Einführung in die Psychologie - Psychiatriegeschichte PDF

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Hochschule Fresenius University of Applied Sciences

2024

Sebastian Esch

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psychology psychiatry history historical psychology psychology lectures

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This document is an introduction to psychology, specifically focusing on the history and research methods in psychology. It covers topics like different historical periods, early cultures, ancient Greece and Rome, and the medieval era. It also provides insight into the evolution of concepts surrounding mental health.

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Einführung in die Psychologie, ihre Geschichte & Forschungsmethoden PG_Bac Wintersemester 2024/25 Dipl.-Psych. Sebastian Esch, M.A. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frank...

Einführung in die Psychologie, ihre Geschichte & Forschungsmethoden PG_Bac Wintersemester 2024/25 Dipl.-Psych. Sebastian Esch, M.A. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York Geschichte der Psychiatrie Quelle: Brückner, Burkhart (2015): Basiswissen: Geschichte der Psychiatrie. 2., korrigierte Auflage. Köln: Psychiatrie Verlag. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 2 Frühe Hochkulturen „Psychiatrie“ (psyches iatreion) bedeutet Heilstätte der Seele altgriechische Übersetzung einer Inschrift, die vor 3000 Jahren über einer Tempelbibliothek in Theben gestanden haben soll In Ägypten und Mesopotamien erfolgt die Behandlung durch Priesterärzte Symptome werden auf Zauberei und Besessenheit zurückgeführt Das Herz gilt als Sitz des Denkens und Fühlens Behandelt wird zum einen mit Ritualen, Amuletten und Beschwörungen, zum anderen mit Heilpflanzen, Früchten, Öl und Honig, zudem mit Heilschlaf und Traumdeutung Schon hier gibt es also zwei Tendenzen im Umgang mit psychischem Leid: naturhafte Erklärungen und kulturell-religiöse Deutungen https://metmuseum.org/art/collection/search/548344?searchField=All&sortBy=Relevance&ft=heart&offset=80& amp;rpp=20&pos=98 Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 3 Griechische Antike: Hippokrates (460-370 v.Chr.) Hippokrates behauptet, dass die sog. „heilige Krankheit“ (ggf. Epilepsie) eine natürliche Ursache besitzt und weist magisch- theologische Erklärungen zurück: „Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit […] In Wirklichkeit aber ist das Gehirn schuld an diesem Leiden“ (zit. bei Brückner, 16). Hippokrates‘ Erklärungsmodell: Lebenshauch (pneuma), der durch Atmung, Nahrung und Haut in den Körper gelangt, wird durch Schleim im Gehirn blockiert Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 4 Griechische & römische Antike Humoralpathologie (Säftelehre): der menschliche Körper besteht aus Blut, Schleim, heller Galle & dunkler Galle in unterschiedlicher Mischung & Beschaffenheit (warm, kalt, trocken, feucht) Gesundheit = Harmonie der Körpersäfte In der römischen Spätantike (Galen) entwickelt sich daraus die bis in die Neuzeit einflussreiche Temperamentenlehre als frühe Form der Persönlichkeitspsychologie: – Melancholiker: furchtsam, scharfsinnig à erdha6e schwarze Galle – Sanguiniker: heiter & einfäl=g à lu6iges Blut – Choleriker: jähzornig & mu=g à feurige gelbe Galle – Phlegma=ker: schwerfällig & ausdauernd à wässriger Schleim http://1.bp.blogspot.com/_10dmVxrwflU/SsZbYkSOh6I/AAAAAAAAA9I/hEArjZ5Cwd0/s320/Vier_temperamente_mini.jpg Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 5 Griechische & römische Antike Neben den an Hippokrates orientierten somatischen Therapien gab es in der griechischen und römischen Medizin auch „psychotherapeutische“ Ansätze „Öfter muss man freilich dem Kranken beistimmen als ihm widersprechen und beim Reden seine Gedanken allmählich und, ohne dass er es merkt, zur Vernunft zurückbringen“ (Celusus, zitiert bei Brückner, 26). Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 6 Mittelalter: Krankheitskonzepte Problem der Unterscheidung von Krankheit, Besessenheit und heiliger Verzückung Bei der Bewertung von Visionsberichten war deren Inhalt – gottgefällig oder nicht – entscheidend bei theologisch unverfänglichen Inhalten war die Medizin zuständig Neben antiken Modellen und Therapien spielen der Einfluss arabischer Ärzte und die Volksmedizin eine wichtige Rolle Ab dem 13. Jahrhundert verlagert sich die medizinische Forschung & Ausbildung allmählich in die Universitäten Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 7 Mittelalter: Versorgungssituation Pflege vor allem in Familien, im Spätmittelalter erste Abteilungen in Krankenhäusern Manche Privathaushalte vermieteten sog. Tollkisten (Holzkäfige) Grundsätzlich galten Wahnsinnige als schuldunfähig, bei kleineren Vergehen (z.B. Ruhestörung) wurden sie dennoch in Eisenkäfige an Rathäusern oder Stadtmauer gesperrt Allein lebende Personen wurden in kirchlichen Hospitälern aufgenommen oder verbannt Familienpflege im flandrischen Geel ab dem 14. Jhd., Tradition besteht bis heute Spezialisierte Einrichtungen erst ab dem 15. Jhd. (in Bagdad schon ab dem 10. Jhd.) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 8 Neuzeit: Hexenverfolgung Dämonologie und Sündentheorie verbinden sich mit Aberglauben zur frühneuzeitlichen Hexentheorie, die ab 1450 (also nicht im sog. dunklen Mittelalter) zur Hexenverfolgung führt Hexenprozesse führen in den folgenden 300 Jahren zu ca. 60.000 Todesopfern (75% Frauen) These des Arztes Johann Weyer (1515-1588): Die angeblichen Hexen sind gar nicht schuldfähig, sondern „närrisch“ und bilden sich nur ein, vom Teufel verführt worden seien Nach heutigem Forschungsstand geht man aber davon aus, dass die meisten Opfer (und Täter) keine psychische Störung aufwiesen Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 9 Neuzeit: Paracelsus (1493-1541) Kritik an Humoralpathologie, kein Bezug auf Dämonologie neben natürlichen Aspekten spielen auch personenbezogene Einflüsse eine Rolle bei der Krankheitsentstehung Klassifikatorische Unterscheidung von 5 Störungen: Epilepsie, Manie, Veitstanz, Verstandesstörungen, chronische Leiden Darauf aufbauende Typologie von Erkrankten: Chronische Leiden kommen vor bei lunatici (durch Mond beeinflusst), insani (vorgeburtliche Schäden), vesani (falsche Lebensweise), melancholici (gestörtes seelisch-körperliches Gleichgewicht) Chirurgische Mittel gegen Manie: bei Ursache in der Nähe des Zwerchfells soll die Haut durch Blasenpflaster geöffnet werden Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 10 William Battie (1704-1776) Unterscheidung zwischen originärem Wahnsinn (auf innere Störung der Nervensubstanz basierend, unheilbar, vermutlich erblich) und folgendem Wahnsinn (durch äußere Faktoren erklärbar, heilbar) Vorläufer der Unterscheidung von endogenen und exogenen Psychosen „Führung erreicht viel mehr als Medizin“: erste milieutherapeutische Ansätze (Ruhe, Disziplin, bekömmliche Mahlzeiten, moderate Arbeitstätigkeit, kein Besuch, Behandlung fern von Heimat) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 11 Behandlung im Tollhaus Großteil der beschränkt arbeitsfähigen Betroffenen wird weiterhin in der Familie betreut Ab dem 18. Jhd.: gemischte Asyle und Gefängnisse, in denen mittellose Wahnsinnige gemeinsam mit Obdachlosen, Behinderten und Kriminellen interniert werden Es handelt sich um Kombinationen aus Zucht-, Arbeits- und Tollhaus Die Einrichtungen