Das "Große Ich-bin-Ich" (2020) PDF

Summary

This document explores the concepts of narcissism, Machiavellianism, and psychopathy in complex social systems like psychotherapy, politics, and organizations. It examines the application of these concepts to different contexts, analyzing their presence in relationships, interactions, and societal structures. The author introduces the concept of the "Dark Triad" and discusses how complexity in these systems can be influenced.

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Das „Große Ich-bin-Ich“! 63 Das „Große Ich-bin-Ich“! Überlegungen zum Umgang mit Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie in komplexen sozialen Systemen wie in der Psychotherapie, in der Politik und in der heterarchischen Organisation Ste...

Das „Große Ich-bin-Ich“! 63 Das „Große Ich-bin-Ich“! Überlegungen zum Umgang mit Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie in komplexen sozialen Systemen wie in der Psychotherapie, in der Politik und in der heterarchischen Organisation Stephan Hametner Überbetonung der eigenen Wichtigkeit (Narzissmus), ein starkes Bedürfnis nach Macht (Machiavellismus) und ausgeprägtes antisoziales Verhalten (Psychopa- thie) sind sowohl in klinischer als auch subklinischer Ausprägung allerorts anzu- treffende Phänomene, insbesondere im geschützten Rahmen psychotherapeuti- scher Systeme, in den internen Strukturen und der medialen Öffentlichkeit der Politik und last but not least auch in den semiöffentlichen Strukturen von Orga- nisationen. Zusammen bilden Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie das psychologische Konzept der sogenannten Dunklen Triade ‒ eine Bezeich- nung, die auf die beiden kanadischen Psychologen Delroy Paulus und Kevin Wil- liams zurück geht (vgl. Paulus & Williams, 2002). Deren Ausprägungen wie ex- zessive Eitelkeit, Extravertiertheit, ein starkes Bedürfnis nach Macht als Verleug- nung von Abhängigkeit (vgl. Wirth, 2006), Status und Aufmerksamkeit, Autori- tätsanspruch, Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit, Überlegenheitsgefühl und Einzigartigkeit, Manipulationsneigung und Ausbeutung anderer (bei Narzissmus, vgl. Externbrink & Keil, 2018, S. 8f.), Rücksichtslosigkeit, zynische Sicht auf Menschen, Glaube an die Wirksamkeit manipulativer Taktiken und ausgeprägte Orientierung am persönlichen Nutzen (bei Machiavellismus vgl. Externbrink & Keil, 2018, S. 10) sowie skrupellosen Egozentrismus, Furchtlosigkeit, Impulsivi- tät, Externalisierung von Schuld und Stressresistenz (bei Psychopathie vgl. Ex- ternbrink & Keil, 2018, S. 11) können als dunkle Eigenschaften auf personaler Ebene („dark traits“) gedacht werden. Im Rahmen eines psychotherapeutischen Systems begegnen sich Thera- peut*in (im Folgenden: die therapierende Person) und betroffene*r Klient*in (im Folgenden: die behandelte Person) oder die Erzählung über eine solche bzw. einen 64 Stephan Hametner solchen. Es treffen zwei unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Le- benshintergründen und Biografien sowie mit unterschiedlichen Persönlichkeits- merkmalen und -eigenschaften aufeinander. Die behandelten Personen oder die Erzählungen über sie erscheinen als akzentuierte Persönlichkeiten, als Individuen mit einem narzisstischen, machiavellistischen oder psychopathischen Persönlich- keitsstil (= der subklinische Bereich) oder unter bestimmten ethischen Rahmen- bedingungen als Individuen mit einer psychiatrisch klassifizierbaren Persönlich- keitsstörung (= der klinische Bereich). Auch in Organisationen können unter die- ser Perspektivierung jede Menge Ausprägungen der Dunklen Triade entdeckt werden, insbesondere als Varianten personaler bzw. charakterlicher Führungs- o- der Mitarbeiterstile. Ausprägungen der Dunklen Triade lassen sich dank ihrer me- dialen Öffentlichkeit auch in Form auffälliger oder schillernder Personen auf der politischen Bühne beobachten. Gemeinsam ist allen drei Orten, dem psychothe- rapeutischen System, der Politik und der Organisation, dass sich die Ausprägun- gen der Dunklen Triade immer erst in Beziehungen realisieren, aktualisieren und wirksam werden. Damit kommt eine zweite Perspektivierung ins Spiel, die annimmt, dass sich soziale Systeme aus funktionalen und professionellen Kommunikationen und In- teraktionen (bei Luhmann: Entscheidungen, vgl. Luhmann, 2006) zusammenset- zen und personale Befindlichkeiten, Stile, Akzentuierungen und Störungen nur deren Systemumgebung darstellen: „Ein Organisationssystem existiert nur dadurch, dass es sich von seiner Umwelt unterscheidet“ (Luhmann, 2006, S. 37). Diese Systemumgebung ist im Fall der drei Ausprägungen der Dunklen Triade allerdings mit hohem irritativem Potenzial ausgestattet und kann sich auf das je- weilige soziale System verstörend, hemmend und letztlich auch schädigend aus- wirken. Die systemische Perspektivierung berührt ebenfalls alle drei schon ein- geführten Orte, an denen die Phänomene der Dunklen Triade aufgefunden werden können. In der Psychotherapie aktualisiert die behandelte Person ihre narzissti- schen, machiavellistischen und psychopathischen Kommunikationen und Inter- aktionen mit der therapierenden Person, so wie sie es zu Hause mit Partner*innen oder in ihrem beruflichen Umfeld mit seinen Kolleg*innen tut, und liefert auf diese Art das therapeutische Material. Dass die behandelte Person dergestalt die therapierende Person mit in ihre Störung hineinzieht, stellt dann auch die größte Herausforderung in der Arbeit mit Klient*innen dieser Art dar. In der Politik irri- tieren mit den Ausprägungen der Dunklen Triade infizierte Kommunikationen und Interaktionen besonders dort, wo diese eine größere Öffentlichkeit finden, entweder durch Übertragungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder durch spätere Veröffentlichung (wie z. B. das 2017 heimlich aufgenommene und im Mai 2019 veröffentlichte „Ibiza-Video“ oder auch das Twitter-Verhalten Donald Das „Große Ich-bin-Ich“! 65 Trumps). Last but not least werden vor allem auch dort in Organisationen Aus- prägungen der Dunklen Triade angetroffen, wo ihre Mitarbeiter*innen akzentu- ierten, irritierenden und verstörenden Kommunikationen und Interaktionen inner- halb von organisationalen Strukturen und Prozessen ausgesetzt sind, entweder weil sie diese selbst erleben und erdulden oder bei anderen beobachten (müssen). Gemeinsam ist diesen subklinischen Kommunikationen und Interaktionen ein an- tisozialer und empathieloser Kern bei gleichzeitiger Betonung von Eigeninteres- sen und manipulativem Verhalten. Die Metapher des „Großen Ich-bin-Ichs“ steht daher in dialektischer Weise zugleich für eine personale und einen systemisch- funktionale Betrachtungsweise der Dynamik rund um die Dunkle Triade. Als An- tithese zu Mira Lobes Das kleine Ich-bin-Ich (vgl. Lobe & Weigl, 2011), das seine Identität erst durch die Erkenntnis erhält, dass seine individuellen Unterschiede zu anderen Wesen den eigenen Wert ausmachen, generiert das „Große Ich-bin- Ich“ seinen Selbstwert durch das manipulative Be- und Ausnützen seiner Mitmen- schen. Im Anschluss an Helmut Willkes am 7. März 2019 im Rahmen des OE- Forums der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse und der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich getätigten Ausführungen zur Nützlichkeit von Kom- plexität soll im Hinblick auf dieses „Große Ich-bin-Ich“ gefragt werden, welche Rolle die Phänomene der Dunklen Triade in Bezug auf die Schnittstellen von In- dividuum, Politik und Organisation spielen und ab welchem Zeitpunkt und in wel- chen Konstellationen der Faktor Komplexität eines sozialen Systems nicht mehr nur nützlich, sondern auch einen gefährlichen Nährboden für seine eigene Unter- minierung darstellt („gefährlich“ im Sinne von hemmend, unproduktiv, konterka- rikierend und destruktiv in seiner Wirkung). Folgenden Fragestellungen widmen sich die vorliegenden Ausführungen: Wie tickt das „Große Ich-bin-Ich“, welche manipulativen Mechanismen, Strategien und Beziehungsdynamiken benutzt es und welche Rahmenbedin- gungen sind für die Entfaltung seiner Wirkungen besonders geeignet? Können das psychotherapeutische Setting, die Politik (und insbesondere die Demokratie) und die heterarchische Organisation wechselseitig etwas vonei- nander lernen, wenn es in Bezug auf das „Große Ich-bin-Ich“ um den Erhalt ihrer inneren Kohäsionskräfte, um ihr Funktionieren und letztlich um ihr Ge- lingen geht? An welchen neuralgischen Punkten sind vor allem komplexe soziale Systeme wie das psychotherapeutische System, die Politik und die heterarchische Or- 66 Stephan Hametner ganisation aufgefordert, trotz ihres Spielraums zwischen freien Gestaltungs- räumen und geregelten Strukturen dem „Großen Ich-bin-Ich“ klare und ein- deutige Limitationen zu setzen? Und welchen Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben müss(t)en sich gerade komplexe Organisationsformen wie die heterarchisch konzipierte Or- ganisation stellen, um diesem Thema einerseits angemessen und verantwor- tungsvoll zu begegnen und andererseits der eigenen propagierten Vision ge- recht zu werden, eine echte Antithese zu anachronistischen Formen des he- roischen Managements darzustellen? Komplexität und der passende Umgang mit ihr stellt das einende Moment der vorliegenden psychotherapeutischen, politischen und organisationalen Perspekti- vierung dar. Es wird aufzuzeigen sein, dass sowohl das psychotherapeutische Sys- tem als auch die Politik und die heterarchische Organisation geeignete Schutzme- chanismen und Limitationen benötigen, die ihnen innewohnende Komplexität vor allen Arten eines überbordenden „Großen Ich-bin-Ichs“ zu schützen und derge- stalt zu einer Steigerung ihrer „Robustheit“ (Externbrink & Keil, 2018, S. 66) beizutragen. Neben der Reflexion und Einarbeitung einiger der Thesen Helmut Willkes in Bezug auf das Thema Komplexität in sozialen Systemen ist eine Hy- pothese dieser Überlegungen, dass Komplexität überhaupt nur dann nützlich sein kann, wenn sie sich von den dunklen Ausprägungen des „Großen Ich-bin-Ichs“ weder korrumpieren noch penetrieren lässt. Das „Große Ich-bin-Ich“ im psychotherapeutischen System Das Alleinstellungsmerkmal des psychotherapeutischen Systems ist grundsätz- lich durch seine Abgeschiedenheit von jeglicher Öffentlichkeit und seiner abso- luten Verpflichtung zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten gekennzeichnet. Im österreichischen Psychotherapiegesetz aus dem Jahr 1991 ist diese absolute Ver- schwiegenheitspflicht unter §15 geregelt und betrifft selbst die Auskunft in Zivil- prozessen. Nur in Strafprozessen kann seit einigen Jahren die therapierende Per- son von ihrer Verschwiegenheit entbunden werden, beruft sie sich dennoch da- rauf, kann auch hier die Aussage verweigert werden. Das „Große Ich-bin-Ich“ ist in diesem Sinne öffentlich nicht sicht- bzw. erlebbar, es betritt das psychothera- peutische System in Gestalt selbst betroffener und zu behandelnder Einzelperso- nen und/oder in Form einer Erzählung seitens ihrer betroffenen Mitmenschen (Partner*innen, Kolleg*innen). In Supervisionen kann es auch vorkommen, dass größere Gruppen (Teams) Erzählungen über das „Große Ich-bin-Ich“ (z. B. über Das „Große Ich-bin-Ich“! 