Einführung in die Politikwissenschaft EPW 2024/2025 PDF

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Universität Heidelberg

2025

Prof. Dr. Jale Tosun

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political science democracy political regimes political systems

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This document is a lecture outline for an introductory political science course, titled "Einführung in die Politikwissenschaft." The course, taught by Prof. Dr. Jale Tosun during the Winter semester of 2024/2025, at the Universität Heidelberg, covers various topics including political regimes, democracy models, and empirical-comparative political science.

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Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/2025 Einführung in die Politikwissenschaft Vergleichende Regierungslehre II: Demokratien und Autokratien 7. Januar 2025 http://www.bpb.de/cache/images/2/40592- 3x2-article620.jpg?EA4D9 https://www.zeit.de/...

Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/2025 Einführung in die Politikwissenschaft Vergleichende Regierungslehre II: Demokratien und Autokratien 7. Januar 2025 http://www.bpb.de/cache/images/2/40592- 3x2-article620.jpg?EA4D9 https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/weisses-haus-pressekonferenz- donald-trump-medien-journalisten-ausgeschlossen https://www.tagesschau.de/ausland/macron-gelbwesten-dialog-101.html Einführung in die Politische Wissenschaft 2 https://www.bbc.com/news/world-middle- east-22903218 http://en.people.cn/90778/8349881.html https://edition.cnn.com/2017/08/08/americas/ venezuela-unrest/index.html Einführung in die Politische Wissenschaft 3 1. Gliederung 1. Einleitung 2. Demokratie 3. Autokratie 4. Kontinuum politischer Regime 5. Demokratiemodelle in der empirisch-vergleichenden Politikwissenschaft 6. Autokratiekonzepte und -typologien 7. Demokratie-Typen 8. Empirische Eindrücke 9. Warum Demokratie? 10. Literatur Einführung in die Politische Wissenschaft 4 1. Einleitung Demokratie − Ursprung: demokratia (demos = Volk; kratein = herrschen) − „Volk“ und „herrschen“ muss inhaltlich gefüllt werden Autokratie − Ursprung: autokráteia (Selbstherrschaft) − Lexikalisch: Autokratie = Herrschaft eines Einzelnen Einführung in die Politische Wissenschaft 5 2. Demokratie Es gibt "nicht nur eine Demokratie, sondern viele verschiedene Demokratien und nicht nur eine Demokratietheorie, sondern viele verschiedene Demokratietheorien" (Schmidt 2010) Demokratie ist ein „essentiell umstrittenes Konzept“ (Collier et al. 2006) Empirische Demokratietheorie = Aussagen darüber, was Demokratie in der Realität ist und wie sie tatsächlich funktioniert Normative Demokratietheorie = Aussagen darüber, was Demokratie sein und wie sie funktionieren sollte Einführung in die Politische Wissenschaft 6 3. Autokratie Moderner Gebrauch: − C.J. Hayes (1882-1964): Totalitäre Autokratie − Hermann Heller (1923): Autokratie als Heteronomie (Fremdgesetzlichkeit) von Verfasser und Adressat der Verfassungsnorm Aktueller Gebrauch in der Vergleichenden Politikwissenschaft: − Autokratie als System, das die demokratischen Standards verfehlt = „Nicht-Demokratie“ (Tullock, Merkel u.a.) Viele unterschiedliche Autokratie-Formen, daher auch unterschiedliche Konzepte und Typologien − Unterschiede zwischen den Autokratien sind stärker ausgeprägt als Unterschiede zwischen den Demokratien Einführung in die Politische Wissenschaft 7 4. Kontinuum politischer Regime Achtung: Soll „illiberale“ Demokratie heißen Quelle: Merkel 2013 Einführung in die Politische Wissenschaft 8 5. Demokratiemodelle in der empirisch- vergleichenden Politikwissenschaft 1. Minimalistische Definition: Demokratie als Methode der Auswahl von Führungspersonal und des politischen Wettbewerbs (elektorales Demokratieverständnis) 2. Definition mittlerer Reichweite: rechtsstaatliche Demokratie bzw. demokratischer Verfassungsstaat (z.B. eingebettete Demokratie) − Minimalistische und mittlere Demokratiekonzepte beschränken Demokratie auf Normen, Prinzipien und Verfahren, die dem demokratischen Entscheidungsprozess zugrunde liegen 3. Maximalistische Definition: beschränken Demokratie nicht auf Input-Seite und den Entscheidungsprozess, sondern beziehen den Output als integralen Bestandteil mit ein (z.B. Konzept der sozialen Demokratie) Einführung in die Politische Wissenschaft 9 5. Demokratiemodelle in der empirisch- vergleichenden Politikwissenschaft Robert Dahl (1971, S. 3): Demokratie als Polyarchie, in deren Mittelpunkt „public contestation and the right to participate“ stehen. Institutionelle Minima der Polyarchie: 1. Organisationsfreiheit 2. Recht auf freie Meinungsäußerung 3. Aktives Wahlrecht 4. Passives Wahlrecht 5. Recht zur Wahlwerbung 6. Informationsfreiheit 7. Freie und faire Wahlen 8. Institutionen, die Regierungspolitik an die Präferenzen der Bürger binden Einführung in die Politische Wissenschaft 10 Einführung in die Politische Wissenschaft 11 5. Demokratiemodelle in der empirisch- vergleichenden Politikwissenschaft Embedded Democracy Intern: Die 5 Teilregime der Demokratie sichern durch die jeweils funktionale Verschränkung ihren Bestand Extern: die Teilregime der Demokratie werden durch Ringe (Staatlichkeit, Zivilgesellschaft, Ökonomie/Soz. Gerechtigkeit) ermöglichender Bedingungen eingebettet und sind so gegen externe wie interne Schocks und Quelle: Merkel 2013 Destabilisierungstendenzen geschützt (Merkel 2013) Einführung in die Politische Wissenschaft 12 5. Demokratiemodelle in der empirisch- vergleichenden Politikwissenschaft Defekte Demokratien erfüllen nicht alle Bedingungen der eingebetteten Demokratie; die Defekte können unterschiedliche Elemente betreffen: 1. Exklusive Demokratie (Defekt: Wahlrecht und/oder politische Teilhaberechte eingeschränkt), z.B. Schweiz bis 1971 2. Illiberale Demokratie (Defekt: bürgerliche Freiheitsrechte eingeschränkt), z.B. Philippinen, Mexiko, Türkei (bis 2018) 3. Delegative Demokratie (Defekt: Gewaltenkontrolle and/oder Rechtstaatlichkeit eingeschränkt), z.B. Ungarn seit 2008 4. Enklavendemokratie (Defekt: andere