dienen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen: Unterbindung von Landstreicherei, Wegelagerei, Bettelei, Entlastung des Staatshaushalts von Armenpflege In der Neuzeit und der Moderne geht man also keineswegs humaner mit psychisch leidenden Menschen um Um 1800 entsteht die Idee, dass einige Insassen zur Vernunft zurückgeführt werden könnten à Beginn der modernen klinischen Psychiatrie Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 12 Übergang zur modernen Psychiatrie Ein Großteil der untergebrachten Patienten wird bis weit ins 19. Jahrhundert in Verliesen oder Sälen angekettet und mit wirkungslosen Kuren behandelt Zwei wichtige Wegbereiter der modernen Psychiatrie, die einen anderen Weg einschlagen, sind Philippe Pinel (1745-1826) und William Tuke (1737-1822) http://catalogue.wellcomelibrary.org/record=b1173099 Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 13 Übergang zur modernen Psychiatrie Pinel leitete ab 1792 die berüchtigte Pariser Sammelanstalt Bicêtre, in der die Zwangsjacke erfunden wurde und in der bis 1836 auch Kriminelle untergebracht waren Ikonische Szene: Befreiung der Internierten von ihren Ketten (so aber nie passiert) Wichtige Beiträge: sorgfältige und langfristige Beobachtung, Förderung der Krankheitseinsicht durch moralische Behandlung, paternalistische Milieutherapie (Heimatferne, Ruhe, Diät, körperliche Arbeit, strikte Regeln, bei Bedarf Isolierung & Zwang) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 14 Übergang zur modernen Psychiatrie Tuke war Tee- und Kaffehändler und gründete im nordenglischen York eine kleine private Einrichtung für die Mitglieder seiner Quäkergemeinde In diesem Retreat gab es keine Ketten und Zwangsjacken und außer warmen Bädern keine traditionellen ärztlichen Maßnahmen Stattdessen: familienähnliche Atmosphäre für drei bis acht Bewohner Moral Treatment: verstehende, wohlwollende Grundhaltung, stetige Beobachtung und Kontrolle, seelsorgerische Gespräche, Arbeit in der Natur, gezielte Besuchskontakte, Gehorsam, Furcht vor Strafen Ziel: religiöse Resozialisierung, Wiederherstellung von Selbstkontrolle und Selbstachtung Patienten als unmündige Kinder, die zur Vernunft gebracht werden sollen Wie bei Pinel: Selbstbeherrschung anstelle von äußerem Zwang Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 15 Johann Christian Reil (1759-1813) Gründerfigur der deutschen Psychiatrie verwendet 1808 erstmals den Ausdruck „Psychiatrie“ für die Heilung durch psychische Einflüsse Patienten werden als „Irrende“ bezeichnet Tollhäuser lehnt Reil ab Behandlung in architektonisch ansprechenden, staatlich beaufsichtigten Anstalten mit geschultem Personal Verwendung von drei Heilverfahren: – Auf das „Gemeingefühl“ wirkende MiGel wie Ermahnungen und Belehrungen – Angenehme (Massagen, Wein, Sexualität) und unangenehme „Reize“ (Hunger, Durst, Verbrennungen, Peitschen mit Brennnesseln) – Symbolische MiGel (Theater, Musik, Poesie) https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Christian_Reil#/media/Datei:Johann_Christian_Reil_(1811).jpg Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 16 Veränderte Versorgungslandschaft (Mitte 19. Jhd.) Bevölkerungszuwachs, industrielle Produktion, Säkularisierung von Kirchenbesitz, Auflösung traditioneller Familienstrukturen, Anstieg bei Syphilis & Alkoholismus à Rapide steigende Patientenzahlen Somatische Therapiemethoden (Opium, Kampfer…Wechselbäder, Diäten, Aderlässe, Einläufe) werden zunehmend in individuelle Behandlungspläne integriert Idee der gezielten Umerziehung in der Tradition von Pinel und Tuke Mildere, akute Störungen erweisen sich so als recht gut behandelbar, schwere akute und chronische Störungen bleiben weiterhin schwer