Einführung in die Grundlagen der Psychologie - Lernskript Aufnahmeverfahren 2024 PDF

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This document provides an introduction to the foundations of psychology and its historical development. It examines the philosophical roots of psychology and discusses early ideas about the soul, focusing on examples like the views of the Orphics. The document also mentions different schools of thought and paradigms in the field of psychology.

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Kapitel 2 Geschichte der Psychologie Abbildung 2.1: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“ (Hermann Ebbinghaus, 1908; nach Herzog, 2012, S. 11) Im Laufe der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie gab es zahlreiche psychologische Strö...

Kapitel 2 Geschichte der Psychologie Abbildung 2.1: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“ (Hermann Ebbinghaus, 1908; nach Herzog, 2012, S. 11) Im Laufe der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie gab es zahlreiche psychologische Strömungen, in denen verschiedene Grundannah- men kontrovers diskutiert wurden – zum Beispiel die Trennung oder Zusammen- gehörigkeit von Leib und Seele (siehe Kapitel 2.1.1), die Auffassung von Wahrneh- mung und Bewusstsein (Kapitel 2.2.3) oder auf welchen Prozessen menschliches Verhalten beruht (Kapitel 2.4).B B Die Struktur und Inhalte dieses Kapitels basieren auf mehreren Säulen: Einerseits auf den Vorlesungsunterlagen der VO Geschichte der Psychologie des Fachbereichs Psychologie der Uni- versität Salzburg, die von Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Allesch erstellt und von Mag. Markus Meindl in Kooperation mit Christian Allesch erweitert wurden, andererseits auf dem Lehrbuch von Schön- pflug (2013). Zusätzlich wurden intensive Gespräche mit Mag. Markus Meindl geführt, deren Inhalte in dieses Kapitel eingearbeitet wurden. 19 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die diversen Standpunkte dieser Kontroversen werden verschiedenen psycho- logischen Schulen beziehungsweise Paradigmen (siehe Infobox 2.1) zugeordnet. Immer wieder kommt und kam es im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie zu einem Paradigmenwechsel, also Veränderun- gen von aktuell vorherrschenden Auffassungen innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie. Die folgenden Seiten sollen einen Überblick über die historische Entwicklung der Psychologie als Forschungsgegenstand liefern, beginnend mit den philosophi- schen Wurzeln der Psychologie. Infobox 2.1: Paradigma Ein psychologisches Paradigma beschreibt ein vorherrschendes Denkmuster, Grundannahmen sowie akzeptierte Experimentalmethoden. Es bildet die Grundlage der wissenschaftlichen Orien- tierung und steuert damit die wissenschaftliche Realitätsauslegung – was derzeit als „wahr“ oder „gültig“ angesehen wird. 2.1 Wurzeln der Psychologie: Philosophie und die Seele Verschiedene Kulturen beschäftigten sich schon 1000 v. Chr. mit dem Konzept der menschlichen Seele. Das Verständnis von „der Seele“ war auf sehr vagen Vorstel- lungen begründet, die zwangsläufig zur Entwicklung von Mythen über das Seelen- leben führten. Der Begriff „Seele“ ist aus der wissenschaftlichen Psychologie mittlerweile weit- gehend verschwunden beziehungsweise durch andere Konzepte abgelöst oder er- weitert, aber diese anfänglichen Überlegungen zum Konzept der menschlichen Seele stellten zentrale Weichen für die heutige Psychologie. 2.1.1 Ursprünge des Seelenbegriffs Eine frühe Kultur, die sich mit dem Konzept der Seele beschäftigte, war die der Or- phiker – ein Volk aus dem alten Griechenland (ca. 600 v. Chr.). Sie gingen davon aus, dass der Mensch aus zwei grundlegenden Teilen besteht: dem stofflichen Körper und der unstofflichen Seele. Diesem Verständnis nach waren die beiden Teile voneinander getrennt. Starb der Körper, war es möglich, dass die Seele al- leine weiterlebte. Darauf aufbauend formulierten die Orphiker Annahmen über das Schicksal der Seele: Ein Körper besitzt genau eine Seele. Die Seele ist unsterblich. Die Wanderung der Seele von einem zum anderen Körper wird als Kreis- lauf von Leben und Tod gesehen. Eine Seele braucht nicht zwingend einen Körper. 20 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die Orphiker sprachen der Seele nicht nur eine höhere Stellung als dem – im Vergleich – minderwertigeren Körper zu, sondern betrachteten den Körper auch als Gefängnis der Seele. Die Seele wurde zwar nicht als unfehlbar angesehen, sie war nach orphischer Auffassung jedoch in der Lage, sich im Schuldfall (Unkeuschheit, Geiz; vgl. Merkelbach, 1951) durch Sühne wieder schuldfrei zu machen, wohinge- gen es dem Körper unmöglich war, sich aus seiner Unvollkommenheit zu befreien. Das dualistische Denken der Orphiker fand sich nicht nur in der Zweiteilung von Körper und Seele wieder, sondern auch in der Teilung zwischen Diesseits, welches als unvollkommen, schlecht und Unglück bringend angesehen wurde, und Jenseits, welches für Vollkommenheit, Güte und Glück stand. Der Körper wurde als Teil des Diesseits und die Seele als Teil des Jenseits angesehen. Bei Ver- gehen, die erst gebüßt werden mussten, wurde nach orphischer Auffassung die Seele vom Körper im Diesseits zurückgehalten und somit das menschliche Leben als Kampf zwischen Seele und Körper betrachtet. Den orphischen Lehren entspre- chend sollte alle Schönheit und Wahrheit im Jenseits zu finden sein: in der Heimat der Seele, wo es dieser möglich war, ihrer ursprünglichen göttlichen Natur gleich- zukommen. Um etwa 300 v. Chr. bekam die Psychologie durch die Begründung unterschied- licher Akademien beziehungsweise Denkschulen in der griechischen Antike eine erste – erst retrospektiv erkennbare – Systematik. Dort wurde von Philosophen Na- turkunde, Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Ethik gelehrt. Diese Gemeinschaften bestanden über mehrere Generationen hinweg; ihre Mitglieder setzten sich mit phi- losophischen Fragen auseinander. Durch die Wissensweitergabe von Lehrern an ihre Schüler2 , die dann wiederum Lehrer der nächsten Schülergeneration wurden, entwickelten sich unterschiedliche Betrachtungsweisen zwischen den Denkschu- len. Psychologische Lehren fielen damals unter die Ethiklehren. Der Begriff Psy- chologie entstand erst im Mittelalter an den Universitäten (Gundlach, 2004). In den folgenden Absätzen werden antike Philosophen, die zu den einfluss- reichsten Denkern zählen und mit ihren Lehren den Weg der modernen Psycholo- gie geebnet haben, auszugsweise dargestellt. Platon (427–347 v. Chr.) lehrte eine dualistische Sicht der Seele, welche auf den orphischen Lehren begründet war. Seiner Auffassung nach haucht die un- sterbliche Seele dem Körper, der auch als „Wohnstatt der Seele“ verstanden wird, Leben ein. Die Existenz der Seele besteht unabhängig vom Körperlichen und wird als beständig und vollkommen betrachtet. Im Gegensatz dazu gilt der Körper als trügerisch und unvollkommen sowie der Seele untergeordnet. Diese vollkomme- ne Beschreibung der Seele erklärt auch, warum Platons Lehren als dualistisch (eben aufgrund der Zweiteilung) und idealistisch bezeichnet werden. Gemäß Pla- tons Verständnis ist die Seele kein einheitliches Konstrukt, sondern setzt sich aus drei Teilseelen zusammen (Schönpflug, 2013): 2 ausschließlich männliche Lehrer und Schüler 21 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Die erste Teilseele, die begehrende/versorgende Seele, sitzt im Unter- leib und ist auf körperliche Begierden ausgerichtet (Essen, Trinken, Fort- pflanzung). Die zweite Teilseele, die zielstrebige/entschlossene Seele, ist in der Brust verortet und steht in Zusammenhang mit Emotionen. Der dritte und höchste Seelenteil, die denkende/vernünftige Seele, ist im Kopf angesiedelt. Die Vernunftseele hat die Aufgabe, Begierden und Temperament zu kontrollieren und führt dadurch die drei Seelenteile zu einer vollständigen Seele zusammen. Aristoteles (384–322 v. Chr.) war ein Schüler Platons (siehe Abbildung 2.2) und gründete später seine eigene Schule. An- fangs war er der dualistischen Ansicht über die Seele, wie sie von Platon ver- treten wurde, noch zugewandt, aber im Verlauf der Zeit kam er zu der Ansicht, dass man die Seele nicht ohne den Kör- per betrachten könne, sondern diese zwei Einheiten untrennbar miteinander verbun- den seien. Für Aristoteles stellte die Seele die Vervollständigung des Körpers dar, die diesen erst zum Lebewesen macht. Ari- stoteles sprach sich für verschiedene Ar- ten der Seele bei Pflanzen, Tieren und Menschen aus. Die vegetative Seele oder auch Pflanzenseele besitzt die Grundfä- higkeit zu Ernährung, Wachstum und Fort- pflanzung, wohingegen die animalische Abbildung 2.2: Während der in den Seele oder Tierseele über die Grundfä- Himmel zeigende Platon (li.) ein Ver- higkeiten hinaus die Sinneswahrnehmung, fechter eines idealistischen Weltbil- Begierde und Fortbewegung formt. Die des war, stand für den auf den Boden dritte Seelengruppe wird als denkende zeigenden Aristoteles (re.) die unmit- Seele oder Geistseele bezeichnet und telbare sinnliche Erfahrung der Um- formt zusätzlich die Fähigkeit zur Logik. welt im Mittelpunkt Diese dritte Seelengruppe besitzen nur Menschen. Aristoteles ging davon aus, dass die Seele den Organen Form und Gestalt und somit auch ihre Zweckmäßigkeit gibt (z. B. formt die Seele das Auge und ein Auge ist zur visuellen Wahrnehmung der Umwelt bestimmt). Neben den verschiedenen Auffassungen und Abhandlungen zum Seelenbe- griff versuchten andere Gelehrte, Menschen aufgrund verschiedener Merkmale zu charakterisieren. Grundlage dafür waren meist konkrete Verhaltensweisen, die Menschen zeigten und sich in Klassen zusammenfassen ließen. So formulier- te z. B. Theophrast, welcher der aristotelischen Schule entstammte, 30 Charak- terskizzen, darunter „der Geizige“, „der Mitteilungsbedürftige“ und „der Taktlose“. 