Machtzentren, z.B. das Militär), z.B. Chile (bis 2005), Türkei bis Anfang/Mitte der 2000er-Jahre Einführung in die Politische Wissenschaft 13 6. Autokratiekonzepte und -typologien Totalitarismus: Begriff erstmals bei Giovanni Amendola (1923) − Moderne Form der Diktatur („Anomien der Moderne“) − Industrielle Revolution, Klassenkonflikt und technologische Neuerungen als notwendige Voraussetzung − H. Arendt: Politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt Autoritarismus: eingeführt als eigene Regimekategorie von Juan Linz (1975) − „Autoritarismus schränkt Freiheit ein, Totalitarismus schafft sie ab“. Einführung in die Politische Wissenschaft 14 6. Autokratiekonzepte und -typologien Autokratie Demokratie Totalitär Autoritär Defekt Eingebettet Herrschafts- Weltanschauung Mentalitäten Volkssouveränität Volkssouveränität Legitimation Zugang Geschlossen Beschränkt Offen Offen Anspruch Unbegrenzt Umfangreich Begrenzt Begrenzt (rechtsstaatlich („total“) (rechtsstaatlich definierte u. garantierte definierte, aber Grenzen) verletzte Grenzen) Monopol Führer/Partei Führer/ Durch Wahlen u. Durch Wahlen u. „Oligarchie“ Verfassung legitimierte Verfassung legitimierte Autoritäten, (u.U. von Autoritäten Vetomächten eingeschränkt) Struktur Monistisch Semi- Pluralistisch Pluralistisch pluralistisch Weise Terror Repression Eingeschränkt Rechtsstaatlich rechtsstaatlich Quelle: Merkel (2013) 15 Einführung in die Politische Wissenschaft 6. Autokratiekonzepte und -typologien Acht Typen nicht-demokratischer Herrschaft nach Merkel (Kriterium: Herrschaftslegitimation/Herrschaftsträger) 1. Kommunistische Parteienregime (autoritäre und totalitäre Form) (z.B. UDSSR) 2. Faschistische Regime (autoritäre und totalitäre Form) (z.B. Deutschland 1933-45) 3. Theokratische Regime (autoritäre und totalitäre Form) (z.B. Iran, Vatikanstadt, Mönchsrepublik Athos) 4. Militärregime (Spanien 1939–1975; Lateinamerika zwischen 1950 and 1990) Einführung in die Politische Wissenschaft 16 6. Autokratiekonzepte und -typologien 5. Rassistische Apartheitsregime (Südafrika 1948-1994) 6. Modernisierungsregime (z.B. Türkei 1920-1938) Via Militär oder Führer- oder Einparteienregime Post-koloniale Situation mit fehlenden traditionellen Herrschaftsstrukturen Verspätete Nationenbildung Wunsch nach sozioökonomischem Fortschritt und Überwinden von Unterschieden 7. Dynastische/monarchische Regime (z.B. Katar) 8. Sultanistische Regime (z.B. Rumänien unter Ceausescu; ist sehr personalisiert und von Clans dominiert, aber erratischer als dynastische Regime) Einführung in die Politische Wissenschaft 17 6. Autokratiekonzepte und -typologien Vier Typen autoritärer Regime nach Geddes/Frantz/Wright (2014) 1. Autoritäre Monarchien (Herrschaftsträger: Monarch; z.B. Saudi-Arabien) 2. Militärregime (Herrschaftsträger: Militär, z.B. Thailand) 3. Parteienregime (Herrschaftsträger: Partei, z.B. VR China) 4. Personen-gebundene Autokratien (Herrschaftsträger: ein politischer Führer, z.B. Nordkorea) Einführung in die Politische Wissenschaft 18 7. Demokratie-Typen 1. Parlamentarische Systeme (z.B. Deutschland) 2. Präsidentielle Systeme (z.B. Vereinigte Staaten von Amerika) 3. Semi-präsidentielle Systeme (z.B. Frankreich; Duverger 1980) Einführung in die Politische Wissenschaft 19 7. Parlamentarische Systeme In parlamentarischen Systemen ist – de jure – das Parlament die entscheidende Institution im politischen Entscheidungsprozess: − Gewählte Repräsentanten handeln im Sinne der Interessen aller: Bürger delegieren somit Aufgaben an Parlamentarier − Die Regierung bzw. das Kabinett ist von einer Mehrheit im Parlament abhängig bzw. auf sie angewiesen: Verbleib im Amt / Implementierung von Policies − Politikgestaltung (Gesetzgebung) findet im Parlament statt Relativ einfache Delegationskette: − Bürger delegieren Aufgaben/Interessendurchsetzung an Abgeordnete, Abgeordnete delegieren wiederum Aufgaben/Interessendurchsetzung an die Regierung und die Ministerialbürokratie (Prinzipal-Agenten-Modell) Einführung in die Politische Wissenschaft 20 7. Parlamentarische Systeme Regierungsbildung: − Bei absoluter Mandatsmehrheit: Entsprechende Partei bildet die nächste Regierung bzw. wird damit vom Staatsoberhaupt beauftragt − Keine absolute Mehrheit der Mandate für eine Partei: Koalitionsbildungsprozess − Staatsoberhaupt beauftragt den Spitzenkandidaten der Partei mit der Regierungsbildung, der eine Mehrheit im Parlament hinter sich hat − Im Kabinett werden – in der Regel proportional zur Stärke der beteiligten Parteien – die Ämter auf die Koalitionsparteien verteilt und die Policy- Kompromisse in einem Koalitionsabkommen festgelegt Einführung in die Politische Wissenschaft 21 7. Parlamentarische Systeme Aufgaben von Parlamenten – Debatte und Diskussion von konkurrierenden Policies – Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen (insbesondere in Ausschüssen) – Kontrolle der Tätigkeit der Regierung: Das Kabinett ist in seinem Handeln gegenüber dem Parlament verantwortlich. – Bereitstellung eines „Pools“ möglicher Kabinettsmitglieder (Minister, Staatssekretäre):  Im Durchschnitt waren 75% aller Kabinettsmitglieder zuvor Abgeordnete (Bäck et al. 2012) Aber: Die die Regierung stützenden Parteien werden – auch aus eigennützigen Gründen – die Politik der Regierung fast immer mittragen Einführung in die Politische Wissenschaft 22 7. Präsidentielle Systeme In präsidentiellen Systemen wird die Regierung nicht vom Parlament in ihr Amt gewählt: − Der Regierungschef ist – abgesehen von semi-präsidentiellen Systemen – der Präsident, der direkt (von den Bürgerinnen und Bürgern) oder indirekt (von Wahlmännern) gewählt wird Eine Mehrheit im Parlament ist für die Politikgestaltung notwendig, nicht jedoch für den Verbleib der Regierung im Amt (abgesehen von Amtsenthebungsverfahren) − Konsequenz daraus: Ein geringerer Grad an Partei- bzw. Fraktionsdisziplin Möglich bzw. sehr oft beobachtbar: Die Partei des Präsidenten verfügt nicht über eine Mehrheit im Parlament − „Abstrafungseffekt“ bei Zwischenwahlen (mid-term elections) in den USA Einführung in die Politische Wissenschaft 23 7. Präsidentielle Systeme