erreichbar Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 17 Behandlungsansätze Einflussreiche Annahme: Krankheiten gehen entweder auf Überreiztheit (Sthenie) oder Unterreiztheit (Asthenie) zurück Gleichgewicht wird durch jeweils entgegengesetzte Reize wiederhergestellt à antagonistische Therapie Zwangsmittel: Zwangsstuhl, Autenrieth‘sche Maske, Horn‘scher Sack, Drehbett à Diese Vorstellung, Erregung und Gewalt seien am besten mit Gegengewalt zu behandeln ist ein Irrglaube à Therapeutisch wirksam ist der Abbau institutioneller Gewalt auf das notwendige Minimum – auch heute noch P. J. Schneider: Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische Krankheiten, Tübingen 1824 Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 18 Entwicklungen im späten 19. & frühen 20. Jahrhundert Entschlüsselung der infektiösen Ursachen der progressiven Paralyse als Endstadium der Syphilis à rätselhafte psychotische Erkrankung erhält somatische Erklärung Untersuchung von Sprachstörungen durch Carl Wernicke neue Erkenntnisse zu Struktur und Funktion der Gehirnzellen, Neuronentheorie Ab Mitte des 19. Jahrhunderts Entwicklung der Degenerationslehre durch Bénédict Morel, die behauptet, dass erworbene psychische Störungen vererbt werden und sich unter den Nachkommen zunehmend steigern und vervielfachen Sozioökonomische Verelendung und abweichendes Verhalten werden biologisch erklärt – als „Entartung“ Hier liegt eine der Wurzeln der rassenhygienischen Ideologien des 20. Jhds. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 19 Wilhelm Griesinger (1817-1868) Ursprünglich Internist, ab 1865 Direktor an der Berliner Charité Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (1845): erste vollständige Integration der theoretischen und praktischen Grundlagen der Psychiatrie Etablierung der Psychiatrie als Teil der naturwissenschaftlich orientierten Medizin Annahme 1: Psychische Krankheiten sind Erkrankungen des Gehirns Annahme 2: Psychische Prozesse sind nicht aus der Organisation des Gehirns zu verstehen Seele bildet sich auf organischer Grundlage mit ihrer eigenen Geschichte heraus Psychische Symptome besitzen stets somatische Korrelate, ohne mit diesen identisch zu sein Melancholie & Manie als Grundformen psychischer Störungen à Modell der Erziehungsrat des Kantons Zürich (Hg.), Die Universität Zürich und Einheitspsychose ihre Vorläufer, Verlag der Erziehungsdirekaon Zürich, 1938, o.S. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 20 Versorgungssituation im späten 19. Jhd. Es häufen sich Streitschriften von Betroffenen, die widerrechtliche Einweisungspraktiken, überfüllte Anstalten und Zwangsbehandlungen beklagen und eine Reform der „Irrengesetzgebung“ fordern Zunahme der Patientenzahlen und Gründung von Großkliniken geht mit verschlechterter Betreuungsqualität einher Anstalten entwickeln sich oft in Aufbewahrungsorte für sozial & ökonomisch Schwache zurück Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 21 Emil Kraepelin (1856-1926) Zentrale Figur für die systematische Grundlegung der klinischen Psychiatrie und Wegbereiter des somatisch orientierten Mainstreams der modernen Psychiatrie Experimentalpsychologie („Physiologie der Seele“) als Basis der Psychiatrie Klinische Methode: Detaillierte Erhebung von Eingangssymptomen, Verlauf und Entlassungsdiagnose, Ähnlichkeiten im Verlauf sind prognostisch informativ Revolution der Krankheitslehre: an die Stelle des symptomatologischen Querschnitts tritt die längsschnittorientierte Verlaufsbetrachtung Verwirrende Vielfalt von Krankheitsbezeichnungen wird reduziert Definition der Dementia praecox (Vorläufer des heutigen Schizophreniebegriffs) Unterscheidung zwischen organischen Psychosen und psychogenen Störungen Definition