stärken erleben kann. 7. Hilfe zur Problembewältigung: Die meisten Klienten kommen mit der Erwartung in die Beratung, dass der Berater ihnen aktive Unterstützung bei der Bewältigung der Probleme bietet. Für die aktive Bewältigung der Probleme seiner Klientel können Fachkräfte im sozialen Bereich auf eine breite Palette von Methoden und Techniken zurückgreifen, die in der Klinischen Psychologie entwickelt wurden. 27 Wälte, D. Lernfragen zum Schluss der Vorlesung Nr.1 1. Was versteht man unter Klinischer Psychologie? 2. Wie heißen die beiden zentralen Wirkmechanismen für die Veränderung einer psychischen Störung? 3. Welche Systemebenen unterscheidet man bei der Veränderung psychischer Störungen? 4. Welche Bedeutung hat die Klinische Psychologie für das Sozialwesen und warum ist Klinische Psychologie „nur“ eine Hilfswissenschaft? 5. Wenn Sie sich die Grafik über die Häufigkeit von psychischen Störungen bei Erwachsenen anschauen: Warum haben mehr als 27.8% der Bundesbürger eine psychische Störung? 6. Was versteht man unter Komorbidität? 7. Was versteht man unter einer psychischen Störung? 8. Wie viele Hauptdiagnosen (zwei Stellen) gibt es im ICD-10, Kapitel F? 9. Was versteht man unter Problemaktualisierung? 10. Was versteht man unter Ressourcenorientierung? 28 Wälte, D. Literatur: Baumann, U./Perrez, M. (1998): Lehrbuch Klinische Psychologie – Psychotherapie. 2. Aufl., Göttigen: Huber. Falkai, P./Wittchen, H.-U. (Hrsg.) (2018): Diagnostisches und statistisches manual psychischer Störungen DSM-5®. American Psychiatric Association. 2 Aufl. Göttingen: Hogrefe. Deutsche PsychotherapeutenVereinigung e.V. (Hrsg.) 2020. Report Psychotherapie 2020. Dilling, H./ Mombour, W./ Schmidt, M. H. (Hrsg.) (2010): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F) klinisch-diagnostische Leitlinien. Weltgesundheitsorganisation. 7. Auflage. Bern: Hogrefe Verlag. Gesundheitsreport der TK 2020 Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Grawe, K. (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe. Jacobi et al. (2016): Erratum zu: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1-MH). Der Nervenarzt, 1/2016, S. 88-90. Kessler, R. C./Berglund, P./Demler, O./Jin, R./Merikangas, K. R./Walters, E. E. (2005a): Lifetime prevalence and age-of- onset distributions of DSM-IV disorders in the National Comorbidity Survey Replication. In: Arch Gen Psychiatry, 62, S. 593– 602. Lenzenweger M. F./Lane, M. C./Loranger, A. W./Kessler, R. C. (2007): DSM-IV personality disorders in the National Comorbidity Survey Replication. In: Biol Psychiatry, 62 (6), S. 553–564. Wälte, D. (2019). Der psychisch gestörte Mensch – Klinische Psychologie. In: Wälte, D., Borg-Laufs, M., Brückner, B. Psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer. 2. Auflage. 133-214. 29 Wälte, D.