22 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Hippokrates (ca. 460–370 v. Chr.) war Begründer und Namensgeber des hip- pokratischen Eids – der grundlegenden ärztlichen Ethik – und versuchte mit der Vier-Säfte-Lehre medizinische Erklärungen für Krankheiten zu finden. Erst ca. 600 Jahre später wurde von Galen (ca. 129–199 n. Chr.) der Bezug der hippokrati- schen Vier-Säfte-Lehre zur Persönlichkeit hergestellt, indem er die Temperamen- tenlehre entwarf, in welcher ein funktioneller Zusammenhang von physischen und psychischen Phänomenen postuliert wurde (Eckardt, 2017). Je nachdem welcher Körpersaft dominant ist, wird dem Menschen einer der folgenden Temperamentty- pen zugewiesen: Sanguiniker: Der vorherrschende Körpersaft ist das Blut. Sanguiniker werden als freudvolle, schnell und stark erregbare Menschen beschrie- ben. Phlegmatiker: Der vorherrschende Körpersaft ist der Schleim. Phlegmati- ker zeichnen sich durch langsame und schwache Reaktionen aus, jedoch sind sie dabei freundlich. Choleriker: Der vorherrschende Körpersaft ist die gelbe Galle. Choleriker gelten als temperamentvoll, zudem sehr schnell und stark erregbar und leicht zu verärgern. Melancholiker: Der vorherrschende Körpersaft ist die schwarze Galle. Melancholiker zeichnen sich durch starke Gefühle von Traurigkeit aus, nei- gen zu Schwermut und Trübsinn. Die Theorie Galens brachte menschliche Verhaltensweisen mit Körpersäften in Verbindung und er postulierte damit eine Persönlichkeitstypologie, die bis ins 20. Jahrhundert bedeutsam war (siehe Kapitel 8.2). 2.1.2 Die römische Antike und das Mittelalter Im Gegensatz zu den Griechen gründeten die alten Römer keine eigenen Schulen, aus denen philosophisch-psychologische Lehren hervorgingen. Unter den Römern gab es jedoch Gelehrte, welche die griechischen Lehren weitertrugen. Durch den Einzug des Christentums ins römische Reich wurde das Streben nach Erkenntnis und die Erforschung der Psyche und des Geistes abgelöst von dem Ziel, möglichst fromm und rechtgläubig zu leben. Bis ins Mittelalter waren alle philosophischen Lehren, die in dieser Zeit von Kirchenlehrern vorgetragen wurden, mit einem auf Gott bezogenen Hintergrund versehen. Augustinus (354–430 n. Chr.) war ein christlicher Kirchenvater, der auch als ausgezeichneter Philosoph bekannt war. Für Augustinus lag im christlichen Glau- ben die höchste Form der Erfahrung. Sein Glaube spiegelte sich auch in seiner Erkenntnistheorie wider. Die Einigkeit von Körper, Geist und Seele beschrieb Au- gustinus als Natur des Menschen, wobei Geist und Seele für ihn ineinandergrei- fende Begriffe waren. Platonische Vorstellungen über das Verhältnis von Körper und Seele sowie einer hierarchischen Anordnung von Seelen(teilen) wurden von Augustinus weitergetragen und im christlichen Sinne ausgeführt. 23 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Er verstand Körper und Seele als zwei gegensätzliche Substanzen, die jedoch von Natur aus zusammengehören: Der Körper als Materie stellt den „äußeren Men- schen“ dar, während die Seele als etwas Immaterielles (Geistiges) den „inneren Menschen“ darstellt. Die Seele war für Augustinus nicht in einem Körperteil veror- tet, sondern im gesamten Körper gegenwärtig. Obwohl er ein Einwirken des Kör- pers auf die Seele für unmöglich hielt, sah er das Nervensystem als relevantes Organ beziehungsweise Vermittler für die Wirksamkeit der Seele an: Reize in der Außenwelt rufen körperliche Reaktionen hervor, die wiederum die Aufmerksamkeit der Seele erregen. Nach Augustinus steht die seelische Substanz von der Wertig- keit her über dem Körper, denn sie ist dem Göttlichen geöffnet (Schwarz, 1955). Im Verlauf des Mittelalters behielten die verschiedenen Ordensgemeinschaften (z. B. die Benediktinermönche) nicht nur die Treue zum Glauben, sondern auch die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft bei. Forschung passierte vorwiegend durch Klöster- und Stiftsschulen. Das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis führte gegen Ende des Mittelalters zu enormem wissenschaftlichen Aufschwung und der damit einhergehenden Gründung von Universitäten. An den damaligen Universi- täten wurde eine überschaubare Menge an Fächern gelehrt. Neben dem Studium der Medizin, Rechtswissenschaft und Theologie war es die Philosophie, die über allen Fächern stand und sich in die Teildisziplinen Metaphysik, Natur- und Moral- philosophie aufteilte. Für einen Aufschwung der Philosophie sorgten die Schriften von Thomas von Aquin (1225–1274). Er war ein Kirchenlehrer, Theologe und Philosoph, der im 13. Jahrhundert an Universitäten unterrichtete und die Schriften der alten Grie- chen kommentierte. Seine Argumentationen stützten sich größtenteils auf Lehren des Aristoteles und schafften es, eine Schnittstelle zwischen Glauben und Wis- senschaft zu erzeugen. Thomas von Aquin war ein Hauptvertreter der Scholastik, also der Vereinigung von aristotelischem Denken mit der christlichen Lehre. Auf- bauend auf der Philosophie von Aristoteles beschrieb er drei Arten von Seelen: 1. Vegetation: unbewegliche, nicht schmerzempfindliche Natur 2. Tiere: sensitive, über Sinneswahrnehmungen verfügende, bewegliche und schmerzempfindliche Natur 3. Menschen: intellektive Natur, die mit Denkvermögen ausgestattet ist und Sinneswahrnehmungen strukturieren kann Nach Aquins Verständnis wird die menschliche Seele von Gott aus dem Nichts erschaffen, indem er im Schöpfungsakt dem Embryo an Stelle der sensitiven Form eine intellektive Form, die Geistseele einflößt. Die Geistseele ist im Vergleich zu vegetativen und sensitiven Seelen nicht an die tragende Materie, also den Körper, gebunden. Als von Gott Geschaffenes kann diese nach dem Tod des Körpers nicht vergehen. Der Tod beendet lediglich ihr Dasein in dieser Welt, womit die Seele Platz in einer anderen Wirklichkeit findet (Peitz, 2013). 24 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE 2.1.3 Rationalismus versus Empirismus Im Zeitalter der Aufklärung (ca. 1650–1800) gab es zwei vorherrschende Strömun- gen, innerhalb derer sich das (philosophische) Denken entwickelte und die somit das Menschenbild dieser Zeit prägten: der auf logischem Denken basierende Ra- tionalismus und der auf Erfahrungen basierende Empirismus. Rationalismus Die im Rationalismus vertretene Kernannahme besagt, dass es neben der körperlichen Welt auch eine Welt des Verstandes gibt, in der die Vernunft regiert. Vernunft führt zu logi- scher Ordnung und Vollkommenheit. Es domi- nierte die Vorstellung, dass Wissen nicht durch Körperliches erfahrbar ist, weil Empfindungen nicht als vertrauenswürdige Quelle angesehen werden können, sondern ausschließlich durch die Nutzung des Verstandes erkannt werden kann. Einer der wichtigsten Vertreter des Rationa- lismus im 17. Jahrhundert war der französische Philosoph René Descartes (1596–1650; siehe Abbildung 2.3). Für ihn galt einzig die Vernunft Abbildung 2.3: René Descar- als Basis und bewährte Methode für den Erkennt- tes, ein Hauptvertreter des Ra- nisgewinn. Von ihm stammt auch der bekann- tionalismus te Ausspruch „cogito ergo sum“: Ich denke, al- so bin ich. Er lieferte einen maßgeblichen Bei- trag zur Prägung des dualistischen Menschen- bildes (siehe Infobox 2.2), das die gleichzeiti- ge Verschiedenheit und Verflochtenheit von Kör- per und Geist betont, ein Bild, das bis heute im Sprachgebrauch und im Denken Fortbestand hat (wenn z. B. zwischen „physischen“ und „psychi- schen“ Krankheitsursachen unterschieden wird). Descartes beschäftigte, wie die Vorstellung einer körperlichen, stofflichen Welt (die res ex- tensa) mit der geistigen Welt (die res cogitans), die dem Stofflichen enthoben ist, in Einklang ge- bracht werden könne. Er vermutete die Verbin- dung der beiden Entitäten über die Zirbeldrü- Abbildung 2.4: Bei Descartes se (siehe Abbildung 2.4), die seiner Auffassung nahm die Zirbeldrüse eine zen- nach den Mechanismus darstellt, der den stoffli- trale Rolle ein chen Körper über Gefühle mit dem Geist verbin- det: An die Seele werden von in der Zirbeldrüse 25 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE lokalisierten Animalgeistern Bilder übermittelt. Durch die Neigung der Zirbeldrü- se drückt diese auf unterschiedliche Nervenenden, welche körperliche Reaktionen auslösen. Er war außerdem ein Verfechter davon, den menschlichen Körper als „Maschine“ zu betrachten (mechanistisches Menschenbild) und trennte zwischen intellektueller Wahrnehmung, die er als Weg zur Wahrheit betrachtete, und der sinnlichen Wahrnehmung, die er primär als vorteilhafte natürliche Funktion des menschlichen Körpers ansah (vgl. Hatfield, 2014). Infobox 2.2: Dualismus vs. Monismus Dualismus und Monismus stellen zwei Sichtweisen auf das Leib-Seele-Problem dar. Darunter versteht man die Frage, wie sich mentale Zustände zu den körperlichen Zuständen verhalten. Das Menschenbild des Dualismus geht davon aus, dass Leib und Seele voneinander unabhän- gige Einheiten sind und wurde beispielsweise von Descartes vertreten. Die Gegenposition zum Dualismus stellt der Monismus dar, welcher eine Einheit von Körper und Seele propagiert. Einer der Hauptvertreter des Monismus war der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632– 1677). Empirismus Für den Empirismus charakteristisch ist der Zwei- fel an der Existenz einer objektiven Welt. Der em- piristische Zugang zum Ursprung des Wissens liegt allein in dem, was wahrgenommen werden kann. Ein Erkenntnisprozess kann nur durch das Studium subjektiver Eindrücke durch (Sinnes-)- Erfahrung und nicht allein durch Vernunft erfol- gen. Dieser Zugang zur Wirklichkeit kann einer- seits über die Beobachtung, andererseits über das Experiment erfolgen (Liesen, 2010). Der Em- pirismus geht davon aus, dass der menschliche Geist bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt ist und Erkenntnis nur durch sinnliche Erfahrung der stofflichen Welt möglich ist. Es stehen zwei Abbildung 2.5: John Locke Quellen der Erkenntnis zur Verfügung: Die Sen- sation, die Wahrnehmung äußerer Reize über die Sinne, und die Reflexion, Be- wusstseinsvorgänge, Tätigkeiten des Geistes und Beobachtung des eigenen Den- kens. Einer der wichtigsten Empiristen war der englische Philosoph und Natur- wissenschafter John Locke (1632–1704; siehe Abbildung 2.5), welcher auch die erste empiristische Erkenntnistheorie verfasste (Schönpflug, 2013). Er beschrieb den Prozess der Erkenntnis in vier Stufen: Sinnliche Erfahrung führt zu partikulären Ideen (1.), welche dann abstrahiert (2.) und verbalisiert werden (3.), wodurch ein Diskurs über unterschiedliche Erfahrungen möglich wird (4.). 26 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE David Hume (1711–1776), ein weiterer Vertreter des Empirismus, sah die As- soziation als alleiniges Prinzip der geistigen Ordnung an: Elementare Sinnesemp- findungen fügen sich durch Verbindung von Ideen zu immer umfassenderen Er- kenntnissen zusammen. Dies geschieht nach zwei grundlegenden Assoziations- prinzipien: dem Prinzip der Ähnlichkeit und dem Prinzip der Kontiguität. Diese Überlegungen bildeten den Beginn der Assoziationstheorie (Schönpflug, 2013). 2.2 Anfänge der wissenschaftlichen Psychologie 2.2.1 Die Vernunft als Schlüssel zur Wissenschaft Eine wichtige Persönlichkeit auf dem Weg der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft im 18. Jahrhundert war Immanuel Kant (1724–1804). Kant griff den Grundsatz des Empirismus, dass Erkenntnis durch sinnliche Erfahrung entsteht, auf und ergänzte diesen Ansatz mit der Verbindung zum Denken. Kant ging davon aus, dass die reine empirische Beobachtung nicht alle Informationen enthalten kann, sondern dass Sinneseindrücke mit den Vorstellungen des Verstandes ver- knüpft werden müssen, um Erkenntnis zu erlangen. Er betonte die Wichtigkeit von Eindeutigkeit, Gewissheit und Beständigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse und hob hervor, dass die Gegenstände der Psychologie (z. B. Gedanken, Stimmungen etc.) nicht exakt darstellbar bzw. „mathematisierbar“ seien. Ohne Messung und mathematische Formulierung war für Kant eine exakte Wissenschaft nicht mög- lich, weshalb seiner Meinung nach die Psychologie lediglich als beschreibende und nicht exakte Wissenschaft angesehen werden könne (vgl. Fahrenberg, 2022). Daher käme der (empirischen) Psychologie ein geringerer Stellenwert unter den Wissenschaften zu (Kant, 1790, S. 47).3 Nach der Zeit der Aufklärung folgten erste Entwicklungen, in denen sich die Psychologie als eigenständige Wissenschaft zu etablieren be- gann. Ein Grund dafür war, dass das Interesse an der Lehre über das menschliche Verhalten in der Gesellschaft auf immer breiteres Interesse stieß. Die erste deutschsprachige psychologische Zeitschrift, die auch als Vorreiter psychologischer Fachzeitschriften gesehen werden kann, begrün- dete Karl Philipp Moritz (1756–1793, siehe Ab- bildung 2.6) Ende des 18. Jahrhunderts mit seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde (Meier, 1997). Er verstand sein Magazin als Mög- lichkeit, empirische Erkenntnisse über Seelenge- sundheit und -krankheit zu bündeln, also die Ge- Abbildung 2.6: Karl Philipp Mo- sellschaft mit Fakten anstatt mit „Anekdoten und ritz 3 Diese Annahme Kants wurde jedoch bereits eine Generation später widerlegt. Beispielsweise konnte Herbart (siehe Kapitel 2.2.3) die Assoziationstheorie mathematisch darstellen. 27 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Tratsch“ zu versorgen. Das Magazin erschien für zehn Jahre regelmäßig und war ein wichtiger Wegbereiter für die Populärpsychologie, aber auch für die wissen- schaftliche Psychologie (Schönpflug, 2013). So kam es, dass neben ihm auch Ärzte, Philosophen, Pastoren und andere Gelehrte Beiträge in den Rubriken See- lennaturkunde, Seelenzeichenkunde, Seelenkrankheitskunde und Seelenheilkun- de verfassten. Die einzelnen Bereiche beschäftigten sich mit unterschiedlichen Teilgebieten: Seelennaturkunde: Thema war die Beschreibung von psychischen Phänome- nen – es wurden beispielsweise Überlegungen hinsichtlich der Natur von Kindheitserinnerungen oder Träumen angestellt. Seelenzeichenkunde: Es wurden Typisierungen, Charaktermerkmale und ihre Ka- tegorisierung diskutiert. Dies entspricht heute dem Gebiet der Persönlich- keitspsychologie und Psychologischen Diagnostik. Seelenkrankheitskunde: Diese Rubrik kann als Vorreiter der klinischen Psycho- logie betrachtet werden. Zum Gegenstand wurde hier normabweichendes Verhalten (z. B. harte Strafen, Misshandlungen oder Mord). Dies entspricht heute dem Gebiet der Psychopathologie. Seelenheilkunde: Beiträge dieser Rubrik beschäftigten sich mit der Heilung von Seelenkrankheiten. Dies entspricht heute dem Gebiet der Psychotherapie. 2.2.2 Einflussreiche Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert Im Folgenden werden auszugsweise weitere Entwicklungen und Strömungen im 18. und 19. Jahrhundert vorgestellt, welche die Entwicklung der Psychologie als Disziplin beeinflusst haben. Ausdruckspsychologie: Physiognomik und Phrenologie Die Ausdruckspsychologie war eine erste – mittlerweile veraltete – psychologische Lehre, die sich mit der körperlichen Erscheinung und der damit einhergehenden psychologischen Bedeutung befasste. Zur Ausdruckspsychologie zählte unter an- derem die Physiognomik, deren Ziel es war, anhand der Ausdrucksmerkmale des Gesichts und des Körpers einer Person auf deren Charaktereigenschaften zu schließen. Die Physiognomik beruht auf der Annahme, dass sich Seelisches im Körperlichen ausdrückt. Johann Caspar Lavater (1741–1801), Hauptvertreter der Physiognomik, entwickelte Regeln zur Diagnose von Charakterzügen aus dem Gesichtsausdruck (siehe Abbildung 2.7). Intelligenz ließe sich seiner Vorstellung nach beispielsweise an einer hohen Stirn erkennen, oder die Form der Nase als relevantes Merkmal im Zusammenhang mit dem Drang zur Selbstverwirklichung interpretieren. Lavater lieferte mit seiner Verbindung von körperlichen Merkma- len und Charaktereigenschaften ein einfach anwendbares Kategorisierungssystem für Persönlichkeitsausprägungen, das in der akademischen Psychologie allerdings nur mehr von historischem Interesse ist. 28 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Abbildung 2.7: Ein Ausschnitt aus J.C. Lavaters Werk Physiognomische Fragmen- te, 1789 Eine weitere Richtung, die anhand von körperlichen Merkmalen auf psychologi- sche Fähigkeiten schloss, war die Phre- nologie. Ein Arzt, der mit dieser Leh- re in Zusammenhang gebracht wird, ist Franz Joseph Gall (1758–1828). Er ging von der Annahme aus, dass sich aufgrund der Form und Größe des Schädels die Ausprägung der darunterliegenden Hirn- areale abschätzen ließe. Dabei brachte er die unterschiedlichen Hirnareale mit be- stimmten Charaktereigenschaften und Fä- higkeiten in Verbindung (siehe Abbildung 2.8). Gall erklärte sich durch die Schä- delausprägungen nicht nur Unterschiede hinsichtlich menschlicher Charaktereigen- Abbildung 2.8: Verortung der Fähig- schaften, sondern auch die Neigung zu keiten nach Franz Joseph Gall kriminellem und pathologischem Verhalten (Schönpflug, 2013). Er ging also davon aus, dass man von der Schädelform auf den Charakter schließen könne. Diese Annahmen stellten sich als falsch heraus. Unabhängig davon konnte aber später gezeigt werden, dass spezifischen Cortexarealen konkrete Aufgaben etc. zugeord- net werden können (beispielsweise das Broca-Areal, siehe Abbildung 4.3). 