Einführung in die Rechtswissenschaft PDF
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Universität Zürich
Hans-Ueli Vogt
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This document is an introduction to legal studies. It covers basic legal concepts like the nature of law, public and private law, and their application. The document also explores the hierarchy of laws, such as international law versus national law in Switzerland. It further clarifies the differences between sources of law created by the state and privately created laws, such as contracts.
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RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 Einführung in die Rechtswissenschaft §4 – Rechtliche Grundbegriffe I. Der Begriff des Rechts - Reicht kann sich in drei Dimensionen unterscheiden lasse...
RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 Einführung in die Rechtswissenschaft §4 – Rechtliche Grundbegriffe I. Der Begriff des Rechts - Reicht kann sich in drei Dimensionen unterscheiden lassen - Positivität des Rechts: geltendes, seiendes, verbindliches Recht (= Rechtsordnung); nicht gleichsetzen mit gerechtem/richtigem Recht - Idealität des Rechts: Kontrapunkt der Positivität; Was soll als Recht gelten/sein? Hinterfragen des Rechts aus kritischer/philosophischer Haltung heraus (Vergleich zwischen verbreiten Anschauung über Gerechtigkeit, Moral, Menschenwürde, etc.) wächst aus der Idee des „überpositiven“ Rechts hinaus - Faktizität des Rechts: Rechtswirklichkeit, gesellschaftliche Realität - Überpositives Recht (= Naturrecht): von Ort und Zeit unabhängiges, universell geltendes Recht, das Vorrang hat gegenüber positivem Recht (rechts-, moralphilosophische oder theologische Begründung möglich) - Inhalt (im Laufe der Zeit verändert/verschiedene Meinungen): Verhalten von Privaten und Staat ist korrekt, wenn es den Gesetzen der Natur nachempfunden ist - Ideale des Rechts und Rechtswirklichkeit wirken auf positives Recht ein Gerechtigkeit, Zwecksmässigkeit, etc. werden angestrebt und Gesetze werden sich verändernden, gesellschaftlichen Realitäten angepasst II. Formelles und Materielles Recht - materielles Recht = was „rechtens“ ist, ordnet direkt von ihm erfasste Lebensverhältnisse; entscheidet über Gewichtung und Ausgleich von divergierenden Interessen; bestimmt wie sich Adressaten der Rechtsordnung zu verhalten haben - z.B.: ZGB, OR, StGB, Teile der BV, etc. - formelles Recht = dient zur Durchsetzung des materiellen Rechts; regelt Verfahren, Zuständigkeiten und Organisation von Behörden - Bsp.: Prozessrechte (ZPO, StPO), Vollzugsrecht, Teile der BV, etc. (Zivilprozessrecht zur Durchsetzung des materiellen Privatrechts; Strafprozessrecht zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts; öffentliches Prozessrecht zur Durchsetzung des materiellen öffentlichen Rechts) Seite !1 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Kompetenz materielles Recht zu setzen Bund (ausser für nicht unwesentliche Bereiche: (z.B. Bau-, Schul-, Steuerrecht, Gesundheitswesen; dann Kompetenz ganz/teilweise bei Kantonen) - Kompetenz formelles Recht zu setzen Bund und Kantonen - praktische Bedeutung der Unterscheidung ist aber gering nur noch relevant, wenn Bund Vorschriften über Organisation von kantonalen Behörden/Gerichten erstellen will III. Sachrecht und Kollisionsrecht - Sachrecht = das in der Sache anzuwendende Recht; unmittelbar der Regelung der Rechtsverhältnisse und ihrer Durchsetzung dient (materielles + formelles Recht) - Sachrecht ≠ Sachenrecht (regelt Rechtsbeziehungen von Personen zu Sachen; im 4. Teil des ZGB) - Kollisionsrecht = Rechtsanwendungsrecht; bestimmt, welches Sachrecht anzuwenden ist, wenn verschiedene Rechte in Betracht kommen - Örtliche Hinsicht: durch Internationales Privatrecht geregelt (weder „international noch „Privatrecht“) - jedes Land hat eigenes Internationales Privatrecht, dass nur in Teilbereichen durch internationale Verträge einheitliche Ordnung schafft - Zeitliche Hinsicht: durch intertemporale Recht geklärt - z.B.: Übergangsbestimmungen bei neuen Gesetzen; Rückwirkungsverbot - Sachliche Hinsicht: Spezialgesetzgebung - z.B.: Militärstrafrecht oder ordentliches Strafrecht, wenn in Soldat angetrunken aus Urlaub in den Dienst fährt und jemanden anfährt? - IPRG = internationales Privatrecht (Bundesgesetz vom 18. Dez. 1987) - kein Privatrecht im engeren Sinn, regelt nicht Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, sondern rechtlichen Zuständigkeiten im internationalen Verhältnis - enthält auch formelles Recht: Zuständigkeit der CH-Gerichte und Anerkennung/Vollstreckung ausländischer Entscheide IV. Öffentliches Recht und Privatrecht - Unterscheidungstheorien/Kriterien: - Funktionstheorie: Erfüllung öffentlicher Aufgaben vs. Erfüllung privater Aufgaben - Interessentheorie: öffentliche Interessen vs. private Interessen - Subjektstheorie: Staat/Privat vs. Privat/Privat - Modale Theorie: öffentlichrechtliche Sanktion vs. zivilrechtliche Sanktion - Subordinationstheorie: Öffentliches Recht verlangt Staat als Träger von Hoheitsrechten und Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Bürger ( Problem: Privatrecht kann zur Durchsetzung in öffentlichen Interessen dienen/Staat kann als Privater ohne Hoheitsrecht auftreten) - Bundesgericht nutzt Kombination aus Subjekt- und Subordinationstheorie: - Eine Partei hat hoheitliche Gewalt (Subjektstheorie) und tritt auch mit hoheitlicher Gewalt auf (Subordinationstheorie) Seite !2 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - öffentliches Recht: Rechtsverhältnisse, bei denen Staat/anderer Träger hoheitlicher Gewalt mit Hoheitsgewalt auftritt Voraussetzung: am Rechtsverhältnis beteiligt, besteht ein Über-/Unterordnungsverhältnis - wo Staat nicht beteiligt ist, gilt immer das Privatrecht (aber auch, wenn Staat auf gleicher Ebene zu Privaten steht) - Unterschiede bei Rechtsdurchsetzung: - Durchsetzung von Amtes wegen vs. Durchsetzung von privaten Ansprüchen (klageweise vor Gericht) - Zuordnung schwierig, da viele Erlasse/Rechtsgebiete beides enthalten: - Gemischte Rechtssätze = öffentlich- und privatrechtlichen Charakter (Bsp.: ZGB 699 I) - Unterscheidung wichtig für Zuständigkeit zur Rechtsetzung (Bund vs. Kantone) und Rechtsanwendung (Zivilgericht, Straf-/ Verwaltungsbehörde), oder bei Vermittlung, welche Rechtsnormen/Rechtsmittel anwendbar sind V. Hierarchische Gliederung Gliederung aufgrund der Hierarchie der Gemeinwesen: - Völkerrecht (internationales Recht) vs. nationales Recht (Landesrecht) - Völkerrecht = regelt Rechtsbeziehungen zwischen Staaten (und internationalen/supranationalen Organisationen) von überstaatlichen oder internationalen Organisation gesetzt oder zwischenstaatlich vertraglich vereinbart (z.B. EMRK) - Nationales Recht (in CH) = Unterscheidung von Bundesrecht, kantonales Recht und kommunales Recht (Gemeindeebene) Widerspieglung von föderalistischem Charakter - Kanton/Gemeinde soll entsprechende Regeln aufstellen - Bundesrecht: Aufgaben zwischen Bund und Kantonen aufteilen - Kantonales Recht: Aufgaben zwischen Kanton und Gemeinden aufteilen Grundsatz: übergeordnetes Recht geht tieferrangigem im Konfliktfall vor Gliederung aufgrund der Hierarchie im Rechtssystem: - Verfassung Gesetz im formellen Sinn Verordnung - Unterscheidung durch: - Organ, dass für Erlass zuständig ist - Verfahren, in dem der Erlass geschaffen wurde - Wichtigkeit/Tragweite ihres Inhalts Stufen existieren auf Bundes- und Kantonsebene - Verfassung: wichtigsten und grundlegenden Normen - formelles Gesetz: Konkretisierung der Verfassung - Verordnung: angepasstes, formelles Gesetz; weniger bedeutsame Normen Seite !3 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 VI. Staatliches Recht und privatautonom geschaffenes Recht - Staat schafft hauptsächlich die geltenden Rechtsregeln; doch es gibt auch Normen, die von privaten geschaffen sind (Statuten, Verträge,…) - Privatautonomie = liberaler Staat lässt Möglichkeit den Privaten auch selber etwas zu regeln wichtig: Vertragsfreiheit - Vertragsinhaltsfreiheit = selber entscheiden, was Inhalt des Vertrages ist und mit wem man Vertrag schliesst - von den im Gesetz explizit geregelten Verträgen lösen und neue, gesetzlich nicht vorgesehene Vereinbarungen treffen (= Innominatverträge) Möglichkeiten unendlich Staat soll aber intervenieren und Privatautonomie Grenzen setzen, wo es zur Wahrung übergeordneter Interessen erforderlich ist - (Gesellschaftsrecht (Verein, Stiftung, AG,…)/Sachenrecht (Eigentum,…) Verträge schon vorformuliert (Numerus Clausus) VII. Zwingendes Recht und dispositives Recht - Zwingendes Recht (ius cogens/strictum) = gilt ohne Rücksicht auf Willen der Beteiligten (oft im öffentlichen Recht, für Private und Staat) - Dispositives Recht (ius dispositivum/nachgiebiges Recht) = gilt nur, wenn Beteiligten keine andere Regel aufgestellt ist; also anpassbar durch eigene Regeln (oft im Privatrecht) - ob zwingend oder dispositiv durch Auslegung ermitteln: (nicht verwechseln mit verbindlich/unverbindlich) - „von Gesetzes wegen“ zwingend - „sofern nichts anderes bestimmt worden ist“ dispositiv - einseitig zwingendes Recht = zugunsten der schwächeren Partei von Norm abweichbar - beidseitig zwingendes Recht = Regel ist unabänderlich (nicht mehr änderbar/rückgängig machbar) - Vereinbarungen, die gegen ius cogens verstossen, sind nichtig (OR 20 I) - Gesetz kann aber gültig zu einem gewissen Teil sein, muss aber der zwingenden Norm angepasst werden oder Mängel nachträglich beseitigt werden - Nichtigkeit (ex tunc) = Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften; vom Anfang rechtlich wirkungslos VIII. Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung - Rechtsetzung = Schaffung von Normen; Sache des Gesetzgebers (Legislative), aber auch durch richterliche Rechtschöpfung oder Vereinbarungen von Gemeinwesen - Rechtsanwendung = Anwendung der Normen auf bestimmte Fälle; Sache der Gerichte (Judikative) und Behörden - Rechtsdurchsetzung = Vollzug der Normen (Exekutive), nötigenfalls mit staatlichem Zwang IX. Objektives und Subjektives Recht - Objektives Recht/Rechtsordnung/„law“ = Rechtssätze, Rechtsnormen - Subjektives Recht/„right“ = dem Einzelnen zustehendes Recht, von Rechtsordnung verliehener rechtlicher Herrschaftsbereich unterteilt in: Seite !4 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Absolute subjektive Rechte = gelten gegenüber jedem (erga omnes) - Relative subjektive Rechte = gelten nur gegenüber bestimmten Personen (inter partes), meist aus Verträgen - Gestaltungsrechte (Befugnis, einseitig Rechtsverhältnis zu begründen; z.B. Kündigungsrecht) - Übertragbarkeit Absolute Rechte sind: - Dingliche Rechte (Rechte an Sachen; Eigentum; Dienstbarkeit, Pfandrechte) - Immaterialgüterrechte (Patent-, Urheber- und Designrecht) - Persönlichkeitsrecht (allgemein) Relative Rechte sind: - Obligatorische Rechte (Obligation = Verpflichtung) wichtigste Entstehungsgründe von relativen Rechten: - Vertrag - unerlaubte Handlung (Delikt, ausservertragliche Haftpflicht) - ungerechtfertigte Bereicherung - Geschäftsführung ohne Auftrag X. Rechtsobjekt und Rechtssubjekt - Rechtsobjekt = Gegenstand, auf den sich rechtliche Ansprüche oder Rechtsnormen beziehen; der Rechtsmacht eines Rechtssubjektes unterworfen - Sachen: Mobilien, Immobilien, Tiere, Immaterialgüter - Rechtssubjekt = rechtsfähige Person, d.h. Träger von Rechten und Pflichten jedermann - natürliche und juristische Personen - Rechtsfähigkeit = Rechte und Pflichten haben (ZGB 11) - Handlungsfähigkeit = Rechte und Pflichten begründen (ZGB 12) - beschränkte Handlungsfähigkeit = volljährig (= mündig), aber nicht urteilsfähig - beschränkte Handlungsunfähigkeit = urteilsfähig, aber nicht volljährig - juristische Personen = rechtliche Gebilde - natürlichen Personen gleichgestellt; sind rechtsfähig und handlungsfähig haben alle Rechte und Pflichten, die nicht natürliche Eigenschaften des Menschen voraussetzen - Einteilung in Körperschaften und Anstalten: - Körperschaften = Personenverbindungen mit eigener Rechtspersönlichkeit - z.B.: AG, GmbH, Genossenschaft, Verein (Privatrecht), Schweizer Bürger - Anstalten = zweckgebundene Vermögen - z.B.: Stiftung (Privatrecht) - juristische Personen des öffentlichen Rechts: - Körperschaften: Bund, Kantone, Gemeinden, Landeskirchen - Anstalten (nur selbstständige eigene Rechtspersönlichkeit): SUVA, meisten Universitäten Seite !5 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 XI. Rechtsverhältnis und Rechtsgeschäft - Rechtsverhältnis = ein vom Recht geordnetes Lebensverhältnis; Beziehung von subjektivem Recht - immer zwischen zwei/mehreren Personen; ein Berechtigter und ein Verpflichteter - Entstehung von Gesetzes wegen (ex lege) oder mit Willen der Beteiligten (Privatrecht) - Rechtsinstitut = Komplex von Normen, in die sich objektives Recht gliedern lässt (z.B. Ehe, AG,…) - Rechtsgeschäft = Tatbestand, der aus mindestens einer privaten (nicht hoheitlichen) Willensäusserung besteht, durch die rechtliche Wirkungen erzielt werden sollen - einseitiges Rechtsgeschäft = eine Willensäusserung (z.B. Testament) - zwei-/mehrseitiges Rechtsgeschäft = mehr als eine Willensäusserung - kann formfrei abgeschlossen werden, soweit nicht vom Gesetz verlangt wird - Speziell: Verträge - einseitiger Vertrag = eine Partei verpflichtet, andere nur berechtigt; ist aber immer zweiseitiges Rechtsgeschäft - zweiseitiger Vertrag = beide Parteien haben sowohl Rechte wie auch Pflichten - Verträge immer zweiseitige Rechtsgeschäfte übereinstimmende Willenserklärungen Unterteilung der Rechtsgeschäfte nach Zeitpunkt des Eintritts der Wirkungen: - Rechtsgeschäfte unter Lebenden = zu Lebzeiten der Beteiligten Wirkungen entfalten - Rechtsgeschäfte von Todes wegen = auf Zeitpunkt des Todes einer Partei Wirkung entfalten unterschiedliche Formvorschriften; erbliche Schranken der Verfügungsfreiheit Inhaltliche Unterscheidung der Rechtsgeschäfte: - Verpflichtungsgeschäft = begründet eine oder mehrere Verpflichtungen (Obligationen) und damit ein Schuldverhältnis; in der Regel zweiseitig (Ausnahme: Belohnung) - z.B. Kaufvertrag - von jedem Handlungsfähigen abschliessbar ohne dass er Verpflichtung erfüllen kann - Verfügungsgeschäft = ändert unmittelbar und endgültig den Bestand/Inhalt eines Rechts; oft nach Verpflichtungsgeschäft - z.B. Erlassvertrag (Forderung wird unmittelbar aufgehoben, Recht auf Erfüllung geht unter) - bedarf einer Verfügungsmacht - Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäfte fallen zeitlich oft zusammen - Rechtsgeschäfte ≠ amtliche Handlungen - Amtliche Handlungen nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen (Legalitätsprinzip) XII. Gemeines Recht und Partikularrecht, allgemeines Recht und Sonderrecht, Regelrecht und Ausnahmerecht - Gemeines Recht (römisches und kanonisches) = galt im ganzen Deutschen Reich - Partikularrecht (Territorialrecht) = von Region zu Region unterschiedlich - Allgemeines Recht = gilt für jedermann - Sonderrecht = gilt nur für bestimmte Personenkreise - Regelrecht = im normalen Gesetzgebungsverfahren geschaffenes, normales Recht - Ausnahmerecht = im dringlichen Ausnahmeverfahren geschaffenes Recht Seite !6 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §13 – Gesetzesrecht I. Begriff und Eigenarten des Gesetzes - Gesetze = „durch staatlichen Hoheitsakt erlassene generell-abstrakte Normen“ - generell und abstrakte fliessende Normen auch Rechtsquellen des Gewohnheitsrechts und Richterrechts; - Besonderheit des Gesetzesrechts = bewusster, formalisierter staatlicher Akt: - Gesetzesrecht ist geschriebenes Recht und in bestimmten Verfahren erlassen - Gesetz im materiellen Sinn (m.) = jede generell-abstrakte Regelung mit Aussenwirkung = Erlass (syn.), Rechtsnorm - Gesetz im formellen Sinn (f.) = Gesetz als Stufe zwischen Verordnung und Verfassung von zuständiger Instanz im Gesetzgebungsverfahren erlassen - Unterscheidung von Gegensatzpaaren: - materielles Recht = Rechtsnormen, die direkt Lebensverhältnisse ordnen formelles Recht = Entstehung/Anwendung materiellen Rechts und Organisation/Zuständigkeit von Behörden/Gerichten regeln - Verfassung (m.) = was aufgrund seiner Wichtigkeit in der Verfassung zu stehen verdient, unabhängig davon, ob es tatsächlich darin steht oder nicht Verfassung (f.) = was in der „Verfassungskunde“ steht - Rechtssatz erfasst neben Erlassen auch Normen im Gewohnheitsrecht und im Richterrecht - Individualgesetze = Gesetze mit nur individuell-konkreter Wirkung; für bestimmte Person/Institution (z.B. Stiftung „Pro Helvetia“, Bundesgesetz über Beiträge für kantonale frz. Schule in Bern) - Gesetzesrecht entsteht durch staatlichen Hoheitsakt; durch formellen Entscheid geschaffenes, gewillkürtes Recht - bestimmte, präzis vorgeschriebene Verfahren; rechtsstaatliche Forderung: Kompetenz zu Rechtsetzung bedeutet Macht, aber im Rechtsstaat soll Macht kontrolliert werden = Verfahrensvorschriften - Gesetze (m.) in CH (demokratischen, föderalistisch aufgebautem Staat) hierarchisch gliedern: - Erlasse eingeteilt in Verfassung, Gesetz (f.) und Verordnung (nach Stellung im Rechtssystem) - Bundesrecht, kantonales Recht und Gemeinderecht (nach Gemeinwesen) - verlässt man Landesgrenzen, dann auch Völkerrecht II. Verfassung, Gesetze und Verordnungen - Verfassung = „Grundgesetz“ (in DE) nur grundlegende Entscheidungen, also verfassungswürdige Normen finden = Verfassung (m.) (seit Reform 1874) - Volksinitiative = Verfassungsänderungen vom Volk verlangt (100’000 Unterschriften, 18 Monate) - ausserdem untersteht jede Verfassungsänderung dem obligatorischen Referendum (BV 140) Volks- und Ständemehr - Ständemehr nach der Volksabstimmung im betreffenden Kanton bestimmt Schutz der kleinen Kantone - heute geltende BV trat am 01.01.2000 in Kraft Seite !7 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 Gesetzgebungsverfahren: - Gesetz (f.) = Erlass, zuständige Instanz in richtigen Verfahren geschaffen wurde - Bundesgesetz vorgesehen für alle wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen (befristet und unbefristet) - Bundesversammlung, das Parlament, für Erlass von Gesetzen zuständig (teilweise Mitwirkung des Volkes) 1. Anstoss für Veränderung vom Bundesrat, Kanton, Fraktion oder parlamentarischen Kommission; - für Volk fehlt Gesetzesinitiativrecht (direkte Schaffung eines Bundesgesetzes); führt dazu, dass Erlasse vom Volk auf Verfassungsebene verlangt werden, obwohl sie auf Gesetzesebene gehören würden 2. Ausarbeitung des Vorentwurfs von Bundesrat/ parlamentarische Kommission oft mit Hilfe Expertenkommission 3. Vernehmlassungsverfahren Kantone, Parteien, interessierte Kreise werden informiert Ziel: Vorlage „referendumssicher“ machen 4. Veröffentlichung des Entwurfs mit Botschaft des Bundesrates 5. Differenzbereinigungsverfahren Beratung in Kommissionen der Räte und dann in National-/ Ständerat (max. drei Mal hin und her); falls Bereinigung nicht gelingt, wird Gesetzesvorschlag abgelehnt 6. Mögliches Referendum (fakultativ) von Volk gegen Gesetz einreichen (50’000 Unterschriften, 100 Tage oder 8 Kantone), dann muss Volksabstimmung vorgenommen werden Volksmehr allein entscheidend (kein Kantonsmehr nötig) 7. Inkrafttreten - andere Möglichkeiten, neben dem Gesetz, für Parlament: - nicht referendumspflichtige Verordnung der Bundesversammlung für rechtsetzende Bestimmungen - Bundesbeschluss für referendumspflichtige, nicht rechtsetzende Erlasse - einfacher Bundesbeschluss als Form für Hoheitsakte, die nicht rechtssetzender Natur sind und dem Referendum nicht unterstehen Seite !8 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Verordnungen generell-abstrakte Vorschriften, entweder nicht vom Parlament erlassen oder vom Parlament in vereinfachten Verfahren erlassen - Selten: Verordnungen der Bundesversammlung enthalten weniger wichtige Bestimmungen als Gesetze und ermöglichen kein Referendum - Häufiger: Verordnungen der Exekutive (Bundesrat, Departement) Konkretisierungen von Bundesgesetzen Vollzug: schneller an veränderte Verhältnisse anpassen, da parlamentarische Beratung und Referendum entfallen - Ausnahme: Bundesgericht als oberste Justizinstanz Verordnungen erlassen - Gliederung nach verschiedenen Kriterien der Verordnungen: - nach Grundlage: - selbstständige Verordnungen = Grundlage direkt in Verfassung - unselbständige Verordnungen = Grundlage im Gesetz - nach Inhalt: - Vollziehungsverordnungen = Einzelheiten zur Konkretisierung von Normen - gesetzesvertretende Verordnungen = ergänzen gesetzliche Ordnung durch zusätzliche Normen, vorausgesetzt, dass das Gesetz die Regelung an Verordnung delegiert - nach Adressatenkreis: - Rechtsverordnungen = berechtigen und verpflichten Adressaten und regeln Verfahren/Organisation von Behörden allgemein verbindliche Rechtssätze - Verwaltungsverordnungen = Adressaten nur Verwaltungsbehörden; Rechtstellung der Bürger nicht direkt berührt - Gesetzesvertretende Verordnungen sind nicht unproblematisch, da man gegen sie kein Referendum ergreifen kann demokratische Kontrolle beeinträchtigt - Normenkontrolle von Verordnungen: - Bundesgericht kann kantonalen Verordnungen die Anwendung versagen - BV 190 auf Verordnungen nicht anwendbar aber auf Bundesgesetze, auf die sich Verordnungen stützen - Prüfung durch Bundesgericht: - ob Verordnungen der BV oder einem Gesetz widersprechen und von ihrer Anwendung absehen - ob Vollzugsverordnungen über blossen Vollzug hinausgehen - ob gesetzesvertretende Verordnung durch Delegationsnorm im Gesetz gedeckt ist - Ausnahmsweise kann privaten Organisationen eine Rechtsetzungskompetenz zugewiesen werden, indem in einem Erlass auf eine Regelung durch Private verwiesen wird hauptsächlich im technischen Bereich/ Wirtschaftsverwaltungsrecht - Verweisungen können statisch oder dynamisch sein: - statisch ändert private Organisation das Regelwerk, auf welches verwiesen