des „manisch-depressiven Irreseins“ Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 22 Emil Kraepelin (1856-1926) Klassifikation: Unterscheidung zwischen endogenen Störungen (Dementia Praecox mit ungünstiger Prognose einerseits, manisch-depressiv mit günstiger Prognose andererseits), organisch begründeten Störungen, psychogenen Störungen, psychopathischen Persönlichkeiten und geistigen Behinderungen Auf dieser Differenzierung basieren im Wesentlichen auch noch die heutigen Klassifikationssysteme (ICD & DSM), auch wenn diese vielfach umgearbeitet wurden und der Begriff „endogen“ inzwischen nur noch selten verwendet wird Forderung nach Heilanstalten für Alkoholiker – im Sinne der Volksgesundheit Verelendung und Alkoholismus im Proletariat werden auf entartete Anlagen von Tagedieben und ähnlich „wertlosem Menschenausschuss“ zurückgeführt (zitiert bei Brückner, 113) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 23 Lektüretipp zur Vertiefung https://www.suhrkamp.de/buch/andreas-heinz-das-kolonialisierte-gehirn-und-die-wege-der-revolte-t-9783518300039 Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York Versorgungssituation im frühen 20. Jhd. Standardrepertoire: Bettbehandlung, Liegekuren, Beruhigungsmittel, warme Bäder Nahrungsknappheit im 1. WK: viele Todesfälle à Reduktion der Patientenzahlen Neue Patientengruppe nach 1. WK: „Kriegszitterer“ à Psychotraumatologie Ab 1920 zweijährige Ausbildung für „Irrenpfleger“ Invasive Verfahren: Insulinkur (1927), Elektrokrampfbehandlung (1938) à Rückgang psychotischer Symptome nach künstlich ausgelösten Krampfanfällen Psychochirurgie (1935): operative Zerstörung von Hirngewebe (Leukotomie) In der Weimarer Republik entwickeln sich frühe sozialpsychiatrische Konzepte & Ausbau der staatlichen Gesundheitsdienste soziale Arbeit, Nachsorge, Hausbesuche, Einbeziehung von Angehörigen, Arbeitstherapie, Beratungsstellen à verkürzte stationäre Behandlungen Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 25 Psychiatrie im Nationalsozialismus Mindestens 296.000 Patientinnen & Patienten ermordet, davon 10.000 Kinder 300.000-400.000 Zwangssterilisierungen 1933: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verpflichtet zu Zwangssterilisierungen an Behinderten und psychisch Kranken Einrichtung von Erbgesundheitsgerichten, Gutachterausschüssen und erbbiologischen Beratungsstellen Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 26 Psychiatrie im Nationalsozialismus Der Jurist Karl Binding und der Psychiatrieprofessor Alfred Erich Hoche schreiben in Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens von 1920: „Es ist eine peinliche Vorstellung, dass eine ganze Generation von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für dies Kategorie von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstands nicht dringend, jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen“ (zitiert bei Brückner, 126) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York hKps://www.dgsp-ev.de/veroeffentlichungen/broschueren/75-jahre-eutanasie-erlass.html 27 Psychiatrie im Nationalsozialismus Vernichtung erst nach Kriegsausbruch durchsetzbar: ab 1939 Tötung schwer behinderter Kinder in neu eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ Aktion T 4 (benannt nach der Adresse Tiergartenstraße 4) bis 1941 – Versendung von Meldebögen an Anstalten – nach Rücklauf gutacherliche Selektion anhand der Kriterien Erblichkeit, Unheilbarkeit, Arbeitsleistung, Asozialität und Rassenzugehörigkeit – Abtransport mit Bussen der „Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft mbh“ – Überführung in eine der sechs Tötungsanstalten – Vergiftung mit Kohlenmonoxid Nach Ende der Aktion weiterhin Deportationen, um Platz