Regierungsbildung: − Gewählter Präsident ernennt bzw. nominiert die Mitglieder seines Kabinetts − Künftige Minister müssen häufig vom Parlament oder einer Kammer des Parlaments (z. B. in den USA: vom Senat mit einfacher Mehrheit) bestätigt werden Die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung spiegelt nicht zwingend die des Parlaments wider, selbst wenn die Opposition die Mehrheit im Parlament kontrolliert › Aus symbolischen Gründen und/oder zur Erleichterung der Gesetzgebung kommt – in den USA – mindestens ein Minister aus dem „gegnerischen“ Lager (war zumindest bis zur Obama Administration so: der Republikaner Robert Gates war von 2006–2011 Verteidigungsminister) Einführung in die Politische Wissenschaft 24 7. Präsidentielle Systeme Aufgaben des Präsidenten: − Repräsentation des Staates nach außen wie nach innen − Integrationsfigur − Regierungschef und zentrale exekutive Führungspersönlichkeit: » Setzen der politischen Agenda » (Informeller) Vorsitzender seiner Partei Aufgaben des Parlaments: − Kontrolle der Regierung/Ministerialbürokratie und damit der Amtsführung des Präsidenten und seines Kabinetts; dies geschieht insbesondere in zuständigen Fachausschüssen − Gesetzgebung, über die die inhaltlichen Vorstellungen der Regierung bzw. des Präsidenten „korrigiert“ werden können − Beschluss über den Haushalt der Regierung Einführung in die Politische Wissenschaft 25 7. Der Vergleich https://mypathtowardsmindfulness.org/2021/09/18/some-advantages-of-parliamentary-system-compared-to-presidential-system/ Einführung in die Politische Wissenschaft 26 7. Semi-Präsidentielle Systeme Es existiert eine Doppelspitze: ein vom Volk direkt gewählter Präsident sowie ein Regierungschef (z.B. Ministerpräsident oder Premierminister) Der Präsident hat weitreichende Kompetenzen, aber das Parlament kann dem Präsidenten das Misstrauen aussprechen Die konkrete Ausgestaltung von semi-präsidentiellen Systemen variiert stark im Hinblick auf die formalen Kompetenzen des Präsidenten nach der Verfassung und die Implikationen der parlamentarischen Mehrheit (Stichwort Cohabitation) Semi-Präsidentialismus ist ein umstrittenes Konzept, weil sich Ausprägungen doch sehr stark unterscheiden können (vgl. Elgie 2004) Einführung in die Politische Wissenschaft 27 8. Empirische Eindrücke https://ourworldindata.org/democracy Einführung in die Politische Wissenschaft 28 8. Empirische Eindrücke Quelle: V-Dem-Report 2021; https://www.democracywithoutborders.org/de/16422/v-dem-bericht-2021-welle-der-autokratisierung-beschleunigt-sich/ Einführung in die Politische Wissenschaft 29 8. Empirische Eindrücke Quelle: V-Dem-Report 2020; https://mobile.twitter.com/piotrzag/status/1240993477632163840 Einführung in die Politische Wissenschaft 30 8. Empirische Eindrücke Quelle: V-Dem-Report 2021; https://www.democracywithoutborders.org/de/16422/v-dem-bericht-2021-welle-der-autokratisierung-beschleunigt-sich/ Einführung in die Politische Wissenschaft 31 9. Warum Demokratie? Manfred Schmidt (2010, 2013) Typische Stärken der (nicht- Typische Schwächen der defekten) Demokratie Demokratie Verfassungspolitische Vorteile Verfassungspolitische Schwächen 1. Legitimation von kollektivbindenden 1. Unbeständigkeit der Zahl an Entscheidungen Entscheidungsträgern 2. Gewährleistung der Bedingungen für 2. Abstrakte, additive Gleichheit der Gleichheit und Freiheit Bürger, ohne Berücksichtigung von 3. Berechenbare Politik Qualifikation 4. Frühwarnsysteme bei Krisen 3. Spannung zwischen nationalstaatlicher Demokratie, Expertokratie und transnationaler Politik 4. Demokratie als Ideal (Offenheit) und Realität (Selektivität) Einführung in die Politische Wissenschaft 32 9. Warum Demokratie? Typische Stärken der (nicht- Typische Schwächen der Demokratie defekten) Demokratie Prozesspolitische Vorteile Prozesspolitische Schwächen 1. Lernfähigkeit 1. Volkswille ist fehlbar und verführbar 2. Effiziente Verarbeitung von 2. Selektive Willensbildung/ Präferenzen Entscheidungsprozesse 3. Friedliche Herrschaftswechsel 3. Kommerzialisierung der Politik und 4. Machtwechselchance Mittelmäßigkeit des Führungspersonals 4. „Parteienstaat“ Einführung in die Politische Wissenschaft 33 9. Warum Demokratie? Typische Stärken der (nicht- Typische Schwächen der defekten) Demokratie Demokratie Ergebnisbezogene Vorteile Ergebnisbezogene Schwächen 1. Loser‘s consent-Problem 1. Lücke zwischen Anspruch und (Kompensation für die „Verlierer“) Einlösung 2. Umwandlung von Opposition in 2. Langfristplanung und Konstruktion „Durchhaltevermögen“ 3. Friedlichere Außenpolitik (!?) 3. Machterwerb/ Machterhalt vorrangig vor Problemlösung 4. Gegenwarts- vor Zukunftsorientierung 5. Verteilungskoalitionen und pfadabhängige Staatsinterventionen Einführung in die Politische Wissenschaft 34 9. Warum Demokratie? Politikfelder, in denen die Demokratien besser abschneiden (siehe Lijphart 1999/2012) − Umweltpolitik − Sozialpolitik − Demokratischer Friede − Bürgerrechte und Freiheitsrechte − Rechtsstaatlichkeit − Einkommensungleichheit − Human Development Index (menschliche Entwicklung) ABER: Es gibt durchaus intra- und inter-gruppenunterschiede aufgrund von Qualität der Demokratie (defekte vs. eingebettete Demokratien) Einführung in die Politische Wissenschaft 35 9. Warum Demokratie? “Reiche” Demokratien liefern bessere Politikperformanz als alle anderen Regimetypen Aber auch “arme” Demokratien liefern bessere Politikergebnisse als “arme” Autokratien Demokratien sind auch „lernfähig“ (demokratische Innovationen) (Elstub und Escobar 2019): − Deliberative Mini-Öffentlichkeiten − Beteiligungshaushalte − Referenda und Bürgerinitiativen − Kollaborative Governance Rein auf die Leistungsfähigkeit bezogen, können Demokratien also auf vielen Dimensionen punkten Einführung in die Politische Wissenschaft 36 9. Warum Demokratie? Einführung in die Politische Wissenschaft 37 9. Warum Demokratie? Einführung in die Politische Wissenschaft 38 9. Warum Demokratie? https://www.bfs.admin.ch/b fs/de/home/statistiken/polit ik/abstimmungen/stimmbet eiligung.html Einführung in die Politische Wissenschaft 39 9. Warum Demokratie? The Worst Form of Government „Many forms of Government have been tried, and will be tried in this world of sin and woe. No one pretends that democracy is perfect or all-wise. Indeed it has been said that democracy is the worst form of Government except for all those other forms that have been tried from time to time.