wird, gilt bisheriges Recht unabhängig von Änderung weiter - dynamisch ändert private Organisation ihr Regelwerk, ändert sich automatisch auch geltendes Recht Seite !9 von 51 ! RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Contra Rechtsetzungsdelegation an Private: Fehlen einer genügenden gesetzlichen Grundlage - Pro Rechtsetzungsdelegation an Private: praxisgerechte Regelungen und rasche Anpassung an veränderte Verhältnisse - Rahmengesetze = Gesetze bilden nur Rahmenordnung; geltende Regeln werden im Einzelnen durch private Organisationen aufgestellt - z.B.: staatliche Deregulierung zugunsten privater Selbstregulierung im Wirtschaftsrecht Staat soll nur eingreifen, wenn Selbstregulierung versagt - Gesetzgeberische Anordnungen sollen auf der richtigen Stufe (Verfassung, Gesetz, Verordnung) erlassen werden: - In CH schwer, wegen Fehlen eines Gesetzesinitiativrechts des Volkes durch Volksinitiative auch weniger grundlegende Bestimmungen in BV - Fehlgebrauch der Verfassungsinitiative kann nicht verhindert werden, da es keine verbindlichen Kriterien darüber gibt, was in BV gehört - Normen mit Gesetzesrang in Verfassung sind aus rechtsstaatlicher Sicht unbedenklich - Schlimmer sind Normen, die auf Gesetzesstufe verankert sein sollten, aber nur in Verordnungen zu finden sind - hierarchischer Aufbau der Rechtsordnung bedeutet, dass ranghöheres Recht dem rangtieferem im Konfliktfall vorgeht: - Auf Bundesebene gilt: - Verordnungen, die sich nicht im Rahmen des Gesetzes bewegen, auf welches sie sich abstützen, oder nicht von Vollzugskompetenz erfasst sind, dürfen nicht angewendet werden - Verfassungswidrige Bundesgesetze müssen angewendet werden BV 190 - verfassungskonforme Auslegung = Gerichte müssen Recht so auslegen, dass es mit übergeordnetem Recht im Einklang steht III. Erlasse des Bundes , von Kantonen und von Gemeinden - Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen erfolgt durch BV und Kantonsverfassungen (in Grenzen der BV) – in CH Bund und Kantone (selten Gemeinde) - Grundsatz der Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen - Bund erfüllt Aufgaben, die ihm BV zuweist (BV 42 I) - alle übrigen Materien fallen in Kompetenz der Kantone (BV 47 I) subsidiäre Generalkompetenz der Kantone und damit grundsätzliche Souveränität - Bund hat Gesetzgebungskompetenz für: - Privatrecht und Zivilprozessrecht - Strafrecht und Strafprozessrecht - Kompetenzen von Bund und Kantonen: - Steuerrecht - Kompetenzenaufteilung zwischen Bund und Kantonen: - Sicherheit und Schutz der Bevölkerung (BV 57 I) - BV 46 I: Bund hat Regelungskompetenz und Kantone sind für Vollzug zuständig Seite !10 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Zuoberst Bundesrecht, dann kantonales Recht und zum Schluss kommunale Erlasse - grundsätzlich geht Bundesrecht jeder Art von kantonalem Recht vor - wenn Bund eine bundesweite Regelung einführen will, muss ihm erst durch Verfassungsänderung die erforderliche Kompetenz eingeräumt werden - für gesamtschweizerische Harmonisierungen, ohne Einräumung der Kompetenz für Bund: - Ausarbeitung von Mustergesetz durch Kantone oder Bund, welches als kantonales Recht übernommen werden kann - Konkordate = Vereinbarungen zwischen Kantonen - derogatorische Kraft des Bundesrechts = Bundesrecht bricht kantonales Recht (BV 49 I), falls Bundesrecht und kantonales Recht sich widersprechen Erlasse des Bundes: - obsterster Erlass ist BV - erhält grundlegende materielle Regeln der CH - zentrale Bestimmungen über Organisation und Verfahren der Bundesbehörden - Regeln über Erlass aller unterhalb der BV angesiedelten Rechtssätze - BV steht über den Gesetzen mit Vorbehalt und über Verordnungen Erlasse der Kantone: - Zuständigkeit dort, wo sie nicht dem Bund übertragen wurde - häufiger aber Subsidiaritätsprinzip = Bund übernimmt Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigt oder einheitliche Regelung bedarf - Unterscheidung von 3 Stufen: Verfassung, Gesetz und Verordnung - Gesetzgebung sehr ähnlich wie die des Bundes - direkte Demokratie stärker (Gesetzesinitiative und teilweise obligatorisches Gesetzesreferendum) Erlasse der Gemeinden: - Gemeindeautonomie ist nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet - Recht der Gemeinden zur Selbstverwaltung und Erlassung eigener Rechtsnormen - Unterscheidung von verschiedenen hierarchischen Stufen, Terminologie aber uneinheitlich - typisch lokale Angelegenheiten (Polizeirecht, Baugesetzgebung, Versorgungsbetriebe) - Verletzung der Gemeindeautonomie kann vor Bundesgericht gerügt werden Seite !11 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 IV. Kodifikation und Spezialgesetz - Spezialgesetze = zur Regelung von eng umschriebenen Gebieten erlassen - z.B.: Versicherungsvertragsgesetz - Kodifikationen = Erlasse, die weite Bereiche einer Materie möglichst vollständig regeln (in CH 8 grosse Kodifikationen): Zivilgesetzbuch (ZGB) 1. Teil: Personenrecht 2. Teil: Familienrecht 3. Teil: Erbrecht 4. Teil: Sachenrecht Obligationenrecht (OR) 1. Teil: Entstehung, Wirkung und Erlöschen von Obligationen (5. Teil des ZGB) 2. Teil: Regelung bestimmter Verträge (nicht abschliessend, da Vertragsfreiheit Innominatverträge) 3.– 5. Teil: Gesellschaftsrecht, Handelsregister, kaufmännische Buchführung und Rechnungslegung, Geschäftsfirmen und Wertpapierrecht - numerus clausus im Gesellschaftsrecht begrenzte Zahl an Gesellschaftsformen, aus denen gewählt werden muss Strafgesetzbuch (StGB) - AT: generelle Voraussetzungen, Arten der Bestrafung - BT: einzelne Delikte; Straftatbestände sind abschliessend geregelt nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) Schuldbetreibungs- und - zwangsweise Durchsetzung von Geldleistungen und der Leistung Konkursgesetz (SchKG) von Sicherheiten Bundesgesetz über das - bestimmt für internationale Verhältnisse, welches Recht Internationale Privatrecht (IPRG) anzuwenden ist Bundesgesetz über den - koordiniert das Sozialversicherungsrecht des Bundes Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) Schweizerische - Regeln, nach denen Zivilprozesse vor kantonalen Instanzen Zivilprozessordnung (ZPO) durchgeführt werden - regelt nationale Schiedsgerichtsbarkeit Schweizerische - Verfolgung und Beurteilung der Straftaten nach Bundesrecht Strafprozessordnung (StPO) V. Exkurs: Völkerrecht und Landesrecht - Gliederung des Völkerrechts in: - Internationale Übereinkünfte = Staatsverträge - Internationales Gewohnheitsrecht - allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze - Gerichtsentscheide und Lehre Hilfsmittel zur Feststellung der Rechtsnormen Seite !12 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - völkerrechtliche Verträge = Übereinkünfte zweier oder mehrerer Staaten (bilateral, multilateral) - zwingendes Völkerrecht (ius cogens) = unabdingbare Geltung, Verletzung durch Staatsvertrag führt zu dessen Nichtigkeit: - Folterverbot - Genozidverbot - Verbot der Sklaverei - Gebot, Grenzen fremder Staaten zu respektieren - Gewaltverbot - Grundsatz des Non-Refoulement: Asylsuchende dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Gefahr an Leib und Leben droht (in der CH in BV 25 II) - „soft law“ = unverbindliches Völkerrecht - eingeschränkte Durchsetzbarkeit = Mehrheit der völkerrechtlichen Normen sind leges imperfectae (unvollständige Gesetze), aber: - Streitbeilegungsmechanismen in diversen Verträgen vorgesehen - in bestimmten Streitfällen kann internationaler Gerichtshof in Den Haag angerufen werden - Grundsätzlich sind alle völkerrechtlichen Normen gleichrangig, ausser ius cogens - Völkerrecht mit Verfassungsrang: Charta der Vereinigten Nationen, EMRK, Genfer Konventionen - monistisches System: völkerrechtliche Normen mit Ratifizierung direkt national verbindlich, also automatisch zu Landesrecht - dualistisches System: völkerrechtliche Normen müssen erst in nationalem Recht umgesetzt werden, um verbindlich zu werden - „pacta sunt servanda“ (Verträge sind einzuhalten) gilt für Staaten als Parteien völkerrechtlicher Verträge - nicht auf innerstaatliches Recht berufen, um Nichterfüllung zu rechtfertigen - Konflikte zwischen Völkerrecht und Landesrecht: - von nationalem Recht beantwortet in der CH: BV 190 unmittelbar anwendbares Völkerrecht hat mindestens den Rang eines Bundesgesetzes - grundsätzlich geht neueres Recht älterem vor späterer Staatsvertrag geht früherem Bundesgesetz vor - Ausnahme Schubert-Praxis: bewusstes Abweichen des Bundesgesetzgebers von Völkerrecht für Gerichte verbindlich - Gegenausnahme PKK-Praxis: Normen des Menschenrechtschutzes gehen vor Menschenrechtsnormen in EMRK gehen auch neuen Bundesgesetzen vor - ius cogens geht der Verfassung vor - streitig, ob auch nicht zwingende Normen der BV vorgehen Bundesgericht versucht Konflikte durch völkerrechtskonforme Auslegung zu vermeiden Seite !13 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 VI. Konflikte zwischen Normen des gesetzten Rechts - Faustregeln für Konflikte im nationalen Recht: - Bundesrecht bricht kantonales Recht - höherrangige Norm geht der niederrangigem vor - jüngeres Recht geht älterem vor (lex posterior derogat legi priori) - spezielleres Recht geht allgemeinerem vor (lex specialis derogat legi generali) durch Auslegung zu ermitteln - wenn ältere spezielle Norm einer neueren allgemeinen gegenübersteht, gibt es keine allgemeine Regel zur Konfliktlösung - zwei Rechtsnormen regeln gleichen Sachverhalt; zwei Arten der Anwendung: - alternativ = man kann sich für eine Norm entscheiden - z.B.: Mängel bei gekauften Sache Minderung (herabsetzen des Kaufpreises) oder Wandelung (zurücktreten vom Vertrag) sind möglich - kumulativ = mehrere Normen lassen sich zusammen anwenden - z.B.: Eigentümer/Besitzer kann gegen Störer gestützt auf Eigentumsrecht vorgehen und als Besitzer klagen, wenn er beides ist VII. Geltung der Gesetze - Gesetze in offiziellen Sammlungen publiziert; Publikation in Amtlichen Sammlung (AS) grundsätzlich Voraussetzung für Verbindlichkeit einer Norm - Publikation ist frühester Zeitpunkt für Inkrafttreten (mind. 5 Tage dazwischen), oft wird das Inkrafttreten später angesetzt - oft werden Übergangsbestimmungen (Schlusstitel, Schlussbestimmungen) festgelegt am Ende des Gesetzes zu finden - Datum im Gesetzestitel = Zeitpunkt der Verabschiedung des definitiven Gesetzestexts ≠ Datum des Inkrafttretens - amtliche Publikation Kenntnis durch jedermann wird vorausgesetzt Unkenntnis von da an kein Entschuldigungsgrund mehr (ignorantia iuris nocet) - Gesetzeskenntnis oft blosse Fiktion für Laien unmöglich einen Überblick über gesamtes positives Recht zu haben – deshalb verschiedentlich abgeschwächt: - StGB 21: Irrtum über die Rechtswidrigkeit/Vertrauensgrundsatz im Verwaltungsrecht VIII.Exkurs: Kodifikationsprinzip und Fallrecht (case law) - kontinentaleuropäische Juristen gehen von geschriebenen Gesetzen aus = primäre Rechtsquelle nur in Ländern mit Kodifikationsprinzip (civil law countries) - angelsächsischer Rechtskreis (common law countries) = Präjudiz ist bedeutendste Rechtsquelle, da Einzelfallrecht Grundlage ist = case law - Unterschied verringert sich zunehmend, da auch in „common law countries“ mehr Bereiche durch Gesetze geregelt werden und auch in Kontinentaleuropa kommt man nicht ohne Präjudizien aus - Unterschiede bei Argumentations- und Betrachtungsweisen (historisch bedingt): - Kodifikationsprinzip = systematisch-deduktiv - Fallrecht = problemorientiert-topisch Seite !14 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §12 – Idealfaktoren des Rechts - Rechtsordnung = normative Ordnung: es muss nicht nur festgestellt werden, welche Regeln gelten und wieso, sondern vor allem was gelten soll - ordnend, gestaltend eingreifen, betrachten und ausdeuten und steuern des Soziallebens - Wechselwirkung zwischen Normgefüge und sozialer/wirtschaftlicher Realität: Fakten beeinflussen Normen und Normen beeinflussen Fakten - Rechtsordnung hat viele verschiedene Ziele; gerechte Ordnung zu schaffen ist nur eines davon A. Ausrichtung auf die Gerechtigkeit „Recht heisst Recht, weil es gerecht ist.