67 Vorgesetzte) einbringen. Die folgende z. T. auf realen Vorbildern basierende aber vollständig anonymisierte Fallvignette konkretisiert das bisher anhand von allge- meinen Symptomen Beschriebene: Hr. T. wird in der psychotherapeutischen Praxis mit dem Anliegen vorstellig, es gehe ihm in letzter Zeit nicht so gut, er fühle sich irgendwie unwohl, ausgebrannt und eine nicht näher definierbare innere Leere. Auf die Frage des Therapeuten, was so in letz- ter Zeit los gewesen wäre, antwortet Hr. T., eigentlich sei alles so wie immer, er sei ein erfolgreicher Firmeneigentümer, die Geschäfte liefen gut und privat hätte er wie- der einmal eine Frau verlassen, wie das öfter bei ihm vorkommen würde. Nach der Trennung hätte er wie immer den Kontakt zu seinen Schulfreunden aus der Haupt- schulzeit wieder aufgenommen und mit diesen diverse Zeltfeste in der Umgebung aufgesucht. Dort würde er in der Regel auch wieder jemand kennenlernen und über- haupt seien diese Feste die beste Gelegenheit, seine zahlreiche weibliche Anhänger- schaft bei Laune zu halten. Insbesondere eine seiner Verehrerinnen laufe ihm seit Jahren nach, diese könne er jederzeit „aktivieren“, vor allem dann, wenn sich sein ausgeprägtes sexuelles Bedürfnis melde. Sexualität spiele überhaupt eine große Rolle in seinem Leben (Hr. T. flechtet im Laufe des Gesprächs immer wieder sexuelle An- spielungen, teils zynischer teils abwertender Natur gegenüber Frauen, ein). Zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in seiner Firma hätte er hingegen ein völlig sachliches Verhältnis. Diese hätten ausschließlich für die Arbeit am finanziellen Ge- winn seines Unternehmens da zu sein. Wer sich nicht einfüge oder Kritik üben würde, würde „eher früher als später“ von ihm gekündigt werden. Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter dürften nur in einem von ihm abgesteckten Rahmen Entscheidungen treffen, dieser sei aber ganz klein. Er kontrolliere seine mit sieben Angestellten überschau- bare Firma bis ins letzte Detail, „man wisse schließlich nie, welche Motive andere wirklich verfolgten“. Außerdem sei er der einzige wirkliche Fachmann für seine Pro- dukte. Er selbst sei für die Außenkontakte der Firma zuständig (Akquise der Auf- träge, Verhandlungen mit Lieferanten, Kundenkontakte etc.) und sei ein hervorragen- der Verhandler und Anbahner von Geschäften. Dabei wisse er sich auch zu inszenie- ren, könne unglaublich freundlich und charmant sein, sofern es seinen Zielen diene. Er sei sich bewusst, dass er als selbständiger Unternehmer von seiner Kundschaft abhängig sei (obwohl: „für jeden arbeite ich auch wieder nicht, es gibt auch sehr schwierige Kunden mit sehr individuellen Wünschen“). Hr. T. bezeichnet im Ge- spräch seine Geschäftspartner als „Ratten“ und macht sich über deren körperliche Merkmale lustig („sieht aus wie ein Boxerhund“, „kommt daher wie ein Papagei“). Seine Mitbewerber, die einen humaneren Umgangsstil pflegen, tut Hr. T. als „Schwächliche“ ab, die ihm mit ihrer „Weiblichkeit“ ins Geschäft pfuschen wollten. Gegenüber diesen Konkurrenten müsse man hart auftreten und sie in die geschäftli- che Bedeutungslosigkeit abdrängen. Er schrecke auch vor feindlichen Übernahmen nicht zurück und hätte keine Scheu vor Konfrontationen. Ja, er sei sogar ein Freund von Expansion mit aggressiven Mitteln. Wenn es um seine Belange gehe, würde er auch „offensiv, sogar brutal“ vorgehen. Klar ist, dass er immer der „Chef“ ist, beruf- lich wie privat. Sollten sich Kunden einmal beschweren, würde er versuchen, die 68 Stephan Hametner „Schuld“ auf andere wie z. B. Lieferanten zu schieben. Er hätte wenig Skrupel auch Notlügen zu gebrauchen, um den eigenen Schein zu wahren. Dasselbe gelte auch vor dem Finanzamt, vor dem er es regelmäßig schaffe, sein selbständig erwirtschaftetes Einkommen so dazustellen, dass er maximal Steuer schonend aussteige. „Da kann es schon einmal sein, dass ich mir bezüglich der Rechnungen etwas einfallen lasse“, meint Hr. T. süffisant schmunzelnd. Nun sei er hier in der psychotherapeutischen Praxis: Er hätte gehört, dass der Thera- peut ein ausgewiesener Spezialist für Männerthemen sei. Über die Bezahlung müsse man noch reden, denn ohne Rechnung sei es gewiss billiger, die Geschäfte liefen im Moment nicht ganz so gut und außerdem scheine dann nichts bei der Krankenkasse auf. Dass der Therapeut mitprotokolliere, passe ihm gar nicht, denn dieser könnte ja etwas missverstehen und ein falsches Bild von ihm entwerfen. Und überhaupt: Eine therapeutische Welt sei ihm ohnehin etwas suspekt, denn wer sich beruflich um die Probleme anderer kümmere, mit dem müsse wohl selbst etwas nicht ganz stimmen. Zwischen ihm und den Frauen stimme vielleicht auch etwas nicht. Er verstehe nicht, warum er immer wieder Frauen erobern wolle, die ihm kurze Zeit später plötzlich völlig uninteressant vorkommen würden. Ja, und obwohl er seinen Partnerinnen („Schlangen“) tolle Urlaube bezahle, sei er sogar von einigen verlassen worden. So auch von der Mutter seines mittlerweile 11-jährigen Sohnes, die er abgrundtief hasse und die überhaupt für ihn alles Böse repräsentiere. Sein Sohn liege ihm hauptsächlich mit Geldwünschen auf der Tasche, und wenn er ihn einmal im Urlaub mithabe, könne er nach ein paar Tagen nichts mehr mit ihm anfangen. Er sei jetzt gespannt, was der Therapeut auf Lager habe, sein Unwohlsein sei ihm schon zu viel, ein paar Sitzungen sollten reichen, dann wäre „das hoffentlich wieder weg“. Das „Große Ich-bin-Ich“ zwischen subklinischem Persönlichkeitsstil, akzentuierter Persönlichkeit und klinischer Persönlichkeitsstörung Erzählungen, wie die soeben geschilderte Zusammenfassung des Erstgesprächs mit Hrn. T, sind in einer auf Männerthemen ausgerichteten psychotherapeuti- schen Praxis alltäglich. Ähnlich wie aufmerksame Leser*innen manche dieser Aussagen kritisch aufgenommen haben werden, wird auch der*die behandelnde Psychotherapeut*in bei Hrn. T. aufmerksame Ohren aufsetzen. Es gilt einerseits, sich ein Bild der persönlichen Lebenssituation und der Biografie von Hrn. T. zu machen: Ersteres betrifft akute Auslösesituationen von Krisen und zweiteres mögliche Erklärung zur Genese seines Verhaltens und Erlebens. Drittens – und hierfür sollte die therapierende Person besonders aufmerksam sein – wird Hr. T. vieles, was er an Interaktionen und Kommunikationen aus seinem beruflichen wie privaten Leben erzählt, in die therapeutische Beziehungsgestaltung mit einfließen lassen. Dieser Mechanismus der Aktualisierung bzw. Reinszenierung beinhaltet Das „Große Ich-bin-Ich“! 69 die Tendenzen von Hrn. T. zur Idealisierung (von sich selbst, von der therapie- renden Person) bzw. Ent- und Abwertung anderer (Partnerinnen, Kunden, Ge- schäftspartner). Die therapierende Person ist hier gefordert, den angebotenen Ver- lockungen und letztlich der eigenen Anfälligkeit für narzisstische Angebote nicht zu folgen, sondern weiterhin eine kritische Distanz zu wahren (im Sinne des gr. krinein = Unterscheidungen in der Bedeutungsgebung treffen). Sie darf sich we- der auf die von Hrn. T. gegenüber Frauen, „Schwächlingen“ und „Weicheiern“ vorgebrachten Koalitionsangebote einlassen, noch auf die Konstruktion von Hrn. T. als Opfer („von einigen Frauen verlassen worden“). Auch der manipulativen Erzählung seines Erfolgs und seiner Durchsetzungskraft wird die therapierende Person kritisch gegenüberstehen, soll doch nach dieser Darstellung eigentlich al- les so bleiben wie bisher und durch den Akt von Psychotherapie nur bestätigt werden. Es besteht auch die Gefahr, dass sich die therapierende Person durch diese Erzählung in die Richtung eines Erfolgsdrucks drängen lässt und sich in Folge in die Arbeit stürzt (in Form von Überlegungen bzw. Ratschlägen, die dann von der behandelten Person abgewertet werden können), anstatt die Kommunika- tionen und Interaktionen zwischen ihr und der behandelten Person in Form kriti- scher Hinterfragung zu nützen. Insgesamt erfordert die Behandlung von Hrn. T. deshalb ein behutsames Vorgehen zwischen Beziehungsaufbau und konfrontati- ven Interventionen (z. B. Hinweisen auf Widersprüche, Einfordern der eigenen Verantwortung, Wahrnehmen eigener Emotionen usw.) und damit viel Professi- onalität, Zeit und Geduld. Obwohl die Fallvignette von Hrn. T. Einblicke in die Konkretisierung aller drei Ausprägungen der Dunklen Triade bietet, soll im Fol- genden im Speziellen das Phänomen des Narzissmus näher beleuchtet werden. Der Begriff des Narzissmus ist – obwohl im Allgemeinen und im Speziellen durch die Fabel des griechischen Mythos des attraktiven, in sich selbst verliebten und den sich am Ende genau deswegen suizidierenden Narkissos eher destruktiv als Selbstverliebtheit, Hochmut und Eitelkeit konnotiert – grundsätzlich kein ne- gativer. Aus psychologischer Sicht ist eine basale Selbstliebe für das gesunde Werden eines Individuums unabdingbar. Freuds erste Konzeption des „primären Narzissmus“ postuliert eine symbiotische Beziehung zwischen Säugling und Mutter. Dieses anfängliche und für den Säugling absolut notwendige Sicherheits- gefühl muss sich in dessen weiterem Entwicklungsverlauf immer mehr ausdiffe- renzieren, sodass an dessen Ende ein reifes und klar abgegrenztes Selbst stehen kann, das sich durch Objektkonstanz und stabilen Objektbeziehungen (im Äuße- ren wie im Inneren) sowie durch eine „freie Wahl für oder gegen ein Objekt und eine kontrollierte Nähe-Distanz-Balance“ auszeichnet und ein „ganzheitliches Bild der eigenen Person“ ermöglicht, „das sowohl Es, Ich und Überich integriert, 70 Stephan Hametner wie auch alle ‚inneren Objekte‘, die imaginativen Abbilder realer Objekte“ (Kra- inz, 1998, S. 176ff.). Dieses ursprüngliche Erklärungsmodell erfuhr zunehmend Kritik bis hin zur diametral entgegengesetzten Interpretation des „kompetenten Säuglings“, der bereits von Geburt an Interesse an seiner Umwelt zeigt. Selbst- und Objektkonstanz bzw. Selbst- bzw. Objektliebe sind laut diesem Modell also von Anfang an da (Wirth, 2006, S. 159ff.; für eine differenziertere Betrachtung verschiedener Narzissmus-Konzeptionen vgl. Diamond, 2006, S. 174ff.) In den jeweiligen Ausprägungen der beiden Instanzen der Selbst- bzw. der Objektliebe liegen dann auch die Wurzeln jenes lebenslänglich anhaltenden Dilemmas zwi- schen den beiden Polen des existenziellen Bedürfnisses nach Souveränität (auch: Autonomie) und des existenziellen Faktums der wechselseitigen Abhängigkeit (auch: Bindung) voneinander begründet (vgl. Wirth, 2006, S. 159). Gelingt das Ziel einer gesunden Entwicklung reifer Objektbeziehungen nicht und kommt es zu einem maladaptiven Verlauf, so kann dies zu einem Missbrauch äußerer Objekte führen: „Ein labiler Narzissmus gestaltet seine Objektbeziehun- gen so, daß andere als Selbstverlängerung gebraucht (‚benutzt‘) werden, was sich besonders in Beziehungen realisieren läßt, die ein Machtgefälle aufweisen (also z. B. gegenüber Kindern, Auszubildenden oder Untergebenen)“ (Krainz, 1998, S. 179). Diese Selbstverlängerung besteht im Wunsch des Narzissten nach unum- schränkter Bewunderung durch andere, durch ein Selbstbild von Grandiosität ver- bunden mit notorischen Konkurrenzgefühlen und insgesamt durch einen ausge- prägten Mangel an Fähigkeit zu Empathie. Kontrolliert wird diese angestrebte Selbstverlängerung durch die Betonung der eigenen Wichtigkeit, durch Machtan- sprüche und Dominanz über andere sowie die Versuche, andere in ein Abhängig- keitsverhältnis zu bringen. Wirth interpretiert in diesem Sinn Macht auch als Ver- leugnung von Abhängigkeit und Machtmissbrauch als pathologische Form von Narzissmus mit dem Ziel, Abhängigkeiten zu umgehen (vgl. Wirth, 2006, S. 158ff.). Dieses Moment kann auch als Berührungspunkt der drei Ausprägungen der Dunklen Triade Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie gesehen werden. Insgesamt nehmen Narzissten die sie umgebenden Menschen als Res- source wahr, die für eigene Ziele ausgebeutet werden können. Da nicht alle Mit- menschen auf solche Forderungen und Erwartungen positiv reagieren und sich nicht unterordnen bzw. in die Rolle von entmündigten Bewunderern reduzieren lassen wollen, reagiert der Narzisst auf diese Nicht-Erfüllung seiner Erwartungen mit Wut und Enttäuschung, nicht selten gepaart mit der Verwendung einer aggres- siven und gewalttätigen Sprache (psychiatrisch: narzisstische Wut). Wirth weist auf den daraus entstehenden Teufelskreis hin, dass „das folgende Fehlen von An- erkennung […] beim Mächtigen jedoch zu einer narzisstischen Mangelerfahrung Das „Große Ich-bin-Ich“! 