…” Winston S Churchill, 11 November 1947 Einführung in die Politische Wissenschaft 40 10. Literatur Bäck, Hanna/Henk Erik Meier/Thomas Persson/Jörn Fischer. 2012. „European Integration and Prime Ministerial Power. A Differential Impact on Cabinet Reshuffles in Germany and Sweden.“ German Politics 21: 184–208. Bräuninger, Thomas/Marc Debus. 2009. „Legislative agenda-setting in parliamentary democracies.” European Journal of Political Research 48: 804-839. BTI 2016: Bertelsmann Transformations Index 2016 Cheibub, José Antonio/Jennifer Gandhi/James Raymond Vreeland. 2010. „Democracy and dictatorship revisited.“ Public Choice 143: 67-101. Collier, David, Fernando Daniel Hidalgo und Andra Olivia Maciuceanu. 2006- Essentially Contested Concepts. Debates and Applications. Journal if Political Ideologies 11 (3): 211-246 Croissant, Aurel 2016. Zum Zustand junger Demokratien weltweit. Eine Analyse der Daten des Bertelsmann Transformation Index 2006-2016. In: Die demokratische Frage – neu gestellt, hrsg. Mark, Arenhövel. Dresden Dahl, Robert. 1971. Polyarchy. New Haven and London: Yale University Press. Duverger, M. (1980) ‘A New Political System Model: Semi-Presidential Government’, European Journal of Political Research, 8, 165–87. Elgie, R. (2004). Semi-presidentialism: concepts, consequences and contesting explanations. Political Studies Review, 2(3), 314-330. Elstub, S., & Escobar, O. (2019). Defining and typologising democratic innovations. Handbook of democratic innovation and governance. Geddes, Barbara, Joseph Wright, and Erica Frantz. 2014. “Autocratic Regimes and Transitions.” Perspectives on Politics. 12(2). Einführung in die Politische Wissenschaft 41 10. Literatur Halperin, Morton et al. 2008. The Democracy Advantage: How Democracies Promote Prosperity and Peace, 2. Auflage. New York: Routledge. Lauth, Hans-Joachim, Gert Pickel und Susanne Pickel. 2014. Vergleich politischer Systeme. Paderborn: Schöningh / UTB, S. 157-171. Linz, Juan. 1975. Totalitarian and Authoritarian Regimes. In Handbook of Political Science, Vol. 3: Macropolitical Theory, Hrsg. F.I. Greenstein und N.W. Polsby. Reading. Lijphart, Arend (1999/2012). Patterns of Democracy, New Haven, Connecticut. Merkel, Wolfgang. 2013. Vergleich politischer Systeme. Demokratien und Autokratien. In Studienbuch Politikwissenschaft, hrsg. Manfred G. Schmidt, Frieder Wolf und Stefan Wurster, Wiesbaden: Springer VS, S. 207-237. Pappi, F. U., Schmitt, R., & Linhart, E. (2008). Die Ministeriumsverteilung in den deutschen Landesregierungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 323-342. Schmidt, Manfred G. 2010. Demokratietheorie, 5. Auflage, Wiesbaden: VS Springer. Schmidt, Manfred G. 2013. “Staatstätigkeit in Autokratien und Demokratien”. In Autokratien im Vergleich, PVS Sonderheft 47, hrsg. Steffen Kailitz und Patrick Köllner, Baden-Baden: Nomos, S. 423-442 Einführung in die Politische Wissenschaft 42 Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/25 Vorlesung POL_P1 Einführung in die Politikwissenschaft Vergleichende Policy-Forschung 14. Januar 2025 1. Einleitung Policy-Forschung befasst sich in erster Linie mit der Frage, wie Policy- Outputs (z.B. Gesetze) und Policy-Outcomes (d.h. tatsächliches Verhalten) erklärt werden können In der Regel arbeitet die Policy-Forschung vergleichend: − Staatenvergleich − Policy-Vergleich − Zeit-Vergleich (Wandel von Politiken) In den letzten Jahren hat sich die Policy-Forschung ein Stück weit an die Internationalen Beziehungen angenähert, da die Frage nach dem Einfluss von internationalen Faktoren prominenter adressiert wird Einführung in die Politische Wissenschaft 2 Gliederung 1. Einleitung 2. Phasenmodell 3. Problemdefinition und Agendagestaltung 4. Politikformulierung und Politikkonvergenz 5. Politikumsetzung 6. Evaluation 7. Zusammenfassung 8. Literatur Einführung in die Politische Wissenschaft 3 2. Phasenmodell der Policy-Forschung Abbildung 1.1: Schematische Darstellung des Policy-Zyklus Quelle: Knill und Tosun (2010; 2012). Einführung in die Politische Wissenschaft 4 2. Phasenmodell der Policy-Forschung Geht auf die Arbeiten von Harold Lasswell (1951, 1956) zurück und stellt ein heuristisches Instrument dar Es gibt abweichende Konzipierungen des Phasenmodells, wobei die Unterschiede nicht aus den Phasen selbst herrühren, sondern von der Feinheit, mit der die Phasen unterteilt werden Nicht jeder Politikgestaltungsprozess folgt diesem Phasenmodell, aber es gibt viele, die das tun Anhand der verschiedenen Phasen können Forschergruppen gut identifiziert werden; zum Beispiel wird die Agenda-Definition häufig von Forschern untersucht, die ihren Schwerpunkt in dem Bereich der politischen Kommunikation haben; bei Fragen nach der Implementation von Politiken lassen sich häufig Verwaltungswissenschaftler antreffen Einführung in die Politische Wissenschaft 5 3. Problem-Definition Es gibt Akteure, die ein Problem möglichst eng definieren wollen (zum Erhalt des Status Quo) und es gibt Akteure, die Probleme möglichst breit definieren wollen (zur Herbeiführung einer Reform) Die Einordnung von „Problemen“ nach Rochefort und Cobb (1995): − Ursache eines Problems − Dringlichkeit eines Problems − Inzidenz eines Problems − Neuartigkeit eines Problems − Interessen der breiten Öffentlichkeit − krisenartiger Charakter − Eigenschaften der gesellschaftlichen Gruppen, die davon tangiert sind Einführung in die Politische Wissenschaft 6 3. Problem-Definition Bei der Problem-Definition können sehr unterschiedliche Akteure mitwirken, so etwa auch die Wissenschaft Wer welche Rolle bei der Definition von Problemen spielt, hängt davon ab, wie salient ein Problem ist. Anders ausgedrückt: wie groß ist das Interesse der Wählerschaft und/oder der Politik an dem Problem bzw. dessen Lösung? Salienz ist auch ein wichtiges Konzept in der nächsten