“ – Isidor I. Der Begriff der Gerechtigkeit und die Wandelbarkeit der Gerechtigkeitsvorstellung - Umschreibungen der Gerechtigkeit sind meist Leerformeln: Definition müsste viel komplexer sein - zuerst ermitteln, welche Unterschiede berücksichtigt werden können und welche nicht - Rasse und Religion nie, Berufe und Staatsangehörigkeit in gewissen Bereichen schon - wenn zwei Tatbestände rechtlich gleichwertig sind und deshalb gleicht behandelt werden sollen: - absolute Gleichheit anstreben oder - nur Massstab gleich ist, sodass Ergebnis differenziert ausfallen soll - bei Gleichheit des Massstabes ist dann zu entscheiden, was überhaupt als Massstab dienen soll: (z.B. Arbeitslohn: absolute Gleichheit (keine Diskriminierung wegen Rasse, Staatsbürgerschaft, Geschlecht), aber trotzdem ist unbestritten, dass nicht jeder denselben Lohn erhält Mögliche Massstäbe: Leistungen, Bedürfnisse oder Mischung der beiden) - Wandelbarkeit der Gerechtigkeitsidee; Abhängigkeit von Ort und Zeit (z.B. bei Geschlechtern in CH): 1887 BGer: Abweisung Beschwerde von 1. UZH promovierten Frau, wollte Mann als 1. Juristin vor Gericht vertreten 1923 BGer entscheidet, dass kantonales Recht, das Frauen Zugang zur Advokatur verbot, verfassungswidrig sei 1971 Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt; aber erst 1990 der letzte Kanton (AI) durch Diktat dazu gezwungen 1981 explizite Garantie der Gleichstellung von Mann und Frau in BV aufgenommen 1996 trat Gleichstellungsgesetz in Kraft wurde in Einzelerlassen mehr auf tatsächliche Gleichstellung geachtet - Gemäss BGer muss Recht geschlechtsneutral sein positives staatliches Handeln mit Ziel Gleichstellung zu erreichen (affirmative action), kann gerechtfertigt sein (z.B. Quotenregelungen (nicht alle)) - Gleicher Lohn für gleiche Arbeit (BV Art. 8 Abs. 3 Satz 3): - selten direkte Diskriminierung (gleicher Job, anderer Lohn) - oft indirekte Diskriminierung: Frauenberufe, schlechter bezahlt als Männerberufe - Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare mit Ehepaaren: - Bundesgesetz über eingetragene Partnerschaft (2005) - Anstreben der Gleichstellung der Behinderten (BV Art. 8 Abs. 4): - Ziele: gesellschaftliches Leben, soziale Kontakte, Ausbildung und Erwerbstätigkeit - Gerechtigkeitsvorstellungen sind kultur- und umweltbedingt und somit relativ - Gleichheitsgedanke ist zentral für Gerechtigkeitsidee: - Ungleichbehandlung muss begründet werden, also konkretisiert im Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz (BV Art. 8) Seite !15 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 II. Regelfallgerechtigkeit und Einzelfallgerechtigkeit - Gleichheitsgedanke gibt der Gerechtigkeit eine gewisse Starrheit: - Radbruch/Zweigert: „eine individualisierende Gerechtigkeit ist ein Widerspruch in sich“ - Regelfallgerechtigkeit = wo nicht absolute Gleichheit vorgeschrieben ist, werden besondere Verhältnisse in gewissem Umfang beachtet, aber nach allgemeinen Kriterien, nicht im Hinblick auf den Einzelfall (z.B. Steuern/Stipendien/Sozialleistungen berücksichtigen wirtschaftliche Lage, aber nach groben Raster) - Regelfallgerechtigkeit ist massgebend für: - gesetzliche Ordnung generell-abstrakte Normen - Gerichte: wo Gesetz nicht differenziert, dürfen sie es auch nicht; auch bei Lückenfüllung müssen sie Entscheide treffen, die verallgemeinert werden können - Ausnahme: s. hinten ( B, I. Ungenügen der Regelfallgerechtigkeit) III. Formelle und Materielle Gerechtigkeit - Formelle Gerechtigkeit = Rechtsnormen müssen in bestimmten Verfahren erlassen worden sein und angewendet werden - Verwirklichung formeller Gerechtigkeit ist rechtstechnisches Problem - Materielle Gerechtigkeit = Normen müssen gewissen ethischen Minimalstandard erfüllen in modernen Verfassungen und der EMRK zu finden - Gewährung materieller Gerechtigkeit ist politischer Natur - nur politischer Natur (Rechtspositivismus) oder gibt es Naturrecht, das dem Recht vorgegeben ist? - Rechtsstaat: viele der heute in unserer Gesellschaft anerkannten Elemente der formellen und materiellen Gerechtigkeit zusammengefasst IV. Rechtliche Minimalgarantien der Gerechtigkeit - Materiell und formell gerechte Ordnung in CH weitgehend realisiert → hauptsächlich in BV - Beispiele aus dem Grundrechtskatalog: - BV Art. 8: Rechtsgleichheit, Abs. 3: Gleichstellung von Mann und Frau - BV Art. 9: Willkürverbot - BV Art. 5 Abs. 3: Treu und Glauben = Vertrauensprinzip - BV Art. 29: Anspruch auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör - alle verfassungsmässigen Rechte gelten gegenüber sämtlichen Staatsorganen, bei Erfüllung aller staatlichen Aufgaben – nicht nur bei Rechtsanwendung, sondern auch bei Rechtsetzung - Verletzung verfassungsmässiger Rechte kann meistens bis vor Bundesgericht weitergezogen werden - Rechtsgleichheit ist verletzt, wenn - keine Begründung für ungleiche Behandlung von Gleichem - gleiche Behandlung von Ungleichem vorliegt - z.B. Heiratsstrafe bei der Besteuerung: Zweiverdiener-Ehepaar mit Kind zahlte 27% mehr als Konkubinatspaar mit Kind; BGer meint: höchstens 10% mehr wäre zulässig - auch Ausländer können sich auf Rechtsgleichheit berufen, ausser Staatsangehörigkeit ist sachlicher Grund für Ungleichbehandlung - z.B. „Emmener Einbürgerungsentscheid“: Gesuche von Italienern alle gutgeheissen, von Jugoslawen abgelehnt - Gleichbehandlungsgrundsatz kann in Spannungsverhältnis mit Legalitätsprinzip treten wenn Gerichte eine rechtswidrige Praxis verfolgen und sich jemand auf diese berufen will Seite !16 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Legalitätsprinzip = es gibt kein Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht - z.B. Behörde erteilt fälschlicherweise gesetzwidrige Bewilligung: der Nächste in derselben Situation hat nicht das Recht, auch Bewilligung zu erhalten, indem er sich auf Praxis beruft - Ausnahme: Behörde missachtet konstant das Gesetz; lehnt es ab, gesetzwidrige Praxis aufzugeben - Allgemeine Verfahrensgarantien (BV 29): Verletzung bedeutet eine formelle Rechtsverweigerung - Formelle Rechtsverweigerung: - Behörde trifft keinen Entscheid, obwohl sie es müsste - z.B. überspitzter Formalismus = rigorose Formvorschriften, die nicht gerechtfertigt sind - Rechtsverzögerung = unangemessene, objektiv nicht gerechtfertigte Verlängerung eines Verfahrens - Anspruch auf rechtliches Gehör (BV 29 II) ist verletzt, wenn: - Beteiligter seinen Standpunkt der Behörde/dem Gericht nicht vortragen kann - ihm verweigert wird, entlastende Beweise vorzubringen - Gerichte/Behörden ihre Entscheide nicht begründen - Involvierten keine Akteneinsicht gewährt wird - Rechtsweggarantie (BV 29a) = jeder hat Anspruch auf Beurteilung von Rechtsstreitigkeiten durch richterliche Behörde - Willkürverbot (BV 9) = Entscheid darf nicht offensichtlich unhaltbar sein, mit tatsächlichen Situation in klarem Widerstand stehen, Norm krass verletzen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen - Sicherstellung eines minimalen Standards materieller Richtigkeit und Gerechtigkeit - erfasst nur stossende Fälle, nicht solche bloss unzweckmässiger Rechtsetzung/-anwendung (z.B. Friedhofsreglement, dass nur Kreuze aus Eisen, Guss, Bronze, Holz oder Kupfer zulässt (Verstoss gegen Religionsfreiheit)) V. Ungerechtes Recht - Recht entspricht den Gerechtigkeitsvorstellungen einer Epoche nie vollkommen - Positives Recht ist massgebend; - Gesetzesauslegung und Lückenfüllung räumen Gerichten und Behörden gewissen Spielraum ein - Widerstandsrecht: Verstösse gegen fundamentale Gerechtigkeitsvorstellungen B. Ausrichtung auf die Billigkeit I. Ungenügen der Regelfallgerechtigkeit - Ausnahmen zur Regelfallgerechtigkeit des Rechts: Berücksichtigung des Einzelfalls, besonderer Umstände, spezieller Situationen - z.B. Haftpflichtrecht: Höhe des Schadenersatzes wird der Einzelsituation angepasst - wo Gesetz keine Berücksichtigung des Einzelfalls vorsieht, gibt es Wege, diese umzusetzen: - z.B. jüdischer Flüchtling klagt auf Fr. 100’000.- Ersatz, weil er an CH Grenze abgewiesen und dem Naziregime übergeben worden war; er erhält keinen Schadenersatz, aber ihm werden Gerichtskosten in der Höhe von Fr. 100’000.- erstattet Seite !17 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 II. Gesetzliche Grundlagen für Einzelfallgerechtigkeit - Beispiele aus verschiedenen Rechtsgebieten: Privatrecht - ZGB Art. 3 Abs. 2: Würdigung der Umstände - OR Art. 337 Abs. 1: wichtige Gründe bei Dauerschuldverhältnissen Strafrecht - StGB Art. 43: teilbedingte Strafen - StGB Art. 92: Unterbrechung des Vollzugs aus wichtigen Gründen - StGB Art. 139 Abs. 1: Zumessung der Strafe - Kein Ermessenspielraum bei Straftatbestand „nulla poena sine lege“ - Offizialprinzip (Verfolgungszwang): Strafverfolgungsbehörden müssen Straftaten ermitteln, wenn sie um entsprechende Anhaltspunkte wissen - Opportunitätsprinzip: bei geringer Schuld oder Tatfolgen von Strafverfolgung abgesehen werden - Begnadigungsrecht: Ausdruck von Billigkeit und freiem Ermessen der Vereinigten Bundesversammlung Verwaltungs- - durch Prinzip der Gesetzmässigkeit (Legalitätsprinzip) eingeschränkt: recht - Behörde darf nicht ohne rechtliche Grundlage tätig werden und muss sich im Rahmen halten - Verwaltungsbehörden müssen Einzelfall berücksichtigen, wenn das Gesetz sie beauftragt - z.B. Ausnahmebewilligung im Baurecht III. Vorgehen des Gerichts bei Billigkeitsentscheiden - Billigkeitsentscheide = Einzelfallentscheide - gerichtliches Ermessen (ZGB Art. 4) = billiges Recht: - wenn Gesetz Ermessen fordert, muss das Gericht nach Recht und Billigkeit entscheiden - billiges Recht = auf Einzelfall zugeschnittenes Recht, mit kasuistischen Methode gefunden, muss nicht generalisiert werden können - Einzelfallgerechtigkeit ist das Ziel, massgebend ist die individuell-konkrete Interessenlage: - Gericht muss alle objektiv erheblichen