71 und zu narzisstischer Wut (Kohut, 1973)“ führt, „die er mit einer weiteren Stei- gerung seiner Macht beantwortet. Aus dieser Dynamik leitet sich der suchtartige Charakter von Machtprozessen ab“ (Wirth, 2006, S. 160). Zur Abwehr von Krän- kung bzw. der Dissonanz zwischen Erwartung und Reaktion betreibt die narziss- tische Persönlichkeit auch gern eine Täter-Opfer-Umkehr, die sich in der Abwer- tung seines Gegenübers im Sinne eines äußeren Feindes ausdrückt (Abwertung von Aussehen, Kompetenzen, Werten etc.). Zusammenfassend ist die Einsicht entscheidend, dass Kommunikationen und Interaktionen die unabdingbare Grundlage für die Genese und Aufrechterhal- tung von narzisstischen Dynamiken darstellen. Narzissmus hat zwar per Definiti- onem etwas mit einem Selbstverhältnis zu tun, realisiert und aktualisiert sich aber immer in einer Beziehung zwischen einem individuellen Selbst und seinen Ge- genübern und damit in sozialen Systemen. Das Angewiesen-Sein auf Anerken- nung, Gesehen-Werden und Liebe, aber auch die Ausübung von Macht benötigen immer andere. Die unmittelbaren Umgebungen des Narzissten – seien diese pri- vater oder beruflicher Natur – sind deshalb in der Regel in kommunikativer bzw. interaktioneller Sicht empfindlich ge- bzw. verstört. Um diese beiden Begriffe von Störung noch differenzierter auszuführen, sol- len an dieser Stelle graduelle Unterschiede hinsichtlich der pathologischen Aus- prägung des Narzisstischen in die Diskussion eingeführt werden. Krainz spricht in diesem Zusammenhang von gleitenden Übergängen des „Individuellseins“ zum „Pathologischen“ (Krainz, 1998, S. 175), Fiedler von „auffälligen Personei- genarten“ oder „markanten persönlichen Stilen“ (Fiedler, 2007, S. 35), Leonhard von „akzentuierten Persönlichkeiten“ (vgl. den Buchtitel von Leonhard, 1968) und Volkan von „narzisstischer Persönlichkeitsorganisation“ (Volkan, 2006, S. 214). Selbstverständlich existieren neben diesen milderen Formen von Narziss- mus schwerere und schwere psychiatrische Ausprägungen, die im Rahmen von Psychotherapie mit Hilfe von professionellen Diagnosemanualen, welche einem international verhandelten und psychiatrischen Konsens entsprechen, diagnosti- ziert werden können. Wenn Psychotherapeut*innen bspw. die Diagnose „narziss- tische Persönlichkeitsstörung“ verwenden, dann tun sie das keineswegs leichtfer- tig, sondern mit einem Blick in das ICD-10 und das DSM-V, die beiden Standard- werke zur Klassifikation psychiatrischer Störungen. Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (deutsch: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprob- leme) ist eine von der WHO herausgegebene Klassifikation (hier in der 10. Ver- sion) und untergliedert sich in verschiedene Kapitel. Kapitel V enthält die kli- nisch-diagnostischen Leitlinien für psychische Störungen (die Kodierung erfolgt 72 Stephan Hametner mit dem vorangestellten Buchstaben F- und einer Zahlenkombination). Österrei- chische Ärzt*innen, Psychiater*innen sowie Psychotherapeut*innen sind bei ih- rer Diagnosestellung zur Klassifikation nach dem ICD-10 verpflichtet. Das Diag- nostic and Statistical Manual of Mental Disorders (deutsch: Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen) ist das in den USA meist verwen- dete Diagnosemanual für psychische Störungen und wird von der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft herausgegeben. Das DSM-V definiert eine Persön- lichkeitsstörung (im Folgenden: PS) als überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht. Dieses Muster manifestiert sich in mindestens zwei der folgenden Bereiche: 1. Kognition (d. h. die Art, sich selbst, andere Men- schen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren). 2. Affektivität (d. h. die Variationsbreite, Intensität, Labilität und Angemessenheit emotionaler Reaktionen). 3. Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. 4. Impulskontrolle. Das überdau- ernde Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen. […] Das überdauernde Muster führt in klinisch bedeutsa- mer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen (Falkaj & Wittchen, 2015, S. 363). Im DSM-V werden PS zu drei Gruppen zusammengefasst, zum Cluster B zählen die Borderline-, die histrionische, die dissoziale und die narzisstische PS. Es be- steht die fachliche Übereinkunft, dass es sich bei PS um eine komorbide Sympto- matik handelt, d. h. das Auftreten einer PS erhöht die Wahrscheinlichkeit des gleichzeitigen Auftretens einer weiteren PS. Für den klinischen Bereich ist damit der Umfang der Dunklen Triade definiert: Das psychiatrische „Große Ich-bin- Ich“ stellt eine Mischung aus narzisstischer PS (Narzissmus, Machiavellismus) und dissozialer PS (Psychopathie) dar. Um nach dem DSM-V eine narzisstische PS diagnostizieren zu können, müssen folgende Kriterien vorliegen: Ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in Fantasie oder Verhalten), Bedürfnis nach Bewunderung und Mangel an Empathie. Der Beginn liegt im frühen Erwachse- nenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein (Falkaj & Wittchen, 2015, S. 369F.): 1. Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (z. B. übertreibt die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen an- erkannt zu werden). 2. Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schön- heit oder idealer Liebe. Das „Große Ich-bin-Ich“! 73 3. Glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen beson- deren oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können. 4. Verlangt nach übermäßiger Bewunderung. 5. Legt ein Anspruchsdenken an den Tag (d. h. übertriebene Erwartungen an eine bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen). 6. Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (d. h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen). 7. Zeigt einen Mangel an Empathie: Ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren. 8. Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf sie*ihn. 9. Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen. Das DSM-V definiert die antisoziale PS (psychiatrische Ausprägung von Psycho- pathie) folgendermaßen (Falkai & Wittchen, 2015, S. 367): A. Es besteht ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das seit dem 15. Lebensjahr auftritt. Mindestens drei der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Versagen, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten gesellschaftlichen Normen anzupassen, was sich in wiederholtem Begehen von Handlungen äußert, die ei- nen Grund für eine Festnahme darstellen. 2. Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert. 3. Impulsivität oder Versagen, vorausschauend zu planen. 4. Reizbarkeit und Aggressivität, die sich in wiederholten Schlägereien oder Über- fällen äußert. 5. Rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer. 6. Durchgängige Verantwortungslosigkeit, die sich im wiederholten Versagen zeigt, eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. 7. Fehlende Reue, die sich in Gleichgültigkeit oder Rationalisierungen äußert, wenn die Person andere Menschen gekränkt, misshandelt oder bestohlen hat. B. Die Person ist mindestens 18 Jahre alt. C. Eine Störung des Sozialverhaltens war bereits vor Vollendung des 15. Lebensjahres erkennbar. 74 Stephan Hametner D. Das antisoziale Verhalten tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Schizophrenie oder einer bipolaren Störung auf. Diagnosen nach dem DSM-V sind deskriptiv, d. h. sie sagen weder etwas über die Genese einer PS aus noch über eine genauere individuelle Disposition. Um einer zu leichtfertigen Vergabe der Diagnose einer PS entgegenzuwirken, hat Fiedler drei ethische Leitkriterien formuliert, dass nämlich deren Diagnose nur dann vergeben werden darf, wenn die betreffende Person selbst unter ihrer Persönlichkeit leidet, und/oder […] wenn sie das Risiko der Entwicklung […) einer psychischen Störung (affektive Störung, Suizidalität, Dissoziationsneigung) beinhalten […] (therapiebedeutsame Aufklä- rungspflicht gegenüber dem Patienten!), und/oder Betroffene wegen ihrer Persön- lichkeitseigenarten z. B. aufgrund eines erheblich eingeschränkten psychosozialen Funktionsniveaus ihre existenziellen Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, was zu- meist heißt, dass sie mit Ethik, Recht oder Gesetz in Konflikt geraten sind. In diesem Fall brauchen die Patienten selbst die Angemessenheit der Diagnosevergabe nicht zwingend zu teilen (Fiedler, 2007, S. 34). Über die Lebenszeitprävalenz von PS in der Gesamtbevölkerung gibt es wenige gesicherte Angaben. Saß spricht von 9,4 % für alle Formen von Persönlichkeits- störungen (vgl. Saß, 2001) und davon von 60-80 % für die Gruppe der psychiat- rischen Patient*innen), Reich et al. 12 % (vgl. Reich et al., 1989, nach DSM-III diagnostiziert) und Lenzenweger von 10,6 % (vgl. Lenzenweger, 2008). Exakte epistemologische Daten für die narzisstische Persönlichkeitsstörung liegen auf- grund der Tatsache, dass genaue Ziffern jener, die sich in Behandlung befinden, nicht vorliegen bzw. sich viele Betroffene gar nicht behandeln lassen. Gründe dafür sind die Ich-Syntonie des Störungsbildes und die daraus resultierende man- gelnde Krankheitseinsicht nach dem Motto, die anderen wären das Problem. Kass et al. diagnostizierten 1985 in einer klinischen Stichprobe 3 % der Probanden eine narzisstische PS (vgl. Kass et al., 1985). Übereinstimmung hingegen herrscht in der psychiatrischen Fachwelt über die hohe Komorbidität von PS: Das Vorliegen einer PS erhöht die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer weiteren PS be- trächtlich. Zur Komplexität der psychotherapeutischen Behandlung von Narzissmus Psychotherapie ist eine hochkomplexe Heilbehandlung, deren Erfolg von einer Vielzahl von Variablen abhängig ist. Auf Klient*innen-Seite nennen Sachse & Fasbender (vgl. Sachse & Fasbender, 2019) u. a. die Persönlichkeit des*der Kli- ent*in, die Art der Störung, die Schwere der Symptomausprägung, das psycholo- Das „Große Ich-bin-Ich“! 75 gische Funktionsniveau, den Attributionsstil, die Erwartungen und Änderungsbe- reitschaft, den Selbstwert, die Ich-Stärke, die Empathiefähigkeit, die Beziehungs- fähigkeit und das Ausmaß der Demoralisation. An Prozess-Variablen werden die therapeutische Allianz, das Vertrauen zur therapierenden Person, die aktive Mit- arbeit des*der Klient*in, die Compliance, der Widerstand und die Vermeidung von Themen, die Beziehungsgestaltung durch den*die Klient*in, die Selbst-Ex- ploration und das Experiencing, die Bearbeitungstiefe und die emotionale Betei- ligung genannt. Allein diese Auflistung therapiebestimmender Variablen soll zei- gen, welch hohe Komplexität allein von den Klient*innen in psychotherapeuti- sche Prozessen eingebracht wird. Dazu kommen noch die Therapeut*innen-Vari- ablen Alter, Geschlecht, Interaktionsstile, Empathiefähigkeit, Akzeptierung, Selbstkongruenz, Signalkongruenz, Selbsteinbringung des*der Therapeut*in, die komplementäre Beziehungsgestaltung sowie die Interventionsvariablen Direkti- vität, Prozesssteuerung, Einsichts- und symptomorientierte Interventionen, emo- tionsaktivierende Interventionen und last but not least die inhaltliche und metho- dische Expertise des*der Psychotherapeut*in. Da sich Machiavellist*innen kaum in psychotherapeutische Behandlung be- geben, beziehen sich die folgenden Ausführungen vornehmlich auf die Bedingun- gen der psychotherapeutischen Behandlung von pathologischem Narzissmus. Zwei konstitutive Aspekte kommen im Rahmen dieses Störungsbildes noch zu- sätzlich ins Spiel: Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung verhält sich erstens ich-synton, d. h. die betroffene Person erlebt sich als gar nicht gestört (fehlende Krankheitseinsicht, dadurch keine Motivation zur Änderung) und ist zweitens zum Zweck ihrer Aktualisierung auf Kommunikationen und Interaktionen ange- wiesen. Pathologische Narzisst*innen