29 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Der Positivismus Der Positivismus fordert von allen Wissenschaften die vorurteilsfreie Erfassung von ausschließlich überprüfbaren Tatsachen. Ausserdem sollten sie sich auf Er- fahrung als einzige Quelle der Erkenntnis beschränken. Als Begründer gilt Augus- te Comte (1798–1857), der auch als Begründer der Soziologie gilt. Schönpflug (2013) führt folgende Annahmen beziehungsweise Forderungen des Positivismus an: Wissenschaftliche Analyse hat sich auf Tatsachen und deren beobachtba- re Beziehungen zu stützen. Metaphysische Deutungen sind wissenschaftlich nicht zulässig. Maßstab der Wahrheit ist die Gewissheit, welche durch die Übereinstim- mung der Forschenden entsteht. Wissenschaft ist grundsätzlich unvollendet. Es bleibt stets eine Wirklich- keit, die durch Wissen nicht erfasst wird. Das alleinige Sammeln von Beobachtungen ist für eine Wissenschaft nicht ausreichend! Aus Beobachtungen sind Theorien abzuleiten. Positive Wissenschaft dient dem technischen und sozialen Fortschritt. Die positivistische Forderung nach nachvollziehbaren Beobachtungen führte zum Einsatz quantitativer Methoden der Zählung und Messung in naturwissen- schaftlich orientierten Richtungen. Am deutlichsten wurde die Doktrin des Positi- vismus im amerikanischen Behaviorismus (vgl. Kapitel 2.4.3) weitergeführt: Er er- kennt ausschließlich das beobachtbare Verhalten als möglichen Gegenstand einer wissenschaftlichen Psychologie an und lehnt die nicht der objektiven Beschreibung zugänglichen Bewusstseinsinhalte als wissenschaftliche Erkenntnisgrundlage ab. Der Darwinismus Bis ins 18. Jahrhundert nahm man an, dass Arten unveränderlich seien. Danach verbreiteten sich Theorien, die höhere Gattungen als Abkömmlinge niederer Gat- tungen ansahen. Diese Theorien stießen auf heftigen Widerstand, vor allem, weil sie im Widerspruch zur biblischen Schöpfungsgeschichte standen. Charles Dar- win (1809–1882) entwickelte eine Theorie, nach der die einzelnen Gene sponta- nen Veränderungen (Mutationen) unterworfen sind und sich neue Genkombina- tionen durch die Paarung von Individuen ergeben. Die Erscheinungen und Fähig- keiten eines Individuums variieren daher und sind je nach Beschaffenheit unter- schiedlich gut der Umgebung angepasst. Nach seiner Evolutionstheorie bedeu- tet eine bessere Anpassung an die Umwelt mehr Nahrung, Schutz und bessere Chancen, Nachwuchs hervorzubringen und aufzuziehen. Während sich also gut angepasste Arten fortpflanzen können, sterben unzureichend angepasste Arten aus (Selektion).4 4 Der Ausdruck „Survival of the Fittest“ meint das Überleben jener, die am besten angepasst sind, nicht – wie man vielleicht meinen könnte – der Stärksten. 30 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Da Überleben aus der darwinistischen Perspektive ein Resultat geglückter An- passung ist, ging Darwin davon aus, dass es eine gemeinsame Komponente zwi- schen Tier und Mensch geben muss. Dies hatte insofern einen bedeutsamen Einfluss auf die Psychologie, als dass es zu einer Aufwertung des Mensch-Tier- Vergleichs und somit zur Grundlegung der Vergleichenden Psychologie sowie des Tierversuchs in der Psychologie kam (Schönpflug, 2013). Fortschritt in Medizin und Physiologie Im 19. Jahrhundert kam es zu einem enormen Fortschritt im Bereich der Medi- zin und der Physiologie. Die Theorie der Körpersäfte (siehe Kapitel 2.1.1) wurde von der Zelltheorie abgelöst, die Evolutionstheorie verstärkte das Interesse an ver- gleichender Anatomie und Physiologie und es kam zu ersten Erkenntnissen der Humangenetik. Durch Fortschritte der Physik und Chemie wurden Erkenntnisse über das Nervensystem, das Herz-Kreislauf-System, das Hormonsystem und wei- tere Stoffwechselfunktionen möglich. Die Entdeckung von Röntgenstrahlung und Radioaktivität führte außerdem bald zu diagnostischen und therapeutischen An- wendungen und somit zu weiteren Erkenntnissen. Aufschwung der Universitäten Mit dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt, den das 19. Jahrhundert mit sich brachte, kam auch der Aufschwung der Universitäten. Die meisten Univer- sitäten wurden verstaatlicht, somit oblag auch die Berufung von Professoren dem Staat. Vor allem in Europa, aber auch von amerikanischen Universitäten, wurde ein liberales Universitätsmodell basierend auf den Schriften von Wilhelm von Hum- boldt (1767–1835) umgesetzt. Das liberale deutsche Universitätsmodell stand für eine ganzheitliche Ausbildung, die sowohl Forschung als auch Lehre umfasste und im Kontext akademischer Freiheit, unabhängig von wirtschaftlichen und staatlichen Interessen, stattfinden sollte (Tenorth, 2017). Es erlaubte Hochschulen, ihre For- schungsgegenstände und die vorherrschenden theoretischen Auffassungen selbst zu bestimmen, was zur Ausdifferenzierung unterschiedlicher Ausbildungsschwer- punkte führte und den internationalen Austausch der Forschenden förderte. Der fakultative Aufbau der Universitäten jedoch hatte Bestand. Die Ausbildung an ei- ner theologischen, juristischen oder medizinischen Fakultät hatte ein klares Berufs- bild zur Folge, wohingegen sich verschiedenste Einzeldisziplinen an den philoso- phischen Fakultäten ausdifferenzierten. Die Philosophie erstreckte sich inhaltlich von der Mathematik über die Sprachwissenschaft bis hin zu den Geisteswissen- schaften und Pädagogik. Aufgrund der immer vielseitiger werdenden inhaltlichen Ausrichtung der Philosophie wurde es für die Lehrenden immer schwieriger, sich präzise Kenntnisse über all die unterschiedlichen Disziplinen anzueignen. Aus ei- ner Wissenschaft entwickelten sich viele Einzeldisziplinen, an die Stelle von Uni- versalgelehrten traten Spezialisten. Wichtige physiologische Erkenntnisse und der Einsatz mathematischer Methoden gehen auf diese Zeit zurück. Auch in den The- menbereichen der Psychologie und der Naturwissenschaften führte dies zu der Entwicklung zahlreicher neuer Theorien (Schönpflug, 2013). 31 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE 2.2.3 Die naturwissenschaftliche Neubegründung der Psycho- logie – Wegbereiter der experimentellen Psychologie Die Ausdifferenzierung der Philosophie in einzelne Disziplinen stellte die Psycho- logie vor die Frage, welches der Fachgebiete wissenschaftlichen Anforderungen genügte. Dies hatte die Neuausrichtung der Psychologie, die bisher auf subjekti- ve Bewusstseinszustände ausgelegt war, zur Folge. Eine wichtige Persönlichkeit in diesem Zusammenhang war der deutsche Philosoph, Psychologe und Pädago- ge Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Er beschäftigte sich intensiv mit der Mathematisierung der Psychologie und ging davon aus, dass auch Bewusstseins- inhalte genauso empirisch erforschbar seien wie die äußere Welt anderer Wis- senschaften. Seines Erachtens nach verfügten Vorstellungen – also die Inhalte des Bewusstseins – über einen „kraftähnlichen“ Charakter. Diese Kräfte können stärker und schwächer werden, sich mit anderen Kräften vereinen oder durch an- dere Kräfte gehemmt werden. In der Folge entwickelte er mathematische Modelle über die Statik und Mechanik der Vorstellungen und widerlegte damit die Annah- me Kants, dass die Psychologie nicht exakt darstellbar bzw. „mathematisierbar“ sei. Mit seinen Überlegungen stellte Herbart die Psychologie auf ein empirisches Fundament und war maßgeblich daran beteiligt, dass die Psychologie Einzug in die Naturwissenschaften hielt. Hermann von Helmholtz: Sinnesphysiologische Forschung Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Psychologie allgemein und auch das Denken und die Wahrnehmung immer mehr aus einem empiristisch-naturwissenschaftlich- en Standpunkt betrachtet. Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte der Neurophysio- loge und Mediziner Hermann von Helmholtz (1821–1894), indem er die physio- logischen und neuronalen Grundlagen des Sehvermögens untersuchte. In seinem Werk Handbuch der physiologischen Optik beschäftigte er sich vom anatomischen Aufbau des Auges über die Netzhautzellen und die Beschreibung der reizüber- tragenden Sehnerven bis hin zu dem Zusammenspiel des gesamten optischen Systems und der Farbwahrnehmung (siehe auch Kapitel 5.2.4). Dies ermöglichte erstmals die Unterteilung in verschiedene Sinne, die über verschiedene Sinnessys- teme Reize aufnehmen und stand im Widerspruch zur Theorie eines menschlichen „Gesamtsinns“ (Schönpflug, 2013). Neben weiteren bedeutenden Forschungsleistungen gilt Helmholtz als Pionier in der Erforschung der Nervenleitgeschwindigkeit, wobei diese Erkenntnisse nicht durch Schätzungen auf Basis eines theoretischen Modells, sondern durch phy- siologische Messungen auf apparativer Grundlage erfolgten. Helmholtz war über- zeugt, dass sowohl physiologische als auch anorganische Parameter beobachtbar und somit messbar seien. Er gelangte jedoch zu der Erkenntnis, dass in jeder Be- obachtung, selbst durch exakte Messung gestützt, immer auch mögliche Einflüsse der beobachtenden Person enthalten seien und frühere Erfahrungen, Erwartungen und Vorurteile die Beobachtung beeinflussen können. Diese Erkenntnis ist in der Psychologie heute noch von großer Bedeutung (vgl. Spektrum Lexikon der Neuro- wissenschaft, o. J.). 