Phase, der Agendagestaltung Einführung in die Politische Wissenschaft 7 3. Agendagestaltung Es gibt in der Regel zwei Agenda-Arten: die öffentliche Agenda und die politische Agenda Die beiden Agenda-Typen können sich überlagern, müssen das aber nicht Die „wichtigere“ Agenda ist die politische Agenda, weil es sich hier um eine Diskussion handelt, die handlungsrelevanter ist als bei der öffentlichen Agenda Einführung in die Politische Wissenschaft 8 3. Agendagestaltung Einführung in die Politische Wissenschaft 9 3. Agendagestaltung Thema-Aufmerksamkeits-Zyklus im öffentlichen Diskurs (Downs 1972) − Themen konkurrieren um Aufmerksamkeit − Konjunkturphasen für einzelne Themen − „auf Panik folgt Vergessen“ − „öffentliche Aufmerksamkeit ist ein wankelmütiges, schwer vorhersehbares Gut“ Einführung in die Politische Wissenschaft 10 3. Agendagestaltung Arbeitslosigkeit Umweltpolitik/ Atomkraft Quelle: Tosun et al. (2015) Einführung in die Politische Wissenschaft 11 3. Agendagestaltung Fukushima-Havarie Beschluss über den endgültigen Atom- Arbeitslosigkeit Ausstieg Umweltpolitik/ Atomkraft Quelle: Tosun et al. (2015) Einführung in die Politische Wissenschaft 12 3. Agendagestaltung Die Forschung zu Agenda-Definition sieht „Aufmerksamkeit“ als die zentrale (Macht-)Ressource im politischen Prozess Allerdings kann Aufmerksamkeit zu verschiedenen Politikergebnissen führen wie etwa dem Erhalt des Status Quo oder einem Politikwandel Ob es zu einem Wandel kommt und wie dieser konkret aussieht, hängt wiederum von den institutionellen Strukturen und den Eigenschaften von Akteuren ab Die Anti-Atom-Bewegung in Deutschland profitierte von dem Vorhandensein zahlreicher politischer Arenen wegen des Föderalismus, aber gleichzeitig gibt es auch eine politische Partei (B‘90/Grüne), die sehr eng mit dieser Bewegung zusammenarbeitet Einführung in die Politische Wissenschaft 13 3. Agendagestaltung Daher argumentieren Baumgartner und Jones (1993), dass folgende Dimensionen wichtig sind für Politikwandel: (1) Aufmerksamkeit/Konflikt (2) Policy-Monopol (3) Policy-Image (4) Institutionelle Arena Einführung in die Politische Wissenschaft 14 3. Agendagestaltung Sowohl das Modell von Baumgartner und Jones (1993/2009) als auch die Modelle aus den 1970er-Jahren betonen die Relevanz von Aufmerksamkeit für die Agenda-Gestaltung, aber es gibt auch alternative Erklärungen: − Wissenschaftliche Evidenz − Politische Ideologie − Interessengruppen − Ministerialbürokratie − Europäische Union − Internationale Organisationen − Andere Staaten (Diffusionsprozesse) Einführung in die Politische Wissenschaft 15 3. Agendagestaltung & Politikformulierung Parteiendifferenztheorie („Do parties matter?“) (Schmidt 1996) Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Inhalten staatlicher Programme und den Wahlprogrammen bzw. der parteipolitischen Färbung der Regierungsparteien Regierungsparteien sind die wichtigsten politischen Akteure Der Effekt von Parteien gilt auch für die Agenda-Gestaltung, da sie im Wahlkampf unterschiedliche thematische Schwerpunkte definieren (Salienz von Themen) Einführung in die Politische Wissenschaft 16 4. Politikformulierung Politikformulierung entspricht der Gesetzgebungsfunktion von politischen Systemen In Deutschland können Gesetzgebungsinitiativen von drei Gruppen eingebracht werden: − Bundesregierung − Bundesrat (Mehrheit seiner Mitglieder) − Abgeordnete des Bundestages (Fraktion oder von mindestens fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages) Die Initiativen der Bundesregierung werden von dem zuständigen Minister und den Ministerien erarbeitet Die Initiativen des Bundesrates werden von der Ministerialbürokratie auf Länderebene ausgearbeitet Die Initiativen aus dem Bundestag stellen das Ergebnis von Ausschussarbeit dar Einführung in die Politische Wissenschaft 17 Einführung in die Politische Wissenschaft 18 http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16426/gesetzgebung 4. Politikformulierung Die meisten Gesetzesvorlagen erarbeitet die Bundesregierung, weil diese auch von besseren Ressourcen profitiert (Ministerialbürokratien) Zudem ist es noch einmal wichtig zu betonen, dass in Deutschland die Bundesregierung und die Mehrheit im Parlament eine Einheit bilden, was sich bei Abstimmungen im Bundestag immer sehr eindeutig zeigt Einführung in die Politische Wissenschaft 19 4. Politikformulierung Einführung in die Politische Wissenschaft 20 4. Politikformulierung Einführung in die Politische Wissenschaft 21 5. Politikumsetzung Hierbei handelt es sich um die Phase, nachdem ein Gesetz verabschiedet wurde und es geht nun darum, dass es seine Wirkung entfalten kann Die Umsetzungsphase ist in erster Linie geprägt durch das Handeln von Bürokratien; in Deutschland haben wir ein vertikal gegliedertes System der öffentlichen Verwaltung: − Bundesverwaltung (z.B. Auswärtiger Dienst, Deutscher Wetterdienst) – ist von der Personalzahl her seit 1990 stark reduziert worden (Privatisierung) − Landesverwaltung (z.B. Finanzverwaltungen, Polizei) – erledigen die meisten Verwaltungsaufgaben und sind von der Personalzahl her bedeutender als die Bundesverwaltung − Kommunalverwaltung (z.B. Öffentliche Ordnung und Sicherheit, Krankenhäuser, Bau- und Wohnungswesen) Einführung in die Politische Wissenschaft 22 5. Politikumsetzung Instrumente für die Politikumsetzung − Rechtsverordnungen − Satzungen − Verwaltungsakte − Verwaltungshandeln im engeren Sinne (Realakte) − Verwaltungsvorschriften − Festlegung von Gebührenordnungen Die öffentliche Verwaltung hat in einigen Bereichen die Möglichkeit, von den politischen Vorgaben abzuweichen und ihre eigenen Präferenzen durchzusetzen (Prinzipal-Agenten-Problematik) Einführung in die Politische Wissenschaft 23 6. Evaluation Politikumsetzung schließt auch das Verhalten von den Adressaten einer Politik mit ein bzw. Änderungen in deren Verhalten und Aktivitäten Politikumsetzung besteht daher aus zwei Komponenten: zu einem dem Handeln der öffentlichen Verwaltung und zum anderen dem Handeln der Adressatengruppen Eine Politik kann „gut“ umgesetzt werden, aber trotzdem nicht das Ergebnis erzielen, welches