realisieren insbesondere auch im Rahmen psychotherapeutischer Systeme ihre gestörten und dysfunktionalen Kommunika- tionen und Interaktionen und bieten dem psychotherapeutischen System auf diese Weise Material an, ziehen aber auch ihre Psychotherapeut*innen in eine ständige Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung, die einer speziellen Kompe- tenz von Metabeobachtung bedürfen (Beobachtung der behandelten Person bei gleichzeitiger Beobachtung der eigenen Reaktionsweisen auf diese und die daraus entstehende Beziehungsgestaltung). Nicht selten sind Narzisst*innen ja in der Lage, Charme, Sympathie und gute Laune zu versprühen, nicht selten handelt es sich jedoch um geschickt platzierte Manipulationsversuche, deren Verwendung in ihrer Routine und ihrem wiederholten Erfolg begründet liegt. Übertriebene Kom- plimente bzw. Äußerungen von Bewunderung und besonderen Heilserwartungen gegenüber der therapierenden Person stellen solch typische Kommunikationen 76 Stephan Hametner dar, Einladungen aller Art (Essen, Reisen, andere Vergünstigungen) weniger sub- tile. Da Narzisst*innen leicht kränkbar sind, tendieren sie insbesondere zur Ver- meidung selbstkritischer Inhalte. Alles, was an ihrem Selbstbild oder an ihrer Per- son kratzen könnte, wird umschifft. Sollte die therapierende Person trotzdem zu konfrontativ und dadurch zu nahegekommen sein, muss sie mit Wut- und Aggres- sionsausbrüchen sowie verbalen Abwertungskaskaden rechnen, die nicht nur die Behandlung selbst, sondern auch ihre eigene Person massiv in Frage stellen. The- rapieabbrüche finden nicht selten als ultimative Form von Abwertung statt, weil möglicherweise die therapierende Person bei einem der von der behandelten Per- son gern angestellten „Tauglichkeitstests“ durchgefallen ist. Es wird deutlich, dass die Behandlung von Narzissmus sehr viel Geduld, Selbstreflexion und Pro- fessionalität erfordert. Insgesamt wird klar, dass es die Kommunikationen und Interaktionen, die der narzisstischen Ausprägung des „Großen Ich-bin-Ichs“ ent- springen, in einer systemisch orientierten Psychotherapie Gegenstand der thera- peutischen Interventionen sind und nicht so sehr die Persönlichkeit der behandel- ten Person. Diese Kurzeinführung in die Behandlung eines narzisstischen Klientels macht deutlich, dass ein an sich schon komplexes System wie Psychotherapie durch ein an sich schon komplexes und fluides Krankheitsbild ‒ eine Achse, die von der narzisstisch akzentuierten Persönlichkeit bis hin zur narzisstischen Per- sönlichkeitsstörung reicht ‒ zu einem hoch- bzw. multi-komplexen Geschehen wird. Möchte Psychotherapie erfolgreich sein, kann sie daher gar nicht anders, als Schutzmechanismen und Limitationen für die ihr immanente Komplexität einzu- bauen und/oder ein gesundes Maß an Komplexitätsreduktion anzustreben. Dabei spielen die Themen Expertise, Führung, Selbstführung und Klarheit der Rahmen- bedingungen eine zentrale Rolle. Schutzmechanismen und Limitationen der Komplexität von Psychotherapie Folgende Prinzipien beschützen das psychotherapeutische Geschehen vor der Ge- fahr seines Scheiterns aufgrund der ihm eigenen überbordenden Komplexität, vor allem in der Arbeit mit dem „Großen Ich-bin-Ich“. Aufseiten der therapierenden Person sind dies eine professionelle Ausbildung in Kommunikation und Interak- tion (gründliche und tiefgehende Reflexion und Aufarbeitung der eigenen Bio- grafie und insbesondere der eigenen Übertragungs- und Gegenübertragungsdyna- miken), ein wertschätzender, empathischer und prosozialer Habitus, der zudem ein hohes Maß an Konflikt- und (Selbst-)Kritikfähigkeit sowie die Bereitschaft zur Konfrontation umfasst sowie die Fähigkeit zur Metakommunikation (z. B. im Das „Große Ich-bin-Ich“! 77 Rahmen von Beziehungsklärung). Die habituell benötigte Ausstattung der thera- pierenden Person liest sich demgemäß wie die genaue Antithese zum „Großen Ich-bin-Ich“ der Dunklen Triade. Für das therapeutische System sind dies die klar formulierte Erteilung des Arbeitsauftrags des*der Klient*in, das Erstellen eines transparenten Arbeitskontraktes, die Dokumentationspflicht in Form der Proto- kollierung von Therapiestunden, die verpflichtende Teilnahme an Fortbildung und Supervision sowie die verbindliche Einhaltung der Ethik-Richtlinie als mo- ralische Rahmung. Aufseiten der rechtlichen Rahmenbedingungen sind dies: das Basieren von Psychotherapie auf einer klaren gesetzlichen Vorlage (Psychothe- rapiegesetz) sowie die Existenz von Schiedsgerichten zur Klärung von Kommu- nikationen und Interaktionen, die sich außerhalb der erwähnten Ethik-Richtlinie bewegen (z. B. bei sexueller Belästigung oder sexuellem Übergriff, aber auch beim Nachweis des Ausnutzens eines Abhängigkeitsverhältnisses). Im Ernstfall führt der Nachweis eines solchen Vergehens zum Verlust der Berufslizenz, was angesichts der exorbitanten Ausbildungskosten und des zeitlichen Einsatzes im Rahmen der Ausbildung an angedrohter Sanktion fast nicht zu übertreffen ist (Konsequenzen, die sich durch das Strafrecht ergeben, mit eingeschlossen). Es ist deutlich, dass die Arbeit als Psychotherapeut*in ein hohes Maß an (Selbst-)Füh- rung und (Selbst-)Management verlangt. Nicht zuletzt deshalb erscheint die Ver- wirklichung eines systemisch aufgesetzten Zirkularitätsprinzips von entscheiden- der Bedeutung: Keine professionell agierende therapierende Person wird sich je- mals die letzte Instanz im Sinne des Anspruchs auf alleinige Bedeutungshoheit konstruieren. Die Verpflichtung zu Supervision, gegebenenfalls auch zu Intervi- sion im Berufskollegium, soll verhindern, dass die therapierende Person selbst in eine narzisstisch geprägte Selbstüberschätzung gerät (z. B. im Falle von Größen- phantasien bezüglich der eigenen Heilungskompetenzen). Selbst die wissen- schaftlich tätige therapierende Person wird sich im Rahmen von Publikationen, Vorträgen oder Fachtagungen der kritischen Reflexion ihrer Fachkolleg*innen aussetzen und auf diese Weise eine Verhandlung von Bedeutung anstreben. Zu- sammenfassend: Psychotherapeutische Systeme zeichnen sich durch die Vielzahl ihrer Variablen eine hohe Komplexität aus. Um ihr Funktionieren zu garantieren, benötigen sie Schutzmechanismen und Limitationen, die sich in einem direkten proportionalen Verhältnis zu ihrer Komplexität befinden. Das „Große Ich-bin-Ich“ im politischen System Die politische Bühne bietet im Gegensatz zur Abgeschlossenheit und Verschwie- genheit des psychotherapeutischen Systems wegen ihrer medialen Ausgesetztheit 78 Stephan Hametner einen Vorrat an Beobachtungsmöglichkeiten des „Großen Ich-bin-Ichs“ und sei- ner verstörenden Weisen von Kommunikationen und Interaktionen. Manche Po- litiker*innen eignen sich deshalb in besonders anschaulicher Weise für die Ana- lyse einiger Dynamiken, die von einem „Großen Ich-bin-Ich“ ausgehen. Auffällige Politiker*innen: Medien, Öffentlichkeit und demokratischer Staat in Geiselhaft des „Großen Ich-bin-Ichs“ Die Person und das Auftreten des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten Do- nald Trump sprengen viele Dimensionen des bisher selbst aus der Politik Ge- wohnten. In der medialen Berichterstattung wird Trump als schwierig, launenhaft, chaotisch, unberechenbar und selbstsüchtig bezeichnet und hat nach genauen Re- cherchen der Washington Post „bis Ende April [2019, Anm. Hametner] 10.111 Mal gelogen und/oder irreführende Behauptungen aufgestellt“ (vgl. Lendvai, 2019). Nebenbei ist er in unzählige, ungeklärte Skandale verwickelt, wie die heimliche Tonaufnahme eines Gesprächs während seines Präsidentschaftswahl- kampfes mit eindeutigen Aussagen zu sexueller Gewalt, dem sog. Access Holly- wood Tape: „I don’t even wait. And when you’re a star, they let you do it. You can do anything. Grab them by the pussy. You can do anything“ (Trump, 2016, 01:15 bis 01:22), die Schweigegeld-Zahlung an die Porno-Darstellerin Stormy Daniels, widersprechende Aussagen über sein unglaublich professionelles Golf- Handicap (die Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen) und ein Teil seines ehemaligen Umfelds musste bzw. muss sich vor Gericht wegen der vermuteten Manipulation des Präsidentschaftswahlkampfes verantworten. Er legte weder den Mueller-Report über seine Russland-Verbindungen während dieses Jahres noch seine Steuererklärungen der vergangenen Jahre offen, streitet von ihm selbst ge- tätigte Behauptungen kurz später wieder ab, verkauft offensichtliches Scheitern seines Handelns als Erfolge und führt eine Verleumdungsschlacht gegen die freie Presse und ihm nicht genehme Medien unter der Pauschalabwertung „Fake news“. Trumps Slogans „Make America great again!“, „Keep America great again!“ und vor allem sein handelspolitisches Credo „America first!“ sind ein klares anti-multilateralistisches Credo und stellen ähnlich wie jede Form von Na- tionalismus (und in übersteigerter Ausprägung von kolonialistischen Bestrebun- gen) eine Generalisierung von Narzissmus im Sinne einer kollektiven Überlegen- heitsüberzeugung gegenüber dem Rest der Welt dar. Und auch sonst verfügt Trump über ein ausgefeiltes Repertoire an Elementen demagogischer Kommuni- kation. Das „Große Ich-bin-Ich“! 79 Neben 400 ehemaligen Staatsanwält*innen, die öffentlich behaupten, dass Trump allein sein Amt als Präsident vor einer Anklage schützt (APA, 2019), ha- ben 27 amerikanische Psychiater*innen, Psycholog*innen sowie Psychothera- peut*innen, darunter intellektuelle und wissenschaftliche Schwergewichte wie Noam Chomsky oder Philipp Zimbardo, gemeinsam die Analyse Wie gefährlich ist Donald Trump? verfasst (vgl. Lee, 2018). In dieser wird der Frage nachgegan- gen, warum „Trump absolut amtsunfähig ist und niemals mit der Macht des ame- rikanischen Präsidenten hätte betraut werden dürfen“ (Lee, 2018, Klappentext Buch-Rückseite). An dieser Stelle soll auf einen wichtigen ethischen Aspekt hin- gewiesen werden, dass nämlich Begriffe wie „gefährlich“ (auf das Verhalten an- derer) oder „gestört“ (auf die psychische Verfassung anderer bezogen) in der All- tagssprache relativ schnell, inflationär und deshalb in missbräuchlicher Weise ver- wendet werden. Die Motive sind mannigfaltiger Natur, meistens weil andere ei- nem nicht passen, diese fremdartig in Bezug auf das eigene Selbstverständnis er- scheinen (z. B. in Bezug auf politische, kulturelle, gesellschaftliche, generatio- nale, religiöse, weltanschauliche, ideologische, genderbezogene oder sexuelle Einstellungen bzw. Werte) oder in Bezug auf kommunikative oder interaktionelle Verhaltensweisen stehen. Insgesamt besteht das Motiv meist in einer eigenen nicht wahrgenommenen kognitiven Dissonanz, wobei die daraufhin erfolgte Ab- wertung zur Stabilisierung des eigenen Selbstwerts dient. Aus ethischer aber auch aus personenrechtlicher Perspektive ist es selbstverständlich hoch problematisch, jemanden aufgrund wahrgenommener Unterschiede mit derartigen Begriffen vor- schnell zu belegen, selbst wenn es sich um ein „Großes Ich-bin-Ich“ handelt. Als 1964 der umstrittene Republikaner Barry Goldwater für das Amt des amerikani- schen Präsidenten kandidierte, attestierte ihm eine Umfrage, die für das Magazin Fact unter Psychiater*innen durchgeführt worden war, Paranoia, Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen und deshalb aus psychologischer Sicht eine Nicht-Eig- nung für dieses Amt. Der Herausgeber von Fact wurde nach einer Klage zu einer beträchtlichen Geldstrafe verurteilt. Die American Psychiatric Society reagierte auf diesen Fall mit der sogenannten Goldwater-Regel, die es ab diesem Zeitpunkt Psychiater*innen untersagte, derartige Diagnosen in Bezug auf Personen des öf- fentlichen Lebens zu erstellen, ohne diese jemals selbst untersucht zu haben. 