für Kriegsopfer zu schaffen, Tötung durch Pflegepersonal auf Weisung der Ärzte (Aushungern, Überdosierung) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 28 Nachkriegszeit Einführung der Psychopharmaka ab den 1950er Jahren – 1952 erstes NeurolepVkum Chlorpromazin – 1958 erstes AnVdepressivum Imipramin – 1960 erster Tranquilizer (Benzodiazepin) Librium – 1967 Lithium als SVmmungsstabilisator Neurotransmitterhypothesen als ätiologische Arbeitsmodelle aufgrund der Wirkweise der Medikamente (Schizophrenie: Dopaminüberschuss, Depression: Serotoninmangel) Psychiatrien bleiben dennoch zunächst vor allem Verwahrungsanstalten, in denen die Medikamente zur Ruhigstellung und Disziplinierung eingesetzt werden Gemeindepsychiatrische Psychiatriereform in den 1970er Jahren Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 29 Sozial- & Gemeindepsychiatrie Sozialpsychiatrie: Soziologie und Epidemiologie psychischer Störungen, Konzepte zum Aufbau dezentraler partizipativer Versorgungsstrukturen Ziel ist die Gemeindepsychiatrie – eine vernetzte, multiprofessionelle Versorgungslandschaft Offene Psychiatrien in USA, Frankreich, England und Skandinavien ab den 1950er Jahren, Reformen in der DDR früher als in der BRD 1960er Jahre: sozialwissenschaftliche Psychiatriekritik („Antipsychiatrie“) 1975: Bestandsaufnahme & Reformvorschläge („Psychiatrie-Enquete“) – Gleichstellung psychisch und somatisch Kranker – Aufbau gemeindenaher Versorgung – Bedarfsgerechte, präventive, nachsorgende Hilfen Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 30 Sozial- & Gemeindepsychiatrie Standard-Versorgungsgebiete (250.000 Einwohner): ambulante Dienste, stationäre und teilstationäre Hilfen, komplementäre Einrichtungen Stärkung des Berufsbilds des Klinischen Psychologen Selbsthilfeinitiativen von Psychiatrieerfahrenen Enthospitalisierung: nach Auflösung einer Bremer Klinik mussten von 240 Patienten, die im Schnitt 16 Jahre hospitalisiert waren, nur 14 erneut stationär behandelt werden Reformprojekte zunehmend professionalisiert und technokratisch, daher 1988 Forderung nach personenzentrierter Versorgung Seit 1990er Jahren Leitidee der Partizipation („Trialog“ von Psychiatrieerfahrenen, Angehörigen, Professionellen) Seit 2000ern Abbau sozialpsychiatrischer zugunsten neuropsychiatrischer Forschung Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 31 »Psychiatrie ist entweder sozial oder sie ist keine Psychiatrie.« (Klaus Dörner) »Depression ist die Belohnung fürs Bravsein.« (Marshall B. Rosenberg) Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York 32 Ausblick „Bisher hieß es in den Kliniken o6: wir können „Wenn die betreffende Person die Zuschreibung einer Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht behandeln bestimmten Diagnose selbstbestimmt ablehnt, so lassen. Darauf folgte dann entweder die erlischt damit nicht der solidarische Anspruch auf Entlassung aus der Klinik oder eine Unterstützung. Eine Hilfeleistung kommt allerdings erst Zwangsmaßnahme. Im neuen System beginnt Hilfe dann zustande, wenn die Person ein Hilfsangebot mit den Fragen: »Was brauchen Sie? Was können akzeptiert. Aber auch aus der selbstbestimmten wir für Sie tun?« Menschliche und soziale Ablehnung eines bestimmten Hilfsangebots erlischt Unterstützung bekommen Vorrang vor nicht der Anspruch auf solidarische Hilfe“ diagnos=schen oder technischen Erwägungen“ (Zinkler, von Peter, 2019, 204). (Zinkler, von Peter, 2019, 206). Zinkler, von Peter: Ohne Zwang – ein Konzept für eine ausschließlich unterstützende Psychiatrie. R & P (2019) 37: 203 – 209. Idstein | Köln | Hamburg | Düsseldorf | München | Frankfurt am Main | Berlin | Zwickau | New York

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