32 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Gustav Theodor Fechner: Psychophysik Einen weiteren Schritt in Richtung der Mes- sung von Wahrnehmung und psychischem Erleben unternahm Gustav Theodor Fech- ner (1801–1887). Er begründete die Psycho- physik, die sich in die äußere und innere Psychophysik teilt: Die äußere Psychophysik beinhaltet die Beziehung zwischen Sinnes- reiz (Physik) und Sinnesempfindung (Psycho- logie – dem subjektiven Empfinden). Die in- nere Psychophysik beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Körpererregung (Physio- logie) und Sinnesempfindung (Psychologie – dem subjektiven Empfinden). Somit wird im Rahmen der inneren Psychophysik die Bezie- hung der körperlichen Innenwelt zum Geisti- gen untersucht: Wie nehmen Menschen phy- siologische Veränderungen subjektiv wahr? Die äußere Psychophysik hingegen fokussiert Abbildung 2.9: Gustav Theodor sich auf die Beziehung der körperlichen Au- Fechner ßenwelt zum Empfinden, z. B. wie ein physi- kalischer Reiz subjektiv wahrgenommen wird (vgl. Schönpflug, 2013). In seinen Experimenten befragte Fechner Menschen hinsichtlich der Wahrneh- mung von physikalischen Größen, beispielsweise sollten sie Gewichtsmaße ver- gleichen und angeben, welches von zwei als schwerer empfunden wird. Diese Me- thode wurde als Methode der ebenmerklichen Unterschiede bezeichnet – heute wird dieses experimentelle Vorgehen als Grenzmethode bezeichnet (siehe auch Kapitel 5.2.2). Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem psychologischen Schwel- lenbegriff (also der Frage, wie stark ein Reiz sein muss, dass man diesen noch wahrnimmt) thematisierte Fechner zudem das Phänomen der unbewussten Wahr- nehmung. So gehörte er zu den Ersten, welche die Möglichkeit einer unbewussten Wahrnehmung nicht nur postulierten, sondern auf Basis physiologischer Experi- mente die Reizstärke eines nicht bewussten Stimulus mathematisch quantifizieren konnten. Fechner hat als erster Forscher die psychologische Theorieentwicklung konse- quent vom Experiment her betrieben. Er wird daher vielfach als Begründer einer ei- genständigen, naturwissenschaftlich orientierten Psychologie angesehen. Für ihn war die Psychophysik jedoch nur die notwendige „materielle“ Untermauerung einer philosophischen Theorie der Seele. Eine Trennung von Psychologie und Philoso- phie lag Fechner fern. Seine Erkenntnisse waren maßgeblich für die Entwicklung der Psychologie, wobei er die Gründung der naturwissenschaftlichen Psychologie als eigenständige Disziplin nicht intendierte. 33 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Wilhelm Wundt und die experimentelle Psychologie Den wahrscheinlich bedeutendsten Beitrag zur Entwicklung der modernen Psychologie liefer- te Wilhelm Wundt (1832–1920; siehe Abbil- dung 2.10), der im Jahr 1879 das erste aus- gewiesene Labor für experimentelle Psy- chologie an der Universität Leipzig gründe- te und damit das aufkommende Gebiet der Psychologie revolutionierte. Zu Beginn wurde das Labor von ihm als Privateinrichtung ge- führt und war mit von Wundt persönlich ange- schafften Instrumenten bestückt. Es etablierte sich aber bald zu einem mit wissenschaftlichen Geldern ausgestattetem Labor. Wundt war ein Verfechter unterschiedlichster experimenteller Methoden und legte Wert darauf, die Psycho- logie als empirische Geisteswissenschaft – in der Philosophie verankert – zu betrachten. Mit Abbildung 2.10: Wilhelm Wundt der Einrichtung seines Labors ging die Ausbil- dung von Doktoranden einher, von denen ei- nige, beeinflusst von Wundts Ideen, selbst eigene Labore rund um den Globus gründeten (siehe ab Seite 35). In seinen Forschungsarbeiten beschäftigte er sich mit der Wahrnehmung und Verarbeitungsgeschwindigkeit von Reizen in Abhängigkeit unterschiedlicher Quan- tität und Qualität. Ein zentraler Begriff ist die Apperzeption – die Aufnahme des Inhaltes einer Wahrnehmung, einer Erinnerung oder eines Denkprozesses. Dies kann aktiv und willentlich oder auch passiv und unvorbereitet geschehen. Die Auf- merksamkeit auf Sinneseindrücke, Gefühle, Vorstellungen usw. ermöglicht „schöp- ferische Synthese“, in der durch Verbindung, Verschmelzungen, Verdichtungen etc. qualitativ neue Gebilde entstehen, die durch willentliche Funktion in den Fokus des Bewusstseins kommen (vgl. Fahrenberg, 2012). Nach Wundt erforscht die – vorwiegend experimentell betriebene – physiologi- sche Psychologie die elementaren Tatbestände des Seelischen. Komplexere Tat- bestände wie Denken, Sprache und Sitten sind nach Wundts Meinung allerdings dem Experiment nicht zugänglich. In diesem Sinne veröffentlichte er ab 1900 das zehnbändige Werk Völkerpsychologie, das sich mit der Entwicklung des mensch- lichen Geistes und dem Entstehen allgemeiner geistiger Erzeugnisse beschäftigt und das zur damaligen Zeit bekannte kulturpsychologische Wissen zusammen- fasst. Wundts Konzeption war also multiperspektivisch dahingehend, dass er sowohl das experimentelle Paradigma als auch das interpretative Paradigma (z. B. Völ- kerpsychologie) berücksichtigte. In diesem Sinne setzte er einerseits eine expe- 34 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE rimentelle Strategie zur kontrollierten Selbstbeobachtung (Introspektion, siehe In- fobox 2.3) und andererseits die Methode der Inhaltsanalyse (Vergleich und Inter- pretationen von geistigen Objektivationen der kulturellen Gemeinschaft) ein. Somit würde die Reduzierung Wundts Beitrag zur Wissenschaft lediglich auf die experi- mentelle Psychologie seinem Schaffen nicht gerecht werden. Infobox 2.3: Introspektion Der Begriff Introspektion bedeutet „Innenschau“– ein Vorgehen, das mitunter auch als Selbstbe- obachtung beschrieben wird und dazu dient, Wissen über die eigenen gegenwärtigen (geistigen) Zustände zu erlangen, ohne sich auf externe Quellen wie etwa andere Personen stützen zu müssen. Es kann sich dabei um körperliche Empfindungen (z. B. Schmerzen), Sinneserfahrun- gen (z. B. visuelle Eindrücke), Einstellungen (z. B. Überzeugungen) oder Emotionen (z. B. Trauer) handeln (Barz, 2019). Sein neuartiges und systematisches Vorgehen in der experimentellen Psycho- logie machte Wundt neben seinem Schüler, Edward Titchener, auch zum Mitbe- gründer der ersten psychologischen Schule: dem Strukturalismus, der sich mit der Struktur des menschlichen Geistes auseinandersetzt (siehe Infobox 2.4). Zu den Schülern von Wilhelm Wundt, die in verschiedensten Bereichen der Psychologie einflussreiche Positionen einnahmen, zählen unter anderem: James McKeen Cattell: Mitbegründer der Testpsychologie Oswald Külpe: Begründer der Würzburger Schule der Denkpsychologie Ernst Meumann: Begründer der Pädagogischen Psychologie Hugo Münsterberg: zentrale Figur in der Arbeits- und Wirtschaftspsychologie Lightner Witmer: Gründer der ersten psychologischen Klinik in den USA (in der nicht nur medizinisches Fachpersonal, sondern auch Psycholog:innen arbei- ten durften) und Leitfigur der Klinischen Psychologie Infobox 2.4: Strukturalismus und Funktionalismus Leitgedanken des Strukturalismus sind, dass ein Mensch über subjektive Erfahrungen verfügt und sich die Struktur des Geistes aus grundlegenden (strukturierten) Elementen zusammen- setzt, die miteinander in Verbindung stehen. Menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen werden nicht als isolierte Einzelerscheinungen, sondern auf Basis eines systematischen Zusam- menhangs, der ihre Struktur bestimmt, betrachtet (Kaminski, 2022). Die Gegenströmung zum Stukturalismus bildet der Funktionalismus. Beim Funktionalismus steht die Erklärung der Funk- tion des Bewusstseins beziehungsweise innerer mentaler Zustände im Vordergrund. Die Psyche wird als funktionalistisches System betrachtet, das im Dienst von Bedürfnissen steht und einer entsprechenden Zweckbestimmung folgt (vgl. Brüntrup, 2012) 35 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Zeitgenossen Wundts und deren Einflüsse auf die moderne Psychologie Ein Zeitgenosse von Wundt war der einflussreiche Psychologe und Mitbegründer der experimentellen Psychologie Hermann Ebbinghaus (1850–1909). Er widme- te sich der Erforschung des Gedächtnisses. Sein Interesse galt dabei vor allem Lern- und Vergessensvorgängen. Angelehnt an die psychophysischen Experimen- te Fechners formulierte Ebbinghaus die logarithmischen Kurven des Lernens und Vergessens. Ebbinghaus selbst war in Berlin tätig und für sein präzises methodi- sches Vorgehen bekannt, das zur damaligen Zeit ein Novum darstellte. Er entwi- ckelte zum Beispiel die Untersuchungsmethode mit sogenannten sinnlosen Silben anhand derer er im Zuge seiner Experimente Fehlerquellen, die sich aus Erfah- rung, Wissen und Inhalten ergeben, zu minimieren versuchte, um Lern- und Ver- gessensprozesse exakter untersuchen zu können (siehe auch Kapitel 5.4.5). Eine zentrale Rolle für die Anfänge der Psychologie in den USA und im Weite- ren für die wissenschaftliche Psychologie weltweit spielte William James (1842–1910). James etablierte das Fach Psychologie an US-amerikanischen Uni- versitäten und gilt als Begründer der amerikanischen Psychologie als Wissen- schaft. Er lieferte zahlreiche wissenschaftliche Beiträge, welche die Psychologie prägten. Unter anderem beschäftigte sich William James mit der Funktion des menschlichen Bewusstseins, Emotionen und der Wahrnehmung und emotionalen Interpretation von Reizen sowie der Theorie des „Selbst“, das er in Bewusstsein („I“) und reflektierte Identität („Me“) unterteilte. Darüber hinaus gilt er als wichtiger Vertreter des Funktionalismus (siehe Infobox 2.4). Geisteswissenschaftl. Konzeptionen der Psychologie – eine Gegenposition zur naturwissenschaftlich-experimentellen Psychologie Gegen den „erklärenden“ Ansatz der naturwissenschaftlich orientierten Psycho- logie entwickelte Wilhelm Dilthey (1833–1911) eine „beschreibende und zerglie- dernde Psychologie“, die später auch als „verstehende“ oder „geisteswissenschaft- liche“ Psychologie bezeichnet wurde. Ihr Ziel ist das Verstehen des Seelischen aus Motivations- und Sinnzusammenhängen – anstatt Erklärung durch Rückfüh- rung auf Kausalzusammenhänge. Ihre Methode, die Hermeneutik, bezeichne- te ursprünglich die Entschlüsselung von Gleichnissen in der Theologie. Schleier- macher (1977) versteht unter Hermeneutik, „die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen“. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Ideen über eine beschreibende und zer- gliedernde Psychologie (1894) kam es zur direkten Auseinandersetzung zwischen Dilthey und den Experimentalpsychologen: Seitens der Wundtschen Schule ver- teidigte Hermann Ebbinghaus den experimentellen Ansatz mit der Schrift Über er- klärende und beschreibende Psychologie (1896), in der er Diltheys Ansichten als „seltsame Polemik“ abtat, die „durchaus gegenstandslos“ sei. Die beiden Positio- nen markieren eine charakteristische Spaltung der deutschsprachigen Psychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 36 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Gründung psychologischer Fachgesellschaften und Fachzeitschriften Als weiterer zentraler Schritt der Etablierung von Psychologie als eigenständige Wissenschaft ist die Gründung von Fachgesellschaften und Fachzeitschriften zu betrachten. Im Jahr 1892 kam es durch Granville Stanley Hall in den USA zur Grün- dung der American Psychological Association.C Im Jahr 1904 folgte in Deutschland die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.D Beide Fachgesell- schaften existieren bis heute und unterstützen das Ziel, die Verbreitung der wis- senschaftlichen Psychologie zu fördern. Zwischen 1901 und 1910 folgten diverse weitere europäische Fachgesellschaften. Psychologische Forschungsarbeiten wurden als wissenschaftliche Artikel ab 1881 in der Zeitschrift Philosophische Studien veröffentlicht. Spezifisch psycholo- gische Fachzeitschriften, zum Beispiel das American Journal of Psychology (1887), die Zeitschrift für Psychologie (1890) oder das Psychological Review (1894) wur- den sukzessive ins Leben gerufen und zählen noch heute zu wichtigen Fachzeit- schriften der Psychologie. 2.3 Psychologie während des Nationalsozialismus Die politische Ideologie während des Nationalsozialismus ging auch an der Psy- chologie des 20. Jahrhunderts nicht spurlos vorbei und machte sich sowohl in der akademischen als auch der angewandten Psychologie bemerkbar (Geuter, 1985; Graumann, 1985). Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Emigration Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 veränderte sich die Situation der akademischen Psychologie aufgrund der Rassendiskriminierung an deutschen und österreichischen Universitäten drastisch (Lück & Guski-Leinwand, 2014). Die Regelungen für Studierende waren politisch und rassistisch diskriminierend. Zu- lassungen wurden aufgrund der politischen Ausrichtung der Studierenden verwei- gert. Jüdischen Studierenden beziehungsweise Studierenden mit jüdischen Eltern oder Großeltern wurde die Inskription verwehrt, was mit einem Abfall der Dokto- ratsabschlüsse einherging. Durch einen Gesetzeserlass, der die Entlassung von Staatsbeamten jüdischer Abstammung und politisch unerwünschter Personen er- möglichte, verloren etliche namhafte Psychologen und Psychologinnen ihre Pro- fessur an deutschen Universitäten, unter anderen: Charlotte Bühler (eine bedeu- tende Entwicklungspsychologin), Max Wertheimer (siehe auch Kapitel 2.4.2) und William Stern. Manche legten bereits vor Gesetzesbeschluss ihr Amt nieder und emigrierten in die USA, wie beispielsweise Kurt Lewin (siehe auch Kapitel 2.4.2). Der dadurch entstandene „Wissensverlust“ bedeutete beachtliche Einbußen für die damalige universitäre, deutschsprachige Psychologie (Schönpflug, 2017). C American Psychological Association: https://apa.org D Deutsche Gesellschaft für Psychologie: https://www.dgps.de 37 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Nach und nach war der Einfluss der Nationalsozialisten auch in den Lehrinhal- ten an den Universitäten zu erkennen. Wolfgang Köhler (siehe auch Kapitel 2.4.2) widersetzte sich den NS-Praktiken und protestierte beispielsweise gegen die Ent- lassung jüdischer Professoren. Jedoch entschloss auch er sich – nachdem sein In- stitut Zielscheibe nationalsozialistischer Angriffe geworden war – 1935 in die USA zu emigrieren. Sigmund Freud (siehe auch Kapitel 2.4.4) emigrierte 1938 nach London, nachdem seine Schriften bereits 1933 in Berlin verbrannt worden waren. Insgesamt emigrierten circa 35 Prozent der Universitätslehrenden und immerhin 15 Prozent der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie größtenteils in die USA. Viele wurden inhaftiert (z. B. Viktor Frankl, Heinrich Düker) oder sogar ermordet (z. B. Otto Selz, Kurt Huber) (Graumann, 1985). Auch die Ausbildung an den Universitäten selbst wurde umstrukturiert. Ziel der neuen Diplomordnung war einerseits der Paradigmenwechsel von freigestalte- ten theoretischen und experimentellen Studien hin zu stärkerer Praxisorientierung des Curriculums sowie andererseits der Wechsel von einer akademischen in eine staatliche Steuerung. In Prüfungsfächern wie Charakterologie oder Genetischer Psychologie wurde eine bevorzugte Behandlung nationalistischer und antisemiti- scher Ansichten gelehrt. Mehr und mehr Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Psychologie traten aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten aus der Ge- sellschaft aus, andere Mitglieder wurden aufgrund ihrer jüdischen Abstammung von Kongressen ausgeschlossen (Schönpflug, 2017). Inhaltliche Neuausrichtung in der NS-Zeit Vor allem die Rassenpsychologie geriet während dieser Zeit in den Forschungs- fokus der Psychologie. Diese verortete geistig-seelische Unterschiede zwischen Menschen in Abhängigkeit der Rassenzugehörigkeit. Psychologische Eigenschaf- ten (z. B. Intelligenz) verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuzuordnen, war zwar keine Neuheit der wissenschaftlichen Psychologie, jedoch kam in der Zeit des Na- tionalsozialismus eine Bewertung dieser Untersuchungen hinzu, und nicht arische Gruppierungen wurden als „minderwertig“ klassifiziert, wohingegen die Überlegen- heit der „nordischen“ und „westischen“ Rasse propagiert wurde (Geuter, 1985). Einen Aufschwung erlebte vor und während des zweiten Weltkrieges die Psy- chologische Diagnostik, da im Bereich der Wehrmacht Leistungstests zur Auslese von Luftwaffensoldaten und potentiellen Führungskandidaten entwickelt werden mussten5. Hier zeichnete sich erstmals die Anwendung von Psychologie in der Praxis ab. Dies führte auch zur erstmaligen Einführung einer Diplomprüfungsord- nung für Psychologie an den Hochschulen (Lück & Guski-Leinwand, 2014). Weiterentwicklungen nach dem Krieg Neben der Vertreibung wichtiger psychologischer Persönlichkeiten aus Deutsch- land und Österreich und der Zerstörung von Instituten und Laboratorien während 5 Dies war nicht nur auf Deutschland beschränkt. In den USA kam es schon im Zuge des ersten Weltkriegs zu einer massiven Stärkung des Stellenwerts der psychologischen Diagnostik, wodurch zahlreiche Entwicklungen angestoßen wurden (Bandalos, 2018). 38 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE des Krieges, kam es nach Kriegsende auch zur Auflösung der Deutschen Gesell- schaft für Psychologie durch die Besatzungsmächte. Die einst emigrierten Profes- sorinnen und Professoren blieben aus – vielfach hatten sie ihre Forschung in den Zielländern bereits erfolgreich fortgeführt. Nichtsdestotrotz begann auch auf insti- tutioneller Ebene der Wiederaufbau. So kam es 1946 zur Gründung des Berufsver- bandes deutscher Psychologen als Berufsvertretung für praktisch tätige Psycho- log:innen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGP) wurde ab 1947 in den einzelnen Besatzungszonen wieder gegründet. Die Österreichische Gesellschaft für Psychologie (ÖGP) wurde 1993 als Ver- tretung der wissenschaftlich arbeitenden Psychologen und Psychologinnen Öster- reichs gegründet. Zuvor waren wissenschaftlich tätige Psycholog:innen aus Ös- terreich in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie organisiert, die sich für alle deutschsprachigen wissenschaftlich arbeitenden Psycholog:innen als interna- tionale Forschungsgesellschaft versteht und verstanden hat. Nachdem sich die Arbeit dieser Personen über die Jahre aber immer mehr den im jeweiligen Land unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen und gesellschaftlichen Notwendig- keiten anpassen musste, wurde es nötig, dass die einzelnen Fachgesellschaften auch innerhalb des Landes stärker aktiv wurden. Dadurch wurde die DGP immer mehr auch zu einer Plattform für Entwicklungen und Aufgaben der Psychologie in Deutschland. Nachdem das für andere Nationen wie Österreich oder der Schweiz nur bedingt relevant war und ähnliche Aufgaben innerhalb der eigenen Nation ebenfalls zu bearbeiten waren, wurden nationale Verbände nötig und gegründet. 