2017 erweiterte die American Psychiatric Society die Goldwater-Regel dahingehend, dass „jeder von einem Psychiater abgegebene Kommentar über eine Persönlich- keit des öffentlichen Lebens, der sich erkennbar auf seinen beruflichen Hinter- grund zurückführen ließ, verboten wurde“ (Glass, 2018, S. 184). Im Klappentext von Wie gefährlich ist Donald Trump? nimmt der Verlag deshalb selbstkritisch auf die Goldwater-Regel Bezug (Lee, 2018): 80 Stephan Hametner Sie [die Autor*innen, Anm. Hametner] durchbrechen damit eine wichtige ethische Grundregel ihres Berufs, die es ihnen verbietet, Persönlichkeiten des öffentlichen Le- bens eine seelische oder geistige Krankheit zu attestieren, das heißt, ohne eine vo- rausgegangene diagnostische Untersuchung eine Ferndiagnose zu stellen. Den Grund für die Entscheidung, ihre professionelle Neutralität aufzugeben, sehen sie in ihrer ‚Pflicht, die Öffentlichkeit zu warnen‘. In spannenden Beiträgen untersuchen die Au- torInnen die narzisstischen Charakterzüge, die psychopathologischen Symptome und die bizarren Handlungen Trumps, die angesichts seiner Machtfülle tatsächlich eine akute Gefahr nicht nur für die USA, sondern für die ganze Welt darstellen. Dass sich seriöse Professionist*innen, die üblicherweise nur auf Basis des per- sönlichen Auftrags durch ihr Klientel diagnostizieren, mit ihrer Warnung und un- ter Verwendung psychiatrischer Fachbegriffe an die Öffentlichkeit wagen, er- scheint bemerkenswert. Dies kann einerseits als Indiz gewertet werden, welch hohe Bedeutung der Schnittstelle zwischen Persönlichkeit und dem öffentlichen Amt Trumps zukommt. Die amerikanische Präsidentschaft mit seinen weitrei- chenden Befugnissen bietet seinem Inhaber nicht nur die eigene Nation, sondern den gesamten Planeten als Spielfeld für seine kommunikative und interaktionelle Destruktivität (Gilligan, 2018, S. 211f.): Trump ist jetzt das mächtigste Staatsoberhaupt der Welt und eines der impulsivsten, arrogantesten, ignorantesten, planlosesten, chaotischsten, nihilistischsten, selbstwi- dersprüchlichsten, selbstherrlichsten und selbstsüchtigsten. Er hat seinen Finger an den Auslösern von mehr als tausend der mächtigsten thermonuklearen Waffen. Das bedeutet, dass er in wenigen Sekunden mehr Menschen töten könne, als jeder Dikta- tor in der Vergangenheit während seiner gesamten Zeit als Machthaber zu töten im- stande war. Tatsächlich hat Trump kraft seines Amtes die Macht, die beispiellos zer- störerischen Weltkriege und Völkermorde des 20. Jahrhunderts auf untergeordnete Fußnoten des 20. Jahrhunderts zu reduzieren. Es zeigt andererseits aber auch, dass die Autor*innen von Wie gefährlich ist Do- nald Trump? das Gut ihrer gesellschaftlichen Verantwortung höher bewerten als die Einhaltung der ethischen Verpflichtung der eigenen Standesvertretung (wobei zu erwähnen ist, dass einige der Autor*innen ihre Standesvertretung genau aus diesem Grund verlassen haben). Diese Abwägung des höheren Gutes geht auf einen traurigen Fall der amerikanischen Rechtsgeschichte zurück: 1969 tötete ein Mann namens Prosenjit Poddar am Campus der University of California seine Mitstudentin Tatjana Tarasoff und dies, obwohl er vor der Tat von einem Psychi- ater als potenziell gefährlich eingestuft, aber nach einer kurzen Anhaltung wieder freigelassen wurde. Die im Anschluss an dieses tragische Ereignis ebenfalls von der American Psychiatric Society erlassene Tarasoff-Doktrin mit ihren beiden Ausprägungen Duty to Warn (1974) und Duty to Protect (1976) zeigt bereits das Das „Große Ich-bin-Ich“! 81 nun eingetretene ethische Dilemma im Umgang mit Politikern wie Donald Trump. In den letzten Monaten – und dies mag einem zunehmenden Leidensdruck geschuldet sein – ist in dieser Hinsicht zu beobachten, dass mehr und mehr Au- tor*innen aus verschiedenen Bereichen Trumps Destruktivität begrifflich konkre- tisieren und damit an die Öffentlichkeit gehen. Der Ökonom und Professor an der Columbia University Jeffrey D. Sachs bspw. spricht von einem „unmäßigen In- dividuum“, von einem „Alleinherrscher“, von „bösartigem Narzissmus“ und von „psychopathischem Verhalten“ (vgl. Sachs, 24.08.2019). Trumps republikani- scher Parteifreund Joe Walsh möchte diesen bei den kommenden Vorwahlen 2020 herausfordern, denn „er ist rassistisch, er ist narzisstisch“ und „wir können keine weiteren vier Jahre Donald Trump ertragen“ (vgl. APA/AFP, 25.08.2019). Markus A. Gaßner spricht in seinem Artikel über Trumps im August 2019 be- kannt gewordene Bemühungen, ganz Grönland zu kaufen, von einer „narzisstisch zutiefst gekränkten, emotional aufbrausenden und politisch unberechenbaren Per- sönlichkeit“ (Gaßner, 25.08.2019). Angesichts der von Trump produzierten und dokumentierten verstörenden Interaktion und Kommunikation ließe sich diese Aufzählung selbstverständlich noch weiter fortsetzen. Aber was ist mit einer Lö- sung für das ethische Dilemma zwischen Goldwater-Regel und Tarasoff-Doktrin, zwischen dem Vorwurf von der Amoral ethischer Ferndiagnosen öffentlicher Per- sonen und dem Schutz von Leben bzw. der Warnung, dass dies in Gefahr sei? Glass bringt dazu ein interessantes Argument, in dem er einen Unterschied zwi- schen den beiden Termini „professionelle Meinung“ und „Meinung eines Profis“ markiert (Glass, 2018, S. 184). Um eine professionelle Meinung handelt es sich dann, wenn ein*e Patient*in oder ein*e Klient*in eine professionell agierende psychiatrische, psychotherapeutische oder psychologische Einrichtung, sei diese öffentlich oder privater Natur, direkt aufsucht und eine Fachdiagnose von Perso- nen erhält, die dort im Rahmen ihrer Profession agieren (dies entspricht bspw. den Schilderungen in Kapitel 1). Um eine Meinung eines Profis handelt es sich dann, wenn dasselbe Personal ihre „Auffassung in einer nichtklinischen Rolle äu- ßert (wenn ein Psychiater, ein Psychologe, ein Psychotherapeut usw. seine Mei- nung zum Beispiel im öffentlichen Raum äußert)“ (Glass, 2018, S. 184). Glass zieht in diesem Zusammenhang auch Parallelen mit Expert*innenmeinungen, wie sie im TV häufig in Form von Kommentator*innen oder Analyst*innen anzutref- fen sind, gleich ob es sich dabei um Themen wie Gesundheit oder Fußball handelt. Selbstverständlich sind daher alle bisherigen Ausführungen und jene nun Folgen- den aus der Perspektive der Meinung eines Profis, sprich des Verfassers zu inter- pretieren. 82 Stephan Hametner Analysen, wie die Donald Trumps, stellen kein rein amerikanisches Phäno- men dar, es findet sich auch Analoges im deutschen Sprachraum. Ötsch hat zu Beginn des Jahrtausends mit Haider light (vgl. Ötsch, 2000) eine systematisch brillante Analyse der manipulativen Kommunikations-Strategien Jörg Haiders vorgelegt und vor kurzem mit Populismus für Anfänger (vgl. Ötsch, 2017) ein ebenso detailliertes Handbuch gegen Demagogie. Die von ihm gegebene Aufstel- lung demagogischer Kommunikations- und Interaktionsmuster liest sich wie ein „state of the art“ narzisstischer, machiavellistischer und psychopathischer Strate- gien: „Predigen Sie etwas Einfaches“, „Teilen Sie die (soziale) Welt in zwei Teile: in DIE WIR und in DIE ANDEREN“, „Belegen Sie DIE WIR und DIE ANDEREN mit eindeutigen Eigenschaften“, „Vereinfachen, vereinfachen, ver- einfachen“, „Ihre Zielgruppe gehört immer zu den WIR“, „Geben Sie sich die Rolle des SUPER-WIR“, „Bei Angriffen: Wechseln Sie blitzschnell in die Opfer- rolle“ bzw. „Gehen Sie sofort zum Gegenangriff über“, „Erfinden Sie Sünden- Böcke“, „Erklären Sie Ihr Welt-Bild durch (erfundene) Einzel-Fälle“, „Verbreiten Sie Verschwörungsmythen“, „Stellen Sie jede moralische Autorität in Frage“, „Brechen Sie ungeschriebene Regeln der Demokratie“, „Verschleiern Sie ihre ei- genen Skandale, solange es geht“, „Spotten Sie über körperliche Merkmale Ihrer Feinde“, „Erfinden Sie Schimpfwörter für DIE ANDEREN“, „Propagieren Sie Zwänge. Sprechen Sie von ‚müssen‘, ‚sollen‘, ‚nicht können …“ und viele mehr“, Ötsch, 2002, S. 240-243). Ein weiteres Prinzip wäre, von der eigenen Meinung permanent als „in Wahrheit“ zu sprechen. Wirth beschreibt in seiner Monographie Narzissmus und Macht. Zur Psycho- analyse seelischer Störungen in der Politik (vgl. Wirth, 2002) was ein System wie Politik mit seinen Protagonist*innen anstellt, wenn diese plötzlich tatsächlich die Möglichkeit bekommen, reale Macht auszuüben und umgekehrt: wie sich häufig auch „Große Ich-bin-Ichs“ mit ihrem Kommunikations- und Interaktionsreper- toire den Weg in Führungs- und Machtpositionen bahnen. Anhand von vier Fall- studien zu Uwe Barschel, Helmut Kohl, Joschka Fischer und Slobodan Milosevic beschreibt Wirth die Machtposition als ein dem Charakter entsprechender Krank- heitsgewinn, als „Lebensumstände von außerordentlichem narzisstischem Befrie- digungswert“ (Wirth, 2002, S. 132). Tätig-Sein in Macht- und Führungspositio- nen und der Drang, sich ein solches Betätigungsfeld zu suchen, kreieren somit ein unaufhörliches zirkuläres Geschehen, bei dem das Problem darin besteht, dass es vom Betroffenen gerade eben nicht als Problem erlebt und erkannt wird. Seine ständige Suche nach narzisstischer Zufuhr, die ehrgeizige Verfolgung von Zielen, ein unaufhörlicher innerer Antrieb, die Unerschütterlichkeit nach Fehlschlägen und seine emotionale Verflachung lassen den Narzissten irrtümlich glauben, dass er ein erfolgreiches Dasein führt, das unter seiner Führung Bewirkte großartig ist Das „Große Ich-bin-Ich“! 83 und er dafür von allen gemocht und bewundert wird. Für die psychotherapeuti- sche Behandlung weist Kernberg in diesem Zusammenhang hin, dass, wenn ein Patient bereits über „reichlich Gelegenheit, Macht- und Geltungsbedürfnisse aus- zuagieren“ besitzt, dies die Prognose für seine erfolgreiche Therapie erheblich beeinträchtigen wird, „denn er hat womöglich in seinem Beruf und seinen sozia- len Beziehungen bereits eine derartige Machtposition erreicht, dass ihm seine Haltung als ‚völlig normal‘ erscheint und es daher außerordentlich schwierig wird, diese Form ‚chronischen Agierens‘ analytisch überhaupt noch in Frage zu stellen“ (Kernberg, 1975, S. 293; vgl. dazu auch Cremerius, 1984;Strolz, 2011). Ein zweiter von Wirth thematisierter Aspekt betrifft die Rolle der Unterstüt- zer*innen und jener Trittbrettfahrer*innen, die sich im engeren Einflussbereich von narzisstischen Persönlichkeiten aufhalten (in Organisationen: müssen), und das Faktum, dass der Aufenthalt in deren Windschatten erhebliche psychische Ge- winne für sie abwerfen kann. Der Schweizer Paartherapeut Willi hat für diese Dynamik den Begriff der „neurotischen Kollusion“ geprägt. Ursprünglich für die Therapie von Ehe- und Liebespaaren entworfen, kann er auch auf Personenkons- tellationen angewendet werden, die sich in dysfunktionaler Weise rund um ein narzisstisches Individuum aufbaut: „In Beziehungen, die in hierarchischen Bezie- hungen stattfinden, kann das [Konzept der Kollusion, Anm. Hametner] natürlich ‚bedient‘ werden“ (persönliche Mitteilung am 25.09.2018 von Dr. Helke Bruch- haus Steinert, Institut für Ökologisch-systemische Therapie in Zürich). Der Ter- minus „Kollusion“ bezeichnet das Zusammenspiel progressiver und regressiver Bedürfnisse in einer symmetrischen Partnerschaft. Progressive Bedürfnisse sind bspw. der Wunsch nach Stärke, Kompetenz, Tatkraft und Überlegenheit, regres- sive hingegen der Wunsch nach Schutz, Geborgenheit, Zärtlichkeit, Liebe und Einander-Gehören. In einer gesunden Partnerschaft werden progressive und re- gressive Bedürfnisse von den beiden Partnern flexibel und situationsangepasst eingesetzt: Einmal ist der eine der Stärkere, ein anderes Mal der andere usw. In einer neurotischen Paarbeziehung hingegen nimmt jeder der beiden Partner (meist unbewusst) eine der beiden Positionen ausschließlich ein (bei gleichzeitiger Ver- drängung der anderen Position). Nach außen hin zeigt sich ein gleichwertiges Paar, dessen innere Dynamik aber erheblich gestört ist. Es sind dabei mehrere, analog zu den psychosexuellen Entwicklungsphasen Freuds benannte Varianten der neurotischen Kollusion denkbar: die narzisstische (progressiv: der Star, re- gressiv: der Bewunderer), die orale (progressiv: der Helfer, regressiv: der Pfleg- ling), die anale (progressiv: der Herrscher, regressiv: der Untertan) und die phal- lische Kollusion (progressiv: Macho/Weib, regressiv: Softy/Graue Maus). Die Beziehungen in diesen Kollusionen sind von folgenden Mottos gekennzeichnet: auf Seiten der Regressiven („Toll, dass du so grandios bist!