ihr ursprünglich zugedacht war Daran anschließende Frage: Woran kann es liegen, dass eine Politik nicht die intendierte Wirkung entfaltet? Einführung in die Politische Wissenschaft 24 6. Evaluation Politische Evaluation − Ist Teil des politischen Wettbewerbs und bezieht sich auf die „Bewertung“ von Gesetzgebung durch gegnerische politische Parteien, aber auch durch Interessengruppen − Diese Form der „Evaluation“ (Bewertung) ist meistens unsystematisch, wobei gelegentlich auch Expertisen (meistens in Form von Studien oder Berichten) in Auftrag gegeben werden, um die Erkenntnisse auf eine systematische Grundlage zu stellen und die Kritik zu stützen − Auch wenn die Vorgehensweise systematisch ist, werden vor allem Defizite von Politiken durch die gegnerischen Akteure betont; im Gegenzug betonen die Politiker, die für eine Maßnahme verantwortlich waren, deren Erfolg (vgl. McConnell 2010) Einführung in die Politische Wissenschaft 25 6. Evaluation Systematische Evaluation (vgl. Bizer et al. 2004) − Öffentliche Verwaltung − Externe Akteure (z.B. Beratungsfirmen) − Europäische Union − Internationale Organisationen − Wissenschaft Systematische Evaluation kann prospektiv erfolgen (bevor oder während der Gesetzgebung) Systematische Evaluation kann retrospektiv erfolgen (zum Ende einer Maßnahme, wenn die Überlegung im Raum steht, ob diese erneuert bzw. verlängert werden soll) Einführung in die Politische Wissenschaft 26 6. Prospektive systematische Evaluation Gesetzesfolgenabschätzung (Regulatory Impact Assessment) − Darunter sind die wesentlichen Auswirkungen des Gesetzes zu verstehen. Sie umfassen die beabsichtigten Wirkungen und die unbeabsichtigten Nebenwirkungen − Es ist darzustellen, ob die Wirkungen des Vorhabens einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen, insbesondere welche langfristigen Wirkungen das Vorhaben hat − Auswirkungen auf die Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Haushalte sind einschließlich der voraussichtlichen vollzugsbedingten Auswirkungen darzustellen − Auswirkungen auf die Haushalte der Länder und Kommunen sind gesondert aufzuführen Einführung in die Politische Wissenschaft 27 6. Retrospektive systematische Evaluation Evaluationen im engeren Sinne Es geht darum, die beabsichtigten Wirkungen und die unbeabsichtigten Nebenwirkungen zu erfassen Evaluationen werden häufig von Ökonomen erstellt (besonders prominent im Bereich der Gesundheitsversorgung) Es können hierfür Makro-Daten (z.B. Konjunkturdaten) oder Mikro-Daten (z.B. Daten aus regelmäßig stattfinden Haushaltsbefragungen) verwendet werden Einführung in die Politische Wissenschaft 28 6. Retrospektive systematische Evaluation Einführung in die Politische Wissenschaft https://www.vdv.de/deutschlandticket.aspx 29 7. Zusammenfassung Policy-Analyse/Staatstätigkeit untersucht folgende Themen: − Handeln und Entscheiden (sowie zum Nicht-Handeln und Nicht- Entscheiden) von Regierungen − Entwicklung von Politikinhalten über Zeit und über Länder − Bestimmungsfaktoren und die Konsequenzen von Politikinhalten Nach wie vor werden politische Prozesse und deren Ergebnisse anhand des Phasenmodels von Lasswell untersucht Policy-Analyse wird nicht nur von der Politikwissenschaft betrieben, sondern auch von angrenzenden Disziplinen wie Ökonomie, Rechtswissenschaften oder Verwaltungswissenschaft Einführung in die Politische Wissenschaft 30 8. Literatur Baumgartner, F.R. und Jones, B.D. (1993/2009). Agendas and Instability in American Politics. 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Januar 2025 https://www.tagesschau.de/inland/lobbyregister-gesetz-101.html https://www.zdf.de/nachrichten/heute/fridays-for-future-wo-steht-die-bewegung- 100.html https://m.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/jugendkulturen-in- deutschland/36197/neue-soziale-bewegungen?type=galerie&show=image&i=36198 Einführung in die Politische Wissenschaft https://euobserver.com/institutional/147637 2 Hinführung Politische Willensbildung in Demokratien ist nicht denkbar ohne Interessengruppen – sie wirken als intermediäre (vermittelnde) Kräfte, die außerhalb von Wahlen zwischen der Bürgerschaft und der Politik vermitteln An die Interessengruppen müssen daher dieselben Maßstäbe angelegt werden, die auch für die Ausgestaltung der Demokratie insgesamt gelten – Interessengruppen dürfen nicht außerhalb bestimmter normativer Standards agieren, was bedeutet, dass sie auch eine demokratische Binnenstruktur besitzen und sich gegenüber ihren Mitgliedern bzw. Anhängerschaft verantworten müssen Einführung in die Politische Wissenschaft 3 Gliederung 1. Einleitung 2. Funktionsweise 3. Machtressourcen 4. Politischer Kontext 5. Fazit 6. Literatur Einführung in die Politische Wissenschaft 4 1. Einleitung Der Begriff „Interessengruppe“ bezeichnet den Zusammenschluss von natürlichen Personen (der einzelne Mensch) oder juristischen Personen (rechtlich geregelte Organisationen), die gemeinsame Interessen teilen und sich organisieren, um diese zu fördern In der Regel meinen wir formelle Organisationen, also organisierte Gruppen, wenn wir von Interessengruppen sprechen Sie basieren auf freiwilliger Mitgliedschaft, sind nicht primär gewinnorientiert, sind nicht-staatlich verfasst, aber sind als dauerhafte Organisationen angelegt Die Organisationsstruktur ist mehrstufig und arbeitsteilig (Stichwort Bürokratie) – häufig wirken diese über einen lokalen Radius hinaus, was dadurch gewährleistet ist, dass Organisationsstrukturen auf verschiedenen Ebene vorhanden sind (z.B. Spitzen- und Dachverbände, Landes-, Kreis- und Ortsverbände) Einführung in die Politische Wissenschaft 5 1. Einleitung Formen organisierter Gruppen (vgl. Heinze und Voelzkow 2013), die in der Regel auch als Interessengruppen agieren: − Wirtschafts- und Arbeitswelt: Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Konsumentenverbände etc. − Sozialer Bereich: Sozialanspruchsvereinigungen, Selbsthilfegruppen etc. − Freizeit und Erholung: Sportvereine und -verbände etc. − Religion, Kultur und Wissenschaft: Kirchen, Kunstvereine etc. − Gesellschaftspolitische Querschnittsbereiche: Nichtregierungsorganisation (häufig mit dem englischen Akronym NGOs für non-governmental organization bezeichnet) Einführung in die Politische Wissenschaft 6 1. Einleitung Diese Gruppen sind auch häufig mit Parteien assoziiert, weshalb auch von Policy Communities gesprochen wird: − Organisierte Gruppen in der Wirtschaftswelt: FDP, CDU/CSU − Organisierte Gruppen in der Arbeitswelt: SPD, in Teilen auch DIE LINKE − Organisierte Gruppen im sozialen Bereich: SPD und DIE LINKE − Organisierte Gruppen im gesellschaftspolitischen Querschnittsbereich: vor allem B‘90/Die Grünen, wenn es um Umweltfragen und gesellschaftliche Themen wie Einwanderung geht Einführung in die Politische Wissenschaft 7 1. Einleitung Soziale Bewegungen sind ein „auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (Rucht 1994, S. 76 f.; zitiert in Deutsch 2016) Beispiele für soziale Bewegungen, die nicht mehr (in der ursprünglichen Form) aktiv sind: − Anti-Atom-Bewegung − Friedensbewegung − Occupy Wall Street Einführung in die Politische Wissenschaft 8 1. Einleitung Es gibt aber auch soziale Bewegungen, die anders Ausdruck gefunden haben, als in Protesten: z.B. Kinderladenbewegung, die ein gesellschaftliches „Erziehungsexperiment“ durchgeführt hat Ein Kinderladen ist ein selbstverwalteter Kindergarten, zumeist von freien Trägervereinen getragen, in denen Kinder im Vorschulalter betreut werden Sie haben ein besonderes pädagogisches Konzept und verfolgten in den erste Jahren zumindest die Idee, über die Gesellschaft über eine antiautoritäre Erziehung demokratischer zu machen Einführung in die Politische Wissenschaft 9 1. Einleitung https://www.researchgate.net/publication/319696619_Protesting_Black_Inequality_A_Commentary_on_the_Ci vil_Rights_Movement_and_Black_Lives_Matter/figures?lo=1 Einführung in die Politische Wissenschaft 10 1. Einleitung https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-09/zehn-jahre-occupy-wall-street-protestbewegung-new-york-usa- erbe/komplettansicht Einführung in die Politische Wissenschaft 11 1. Einleitung Soziale Bewegungen sind Interessengruppen und Parteien insoweit ähnlich, als dass die Mitgliedschaft freiwillig ist und dem Zweck dient, ein gemeinsames Ziel zu fördern Allerdings weisen soziale Bewegungen mindestens zwei wichtige Unterschiede im Vergleich zu Parteien und Interessengruppen auf (Newton/van Deth 2019): − Sie bestehen aus verschiedenen Gruppen und Organisationen, die lose zusammenarbeiten, und sich nicht zu einer gemeinsamen Organisation zusammengeschlossen haben − Von den Interessen her sind soziale Bewegungen breiter als Interessengruppen, aber enger als politische Parteien Es gibt auch seit einigen Jahren sog. Bewegungsparteien wie etwa Movimento 5 Stelle in Italien und La République En Marche! in Frankreich Einführung in die Politische Wissenschaft 12 1. Einleitung https://taz.de/Debatte-zur-Bewegung-Aufstehen/!5619521/ Einführung in die Politische Wissenschaft 13 1. Einleitung Newton und van Deth (2019) verweisen zudem auf die Existenz von „neuen sozialen Bewegungen“, obgleich sie darauf hinweisen, dass diese Gruppen eigentlich gar nicht so neu sind und auch historische Beispiele existieren (z.B. Suffragettenbewegung in Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts) : − Diese sind in der Regel gegen etwas (z.B. gegen den Staat) − Weisen ein noch größeres Themenspektrum als normale soziale Bewegungen auf, aber sind immer noch nicht so breit wie die Programmatik von politischen Parteien − Es herrscht eine größere Heterogenität unter ihrer Anhängerschaft − Ihr Aufbau ist dezentraler („Netzwerk von Netzwerken“) − Sie nutzen innovative und unkonventionelle Methoden, um Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erlangen (vgl. Extinction Rebellion) Einführung in die Politische Wissenschaft 14 2. Funktionsweise Interessengruppen und soziale Bewegungen erfüllen zwei zentrale Funktionen: − Interessenaggregation: sie bündeln Vorstellungen und Wünsche und fassen diese in übergeordnete Forderungen − Interessenartikulation: sie kommunizieren Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich bestimmter Politiken Interessengruppen versuchen so früh wie möglich im politischen Prozess und auf der höchsten politischen Ebene Einfluss zu nehmen Insider-Gruppen: diese haben Zugang zu politischen Entscheidungsträgern und werden als „legitime“ Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen gesehen Outsider-Gruppen: diese haben keinen Zugang zu politischen Entscheidungsträgern Einführung in die Politische Wissenschaft 15 2. Funktionsweise Die Strategien zur Einflussnahme hängen von der politischen Opportunitätsstruktur ab Direkte Einflusskanäle − Exekutive (z.B. in Beratungsgremien) − Legislative (z.B. Ausschüsse) − Ministerialbürokratie − Subnationale und lokale Regierungen − Internationale und supranationale Organisationen Indirekte Einflusskanäle − Politische Parteien − Öffentliche Kampagnen bzw. Protest − Medien, Internet und soziale Medien − Gerichte − Internationale und supranationale Organisationen Einführung in die Politische Wissenschaft 16 2. Funktionsweise Politische Partizipation umfasst die Beteiligung an Wahlen, konventionellen Beteiligungsformen (wie z. B. Parteimitgliedschaft) und Protestverhalten Protest zielt darauf ab, dass kollektiv und öffentlich beobachtbar Kritik gegenüber politischen bzw. gesellschaftlichen Zuständen zum Ausdruck gebracht wird Ob, wie und wie lange Protestaktionen stattfinden können, hängt vom politischen System ab (vgl. Gezi-Demonstrationen in der Türkei 2013) Die empirische Untersuchung von Protestaktionen, insbesondere im Länder- bzw. im Zeitvergleich ist sehr schwierig, weil es kein Register von Personen gibt, die hieran teilgenommen haben Einführung in die Politische Wissenschaft 17 Einführung in die Politische Wissenschaft 2. Funktionsweise https://www.statista.com/chart/17837/companies-spending- the-most-on-eu-lobbying/ 18 2. Funktionsweise https://www.abgeordnetenwatch.de/lobbyregister-jetzt Einführung in die Politische Wissenschaft 19 2. Funktionsweise Wissen und Gegenwissen (disparate, alternative Wissens- und Erkenntnisformen) stellen wichtige