Umstände berücksichtigen - Gericht muss alle objektiven erheblichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigen - bei Entscheid muss konkrete und individuelle Interessenlage beachtet werden und eigene, persönliche Wertung vornehmen; aber auch objektive Kriterien beachten - „Ermessen“, „Billigkeit“ bedeutet Individualisierung und nicht Subjektivismus - Persönlichkeit, Erfahrung und Überzeugungen von Richtern spielen trotzdem wichtig: - Rechtsgleichheit kann bei Billigkeitsentscheiden nicht im gleichen Umfang sichergestellt werden wie bei Anwendung strengen Rechts - ZGB Art. 1 Abs. 3: Schranke für richterliche Freiheit: - Gericht soll sich von bewährter Lehre (Doktrin) und Überlieferung (Präjudizien) leiten lassen - Ermessensentscheide können in der Regel angefochten werden; - eingeschritten wird aber nur, wenn Entscheid nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren liegt - wenn Oberinstanz zwar selbst anders entschieden hätte, aber Entscheid als vertretbar ansieht, wird nicht auf Beschwerde eingegangen - Bei Beschwerden üben die Oberinstanzen Zurückhaltung (z.B. Anfechten von Prüfungsnoten an Uni) Seite !18 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 IV. Zur Problematik von Billigkeitsentscheiden - Gefahren von Billigkeitsentscheiden: - Rechtsgleichheit kann beeinträchtigt werden - Rechtssicherheit (Rechtsvorhersehbarkeit) nimmt ab - Spannungsverhältnis zum Legalitätsprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung: - Regelung von Rechtssystem soll beim Gesetzgeber liegen - Einzelfallgerechtigkeit muss deshalb eine Ausnahme bleiben C. Der Schutz berechtigten Vertrauens - eine Hauptfunktion: Schutz der Erwartung der Normadressaten, dass bestimmte Ordnung gelte - Schutz des Vertrauens = Schutz der gutgläubigen Annahme, dass bestimmtes rechtliches Verhältnis tatsächlich besteht (Einzelpersonen; Geschäftsverkehr; Bürger und Behörden) - z.B. Vertrauen in falsche behördliche Auskunft, Vertrauen in Bedeutung einer privaten Willenserklärung - Vertrauensschutz funktioniert nur, wenn bei Rechtsbeziehungen die Parteien in ihren gutgläubigen Annahmen geschützt werden - Rechtlicher Aufhänger ist das Gebot des Handelns nach „Treu und Glauben“ I. Schutz von Vertrauen im Privatrecht - Willenserklärungen nach Vertrauensprinzip – wie sie vom Empfänger in guten Treuen verstanden werden durften und mussten - Wenn Erwerber einer Sache diese von einem nicht verfügungsberechtigten Dritten kauft, aber hat darauf vertraut, dass dieser Dritte der Eigentümer sei, wird sein Vertrauen geschützt - ZGB Art. 3: immer nur berechtigtes Vertrauen geschützt und jemand, der weniger aufmerksam war, als von ihm verlangt werden durfte, kann sich nicht auf guten Glauben berufen - Vertrauensschutz ist auch bei unbefugten Vertretung möglich: - Wenn jemand unbefugter Weise als Vertreter agiert, wird der Dritte, der keinen Grund hatte, an der Vertretungsbefugnis zu zweifeln, unter bestimmten Voraussetzungen in seinem Vertrauen geschützt: - z.B. Vertretung der Kinder durch einen Elternteil: Vertrauen, dass zweiter Elternteil ebenfalls einverstanden ist, wird geschützt - z.B. Vertretung der ehelichen Gemeinschaft: wenn Überschreitungsbefugnis der Vertretungsbefugnis eines Ehegatten für Dritten nicht erkennbar ist, verpflichtet sich einzelner Ehegatte solidarisch (ZGB Art. 166 Abs. 3) - z.B. Bürgerliche Stellvertretung: nach Kundgeben der Vollmacht muss Widerruf dieser auch mitgeteilt werden, sonst ist Vertrauen des Dritten ins Weiterbestehen der Vollmacht geschützt - Grundgedanke ist, dass dem Dritten allfällige Mängel des Innenverhältnisses zwischen Vertreter und Vertretenem nicht entgegengehalten werden dürfen, wenn er davon nichts wusste/wissen konnte - Vertrauenshaftung = (noch) keine vertragliche Beziehung, die verstärkte Pflicht zu einem Handeln nach Treu und Glauben verlangt, kann zu Schadenersatz berechtigen: - Ausgangspunkt und Leitbild: "culpa in contrahendo“ = Verschulden bei Vertragsschluss Seite !19 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 II. Schutz von Vertrauen im öffentlichen Recht - Vertrauensschutz im Verhältnis zwischen Privaten und Staat ist relevant, wenn unzutreffende Auskünfte erteilt oder rechtswidrige Verfügungen erlassen werden - im konkreten Fall wird der Rechtsordnung nicht entsprochen, sie wird nicht durchgesetzt Spannungsverhältnis zum Legalitätsprinzip, zur Rechtssicherheit und Gleichbehandlungsgrundsatz - Vertrauensschutz im öffentlichen Recht steht unter strengen Voraussetzungen: - auf Vertrauensgrundlage basieren: Auskunft/Verfügung, die sich gegen Betroffenen richtet, einen bestimmten Sachverhalt betrifft, einen Bindungswillen der Behörde ausdrückt (auch falsche Rechtsmittelbelehrung) - Auch Behörden- oder Gerichtspraxis kann eine Vertrauensgrundlage bilden - Vertrauen des Privaten muss berechtigt gewesen sein: - darf nicht ohne weiteres zu erkennen gewesen sein, dass Auskunft/Verfügung nicht korrekt ist - Privater muss Dispositionen gemacht haben, die nicht (oder nicht ohne Schaden) rückgängig zu machen sind - dürfen keine überwiegenden Interessen dagegensprechen: dann Kostenentschädigung möglich - z.B. öffentliche Sicherheit bei inkorrekter Baubewilligung - Rechtsfolge von geschütztem Vertrauen = gegenüber dem Privaten gilt Rechtslage, auf deren Bestand er vertraut hat D. Zwecksmässigkeit, Rechtssicherheit und Durchsetzbarkeit - Recht muss praktikabel und zweckmässig, klar und voraussehbar und durchsetzbar sein I. Zwecksmässigkeit der Rechtsordnung - Regelfallgerechtigkeit bedeutet oft auch gleich Zweckmässigkeit: - schematische, generell-abstrakte Lösungen - Prinzip der Verhältnismässigkeit folgt aus dem Ziel, eine zweckmässige Ordnung zu schaffen - Im Interesse der Zweckmässigkeit wird auf kompromisslose Durchsetzung der Gerechtigkeit verzichtet - z.B. Verjährung = Recht kann nicht mehr zwangsweise durchgesetzt werden - z.B. Verwirkung = Recht geht unter - Konsequenzen können unbillig und ungerecht sein - z.B. Handwerker war bei seinem Job Asbest ausgesetzt, gesundheitlichen Folgen traten aber erst 12 Jahre danach auf - SUVA musste nicht bezahlen, da Schadensersatzanspruch an dem Punkt verjährt war (Frist von 10 Jahren ab dem Punkt, an dem der Schaden erlitten wird) - Zweckmässigkeit begründet auch: - endgültiges entfalten von Rechtskraft eines Urteils, sodass es nicht mehr umgestossen werden kann - Streitwertgrenze im Instanzenzug - Grenzen der Zweckmässigkeit liegen da, wo Ergebnis in stossendem Umfang ungerecht wäre: - Verpasste Fristen können wiederhergestellt werden - Verfahren können trotz eines rechtskräftigen Urteils wiederaufgenommen werden - Instanzenzug trotz geringen Streitwerts wegen gravierender Mängel Seite !20 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 II. Rechtssicherheit - Rechtssicherheit = Voraussehbarkeit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Rechts: - rechtliche Konsequenzen müssen klar und eindeutig sein - Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind nicht nur Gegensätze: - formelle Gerechtigkeit: Vorgabe bestimmter Verfahren für Rechtsetzung und -anwendung bewirkt ebenfalls Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit - materielle Gerechtigkeit: Regelfallgerechtigkeit bewirkt Klarheit und Voraussehbarkeit - Formvorschriften fördern Klarheit und Eindeutigkeit - Vorschriften zur Inkraftsetzung von Gesetzen dienen ebenfalls der Rechtssicherheit - z.B. Rückwirkungsverbot, Übergangsgesetze III. Durchsetzbarkeit des Rechts - „leges imperfectae“ (unvollständiges Recht) = nicht (zwangsweise) durchsetzbares Recht - manchmal ist Zeit ein Faktor, normaler Prozessweg kann zu lange dauern Anwendung vorsorglicher Massnahmen (ZPO Art. 261 Abs. 1) - Vorsorgliche Massnahmen in summarischen Verfahren erlassen - bei besonderer Dringlichkeit können sie ohne Anhörung der Gegenpartei erfolgen Verstoss gegen formelle Gerechtigkeitsgebote im Sinn der Durchsetzbarkeit - Grenzen für vorsorgliche Massnahmen: - dienen nur dazu, bestehenden Zustand zu erhalten - haben nur vorläufigen Charakter: ordentliches Verfahren ist nachzuholen und Massnahme ist rückgängig zu machen - wenn sie nicht rückgängig gemacht werden können und Massnahme zu Unrecht erfolgt ist, besteht unter Umständen Anspruch auf Schadenersatz E. Wirtschaftliche Effizienz als Ziel des Rechts - Ökonomische Analyse des Rechts: - Glaube, dass auch Allgemeinheit durch optimale Allokation knapper Ressourcen am besten gedient ist Seite !21 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §1 – Die Methodik des juristischen Arbeitens - Text bezieht sich ungeachtet der gewählten Formulierung stets auf Juristen, Bürger, Richter, etc. - im Vordergrund der Methodik steht Rechtsanwendung - wichtig: logisch konsequentes Vorgehen sowie wertendes und normatives Element im Recht I. Das logische Element im Recht - Logik = Lehre vom folgerichtigen, widerspruchsfreien Denken und Handeln - juristische Logik: deduktives Vorgehen bei Rechtsanwendung - Ausgang von generellen Regel, aus der Konsequenzen für konkreten Einzelfall (Sachverhalt) abgeleitet werden - Sachverhalt unter Rechtsnom subsumieren - in Rechtsanwendung wird deduktives Vorgehen verlangt =Schluss vom Allgemeinen auf Besonderes (Subsumtion) - Gegenteil in Naturwissenschaften: Induktion = Schlussfolgerung von Einzelfall auf Allgemeinheit - Induktion im Recht - Bildung von Regeln/Fallgruppen in der Rechtswissenschaft - Gesetzgeber, der mit neuen Regeln auf gesellschaftliche Trends reagiert - Lückenhaftigkeit des Gesetzes: keine Norm vorhanden, also muss eine gebildet werden - meist keine „Experimente“ im Recht - Ausnahmen: provisorische Lösungen für Gesetze, E-Voting-Versuche - mehr „Experimente“ würden schwindende Überzeugungskraft der Gesetze bewirken = weniger Vorhersehbarkeit und Verlässlichkeit = weniger Rechtssicherheit II. Das wertende und normative Element im Recht - logisches, formales Denken mit normativen Wertungen verknüpfen: - Grundlegende Wertung unserer Rechtsordnung: jedes Individuum hat Eigenwert, den er auch durchsetzen kann (z.B. BV Art. 7: Schutz der Menschenwürde) - auf solche abstrakten Normen stützen sich konkrete Wertungen bei Rechtsanwendung im Einzelfall - Wertungen nie absolut, sondern immer relativ - hängen von Ansichten der bestimmten Rechts-/Kulturkreise ab - verändern sich mit der Zeit es gibt keine absoluten juristischen Wahrheiten - z.B. Folterverbot: in Westeuropa (Art. 3 EMRK) absolut verboten, in Israel oft relativiert - Wertungen kann man herleiten und begründen (aber nicht beobachten, beschreiben oder beweisen) - Recht erhebt Wertungen zu Normen - Recht ist normativ = Sollensordnung; Normen haben Verbindlichkeit, präskriptiven Charakter - präskriptiv = bestimmte Normen festlegend vs. deskriptiv = beschreibend - nicht jede wertende Aussage ist normativ, aber jede normative Aussage enthält eine Wertung - normativ = wertend, eine Regel darstellend, als Richtschnur dienend - Juristerei ist zielbezogen vs. Naturwissenschaften sind ursachenorientiert - Rechtsbewusstsein = allgemeine Ansichten, was Recht/Unrecht ist Seite !22 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Rechtsfragen fordern fast immer Interessenabwägungen wegen kollidierender Wertungen (z.B. Vertrauensschutz von B gegen Eigentumsschutz von A, wenn B Diebesgut gutgläubig gekauft hat, das von A gestohlen wurde) - subjektive Ansichten wichtig: um objektiv zu bleiben, muss man richtigen Fragen stellen und kann sich Umkehr- & Analogschlüssen bedienen - Analogieschluss (argumentum per analogiam) = ähnlicher SV, also gleiche Rechtsfolge (im Strafrecht Analogieschlüsse zugunsten des Täters verboten (StGB Art. 1: keine Sanktion ohne Gesetz = nulla poena sine lege)) - Umkehrschluss (argumentum e contrario) = erheblich anderer SV, also gegenteilige Rechtsfolge - Zweiparteiensystem = jede Partei soll ihre Argumente vorbringen und mit Beweisen untermauern = Lösungsmöglichkeiten werden abgewägt, Quasi-Diskussion (in Gerichten, Prozessen) - bei Streitigkeiten grösserer Bedeutung entscheiden Gerichte als Kollegialgericht (3/5/7 Richter) - Tauglichkeit einer Lösung durch Verallgemeinerung testen: - Lösung in allgemeine Regel gefasst und dann versuchen auf ähnliche Fälle anzuwenden (ausdrücklich vorgesehen in ZGB Art. 1 Abs. 2) - Immanuel Kant: „Kategorischer Imperativ“ = Handle nur nach derjenigen Maxime, die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde III. Theorien zur juristischen Methode - Rechtsfindung = richterliche Ermittlung der im Einzelfall anzuwenden Rechtsnormen, wenn noch keine Praxis dazu besteht - Jurisprudenz = Rechtswissenschaft - Theorien der Rechtsfindung: Begriffs- oder - man arbeitete mit klaren Begriffen und war überzeugt, es liessen sich daraus Konstruktionsjurisprudenz inhaltliche Aussagen über Recht logisch ableiten - formale Richtigkeit ginge vor materieller Richtigkeit; harmonisch einordnen sei wichtiger als konkretes Resultat (Rechnen mit Begriffen) - heute von niemandem vertreten Teleologische - Gegenpunkt zur Begriffsjurisprudenz (zweckorientierte) - hinter Rechtsnormen würden Zwecke/Zielsetzungen stehen Jurisprudenz: - diese Ziele (rationes legis) müssen ermittelt werden - materielle/sachliche Richtigkeit sei massgebend Interessenjurisprudenz: - Weiterführung von teleologischer Jurisprudenz - kein einziger Zweck begründe Norm, sondern Kompromiss zwischen entgegengesetzten Interessen - kenne man diese Interessen, könne man daraus auf Zweck der Norm schliessen Wertungsjurisprudenz: - aufgrund einer Wertung ergeben sich Abwiegen und Ausgleichen entgegengesetzter Interessen - freie Interessenabwägung solle nicht vorgenommen werden, Wertungen von Gesetzgeber seien massgebend (nicht die von Richtern selbst) - diese Theorien sind Elemente einer umfassenden juristischen Methode der Schweiz: - Ausgangspunkt: begriffliche und formale Elemente - dann Berücksichtigung von Interessen und Wertungen, die der Norm zugrunde liegen - soll zu gerechter Lösung führen Seite !23 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §15 – Richterrecht - ZGB Art. 1 Abs. 1: neben Gesetzes- und Gewohnheitsrecht auch Richterrecht als Rechtsquelle: - ergibt sich aus Lückenhaftigkeit des Gesetzes I. Gesetzeslücken und richterliche Lückenfüllung: Allgemeines - demokratisches Prinzip = Rechtsetzung/-fortbildung liegt bei Volk und den gewählten Abgeordneten - Gründe für Gesetzeslücken: - gesetzgeberisches Versehen - Gesetzgeber kann Zukunft nicht voraussehen (z.B. Fortschritt bei Vaterschaftsnachweis) - bewusste Lücken: Gesetzgeber regelt das Wichtigste, aber nicht die Einzelheiten - Möglichkeiten der Lückenfüllung: - in absolutistischen Staaten lag Kompetenz beim absoluten Herrscher als Gesetzgeber - Kompetenzübertragung an Spezialkommissionen - Kompetenzübertragung an angesehene Juristen/wissenschaftliche Institutionen (ius respondendi im römischen Recht, Spruchfakultäten in Deutschland) - im geltenden Recht: Kompetenz liegt bei Gerichten (ZGB Art. 1 Abs. 2) - Auslegung = Gericht wendet Recht an - Lückenfüllung = Gericht schafft selbst Recht - Übergang zwischen Auslegung und Lückenfüllung ist fliessend - herrschende Meinung heute: Gericht schafft auch dann Recht, wenn es scheinbar nur auslegt - Unterscheidungskriterium kann der „noch mögliche Wortsinn“ sein: - Auslegung = alles, was innerhalb der Grenze des noch möglichen Wortsinns liegt - Rechtsschöpfung = alles, was nicht mehr vom Wortsinn abgedeckt wird - Analogieschluss meist als Instrument der Lückenfüllung = richterliche Rechtsschöpfung - wenn Analogieschluss innerhalb des noch möglichen Wortsinns ist, dann ist es extensive Auslegung - extensive Auslegung = Auslegung, die Anwendungsbereich einer Norm ausdehnt - praktisch bedeutsam ist Grenze zwischen erlaubter richterlicher Lückenfüllung und nicht erlaubter rechtspolitischer Entscheidung - abschliessende gesetzliche Regelung = Auslegung ja, Ergänzung durch Lückenfüllung nein - interpretatorische Scheinbegründungen = manchmal versuchen Gerichte ihre eigene Rechtsschöpfung als Auslegung auszugeben (verboten) - Tatbestandsfiktion = Gericht darf Lücke nicht leugnen, wenn es nicht vorhandene Tatbestandselemente erfindet, um gesetzlich nicht geregelten Sachverhalt unter Norm subsumieren zu können (verboten) II. Gesetzeslücken: Begriff und Arten - Lücke = gesetzliche Anordnung wäre erforderlich, fehlt aber - qualifiziertes Schweigen = Gesetzgeber schweigt absichtlich keine gesetzliche Anordnung erforderlich = keine Lücke - rechtsfreier Raum = gar keine gesetzliche Regelung gewollt = keine Lücke Seite !24 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Unterscheidung der Lücken (stark kritisiert und wird gefordert, davon abzusehen): - Echte Lücken = Gesetzgeber regelt nicht, was er regeln sollte (Lehre) - Unechte Lücken = Gesetz gibt zwar Antwort, ab er keine befriedigende (bundesgerichtliche Rechtsprechung) - Lücken „praeter legem“ (ausserhalb des Gesetzes) = offene Lücken: Gesetz, bis zur Grenze des möglichen Wortsinns interpretiert, regelt nicht, was es regeln soll - Arten von offenen Lücken: - durch Auslegung festgestellt, dass bestimmter Fall nicht geregelt ist, obwohl wertungsmässig gleich zu behandelnder Fall geregelt wird Lücke meist durch Analogie geschlossen, Anwendungsbereich wird ausgedehnt - logischer Mangel, technische Lücke - z.B. Gesetz räumt Rechte ein, sagt aber nicht wie und vor welcher Behörde diese geltend gemacht werden können - ganze Gesetzesbereiche, die lückenhaft sind - z.B. gesetzliche Massnahmen gegen interkantonale Doppelbesteuerung - Lücken „intra legem“ (innerhalb des Gesetzes) = Delegationslücke: Gesetz regelt eine Frage, gibt aber keine schlüssige Rechtsantwort - Arten von Delegationslücken: - Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe - z.B. „wichtige Gründe“, „besondere Umstände“, „angemessener Beitrag“ - Verweisungen: Regeln, auf die verwiesen wird, können nur sinngemäss angewendet werden - Ausnahmelücken („contra verba legis“ = entgegen dem Gesetzeswortlaut): Norm erfasst Fälle, die nicht erfasst werden sollten; notwendige Ausnahme fehlt Anwendungsbereich mithilfe teleologischer Reduktion eingeengt III. Pflicht und Kompetenz des Gerichts zu Lückenfüllung - Pflicht und Kompetenz zur gerichtlichen Lückenfüllung ergeben sich aus BV: Gerichte müssen die ihnen vorliegenden Fälle entscheiden (BV Art. 29 Abs. 1) - strategische Entscheide zur Rechtsfortbildung gehören dem Parlament und Volk, taktische dem Richter - Gerichte haben Pflicht und Kompetenz Lücken praeter legem, Lücken intra legem und Ausnahmelücken zu füllen - da in keinem der drei Fälle dem Gesetz eine anwendbare Vorschrift entnommen werden kann - Unechte Lücken zu füllen, ist dem Gericht verwehrt - Ausnahme: Füllen von Ausnahmelücken mithilfe teleologischer Reduktion - Grenzen der richterlichen Rechtsschöpfung: - Verwirklichung rechtspolitischer Wünsche vs. Lücken praeter legem - Gesetzeskorrekturen vs. Ausnahmelücken - Rechtsmissbrauchsverbot (ZGB Art. 2 Abs. 2): Ausnahmsweise ist richterliche Korrektur im Einzelfall möglich, wenn: - Norm einen mit der Zeit obsolet gewordenen Zweck verfolgt. - sich Gesetzgeber offenkundig in Tatsachen geirrt oder wo sich Verhältnisse in solchem Masse gewandelt haben, dass Normanwendung rechtsmissbräuchlich wäre Seite !25 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Grundsatz: „Cessante legis ratione, cessat lex ipsa“ = Entfällt Zweck einer Norm, entfällt Norm selbst - Strafbarkeitslücken können nur durch Gesetzgeber gefüllt werden (nulla poena sine lege) IV. Die Methode der richterlichen Lückenfüllung - bei Regelbildung beachtet Gesetzgeber drei Elemente: - materiell, realistisches Element: Gesetzesnorm soll praktikabel sein; Interessen, Durchsetzbarkeit und Klarheit - materiell, ethisches Element: gerechte Ordnung schaffen, begründete und angemessene Wertung vornehmen - formales, logisch-systematisches Element: widerspruchsfrei und eindeutig; in bestehendes Rechtssystem einfügen und Grundentscheide der Verfassungsstufe beachten - Vorgehen des Gerichts ist zweistufig: - zunächst Entwicklung einer generell-abstrakten Norm (diese fehlt ja im Gesetz) - geschaffene Norm wird auf konkreten Fall angewendet (gleich wie andere Gesetze) - Besonderheiten bei der richterlichen Methode: - Gericht darf gesetzgeberische Methode nur als rechtsanwendende Instanz verwenden, also sinngemäss: darf kein neues Ganzes schaffen, nur bestehende Ordnung vervollständigen - bei bestimmten Lücken intra legem, wo strikte Normanwendung rechtsmissbräuchlich wäre, geht das Gericht kasuistisch vor: entscheidet nur im Einzelfall (= Billigkeitsentscheid) V. Das Verhältnis zum Gesetzesrecht - primäre Funktion des Richterrechts = Ergänzen des Gesetzesrechts, wenn es lückenhaft ist (bei offenen Lücken, Ausnahmelücken) - bestätigende Funktion des Richterrechts = von verschiedenen Auslegungsvarianten eine als richtig bestimmt (bei Lücken intra legem) - derogatorisches Richterrecht (= Richterrecht contra legem): widersprechendes Richterrecht darf es eigentlich nicht geben, aber es gibt keine Instanz, die endgültige richterliche Entscheide überprüfen und korrigieren kann - Korrekturen könnten nur durch neuen gesetzgeberischen Akt oder Praxisänderung vollzogen werden Richterrecht hat Vorrang vor Gesetzesrecht, weil es auch wirkt, wenn es dem Gesetz widerspricht VI. Hilfsmittel der richterlichen Rechtsfindung - ZGB Art. 1 Abs. 3: „Lehre“ (Doktrin) und „Überlieferung“ (Rechtsprechung) - stehen dem Gericht als Gesetzgeber, zur Auslegung und Anwendung zur Verfügung Seite !26 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §19 – Die Auslegung von Rechtssätzen - Auslegung = Ermittlung des Sinns einer Rechtsnorm I. Auslegungsbedürftigkeit der Rechtssätze - Gründe für Auslegungsbedürftigkeit: - unpräzise Sprache - Mehrsprachigkeit der Schweiz - knappe Texte, die nur Wesentliches enthalten - Tatbestand kann