“, „Toll, dass du dich 84 Stephan Hametner so um mich kümmerst!“, „Toll, dass du so aktiv, so stark und durchsetzungsfähig bist!“ und „Toll, dass du so typisch männlich/weiblich bist!“). Und auf Seiten der Progressiven („Toll, dass du mich so bewunderst, verehrst und bestätigst!“, „Es tut mir gut, dass du dich mir so bedingungslos anvertraust!“, „Ich genieße es, dass du dich mir unterwirfst!“, und „Toll, dass du mich in meiner Männlichkeit/Weib- lichkeit so bewunderst!“) (vgl. Schmalz & Unger, 2018). Das „Große Ich-bin-Ich“ – und das würde man im ersten Moment nicht er- warten, weil diese Bezeichnung ja selbstbezüglich ausgelegt ist – stellt das genaue Gegenteil einer Monade dar. Es benötigt ein oder mehrere regredierte Gegenüber, die im Rahmen solch neurotischer Kollusionen seine gestörte Inszenierung (oft auch unbewusst) mitspielen und aufrechterhalten. Volkan sieht in Bezug auf Kol- lektive bzw. Großgruppen die Passung zwischen einem politischen Führer mit ei- ner narzisstischen Persönlichkeitsorganisation und der ihm folgenden ethnischen, nationalen oder religiösen Großgruppe dann am größten, wenn sich diese in einem regredierten Zustand befindet (vgl. Volkan, 2006, S. 206f.): Der Glaube des narzisstischen Führers an die eigene Machtüberlegenheit, Intelligenz und Omnipotenz sorgt für Trost und wiegt die Großgruppe in illusionärer Sicherheit. Die Anhänger nutzen die Persönlichkeit des narzisstischen Führers als ‚Antidot‘, um sich vor gemeinsamen Ängsten zu schützen. Der narzisstische Führer wiederum macht sich die Abhängigkeit und Bewunderung der regredierten Anhängerschaft als eine Möglichkeit zunutze, seine Grandiosität zu schützen und aufrechtzuerhalten und seine Abhängigkeitsbedürfnisse zu verbergen. Dies lässt in ihm die Bereitschaft ent- stehen, die gesellschaftlichen und politischen Anzeichen einer Großgruppenregres- sion bewusst, noch häufiger jedoch unbewusst (Volkan, 2001) auf übertriebene Art und Weise zu manipulieren. Die psychologischen Mechanismen aufseiten der Mit- glieder einer regredierten Großgruppe passen somit zur Psychodynamik eines nar- zisstischen Führers, der die Regression der Großgruppe auslösen oder zum Stillstand bringen kann. Volkan bringt im Hinblick auf die Regression von Großgruppen einen weiteren Aspekt ins Spiel, dass insbesondere auch die Kollektivierung der narzisstischen Wut geeignet ist, weitreichende destruktive Prozesse historischer als auch geopo- litischer Natur in Gang setzen kann. Als Symptome dafür nennt er „gewählte Ruh- mesblätter“ und „gewählte Traumata“. Beide Symptome betreffen ganze Kollek- tive und besitzen eine stark identitätstiftende Funktion: „Gewählte Ruhmesblätter (chosen glories) sind gemeinsame psychische Repräsentanzen von Ereignissen und Helden, die, wenn sie aktiviert werden, den Selbstwert unter den Gruppen- mitgliedern steigern […] Ein gewähltes Trauma bezieht sich auf die psychischen Repräsentanten eines Ereignisses, das für eine Großgruppe mit dramatischen Ver- Das „Große Ich-bin-Ich“! 85 lusten, dem Gefühl der Hilflosigkeit, Demütigung und Kränkung sowie Viktimi- sierung durch eine andere Gruppe verbunden ist (Volkan 1992, 1997; Volkan u. Itkowitz 1994)“ (Volkan, 2006, S. 211). Gewählte Traumata stellen nach Volkan den nachhaltigeren Einfluss auf die Identität einer Großgruppe dar, weil sie „mit einem Gefühl der Demütigung, der Rache und des Hasses“ einhergehen (Volkan, 2006, S. 212). Chronologisch aufgespannt sieht er mehrere Phasen, in denen sich diese kollektive narzisstische Wut entlädt. Nach einer Phase großer Anspannung, in der gewählte Traumata durch den politischen Führer mit narzisstischer Persön- lichkeitsstruktur aktiviert werden, kommt es zum Zeitkollaps, in dem das ge- wählte Trauma neuerlich erlebt wird, angeheizt durch Propaganda und Demago- gie. In einer weiteren Phase finden entweder gutartige oder maligne Reinigungs- prozesse statt. Die maligne Variante kann entweder den Versuch einer Umkeh- rung von gewählten Traumata auf historischer Bühne bedeuten (z. B. durch Krieg), aber auch die Vernichtung konkreter Personen oder Personengruppen, die eine Bedrohung der Grandiosität des Führers darstellen (vgl. Volkan, 2006, S. 213). Der Fall Hitler: zur Genese der Durchdringung des „Großen Ich-bin-Ichs“ mit dem Staat Jene Dynamik, die Adolf Hitler als Führer mit „seinem“ deutschen Volk insze- niert hat, stellt den traurigen Höhepunkt der Verwirklichung der Spielarten von neurotischer Kollusion und der Kollektivierung von narzisstischer Wut dar. Der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen hat einen grundsätzlichen und systema- tischen Mechanismus einer pathogenen psychischen Entwicklung aufgegriffen und diesen als Der Fremde in uns identifiziert. Diese Entwicklung – und damit ist die Biografie, Erziehung und Sozialisation des „Großen Ich-bin-Ichs“ in Ge- stalt des „Führers“ als auch seiner durch neurotische Kollusion verbundener Un- tertanen gemeint – mündet in Dissoziation, dissozialem Erleben und Verhalten, Unfähigkeit zur Perspektivenübernahme, Mangel an Empathie und Selbstwertge- fühl, Gefühlskälte und narzisstischer Selbstüberhöhung, nicht nur individuell, sondern auch auf das Kollektiv bezogen (Stichworte: die „deutsche Volksmasse“, die „deutsche Herrenrasse“, die „Über-“ und „Untermenschen“) sowie machia- vellistischem Größenwahn („Umvolkung“, „Lebensraum im Osten“) in Summe: in eine zutiefst antisoziale Ausprägung, den gemeinsamen Kern der Dunklen Tri- ade. Bei gleichzeitigem Selbstmitleid kommt es zu einer latenten und manifesten Gewalteskalation in Form von verbaler Abwertung, struktureller Bekämpfung und letztlich zur physischen Auslöschung des Fremden und Andersartigen. Alle 86 Stephan Hametner diese Aspekte verweisen aus psychotherapeutischer Sicht in Richtung einer nar- zisstischen und/oder dissozialen Persönlichkeitsstörung und die Anhänger Hitlers betreffend in Richtung einer neurotischen Kollusions- bzw. Wutdynamik. Ausgangspunkt von Gruens Theorie ist das Kind mit all seinen Bedürfnissen, wie denen nach Ausdruck, Zuwendung, Geborgenheit, Liebe und Angenommen- Sein in seinen Gefühlen, in seinem Schmerz und in seiner Schwachheit und Ab- hängigkeit, in Summe: in seiner Emotionalität. Eltern, die in ihrer eigenen Kind- heit ihre Gefühle und ihren Schmerz nicht wahrnehmen durften und diese Art von Wahrnehmung nie in ihrem Leben gelernt haben, konditionieren ihre Kinder dann, wenn sie entweder die Unterdrückung unerwünschter Äußerungen von Be- dürfnissen mit Lob oder vice versa geäußerte Bedürfnisse mit Abwertung, Strafe oder sogar mit Gewalt sanktionieren. Aus Angst vor (imaginierter) Vernichtung und Scham verbündet sich das Kind mit dem Aggressor und öffnet auf diese Weise dem Fremden Eintritt in das Eigene. Eigene Anteile werden zurückge- drängt und die Identifikation mit dem Fremden steigt zu Ungunsten des Eigenen. Diese Identifikation kann Werte ebenso betreffen wie Ideen und andere Glau- benssätze. Die im Erwachsenenalter verfestigte Erwartungshaltung: Wenn ich so bin, wie ich eigentlich bin, ernte ich Verachtung, Abwertung oder Strafe. Dies trägt infolge zu einer immer geringeren Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse bei, die nun als Schwäche erlebt werden, und ebnet den Boden für Minderwertig- keitsgefühle und/oder reziproke Größen-Phantasien. Der Fremde hat Einzug ge- halten und wirkt hemmend auf den Lebensvollzug des Erwachsenen. Gruen ver- wendet dieses Erklärungsmodell für alle Arten von Xenophobie als auch für den psychischen Mechanismus des gewaltbereiten Gehorsamsmenschen und exemplifiziert seinen Ansatz anhand biografischer Quellen detailreich an den Führungspersönlichkeiten des Dritten Reiches, insbesondere an der Psychopatho- logie Adolf Hitlers. Dessen Biografie spiegelt den Prozess der Entfremdung, indem der Fremde in ihm unaufhaltsam zu wirken begann. Mit der Fremde meint Gruen in Hitlers Fall dessen Abspaltung von seinem eigenen Schmerz, den er als Sohn eines ex- trem gewalttätigen Vaters zu ertragen hatte. Um diese Hilflosigkeit zu ertragen, identifizierte sich Hitler mit dem Aggressor, indem er bei den zu erduldenden Hieben mit dem Lederriemen den Schmerz nicht mehr zuließ und sich so vom Eigenen abtrennte. Hitler berichtete seiner Sekretärin, wie er sich mit dem Vater in dessen Verachtung für den Schmerz verbündete“ (zit. nach Gruen, 2004, S. 93): Ich nahm mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als es soweit war – ich weiß noch, meine Mutter stand draußen ängstlich an der Tür –, habe ich jeden Schlag mitgezählt. Die Mutter dachte ich sei verrückt geworden, Das „Große Ich-bin-Ich“! 87 als ich ihr stolz strahlend berichtete: ‚Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater ge- geben’. Hitlers narzisstische Grandiosität, seine selbstverliebte Pose und seinen Pathos erklärt Gruen mit dessen Beziehung zur Mutter: Nach mehreren Fehlgeburten und Kindestoden seiner Geschwister überlebte er, Hitler, und musste so aus eigener Sicht zum großen Künstler und Welteroberer werden. Das, was an ihm als Kind nicht das Eigene sein durfte, wurde später in einen Vernichtungsfeldzug in andere projiziert und dafür standen alle Nicht-Arier, Juden, politisch Andersdenkende und als „asozial“ Titulierte wie bspw. Homosexuelle. Die Bekämpfung des ‚Fremden’ erscheint so als gerechter und glorioser Feldzug. Der Haß auf das Eigene, das Menschliche, das den unterdrückenden Eltern im Wege stand, wird dadurch zur heroischen Tat gegen den ‚Schwachen’ außerhalb umgedeu- tet. ‚Schwach’ ist in diesem Kontext derjenige, der das Menschliche propagiert. (Gruen, 2004, S. 85) Hitler konstruierte sich als der Starke, Unbesiegbare (und die ersten Blitzerfolge am Beginn des 2. Weltkrieges schienen ihm in dieser Fehleinschätzung bedauer- licherweise leider Recht zu geben), der, sollte er tatsächlich scheitern, gern mit der Vernichtung seiner selbst drohte (und diese letztendlich auch praktizierte). Gruen sieht diese suizidale Tendenz als Bestrafung am symbolischen Vater an, basierend auf Selbstmitleid und innerer Opferrolle (Gruen, 2004, S. 86). Dies sollte ihn zum Hassen und Auslöschen eines äußeren Feindes berechtigen, wäre der Feind aber doch stärker, gäbe es keine Lebensberechtigung mehr. Aber nicht einmal ein territorial fremder Feind war der Gegner, sondern das deutsche Volk selbst, sollte es sich als schwach erweisen. Hitler am 27. November 1941: Ich bin auch hier eiskalt. Wenn das deutsche Volk einmal nicht mehr stark und opfer- bereit genug ist, sein eigenes Blut für seine Existenz einzusetzen, so soll es vergehen und von einer anderen stärkeren Macht vernichtet werden. […] Ich werde dem deut- schen Volk dann keine Träne nachweinen. (Gruen, 2004, S. 87f.) Gruens Befund über jene Menschen und Mechanismen, die Hitler bei seinem de- struktiven Vorhaben unterstützt haben, lautet, dass dessen faschistische Anhän- gerschaft sich deshalb mit ihm identifizierte, weil dieser öffentlich ausagierte, was ihr biografisch selbst geschehen war: das Abhandengekommensein des Eigenen durch die Identifikation mit einem früheren Aggressor (vgl. Gruen, 2004, S. 108). Derart geformte Menschen sahen paradoxerweise in Hitler den Erlöser (vgl. Gruen, 2004, S. 106). Hitler und seine Anhänger*innen bedienten sich quasi ge- genseitig: Das Ausagieren von Größenwahn bedarf einer Masse von Menschen 88 Stephan Hametner auf der gegenüberliegenden Seite, die ihrerseits durch die Agitation des Größen- wahnsinnigen auf Erlösung hoffen darf. Hitler