2.4 Ausdifferenzierung der Wissenschaft: Paradig- men und Schulen Im 20. Jahrhundert entwickelte sich eine Vielzahl unterschiedlicher psychologi- scher Perspektiven und damit einhergehende Sichtweisen. Es entstanden unter- schiedliche psychologische Paradigmen und Schulen (siehe Infobox 2.1 und Info- box 2.5). Im Folgenden werden auszugsweise fünf der vorherrschenden Richtun- gen des 20. Jahrhunderts dargestellt: die Würzburger Schule die Gestaltpsychologie der Behaviorismus die Tiefenpsychologie die Kognitionspsychologie Infobox 2.5: Psychologische Schulen Eine psychologische Schule ist eine, meist von einer bestimmten Person ausgehende, Denk- richtung, welche die Entwicklung der psychologischen Forschung in eine „neue“ Richtung mit sich brachte und dadurch eine neue wissenschaftliche Tradition schuf. Angehörige einer bestimmten Schule teilen die jeweiligen Ansichten und Lehrmeinungen, was oft zu einem starken kollegialen Zusammenhang und einer klaren Abgrenzung zu Vertreter:innen anderer Schulen führt. 39 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE 2.4.1 Die Würzburger Schule Die Würzburger Schule wurde begründet von Oswald Külpe (1862–1915, ein Schüler von Wundt). Seine zentrale Fragestellung lautete: „Wie laufen Denkvor- gänge ab?“ Die Experimente wurden unter Verwendung von methodisch kontrol- lierter Introspektion durchgeführt, wobei diese Methode – im Unterschied zu Wundt – auf höhere geistige Funktionen ausgedehnt wurde. Den Proband:innen wurden „Denksportaufgaben“ bzw. Redensarten zur Interpretation vorgegeben, zum Bei- spiel: „Jedem das Seine geben, das wäre Gerechtigkeit wollen und das Chaos erreichen. Ist das richtig?“ Anschließend sollten die Proband:innen ihren zur Lö- sung eingeschlagenen Gedankenweg beschreiben. Wundt kritisierte die Methode der Würzburger als „Ausfrageexperimente“ bzw. Scheinexperimente, weil er davon ausging, dass ausschließlich elementare psychische Prozesse der Erfassung im Experiment zugänglich seien (z. B. einfache Reaktionen auf einfache akustische Stimuli). Die Würzburger Schule übte einen prägenden Einfluss auf die Gestaltpsycho- logie aus und kann neben dieser ebenfalls als Wegbereiterin der Kognitiven Psy- chologie gesehen werden (Lück & Guski-Leinwand, 2014). 2.4.2 Die Gestaltpsychologie Die Gestaltpsychologie hatte noch vor dem Aufkommen der Kognitiven Psychologie ihren Höhepunkt in den 1920er und 1930er Jah- ren und wird auch als Frankfurter bzw. Berli- ner Schule der Gestaltpsychologie bezeichnet. Es handelt sich hierbei vorherrschend um eine Wahrnehmungslehre bzw. Gestalttheorie, die sich der Frage widmet, wie Menschen Gestal- ten erleben und wahrnehmen (siehe beispiels- weise Abbildung 2.11). Die vorherrschende Annahme der Gestaltpsychologie ist, dass die mentale Repräsentation von Objekten struktu- Abbildung 2.11: Die objektiv glei- riert erfolgt, also Objekte tendenziell anders chen Reize werden in unter- wahrgenommen werden, als sie in der Wirk- schiedlichen Kontexten inhaltlich lichkeit repräsentiert sind. anders wahrgenommen Einer der bekanntesten Gestaltpsychologen war Max Wertheimer (1880–1943). Er ging davon aus, dass sich in den menschlichen Sinneseindrücken das Ganze qualitativ von der Summe seiner Einzelteile unterscheidet. Basierend auf den so- genannten „Ordnungsprinzipien“ fügen sich die Einzelteile zu einem Ganzen zu- sammen. Jedes Element muss also in Bezug auf alle anderen Elemente interpre- tiert werden. Die Ordnungsprinzipien nannte Wertheimer Gestaltfaktoren. Heute sind diese unter dem Begriff Gestaltgesetze bekannt (siehe Abbildung 2.12). Für Wertheimer waren Gestaltgesetze des Bewusstseins ein sich selbst erfüllendes Naturprinzip, da es sich bei der Anwendung der Gestaltgesetze nicht um bewusste 40 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE (a) Gesetz der Nähe – durch die räumliche (b) Gesetz der Ähnlichkeit – ähnlichere For- Nähe werden zwei Linien als zusammenge- men werden als zusammengehörig wahrge- hörig wahrgenommen nommen (c) Gesetz der guten Fortsetzung – hier wer- (d) Gesetz der Geschlossenheit – es wer- den zwei sich kreuzende gepunktete Lini- den zwei sich überlappende, geschlossene en wahrgenommen anstatt einzelner Punkte Kreise wahrgenommen oder geknickter Linien Abbildung 2.12: Die Gestaltgesetze beschreiben Ordnungsprinzipien des Denkens Denkprozesse handelt. Das typische, gestaltpsychologische Verständnis mensch- licher Wahrnehmung ist: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ oder korrekter: „Das Ganze ist etwas Anderes als die Summe seiner Teile“, worin die Grundannahme zum Ausdruck kommt, dass sich eine Gestalt in ihrer Gesamtheit qualitativ von der Summe der Einzelteile unterscheidet, da die Gesamtheit andere, zusätzliche Eigenschaften hervorbringt. Zusätzlich zu der Vielzahl an Wahrnehmungsexperimenten führten die Vertre- ter der Gestaltpsychologie Studien zum Gedächtnis, zum Problemlöseverhalten, zur Motivation und zum Lernen durch. Weitere wichtige Vertreter der Berliner Schu- le waren Wolfgang Köhler (1887–1967), Kurt Koffka (1886–1941) und Kurt Lewin (1890–1947). Die von Kurt Lewin konzipierte Feldtheorie versucht, absichtliche und zielge- richtete Handlungen eines Menschen zu erklären. Im Zuge dieser Theorie postu- lierte Lewin, dass das Verhalten eine Funktion von der Person und ihrer Umwelt (situativer Einfluss) darstellt. Lewin erweiterte die Gestalttheorie zu einer „sozia- 41 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE len“ Feldtheorie, bei der die Persönlichkeit in einem Feld sozialer Kräfte und Span- nungen steht. Er verstand den Lebensraum als Gesamtheit aller Tatsachen, die das Verhalten eines Individuums in einem gegebenen Augenblick bestimmen. Als Beispiel (in Anlehnung an Lück & Guski-Leinwand, 2014): In der Umgebung einer Person existieren viele Gebilde und Ereignisse physikalischer (z. B. Tische, Stühle etc.) und sozialer (Freunde etc.) Natur. Kinder erfahren die Eigenschaft die- ser Dinge in der frühen Kindheit. Manche Dinge reizen zum Essen, andere zum Klettern. Diese fordernden Umwelttendenzen nannte Lewin Aufforderungscharak- ter bzw. Valenz. Die Art und Stärke eines Aufforderungscharakters werden durch die momentanen Bedürfnisse der Person bestimmt. Der Lebensraum des Individu- ums ist in stetiger Veränderung. Positive Regionen (entspricht positiven Feldern), z. B. das Bestehen einer Prüfung, sind nur zu erreichen, wenn negative Valenzen, z. B. Verzicht auf Freizeitaktivitäten wegen Prüfungsvorbereitung, durchschritten werden. Die Feldtheorie bietet einen allgemeinen theoretischen Rahmen für verschiede- ne Anwendungsfelder der Psychologie, wie zum Beispiel handlungs- und motivati- onspsychologische Fragestellungen im Bereich Pädagogik (Schulze, 2002), der kli- nischen Psychologie (Stemberger, 2016) oder Organisationsberatung (Bachmann & Möller, 2020). Die Gestaltpsychologie lieferte wichtige und zentrale inhaltliche Beiträge zur Psychologie. Dennoch gelang es den Vertreter:innen der Gestaltpsychologie nicht, einflussreiche Lehrstühle oder Einfluss im institutionellen Bereich zu erlangen: In Deutschland war der Gegenspieler der Wundtsche Elementarismus, während die emigrierten Vertreter:innen der Gestaltpsychologie in den USA mit dem Behavio- rismus einen sehr mächtigen „Gegner“ hatten. 