beispielhaft gemeint sein (nicht im Strafrecht) - ZGB Art. 1 Abs. 1: „nach Wortlaut oder Auslegung“ - bewusst offene, vage Formulierungen, um der Praxis Konkretisierung zu überlassen II. Das Ziel der Auslegung - Wortlaut = stets nur unvollkommener Ausdruck des wiederzugebenden gesetzgeberischen Gedankens (Arthur Meier-Hayoz) - Sinn einer Norm kann weiter oder enger sein als ihr Wortlaut oder ihm sogar widersprechen - subjektiver Sinn: Welchen Sinn hat ein Rechtssatz für bestimmte Personen? - objektiver Sinn: Welchen Sinn hat ein Rechtssatz unabhängig von den Absichten des Gesetzgebers und der Adressaten? - Verständnismethode muss objektiv sein – Wie dürfen und müssen Normen vernünftigerweise vom Normalbürger verstanden werden? - Richter und Gesetzesadressaten haben sich am objektiven Sinn einer Rechtsnorm zu orientieren - BGer: Gesetz entfaltet „ein eigenständiges, vom Willen des Gesetzgebers unabhängiges Dasein, sobald es in Kraft getreten ist“ - objektiv-geltungszeitliches (objektiv-zeitgemässes) Auslegungsverständnis = zum Zeitpunkt der Auslegung bestehende Verhältnisse sind massgebend bei Auslegung - objektiv-historisches Verständnis = Gesetzessinn zum Zeitpunkt der Entstehung der Norm ist massgebend - Vorteile des historischen Sinns: - subjektive Werturteile der Gerichte können besser ausgeblendet werden - Stabilität und Kontinuität sind gewährleistet - vermittelndes Verständnis (herrschende Meinung, auch von BGer genutzt): - erst wird historischer Sinn ermittelt - dann wird geprüft, ob objektive Gründe eine Weiterentwicklung des Rechts verlangen: - Veränderung der Realien, - tiefgreifender Wandel in allgemeinen Wertungen, - Nachweis eines Irrtums des Gesetzgebers - Frage nach massgebendem Zeitpunkt stellt sich nicht, wenn Gesetz auf Sitte, Usanz (= Brauch), Ortsgebrauch, etc. abstellt Seite !27 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 III. Elemente der Auslegung - das grammatische Element: - Wortlaut ist stets Ausgangspunkt - muss in jedem Fall geprüft werden, ob Wortsinn dem Normsinn entspricht - alle sprachlichen Gesichtspunkte zu beachten: - Text, Titel und Marginalien - Absatzbildung, Satzzeichen und Schriftgestaltung - alle 3 Amtssprachen - das systematische Element: - Rechtsnormen müssen im systematischen Ganzen, nicht isoliert verstanden werden - Konsequenz: verfassungskonforme Auslegung - dasselbe Wort kann in anderem systematischen Zusammenhang eine andere Bedeutung haben - z.B. „öffentlich“ im StGB bedeutet je nach bestimmter Strafnorm etwas anderes - das historische Element: - die zum Entstehungszeitpunkt der Norm bestehenden Verhältnisse und Ansichten sind stets zu beachten: Materialien (die bei Ausarbeitung anfallenden Dokumente) - Gesetzesmaterialien geben nicht notwendigerweise den objektiven Sinn einer Norm wieder - Materialien haben nicht die Funktion eines verbindlichen Interpretationsmittels - das teleologische Element: - „ratio legis“ (Sinn des Gesetzes) = Zweck, Grundgedanke der Bestimmung: oft schon in einzelner Norm - in neueren Gesetzen gibt es Zweckartikel - z.B. Art. 1 Kartellgesetz: „Dieses Gesetz bezweckt…“ - mit grammatischen, systematischen und historischen verbunden: - Zweck erschliesst sich durch Wortlaut, systematischen Zusammenhang, Gesetzgebungsarbeiten - wenn Normsinn über Wortlaut hinausgeht = Analogieschluss - wenn Normsinn weniger weit geht als Wortlaut = teleologische Reduktion - Sonderfall: wirtschaftliche Betrachtungsweise - z.B. lebt verheiratete Person im gefestigten Konkubinat mit jemandem, verliert sie unter Umständen den ehelichen Unterhaltsanspruch - das realistische Element: - Realien = tatsächliche naturwissenschaftliche, technische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten - Auslegungsergebnis soll praktikabel sein = umsetzbar und mit vernünftigem Aufwand durchsetzbar - Konsequenzen der Auslegung müssen überprüft werden: möglichst sachgerechte Lösung bevorzugen - mögliche präjudizielle Wirkung kann erwägt werden - Folgeerwägungen sollen zurückhaltend getätigt werden: Rechtspolitik ist nicht Sache der Gerichte - rein formale Argumente sind abzulehnen: - „argumentum e contrario“ (Umkehrschluss) - „argumentum per analogiam“ (Analogieschluss“ - Ausnahmen sind nicht extensiv zu interpretieren und nicht analog anzuwenden Seite !28 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Argumente können beliebig verwendet werden, je nach Anwendung zu komplett unterschiedlichen Schlüssen führen - nicht wegdenken, aber Anwendung muss mit juristischen Argumenten begründet werden - in Gerichtsurteilen tauchen sie immer wieder auf, hauptsächlich aber nur zur Untermauerung bereits getroffener Entscheide - verschiedenen Auslegungselemente sind zu kombinieren = Methodenpluralismus - bei Widersprüchen entscheidet Gewicht der einzelnen Methoden; besondere Bedeutung für Wortlaut und Zweck - BGer folgt pragmatischem Methodenpluralismus: lehnt hierarchische Prioritätsordnung der einzelnen Methoden ab IV. Die Bedeutung des richterlichen Vorverständnisses für die Auslegung - keine allgemein verbindliche Rangordnung der Auslegungselemente: grosser Wertungsspielraum - Auslegung nicht nur vom Erfahrungsschatz, Wertvorstellungen und Menschenbild des Richters geprägt, sondern auch vom erwünschten Ziel mitbestimmt: - Richter wählen ihre Auslegungsmethoden auch ihrem erwünschten Ergebnis - Vorverständnis ≠ Vorurteil - wo Sinn eindeutig ist, indem alle Auslegungselemente zum gleichen Ergebnis führen, darf sich Richter nicht vor eigenen Wertvorstellungen beeinflussen lassen - Auslegungselemente haben wichtige Funktion: Kontrolle des Ergebnisses; Legitimierung des Entscheids Seite !29 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §6 – Das Recht als soziale Ordnung Recht soll soziales Verhalten, Zusammenleben in Gemeinschaft ordnen I. Die Rechtsordnung als Ordnung für äusseres Verhalten - Ordnung zunächst formal verstehen: gewisse Verhaltensregen einhalten - Rechtsordnung verlang nur äusseres Verhalten (Einhaltung der Regeln) - egal, ob innere Überzeugung, Gleichgültigkeit oder Furcht vor Sanktionen der Grund ist - aber subjektive Umstände (handelnde Person) trotzdem wichtig - z.B. Rechtsverletzungen: Schuldfrage; Motive; etc. - Sanktionen im Strafrecht: Subjektivität regelt evtl. Strafmilderung/-verschärfung II. Die Rechtsordnung als Ordnung für Menschen - Recht ist soziales Ordnungssystem; Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen; für Menschen - Umwelt ist also nur Rechtsobjekt (auch Tiere) - „Rechte der Natur“: Aufforderung an Menschen, Umwelt zu achten und schützen - keine subjektive Rechte der Umwelt (kein Rechtssubjekt) - Ausgestaltung der Rechtsordnung ist nicht zwingend vorgegeben; frei bestimmbar - Recht ordnet Verhalten der Menschen untereinander - Interessenausgleich zwischen den einzelnen Menschen/Gruppen - ein isolierter Mensch unterliegt keinem Recht (einsame Insel) III. Die Rechtsordnung als grundsätzlich verbindliche und erzwingbare Ordnung - Verbindlichkeit: müssen von allen Adressaten und Staat befolgt werden - Ausnahmen der strikten Verbindlichkeit; rechtsähnliche Vereinbarungen: - Verträge - „Gentlemen’s Agreements“ mit „Letters of Intent“ (= Absichtserklärungen): - man erklärt (rechtlich nicht verbindlich) sich, an bestimmte Regeln zu halten - vor allem unter Geschäftspartnern, Wirtschaftsleben (z.B. Verzicht auf aggressive Werbemethoden) - Patronatserklärung = entsprechende Rechtspflicht in der Form einer Garantie oder Bürgschaft - „Soft Law“ im Völkerrecht: - grosse praktische Bedeutung - Vereinbarungen zwischen Subjekten des Völkerrechts (internationale Organisationen) - keine strengen rechtlichen Bindungen der Betroffenen - Missachtung keine Rechtsverletzung; aber Verstoss gegen faires, nacht Treu und Glauben zu erwartendes Verhalten - Verhaltenskodizes (Normen, welche erwünschtes Verhalten in internationalen Unternehmen festlegen) und technische Vorschriften privater Organisationen - obwohl nicht als objektives Recht verbindlich, kann Missachtung haftungsrechtliche Konsequenzen haben Seite !30 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Durchsetzung mittels staatlich organisierten Zwangs - nicht nur verbindlich, sondern auch erzwingbar, durchsetzbar (staatlicher Zwang) - Selbsthilfe: ausnahmsweise Erlaubnis für Private ihr Recht selbst durchzusetzen, wenn Staat nicht rechtzeitig kann - organisierter Zwang: Sanktionen, Vollzug und Verfahren müssen im Voraus bestimmt sein (Spielraum für Einzelfall möglich) - Verstösse gegen andere Ordnungssysteme zu sanktionieren (z.B. potentielle Kunden meiden Laden) - Organisierter Zwang immer mehr auch gestützt auf internationale/supranationale Ordnungen ausgeübt - z.B. UNO Sicherheitsrat, der Zwangsmassnahmen anordnen kann, bei Bedrohung/Bruch des Weltfriedens - Durchsetzbarkeit des Rechts = normgemässes Verhalten erzwungen, der rechtmässige Zustand hergestellt - ausnahmsweise kommt auch/nur Schadenersatz, Strafe oder andere Sanktion infrage - meisten Rechtspflichten nicht unter Zwang erfüllt, meist reicht Androhung von Zwang - Nicht erzwingbares Recht: - Normen, die sich an oberste Staatsbehörden richten - bestimmte Normen des Völkerrechts - Verletzung von Ordnungsvorschriften - Leges imperfectae (unvollkommenes, unvollständiges Recht) = Naturalobligationen - z.B. Verjährte Schuld: Schuld besteht weiter, aber Erfüllung kann nicht mehr erzwungen werden - Naturalobligation: Staat stellt seinen Zwangsapparat nicht zur Verfügung - Private Sanktionen: - Konventionalstrafe (OR Art. 160ff): wird vereinbart, wenn zu erwarten ist, dass ein möglicher Schaden nur schwer zu beweisen wäre oder kein Schaden im Rechtssinn entstünde - privatautonom geschaffene Strafen vom Gesetz begrenzt (OR Art. 163 Abs. 3) - Vereins-/Verbandsstrafe: Busse, Suspendierung der Mitgliedschaftsrechte oder Ausschluss - zur Durchsetzung von Mitgliederpflichten IV. Die Rechtsordnung als umfassende Ordnung - Rechtsordnung: umfassende Ordnung für gesamtes menschliches Leben; nur gewisse Bereiche - Beziehungen des Alltags = rechtsfreier Raum - Grenzen zwischen Recht und Nichtrecht oft fliessend - z.B. Verhältnis von Rechtsregeln zu Spielregeln - Einhaltung von Spielregeln meist von Sportverbänden geregelt; bei Nachteilen, die aus Anwendung von Spielregeln entstehen, aber über Spiel hinauswirken, kann Staat zum Zug kommen - „minima non curat praetor“ = um Kleinigkeiten kümmert sich der Richter nicht (röm. Recht) - Gerichte grundsätzlich auch über Kleinigkeiten zu entscheiden, aber teilweise ist Weiterziehen zur nächsten Instanz vom Streitwert abhängig Seite !31 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 V. Die Rechtsordnung als generell-abstrakte Ordnung - Rechtsnormen = generell-abstrakt - unbestimmte Anzahl an Adressaten, unbestimmte Anzahl an möglichen Sachverhalten - an Durchschnittsmenschen und Durchschnittsfällen orientieren - sachlich unrichtige Lösung/Ungerechtigkeit bewusst in Kauf