verführte auf diese Weise durch seine in großartigen Posen vorgetragene Stärke die Massen, und man könnte auf- grund dieser Hypothese auch meinen: Hitler utilisierte die Massen für seine Zwe- cke, und diese dankten es ihm mit ihrem Gehorsam. Niemand brauchte sich mit dem eigenen Schmerz auseinandersetzen, weil einer versuchte es in pathologi- scher Weise für alle zu lösen und alle dafür benötigte. Gruen meint dazu, dass „die Menschen aus der Leere ihrer eigenen Identität heraus Hitlers Posieren be- nutzten, um sich selbst als wertvoll zu erleben“ (Gruen, 2004, S. 113). Und Hitler konnte die Erzählung spinnen, dass er allein sich für das deutsche Volk opfern würde, um ihm seine Würde wieder zurückzugeben. Eine punktgenaue Untermauerung der Thesen Gruens, vor allem für die Wei- tergabe des Mechanismus des Fremden in uns, findet sich in Leni Riefenstahls Propagandafilm Triumph des Willens, gedreht im Rahmen des Nürnberger Reichsparteitages 1934. Der Film soll durch monumentale Aufnahmen und für sich stehende Bilder, unterlegt mit (Marsch-)Musik, beeindrucken. Nur selten hört man die nationalsozialistischen Protagonisten im Originalton reden. Hitler aber, als er sich am Jugendtag direkt an tausende Jugendliche wendet, spricht die Figur des Fremden direkt an. Seine Jugend sollte so hart werden, wie er es selbst als Kind hatte werden müssen, und diese unbarmherzige Härte sollte von Gene- ration zu Generation weitergegeben werden. Wir wollen, dass dieses Volk einst nicht verweichlicht wird, sondern dass es hart sei, dass es den Unbilden des menschlichen Lebens Widerstand zu leisten vermag, und ihr müsst euch in der Jugend dafür stählen. Ihr müsst lernen, hart zu sein, Entbehrun- gen auf euch zu nehmen, ohne jemals zusammenzubrechen. […] Das müsst ihr üben, und das müsst ihr damit der Zukunft geben. Denn, was immer wir auch heute schaffen und was wir tun, wir werden vergehen. Aber in euch wird Deutschland weiterleben, und wenn von uns nichts mehr übrig sein wird, dann werdet ihr die Fahne, die wir einst aus dem Nichts hochgezogen haben, in euren Fäusten halten müssen. Und ihr müsst daher feststehen auf dem Boden eurer Erde und müsst hart sein, auf dass euch diese Fahne nie entfällt, und dann mag nach euch wieder Generation um Generation kommen, und ihr könnt von ihnen dasselbe fordern und verlangen, dass sie so wird, wie ihr gewesen seid. […] Und ich weiß, das kann nicht anders sein; denn ihr seid Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut, und in euren Gehirnen brennt derselbe Geist, der uns beherrscht. (Eigenhändige Transkription des Verfas- sers) Nach Gruen sucht der Mörder seinen verlorenen Schmerz im Opfer (vgl. Gruen, 2004, S. 97) und nur die Zerstörung des anderen gibt dem Täter das Gefühl, le- Das „Große Ich-bin-Ich“! 89 bendig zu sein (vgl. Gruen, 2004, S. 99). Dieser Mechanismus ist in der forensi- schen Psychiatrie auch als Opfer-Täter-Umkehr bekannt. Die Weitergabe des ei- genen Opferseins in Form der Bekämpfung eines äußeren Feindes mündet in pro- jektiver Weise in neuerliche Täterschaft und Re-Inszenierung des eigenen Schmerzes am anderen. Zweifellos gibt es für die narzisstische, machiavellistische und psychopathi- sche Ausprägungen Hitlers viele weitere Belege. Seine seit Linzer Jugendtagen bestehende Vorliebe für Wagners Rienzi ist hinlänglich bekannt, ebenso wie die später gegenüber Winifred Wagner getätigte und sich auf sein Erweckungserleb- nis nach einem Besuch der Oper im Linzer Landestheater beziehende Aussage: „In jener Stunde begann es!“ (Kubizek, 1975, S. 286). Der zum Leben des römi- schen Feldherrn Rienzi parallele Verlauf von Hitlers Aufstieg und Fall ist augen- fällig, auch die in der Oper vorkommenden „Heil dir, Rienzi unserm Volkstri- bun!“-Rufe und die Tatsache, dass sowohl Rienzi als auch Hitler Attentate über- lebten und die Interpretation dieses Faktums als göttliche Affirmation, sich weiter als Retter des eigenen Volkes zu inszenieren. Augustin Kubizek, Hitlers einziger Freund in den kargen Wiener Studententagen, berichtet auch, dass dieser endlose Monologe über politische Themen hielt und ihn, den Zuhörer, so als verlängertes Selbst benützte: Vor allem aber hatte mich Adolf als willigen Zuhörer schätzen gelernt. Er konnte sich gar kein besseres Publikum denken, denn ich stimmte ihm auf Grund seiner sugges- tiven Überredungsgabe auch in solchen Fällen zu, bei denen ich an sich durchaus anderer Meinung war wie er. Aber für ihn und das, was er vorhatte, blieben meine Ansichten ganz belanglos. Er brauchte mich ja bloß, um zu sich selbst sprechen zu können, denn er konnte doch nicht auf der alten Steinbank in Schönbrunn laute Selbstgespräche führen. Wenn er von einer Idee so erfüllt war, daß er sich entladen mußte, brauchte er mich etwa so, wie ein Solist ein Instrument braucht, um seinem Empfinden Ausdruck zu verleihen. Dieser, wenn ich so sagen darf ‚instrumentale Charakter‘ unserer Freundschaft machte mich für ihn wertvoller, als es meinen eige- nen bescheidenen Anliegen entsprach. (Kubizek, 1975, S. 255) Eines Tages verschwand Hitler dann einfach aus der gemeinsamen Wiener Woh- nung und Kubizek und er sollten sich fast 30 Jahre nicht mehr sehen. Seine 1953 unter dem Titel Adolf Hitler. Mein Jugendfreund erschienenen Erinnerungen an diesen stellen eine der wichtigsten Quelle zur biografischen und personalen Ana- lyse Hitlers dar. Um von der individuellen Pathogenese Adolf Hitlers zu einer größeren Per- spektive zu gelangen, ist ein Blick auf die historischen Rahmenbedingungen zu werfen, in die seine Biografie eingebettet war. Die Umbruchszeit nach dem Ersten 90 Stephan Hametner Weltkrieg und die Instabilität der Weimarer Republik boten ideale Rahmenbedin- gungen für einen Aufstieg in die Schaltzentralen der Macht: Die Lage für die neue Demokratie war alles andere als einfach. Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages, der als Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg die Re- parationsleistungen und Gebietsabtretungen Deutschlands an die Siegermächte re- gelte, wurde der Regierung stark angelastet. Die nationale Rechte setzte sich zur Auf- gabe die Volksgemeinschaft von 1914 wieder herzustellen. Die politische Instabilität der Republik und das soziale Elend seit Ende des Krieges wurden als Ausgangslage für die Propaganda der völkisch-nationalen Parteien und Gruppierungen genutzt. Auch auf Seiten des Staatsapparates gab es etliche strukturelle Probleme. So stützte man sich in Militär, Justiz und Verwaltung weiterhin auf das alte Personal des Kai- serreiches, das der neuen Staatsform meist ablehnend gegenüber stand (vgl. Maier, 2019). Diese unterschiedlichen Vorstellungen über die Gestaltung des noch jungen Staa- tes, die Heterogenität der politischen Protagonisten, die Verwendung des gleichen Personals in einer veränderten Staatsform, die imaginäre Bedrohung von innen (die Behauptung, jüdische Bevölkerungsteile würden an einer Revolution arbei- ten, führten zur sog. „Dolchstoßlegende“) und die reale von außen (Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen 1923) führten zu einer immensen Zerreißprobe der noch jungen Weimarer Republik. Der noch im selben Jahr erfolgte Putschversuch der NSDAP erscheint in diesem Licht verständlicher- weise als der Versuch, das Chaos der Zeit als historische Chance für den eigenen politischen Aufstieg zu nützen. Der Rest der Geschichte, das Ergebnis des Hit- ler‘schen Terrorregimes ist hinlänglich bekannt: insgesamt 60 Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg inklusive eines noch nie dagewesenen industriell betriebenen Genozid an Millionen unschuldiger Menschen im Rahmen des Holocausts sowie die weite Zerstörung Europas und anderer Teil der Welt. Schutzmechanismen und Limitationen der Komplexität der demokratischen Staatsform In einem Interview antwortete der von Donald Trump gefeuerte Ex-FBI Chef Ja- mes Comey auf die Frage, warum dieser Typ des Politikers (Donald Trump, Anm. Hametner) derzeit so erfolgreich sei, dass es gerade „die Zeiten des Wandels, des Schmerzes und der Verwerfungen“ seien, „in denen Demagogen einen fruchtba- ren Boden finden“ (vgl. Prantner, 2019). Dies scheint zur Zeit der Anfänge Hitlers nicht anders gewesen zu sein als gegenwärtig, mit dem großen Unterschied, dass die ökonomische und ökologische Vernetzung sowie die militärischen Möglich- keiten der heutigen Welt um ein Vielfaches höher sind als noch vor 90 Jahren (Stichworte: wirtschaftliche Globalisierung, Klimakatastrophe, Atomwaffen) und Das „Große Ich-bin-Ich“! 91 damit auch die Wirkung von Entscheidungen eines „Großen Ich-bin-Ichs“ um vieles verheerender ausfallen können (damit soll aber nicht ausgedrückt werden, dass die Folgen des Zweiten Weltkrieges nicht schon genug verheerend waren). Friedman bezieht dazu eindeutig Meinung: Wenn man die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeit zwischen Hitler und Trump zu lenken versucht, erntet man in der Regel heftigen Widerspruch. Diejenigen, die in diesem Punkt so heftig widersprechen, weisen in erster Linie darauf hin, dass Hitler die Presse sofort mundtot machte und die Oppositionellen inhaftierte oder tötete. Und es ist tatsächlich richtig, dass die durch eine funktionierende Verfassung vorgegebene Begrenzung von Trumps Macht ihn daran hindert, die Verhältnisse so rasch zu ver- ändern wie Hitler. Diese Tatsache ist in erster Linie dem Gleichgewicht der Kräfte und der Stärke unserer demokratischen Traditionen zuzuschreiben, während wir kei- neswegs den Eindruck haben, dass Trumps emotionale Muster und sein Denken sich erheblich von denen Hitlers unterscheiden. (Friedman, 2018, S. 195) Diesem Befund des Funktionierens demokratischer Instrumente wird auch durch eine seit dem Ende des 2. Weltkrieges in mehreren Schüben stattgefundene me- diale Entwicklung gestützt, die sowohl die Massenmedien (insbesondere das öf- fentlich-rechtliche Fernsehen und kritische Printmedien) als auch die virtuellen Medien wie das WorldWideWeb (www) und andere Formen von Social Media umfasst. Die damit eingehende Erhöhung von Öffentlichkeit und damit Zeugen- schaft einerseits und den im www sich offerierenden Möglichkeiten der Partizi- pation haben wesentlich zu einer Komplexitätssteigerung des politischen Diskur- ses beigetragen, da sich deren Kontrolle nun in den Händen vieler befinden kann (vgl. die Bedeutung von Social Media bei den Umstürzen im Zuge des „Arabi- schen Frühlings“ 2010 oder umgekehrt die Bemühungen zur Eindämmung von Social Media in Russland, China oder auch in Nordkorea). Bediente sich Hitlers Propaganda noch eines durch Gewalt abgesicherten hierarchischen Diskurses im Sinne eines von oben nach unten vorgegebenen ideologischen Programms, wel- ches durch die Gleichschaltung von Presse, Film und Fernsehen abgesichert wurde, so sollte dies im demokratischen Rechtsstaat nicht mehr so leicht möglich sein („sollte“ deshalb, weil gegenwärtig Tendenzen zur Unterhöhlung der Pres- sefreiheit feststellbar sind (z. B. in Ungarn unter der Regierung Orbans). Der Me- dienphilosoph Vilem Flusser nennt in seiner 1996 erschienenen Kommunikologie die von oben nach unten betriebene, kommunikative Durchsetzung einer Ideolo- gie „Pyramidendiskurs“ und den Modus der Massenmedien „Amphitheaterdis- kurs“, weil diese von einem zentralen Punkt aus in alle Richtungen ausstrahlen. Die Entwicklung von einem kombinierten Pyramiden- bzw. Amphitheaterdiskurs 92 Stephan Hametner der Nazi-Propaganda zu Formen von Kreis- und Netzdialogen stellt einen wesent- lichen Beitrag zum Schutzmechanismus demokratischer Staatsformen dar. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die demokratische Staatsform frei von hierarchischen Strukturen ist, denn dies ist real ja nicht der Fall (der Erlass von Gesetzen findet natürlich auch in Form pyramidaler Diskurse statt). Nur hat die Demokratie selbst für ihre eigene Kontrollierbarkeit gesorgt, indem sie auf einem verfassungsmäßig abgesicherten Prinzip der Gewaltenteilung gründet. Le- gislative (Parlament), Exekutive (Regierung und Verwaltung) und Judikatur (Ge- richte) agieren getrennt und werden im Fall der Legislative durch eine periodische Neubesetzung im Rahmen eines gesetzlich abgesicherten Wahlrechts immer wie- der aufs Neue legitimiert. Letztlich unterliegen auch alle drei Gewalten wiederum anderen Kontrollinstanzen wie Rechnungshof, Verwaltungsgerichtshof, Verfas- sungsschutz oder Untersuchungsausschüssen (letzteres seit Kurzem auch als Min- derheitenrecht). Die Pressefreiheit ist verfassungsmäßig garantiert, sie ermöglicht eine dokumentierende, aufdeckende und möglicherweise korrigierende Funktion in Bezug auf den politischen Diskurs. Der Einwand, dass Presse und Privatsender nur Manifestationen ihrer Eigentümer*innen seien und von deren wirtschaftli- chen Interesse geleitet werden würden, ist natürlich hoch legitim (vgl. dazu die Diskussionen zur Presseförderung und deren Grenzen). Nicht zuletzt deswegen werden Medien wie Rundfunk und Presse als die Vierte Gewalt, die Vierte Macht oder die Publikative Gewalt und als Fünfte Gewalt Lobbyismus und Social Media bezeichnet: Social Media weisen eine Wahlverwandtschaft zu Grundprinzipien der Bürgergesell- schaft wie Selbstorganisation und Eigenverantwortung, Partizipation und freier As- soziation auf. In den Ressourcen von Social Media liegt daher Innovations- und Sy- nergiepotenzial für bürgerschaftliches Engagement, Engagementförderung und die Herausbildung einer beteiligungsoffenen Bürgergesellschaft. (https://de.wikipedia.org/wiki/Social_Media, abgerufen am 26.06.2019). Die Komplexität der medialen Landschaft und die damit verbundenen partizipa- tiven Möglichkeiten, sich gegen das „Große Ich-bin-Ich“ zu wappnen, soll aber nicht den naiven Eindruck erwecken, alles wäre so simpel und die Vierte Macht der Weisheit letzter Schluss. Es liegt klar auf der Hand, dass die Komplexität der medialen Landschaft selbst kontrolliert werden muss. Einerseits ist zu fragen, wem diverse Medien eigentlich gehören und welche (Eigen-)Interessen diese Ei- gentümer*innen medial verfolgen. Andererseits ist die Politik als auch die Öf- fentlichkeit zur scharfen Beobachtung noch nicht da gewesener (und deshalb auch oft unvorstellbarer) Phänomene im medialen Bereich aufgefordert und muss eine Das „Große Ich-bin-Ich“! 93 Regulierung dieser einfordern. Informelle Formen wie die Netiquette waren die ersten Anpassungsversuche in dieser Richtung, die zunehmende Kriminalisierung der virtuellen Medien durch Cyber-Betrug, Kinderpornografie bzw. deren Ver- wendung für Mobbing oder rassistischer und/oder sexistischer Hasspostings ma- chen eine regelmäßige Anpassung der rechtlichen und ethischen Rahmenbedin- gungen notwendig. Spätestens seit der Renaissance erfüllt die Wissenschaft die Funktion einer Sechsten Macht (Motto: „Die Forschung und ihre Lehre sind frei!“). Wird sie nach den Regeln ihrer eigenen Grammatik seriös betrieben (eines ihrer Gütekriterien ist nicht zufällig Objektivität im Sinne intersubjektiver Transparenz), bietet sie einerseits evidenzbasierte Erklärungsmodelle an (im Gegensatz zu den Unwahr- heiten, Ideologien und rhetorischen Manipulationen des „Großen Ich-bin-Ichs“) und stellt andererseits einige ihrer Methoden zur Reflexion und Diskussion des politischen Diskurses zur Verfügung, insbesondere in Form von Sprach- und Dis- kursanalysen (sprach- bzw. politikwissenschaftliche Methoden). Die Geschichts- wissenschaft wiederum sammelt, dokumentiert und wertet historische Quellen aus. Artefakte, Aussagen, Entscheidungen und Verhalten des „Großen Ich-bin- Ichs“ werden auf diese Weise einer wissenschaftlichen Dekonstruktion unterzo- gen. Die Veröffentlichung wissenschaftlich korrekt gewonnener Erkenntnisse er- schwert dem „Großen Ich-bin-Ich“ die Realisierung seiner dunklen Kommunika- tionen und Interaktionen. Öffentlichkeit, Publikation und Publik-Machung sowie die staatliche Gewaltenteilung und ihr Eingebunden-Sein in einen Zirkel, dem weitere Kontrollinstanzen angehören, können als wesentliche Schutzelemente der Demokratie vor den Ambitionen des „Großen Ich-bin-Ichs“ markiert werden. Schließlich unterliegen auch die Proponenten des wissenschaftlichen Diskurses einem Prinzip von Zirkularität: Es entscheiden immer auch andere über die Qua- lität wissenschaftlicher Publikationen (Peer-Review Verfahren, Fachkolleg*in- nen, Lektorate und Herausgeber*innen, Kritik und Leserschaft). Das „Große Ich-bin-Ich“ in der heterarchischen Organisation Organisationen können grundsätzlich auf zwei Arten gedacht werden: als ein Zu- sammentreffen von Individuen, die basierend auf ihrer jeweilig personalen Aus- stattung das Leben in dieser Organisation gestalten, oder im Sinne der Luh- mann‘schen Systemtheorie als ein durch die Kopplung funktionaler Kommunika- tionen und Entscheidungen entstandenes soziales System mit den in ihr tätigen Individuen, die als physische und psychische Systemumgebung dieses sozialen Systems perturbieren. Unabhängig davon, ob man sich der ersten oder zweiten Variante anschließen möchte: Das „Große Ich-bin-Ich“ mit seinen Ausprägungen 94 Stephan Hametner existiert und wirkt auch in allen Arten von Organisationen. Entscheidend ist je- doch sehr wohl, ob der organisationale Umgang mit dem „Großen Ich-bin-Ich“ auf einer personalen oder systemischen Ebene erfolgt. Um es gleich vorwegzu- nehmen: Den systemischen Limitationen des „Großen Ich-bin-Ichs“ werden in folgender Argumentation größere Chancen auf Erfolg eingeräumt als den perso- nalen. Hierarchische und heterarchische Organisation Die Struktur der traditionellen hierarchischen Organisation (gr. Hieros: Spitze; gr. Arche: Führung, Herrschaft) baut auf einer stufenförmigen Ordnung von Formen der Über- und Unterordnung auf. Sie definiert auf diese Weise Herrschaft und Unterwerfung, Rang- und Machtverteilung sowie Definitionshoheit und Wei- sungsgebundenheit aber auch Verantwortlichkeit und Haftung, Zuverlässigkeit und Fürsorgepflichten. Auf den ersten Blick erscheinen gerade diese Prämissen der hierarchisch strukturierten Organisation verbunden mit den Vorstellungen ei- nes heroischen Managements viel passender für das „Große Ich-bin-Ich“ zu sein, als für die innovativen Formen postheroischer Konzeptionen. Je höher die Posi- tion eines Individuums in der Hierarchie ist, desto größer seine offizielle Legimi- tation von Wichtigkeit, Macht, Definitionshoheit und Durchsetzungskraft. Macht- und Dominanzstreben sind in der hierarchischen Organisation struk- turell als Rang und Position abgebildet und damit für das „Große Ich-bin-Ich“ höchst erstrebenswert. Persönlichkeitsakzentuierung (subklinischer Bereich) und/oder -pathologie (klinischer Bereich) und Position werden auf diese Weise deckungsgleich und sind vielleicht sogar erwünscht. Wissenschaftliche Befunde stützen diese Hypothese: Das „Große Ich-bin-Ich“ ist einerseits durch einen star- ken Aufstiegswunsch in Führungsebenen motiviert (vgl. Externbrink & Keil, 2018, S. 47) und wird andererseits aufgrund der präsentierten Eigenschaften von Außenstehenden als besonders führungskompetent wahrgenommen (selbstsiche- res Auftreten, Entscheidungsfreudigkeit, Durchsetzungskraft, vgl. die Metapher des „starken Mannes“ und die Ausführungen zur neurotischen Kollusion weiter oben). Wirth mahnt in diesem Zusammenhang allerdings ein, dass die „Ausübung von Macht […] dann problematisch [wird], wenn die Leitungsfunktion vom pa- thologischen Narzissmus der Führungsperson bestimmt […] und Macht dazu be- nutzt [wird], seine unbewussten narzisstischen Konflikte auszuagieren oder abzu- wehren“ (Wirth, 2006, S. 162). Wie die Ausführungen zu Politik und Geschichte gezeigt haben, muss zudem die Vereinigung von Position, Rang und Persönlich- keit nicht automatisch etwas Konstruktives bedeuten, schon gar nicht im Fall Das „Große Ich-bin-Ich“! 95 mangelnder Kontrolle. Es ist außerdem zu beobachten, dass auch in hierarchi- schen Organisationen nicht immer die vorgegebene Rangfolge eingehalten wird. Mit entsprechender narzisstischer, machiavellistischer oder psychopathischer Persönlichkeitsausstattung oder auch aus externen Gründen (krankheitsbedingte Abwesenheiten Vorgesetzter) können auch niedriger Gestellte die heimliche Füh- rung übernehmen und so die offizielle Organisationsstruktur auf den Kopf stellen. Im Gegensatz zur Struktur der hierarchischen steht die der heterarchischen Organisation (gr. heteros: der andere, anders) für eine Relation von Elementen, die mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Heterarchische Formen der Steuerung betonen Dezentralität, Selbststeuerung und Selbstbestim- mung und im Gegensatz zur Hierarchie (Top-down) Bottom-up Entscheidungen. In der Terminologie Flussers handelt es sich um dialogische Formen der Entschei- dungsfindung (Kreis- und Netzwerkdialoge). Dialoge sind nach Flusser besser geeignet, neue und adäquate Informationen hervorzubringen als Diskurse, deren Funktion im Erhalt und in der Verteilung von Informationen besteht. Demgemäß kursieren für diese Strukturen von Organisationen und damit verbundenen Vor- stellungen von Führung Termini wie „fluide Sozialformen wie Netzwerke, Com- munities etc. sowie laterale Steuerungsmodelle wie jene der ‚Governance‘, „hyb- ride Koordinationsmechanismen“, komplexe Systeme wie eine Matrixorganisa- tion (realisiert an der PH OÖ) und „postheroische Führung“ (Oberneder, Reinba- cher & Wesenauer, 2019, S. IX-X). Den Mitarbeiter*innen in solchen Organisati- onsformen wird meist ein „größerer Handlungsspielraum eingeräumt, indem sie mehr Verantwortung und Eigeninitiative übernehmen können. Flexibilität und mehr Unabhängigkeit gehen allerdings auch mit mehr Verantwortung und Selbst- organisation einher […] Oftmals wird ein kollegiales Miteinander gelebt […]“ (Rassek, 2016). Die angeführten Vorteile der Heterarchie sind kürzere Entschei- dungswege, dezentrale Aufgabenverteilung, Entlastung von Führungskräften, di- rekte Kommunikationen, gegenseitige Wertschätzung, höhere Zufriedenheit durch die subjektiv empfundene Partizipationsmöglichkeit, höhere Identifikation der Mitarbeiter*innen mit der Organisation und geringere Personalkosten durch den Wegfall mittlerer Management-Ebenen (vgl. Rassek, 2016). Nachteile einer flachen Organisationsstruktur sind, dass die tatsächliche Führung einer Organisa- tion (im Sinne einer vorgesetzten und dienstführenden Linie) sowohl in inhaltli- cher als auch personeller Hinsicht eine große Bandbreite an Führungsaufgaben wahrzunehmen hat, was einerseits zu einer inhaltlichen Überforderung und ande- rerseits zu einer Verschleppung von Entscheidungen (z. B. durch überbordende Terminkalender auf Führungsseite) führen kann. Weitere Nachteile sind die ver- ringerte Zahl an Aufstiegschancen und eine Dysbalance in der Aufgabenvertei- lung. Es werden sich immer Kolleg*innen finden, die in größerem Maße bereit 96 Stephan Hametner sind, Engagement zu zeigen bzw. Verantwortung zu übernehmen, als andere. The- men wie Verteilungsgerechtigkeit und die Möglichkeiten transparenter leistungs- bezogener Belohnungssysteme halten auf diesem Weg thematischen Einzug in die heterarchische Organisation. Eine der zu beobachtenden Tendenzen in der hete- rarchischen Organisation ist, dass eine zu hohe Komplexität bei manchen Mitar- beiter*innen den Wunsch nach Simplifizierung und nach klaren Strukturen und Vorgaben und damit nach postheroischen Formen von Führung triggert (Komple- xitätsminderung als Beseitigungsmöglichkeit von Unsicherheiten und damit als subjektives Sicherheitsgefühl). Bei allen Pro- und Contra-Argumenten sollte nicht vergessen werden, dass flache Organisationsstrukturen nicht mit demokratischen Formen der Entschei- dungsfindung

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