Ressourcen von sozialen Bewegungen dar (Patenburg et al. 2021) − Fridays for Future bzw. Scientists for Future argumentieren sehr stark über wissenschaftliche Evidenz − „Querdenken“ tut das Gegenteil – die Ansichten stehen „quer“ zu vorherrschenden wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Positionen − Das von sozialen Bewegungen vertretene Wissen ist in der Regel gegen die im politischen und gesellschaftlichen Diskurs präsenten Wissensbestände − „Knowledge Empowerment“: Ermächtigung der Bewegung durch Wissen sowie Ermächtigung von Wissensinhalten, die im politischen Diskurs bislang unberücksichtigt oder stigmatisiert sind Einführung in die Politische Wissenschaft 20 3. Machtressourcen Finanzielle Ressourcen Mitgliederzahl Repräsentation (potenzieller) Mitglieder bzw. Gruppen in der Gesellschaft Organisationsfähigkeit Geschlossenheit der Gruppe Sanktionsmöglichkeiten gegenüber politischen Entscheidungsträgern Führungsstruktur bzw. Führungsfiguren Organisationen, die sich auf Detailfragen bei Politiken konzentrieren, haben bessere Chancen, sich im politischen Prozess durchzusetzen als solche, die sich großen bzw. fundamentalen Themen widmen Einführung in die Politische Wissenschaft 21 4. Politischer Kontext Status als Insider oder Outsider hängt vom politischen Kontext ab Gruppen mit Zugang zu politischen Parteien können als Insider agieren, aber auch darüber hinaus bestimmt der Zugang zu Parteien, wie einflussreich die Gruppen sind Öffentliche Meinung Legitimität der Interessen, die die jeweiligen Gruppen vertreten Die Existenz von Gruppen, die sich für die gleichen Belange einsetzen bzw. konträre Ansichten vertreten, kann dazu führen, dass das Einflusspotenzial von Gruppen eingeschränkt ist Generell ist wichtig, wie das System zwischen Politik und Interessengruppen strukturiert ist: − (Neo-)Korporatismus (wenige privilegierte Gruppen) − „Para-staatliche Einrichtungen“ (z.B. die Kirchen in Deutschland) − Pluralismus (viele Gruppen) Einführung in die Politische Wissenschaft 22 4. Politischer Kontext – Korporatismus Wird auch gelegentlich als Neo-Korporatismus bezeichnet Zeichnet sich dadurch aus, dass die Regierung Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen privilegierten Zugang zu politischen System gewährt und diese bei politischen Entscheidungsprozessen mit eingebunden sind Damit ein solches System funktionieren kann, müssen einige Bedingungen erfüllt sein: − Existenz einer beschränkten Anzahl von Dach- und Spitzenverbänden − Zugangsmöglichkeiten zu Konsultations- und Entscheidungsprozessen − Die politischen Entscheidungen müssen von allen akzeptiert und umgesetzt werden Einführung in die Politische Wissenschaft 23 4. Politischer Kontext – Pluralismus Es gibt keine privilegierten Gruppen; das System ist schwach strukturiert und dezentral und damit durchlässig für eine Vielzahl von Interessengruppen In solchen Systemen gibt es Politiknetzwerke, die in der englischsprachigen Literatur auch als Policy Communities bezeichnet werden Pluralistische Systeme gibt es in Großbritannien und den USA Trotz des pluralistischen Systems der Interessenvermittlung werden die USA oft mit dem „eisernen Dreieck“ aus der Regierung bzw. der Ministerialbürokratie, Interessengruppen und einzelnen Politikerinnen assoziiert Einführung in die Politische Wissenschaft 24 4. Politischer Kontext Aspekte, die die Demokratie stärken: − Interessenaggregation und -artikulation − Einbindung von Minderheitenanliegen − Verbindungsglied zwischen Politik und Gesellschaft − Identitätsstiftung und Vertrauen in die Demokratie − Bessere Gesetzgebung durch technische Expertise Aspekte, die die Demokratie schwächen: − Regieren gegen den Willen der Bevölkerung − „Regulatory capture“ („Übernahme“ von Politikgestaltung) − Verantwortung nur gegenüber der Mitgliedschaft − „Hyper-Pluralismus“ kann dazu führen, dass Regierungshandeln nicht mehr möglich ist Einführung in die Politische Wissenschaft 25 4. Politischer Kontext Wie genau Interessenvermittlung funktioniert, ist auch das Ergebnis von Gesetzgebung – siehe Beispiel USA (Bernhagen 2019): − Lobbying and Disclosure Act (1995) − Honest Leadership and Open Government Act (2007) − Sämtliche Aktivitäten auf der Bundesebene müssen bei den Verwaltungen des Kongresses und des Senats angezeigt werden (was Informationen über die Adressaten, die Regelungsinitiativen sowie den Gegenstand der Gespräche umfasst) − Die Lobbyregulierung amerikanischer Unternehmen wirkt zum Teil auch auf das Ausland (Foreign Corrupt Practices Act von 1977) Beispiel Deutschland − Seit dem 1.1.2022 gibt es in Deutschland einen Verhaltenskodex für Lobbyistinnen und Lobbyisten sowie ein Lobbyregister Einführung in die Politische Wissenschaft 26 4. Politischer Kontext https://www.lobbyregister.bundestag.de/startseite Einführung in die Politische Wissenschaft 27 4. Politischer Kontext https://www.lobbycontrol.de/2020/09/lobbyregister-entwurf-im-internationalen-vergleich/ Einführung in die Politische Wissenschaft 28 5. Fazit Freiwillige Organisationen sind das Fundament einer pluralistischen Demokratie, also einem System, in welchem Entscheidungen auf der Grundlage von Wettbewerb und Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen stattfinden Wir können grundsätzlich zwischen Interessengruppen und sozialen Bewegungen unterscheiden – letztere sind auf Zeit angelegt und hören qua Definition irgendwann auf zu existieren Eine interessante neue Entwicklung bezieht sich auf Bewegungsparteien Interessengruppen und Regierungen sind voneinander abhängig Welche Einflusskanäle genutzt werden, hängt von der politischen Opportunitätsstruktur ab Einführung in die Politische Wissenschaft 29 6. Literatur Bernhagen P. (2019) Lobbyismus in der Politikberatung. In: Falk S., Glaab M., Römmele A., Schober H., Thunert M. (eds) Handbuch Politikberatung. 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VS Verlag für Sozialwissenschaften. von Winter, T., & von Blumenthal, J. (Eds.). (2014). Interessengruppen und Parlamente. Springer-Verlag. Einführung in die Politische Wissenschaft 30

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