genommen im Einzelfall - für jeden Einzelfall geschaffene Ordnung wäre zwar mehr gerecht, jedoch schlecht für Klarheit und Vorhersehbarkeit des Rechts - generell-abstrakte, sehr viel detailliertere Lösung wäre ebenfalls problematisch, da sie unverhältnismässig hohen administrativen Aufwand verursacht - CH-Gesetze: im internationalen Vergleich „anschaulich“; Vermeidung von allzu hohen Abstraktheitsgrades - recht grosser Ermessensspielraum für Gerichte und Behörden VI. Die Rechtsordnung als Ordnung zur Konfliktbereinigung und Friedenssicherung - Konfliktbereinigung und Friedenssicherung: Gewährleistung von Ordnung, Sicherheit und Ruhe - Ziel: Konfliktlösung/-vermeidung, nicht Gerechtigkeit - Rechtsfriede und Konfliktbereinigung: weitgehende Eliminierung der Selbsthilfe, endgültiger Abschluss von Streitigkeiten - Endgültiger Abschluss von Streitigkeiten: massgebend ist, dass überhaupt Entscheid gefunden wird, um klare Verhältnisse zu schaffen - Mittel zur definitive Lösung von Streitigkeiten: - Verjährung und Verwirkung - Verwirkung = Rechte gehen unter - Verjährung = Möglichkeit, die Rechte durchzusetzen, geht unter - Behauptungen können im Prozess nur bis zu bestimmten Prozessstadium vorgebracht werden - Entscheide, die nicht mehr an höhere Instanz gezogen werden können, sind rechtskräftig und können nicht mehr umgestossen werden (auch Fehlentscheide nicht) - einziges Rechtsmittel, das einer Partei nach rechtskräftigem Entscheid offen steht, ist „Einrede der abgeurteilten Sache“ =„res iudicata“ - Verfahren können nicht mehr aufgerollt werden, auch wenn Gerichte später ihre Praxis ändern - Ausnahme: Rechtsmittel der Revision im Zivilprozess = Wiederaufrollen des Falls, wenn nachträglich erhebliche Tatsachen/entscheidende Beweismittel ans Licht kommen - Grundsatz der Rechtskraft gilt nicht ausnahmslos: Rechtskraft betrifft immer nur den konkret betroffenen Streitgegenstand VII. Die Rechtsordnung als Ordnung zur Gestaltung und Steuerung der Gesellschaft - Gestaltung der Lebensbedingungen und Steuerung der Gesellschaft = Lebensbedingungen ordnen, soziale Gestaltung, Anreize setzen für gewünschtes Verhalten Seite !32 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 VIII.Die Rechtsordnung als Sollensordnung - Rechtsordnung = Sollensordnung: normativer Charakter; Vorschriften aufstellen: - Positiv = Tun = Gebot - Negativ = Unterlassen = Verbot - Passiv = Dulden - Rechtswissenschaft (Jurisprudenz): deduktives Vorgehen = man schliesst von Normen auf konkrete Lebenssachverhalte - Andere Sozialwissenschaften: induktives Vorgehen = untersuchen, das tatsächliche menschliche Verhalten und entwickeln daraus Regeln IX. Die Rechtsordnung als geistige Ordnung - Verhältnis von Sein und Sollen: - Rechtsordnung = geistige Ordnung: Recht appelliert nicht an Sinne, sondern an Vernunft - Recht und Wirklichkeit stehen in Wechselbeziehung: - Recht ist Antwort auf beobachtete Realität und greift ordnend ein - Realität spiegelt Inhalt und Funktionsfähigkeit des Rechts - Fiktion und Vermutung - Fiktion = Rechtsnormen lösen sich vollkommen aus Realität - Gesetzgeber unterwirft bestimmten SV gewissen Normen, obwohl nicht alle TB-Voraussetzungen erfüllt/offenbleibt, ob sie erfüllt sind - z.B. im Vertragsrecht können Willenserklärungen fingiert werden: OR Art. 395, Antragsofferte gilt als angenommen, wenn nicht sofort abgelehnt - Hinweis für „gelten“/„gilt“: heisst aber nicht zwangsläufig, dass unbedingt eine Fiktion vorliegen muss - Vermutung („praesumptio iuris“) = Sachverhaltselement wird präsumiert, also bis zum Beweis des Gegenteils als vorhanden vermutet - Fiktion = unwiderlegbar vs. Vermutung = Beweis des Gegenteils möglich - Gutgläubigkeit wird auch vermutet, ist aber innerer Zustand und somit nicht empirisch belegbar: - trotzdem ist sie eine Vermutung und Beweis des Gegenteils bleibt somit offen Seite !33 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §7 – Das Recht als staatliche Ordnung Recht wird hauptsächlich vom Staat geschaffen, ist im Staat verankert, kann aber auch durch Private (privatautonom) entstehen A. Das Verhältnis von Recht und Staat I. Der Staat als Schöpfer des Rechts - Rechtsregeln ordnen Verhalten in der staatlichen Gemeinschaft - Staat schafft das Recht: - Rechtsetzungsverfahren (Staat) - Anstösse meist von Parteien, interessierten Gruppen und Volksinitiativen - Gewohnheitsrecht - richterliche Rechtsetzung = Richterrecht - generell-abstrakte, gesetzesähnliche Ordnung durch Private geschaffen - Gerichte und Behörden im Einzelfall und setzen es nötigenfalls zwangsweise durch II. Die Bindung des Staates an das Recht durch den Rechtsstaat - Staat schafft Recht, wendet es an und setzt es durch - Wechselwirkung: höchste Gewalt, aber zugleich muss staatliche Macht an Recht halten (Verfassung) - Rechtsstaat = Staat muss in den Schranken einer Rechtsordnung handeln (keine Willkür) (vs. absoluter Staat – „princeps legible solutus est“ = Herrscher untersteht den Gesetzen nicht) - Rechtsstaat im formellen Sinn (i.f.S.) = Staatsgewalt muss im Rahmen des positiven Rechts ausgeübt werden (Inhalt ist egal) - Legalitätsprinzip = Grundsatz der Gesetzmässigkeit staatlichen Handelns - staatliches Handeln ist nur gestützt auf gesetzliche Grundlage (im materiellen Sinn) zulässig - an übergeordnetes Recht gebunden und darf kein Gesetz erlassen, das der Verfassung widerspricht - aber besteht keine Verfassungsgerichtsbarkeit im Bezug auf Bundesgesetze auf Bundesebene BV Art. 190: Bundesgesetze massgebend (= anzuwenden), auch wenn sie BV widersprechen - Pro-Argumente für Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in CH: - Rechtsstaatsprinzip: alles staatliche Handeln hat sich im Rahmen der Verfassung zu bewegen - Demokratieprinzip: Verfassung stets direktdemokratisch legitimiert (Möglichkeit der Volksinitiative), Bundesgesetze sind es nicht (kein Initiativrecht des Volkes) - Föderalistisches Prinzip: Verfassungsbestimmungen verlangen auch das Ständemehr - Contra-Argumente gegen Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in CH: - Demokratieprinzip: Volk soll selbst, mithilfe des fakultativen Referendums, über möglicherweise verfassungswidrige Gesetze abstimmen können - Gesetzgeber als oberste Gewalt soll nicht durch ein Gericht eingeschränkt werden - Konkrete Normenkontrolle = Anfechtung einer Verfügung, Gericht überprüft Verfassungsmässigkeit einer Norm im Kontext eines konkreten Einzelfalls - Abstrakte Normenkontrolle = Gericht kann direkt Verfassungsmässigkeit einer Norm überprüfen, unabhängig von konkretem Einzelfall - nur bei kantonalen Erlassen möglich in CH Seite !34 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 - Grundvoraussetzungen eines Rechtsstaates: Gewaltenteilung = qualifizierter Rechtsschutz - Gewaltenteilung = funktionelle Teilung der staatlichen Macht in Legislative (Parlament), Exekutive (Bundesrat/Verwaltung) und Judikative (Gerichte auf Bundesebene) - Bundesrat alleine = Gubernative (Handlungsspielraum als teil der Exekutive) - Gewaltenteilung soll unkontrollierte, missbräuchliche Machtausübung verhindern. Qualifizierter Rechtsschutz (Rechtsweggarantie) soll ermöglichen, dass das Recht mithilfe unabhängiger Gerichte durchsetzbar ist. - Rechtsstaat im materiellen Sinn (i.m.S.) = Bindung des Staates an Recht muss bestimmten inhaltlichen Anforderungen entsprechen - Staat muss Freiheitsrechte (Grundrechte) schützen und Prinzip der Rechtsgleichheit beachten - Grundrechtskatalog BV: CH sieht sich auch als Rechtsstaat i.m.S. - Einschränkung der Grundrechte (BV Art. 36): - muss auf gesetzlichen Grundlage beruhen - muss im öffentlichen Interesse liegen - muss durch Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein - muss verhältnismässig sein - darf Kerngehalt der Grundrechte nicht antasten - Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns - Ausdruck des materiellen Rechtsstaatsprinzips für „Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns“: - Gesetzmässigkeitsprinzip (gehört auch zu Rechtsstaat i.f.S.) - Grundsatz des öffentlichen Interesses - Verhältnismässigkeit - Handeln nach Treu und Glauben - Beachtung des Völkerrechts B. Privatautonom geschaffenes Recht I. Selbstregulierung, „Rechtsetzung durch Private“ - Privatautonomie: auch Private können Recht schaffen - privatautonom geschaffenes Recht ist kein staatliches Recht, aber Staat stellt seinen Rechtsdurchsetzungsapparat zur Verfügung - Privatautonomes Recht sind: - Verträge - Statuten, Reglemente - Testamente (letztwillige Verfügungen) - Prospekte: Gesellschaft gibt Anleihensobligationen öffentlich aus (OR Art. 1156) - dies sind alles individuell-konkrete Anordnungen - Private können aber auch generell-abstrakte, gesetzesähnliche Regelungen schaffen: - Selbstregulierung (im eigentlichen, engen Sinn) = selbständig und aus eigenem Antrieb schaffen - vor allem in Berufs-, Fach-, oder Interessensvereinigung - Verhaltenskodizes, Normen, Standards, Richtlinien - Selbstregulierung (im weiten Sinn) = Staat und Private bei Rechtsetzung zusammenwirken - Gesamtarbeitsverträge (allgemeinverbindlich) - Standardverträge - AGB’s (gesetzesähnliche Wirkung hat rein faktische Basis: kann sie nicht umgehen) Seite !35 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 II. Schranken der Privatautonomie - privatautonomes Recht muss Schranken der objektiven Rechtsordnung beachten: - Verfügungsfreiheit des Erblassers - keine juristischen Personen mit widerrechtlichen Zweck gegründet werden - Gesellschaftsrecht und Sachenrecht (numerus clausus) - Schranken können Vertragsinhalt oder Vertragsabschlussfreiheit begrenzen: - Kontrahierungszwang = Pflicht einen Vertrag abzuschliessen - Unternehmer bietet Waren/Dienstleistungen allgemein und öffentlich an - Waren/Dienstleistungen, die zu Normalbedarf gehören - Interessenten fehlen zumutbare Ausweichmöglichkeiten wegen starker Machtstellung des Anbieters - Unternehmer kann keine sachlich gerechtfertigten Gründe zur Verweigerung nennen - Diskriminierungsverbot (BV Art. 8 Abs. 2) Seite !36 von !51 RB Hans-Ueli Vogt 1. Semester/HS19 §8 – Das Recht als weltliche Ordnung - Rechtsordnung = weltliche Ordnung: autonom der Religion gegenüber - Religion = System von Normen/Wertvorstellungen, durch etwas Heiligem/Transzendentem begründet (im Folgenden meist christlich; manchmal islamisch/jüdisch) I. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Recht und Religion Gemeinsamkeiten: - wertungsbezogen; Wertungen werden zu Normen erhoben - Sollensordnungen; stimmen insoweit mit Moral überein - gesellschaftliche Systeme mit hochentwickelten Institutionen Unterschiede: Rechtsnormen: religiöse Normen: - regeln das Leben in Gemeinschaft - regeln das Leben des Individuums - Normen zielen auf äusseres Verhalten ab - Normen zielen auch auf innere Überzeugung ab - verbindlich und mit staatlichem Zwang durchsetzbar - verbindlich, aber nicht mit staatlichem Zwang durchsetzbar; Religionsgemeinschaften sorgen selb