2.4.3 Behaviorismus Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand in den USA der Behaviorismus und parallel dazu in Russland die Reflexologie – zwei Richtungen die weitgehend de- ckungsgleiche Ansichten vertraten. Der Wundtsche Strukturalismus und Elementa- rismus wurde von den Behavioristen genauso abgelehnt wie der Funktionalismus, da bei diesen Schulen die Forschungsmethoden zu „subjektiv“ waren. Der Begriff „Behaviorismus“ leitet sich vom englischen Wort „behavior“ (Ver- halten) ab. Im Fokus steht das beobachtbare Verhalten als Reaktion auf äußere Reize – wie Reize aus der Umwelt das Verhalten beeinflussen. Darüber hinaus sind auch Verhaltensanpassungen an die jeweilige Situation ein zentrales Thema im Behaviorismus. Hauptbegründer der behavioristischen Perspektive war John B. Watson (1878–1958; Abbildung 2.13; siehe auch Kapitel 5.3.3). Woher kamen die Impulse zum Paradigmenwechsel von der direkten Unter- suchung des Bewusstseins zur Untersuchung ausschließlich des beobachtbaren Verhaltens? Hier sind nach Cox (2019) zu nennen: die Forderung nach einer für die Gesellschaft nützlichen Psychologie, die Erfolge der europäischen Physiologie Mitte des 19. Jahrhunderts und 42 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE die Forderungen des Positivismus (siehe Kapitel 2.2.2). Der Erfolg des Behaviorismus wird einerseits dadurch erklärt, dass er Studien aus der experi- mentellen Tierforschung bis hin zur Messung von Reflexen bei Kindern und Erwachsenen umfass- te. Andererseits war der Aufstieg des Behavioris- mus geprägt durch die sich rasch entwickelnden industriellen Gesellschaften und dem damit ver- bunden sozialen Fortschritt, welcher zunehmend im Zusammenhang mit moderneren Technologien und einem wissenschaftlichen Lebensverständnis gesehen wurde (Shiraev, 2015). Einfache Modelle und Erklärungen sollten dazu beitragen, die gesell- schaftliche Realität zu verbessern. Watsons Untersuchungen wurden im Weite- ren von zahlreichen Forschenden aufgegriffen und hatten großen Einfluss auf die Praxis. Watson Abbildung 2.13: John B. Wat- selbst schlussfolgerte aufgrund seiner Studien, son dass Verhalten eine Reaktion auf einen äußeren Reiz darstellte und eine Verbin- dung zwischen zwei an sich unabhängigen Reizen gebildet werden könne. Auch der in Russland forschende Mediziner Iwan Pawlow (1849–1936), eine zentrale Figur der Reflexologie, stellte bei der Arbeit mit Hunden Ähnliches fest. Er führte zahlreiche Studien durch, in denen er das Prinzip der Klassischen Konditionierung (siehe Kapitel 5.3.3) nachwies, und lieferte damit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung behavioristischer Lerntheorien. Edward Thorndike (1874–1949) forschte an Reiz-Reaktions-Verknüpfungen und stellte fest, dass sich die Verknüpfungsstärke auf die Reaktion auswirkt: Die Verhaltensreaktion ist umso wahrscheinlich, je stärker die Verbindung zwischen den beiden Reizen ist. Aufbauend auf Thorndikes Untersuchungen entwickelte Burrhus F. Skinner (1904–1990) eine weitere Lerntheorie, das Prinzip der Ope- ranten Konditionierung. In dieser wird die Wichtigkeit der Verbindung zwischen Reiz, Reaktion und die auf die Reaktion folgenden Reize beschrieben. Eine Re- aktion kann einen bekräftigenden Reiz, aber auch einen entkräftenden Reiz nach sich ziehen. Bei bekräftigenden Folgereizen wird die Verbindung zwischen Ver- haltensreaktion und ursprünglichem Reiz gestärkt und die zukünftige Auftretens- wahrscheinlichkeit des Verhaltens wird höher, bei entkräftenden Reizen wird diese jedoch geschwächt und die Wahrscheinlichkeit, dass dasselbe Verhalten erneut gezeigt wird, wird geringer (siehe auch Kapitel 5.3.4). Kritische Stimmen entgegneten der behavioristischen Sichtweise, dass diese rein auf die Verhaltenskomponente fokussiert und dabei völlig außer Acht lässt, was zwischen dem Eintreten eines Reizes und der Verhaltensreaktion passiert (die mentalen Zustände des Menschen, z. B. Denkprozesse). Diese Wissenslücke wird als „Black Box“ bezeichnet (siehe Abbildung 2.14). 43 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Alle behavioristischen Überlegun- gen gipfelten 1952 in der Beschrei- bung einer allgemeinen Verhaltens- theorie von Clark L. Hull (1884– 1952; nach Schönpflug, 2013): Dar- in enthalten war, dass Reiz und Re- aktion elementare Komponenten von Verhalten darstellen, und sich ei- ne Kombination der beiden zu ei- ner Gewohnheit ausbildet. Eine be- kräftigende Wiederholung dieser Ver- Abbildung 2.14: Im Behaviorismus sind bindung führt zur Festigung derselbi- die mentalen Prozesse, die sich zwi- gen. Bei der Häufigkeit der Durch- schen einem Reiz und der darauf folgen- führung einer Gewohnheit spielt auch den Reaktion abspielen, nicht Teil des die Triebstärke, der Anreizwert der Be- Forschungsgegenstandes. Diese Exis- lohnung und die Intensität des Rei- tenz der sogenannten „Black Box“ wird zes eine Rolle. Diese Faktoren er- einfach akzeptiert. Der Neobehavioris- gänzend zu betrachten, erweiterte mus hingegen bezieht die Verarbeitung das behavioristische Reiz-Reaktions- in der Black Box als „Organismusvaria- Schema um eine „mentale Varia- ble“ in die theoretischen Überlegungen ble“ und wird als Neobehaviorismus mit ein. bezeichnet. Der Behaviorismus erfreute sich starker Beliebtheit – auch über die amerika- nischen Grenzen hinaus. Jedoch schlich sich bis zum Ende der 1960er Jahre ein langsames Ende (z. B. erkennbar durch sinkende Publikationszahlen) der radikal behavioristischen Sichtweise ein, wenngleich mit den Konzepten der klassischen und operanten Konditionierung die Psychologie als Wissenschaft nachhaltig ge- prägt wurde. 2.4.4 Tiefenpsychologie Unter dem Begriff Tiefenpsychologie werden psychologische und psychotherapeu- tische Konzepte zusammengefasst, in denen unbewusste seelische Vorgänge den zentralen Aspekt für menschliches Erleben und Verhalten darstellen. Der Wiener Arzt Sigmund Freud (1856–1939; siehe Abbildung 2.15) zählt zu den berühmtesten und einflussreichsten Vertretern der Tiefenpsychologie. Er be- gründete mit der Psychoanalyse eine eigene Schule (siehe Infobox 2.5) innerhalb der tiefenpsychologischen Perspektive, in der emotionale Reaktionen auf Kind- heitserfahrungen und unbewusste Denkprozesse eine zentrale Rolle einnahmen. Freud definierte das Bewusste und das Unbewusste als zwei getrennte Instan- zen und ging davon aus, dass Ängste durch das Leben in der Zivilisation entstehen und viele psychische Probleme auf die Verdrängung von Ängsten zurückgehen. In seiner Theorie waren die Triebbefriedigung und das Lustprinzip zentrale Themen – beides psychodynamische Kräfte, die auf Grund gesellschaftlicher Konventionen 44 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE in der sozialen Gruppe nicht ausgelebt werden dürfen. Freud prägte in diesem Zusammenhang zahlreiche Begriffe wie den Ödipuskomplex, der die Rivalität ge- genüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil aufgrund der Liebe zum gegenge- schlechtlichen Elternteil beschreibt. Sein Instanzenmodell der Persönlichkeit beschreibt, wie das Es (das Unbewusste, trieb- gesteuert und dem Lustprinzip folgend), das Über-Ich (das soziale Regulativ, internalisier- te Normen) und das Ich (Vermittler zwischen Es und Über-Ich) miteinander in Konflikt ste- hen (siehe auch Kapitel 8.2.2). Um Ängste abzuwehren, bedient sich das Ich verschie- dener Abwehrmechanismen, wie zum Beispiel der Verdrängung, die angsterregende Gefüh- le oder Gedanken aus dem Bewusstsein ver- bannt. Freud ging davon aus, dass die Ich- induzierten Abwehrfähigkeiten nachts geringer wären, weshalb sich die tagsüber verdrängten Inhalte in Form von Träumen ihren Weg ins Bewusstsein bahnen können. Freuds Ideen, die auf der Arbeit mit psychisch kranken Pa- Abbildung 2.15: Freud hatte mit tient:innen gründeten, hatten nicht nur großen seiner Psychoanalyse nachhalti- Einfluss auf die wissenschaftliche Psycholo- gen Einfluss auf die Behandlung gie, sondern auch auf die damalige Behand- psychischer Erkrankungen lung psychisch Erkrankter – also auch auf die Praxis. Neben Sigmund Freud zählen Alfred Adler (1870–1937) und Carl Gustav Jung (1875–1961) zu den berühmtesten Vertretern der Tiefenpsychologie. Alfred Adler begründete die Individualpsychologie, die sich in ihren Grund- zügen von Freuds Fokussierung auf die Sexualität abwandte und stattdessen neu- rotische Verhaltensformen als Überkompensation von individuellen Unzulänglich- keiten verstand. Als Motivation für die Überkompensation sah Adler das Streben des Individuums nach Macht, Überlegenheit und Anerkennung im sozialen Umfeld. Dieses Geltungsstreben würde tendenziell zu einer asozialen Gesellschaft führen. Adler nahm daher an, dass das Geltungsstreben durch das Gemeinschaftsgefühl kompensiert wird. Dieses wiederum entsteht aus der Erfahrung der Geborgenheit in der Mutterbeziehung und in weiterer Folge im Rahmen der schulischen Soziali- sation. C. G. Jung war der Begründer der Analytischen Psychologie, deren Themen neben unbewussten Aspekten der Psyche, die in seelischen Erkrankungen zum Ausdruck kommen, auch die gesunde, schöpferische Entfaltung des Menschen sind. Die Libido ist für Jung eine allgemeine Lebensenergie und nicht nur sexuelle Triebenergie wie bei Freud. Im Rahmen der Theorie vom kollektiven Unbewussten 45 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE nehmen für Jung Traumsymbole eine zentrale Position ein. Das kollektive Unbe- wusste stellt ein Reservoir der eigenen Erfahrungen als Spezies Mensch im Sinne einer Art Wissen, mit dem alle Menschen geboren werden, dar. Ein weiterer zentra- ler Begriff in Jungs Lehre ist der Begriff des Archetypus, welcher sich auf Vorstel- lungen und Urbilder bezieht, die in Märchen und Mythen und auch Träumen ihren Ausdruck finden. Beispielsweise die Magna Mater – die Vorstellung einer schüt- zenden (positiv) und zugleich vereinnahmenden (negativ) Mutter (Jung, 1948). Durch Forscher:innen, wie beispielsweise Karen Horney oder Erich Fromm, wurden Freuds psychoanalytische Theorien aufgriffen und weiterentwickelt – die Neopsychoanalyse spaltete sich von der klassischen Psychoanalyse ab. Diese Neuausrichtung der Psychoanalyse betont weniger das Studium der menschlichen Triebe, sondern mehr die Auseinandersetzung mit der Umgebung des Menschen, den familiären und sozialen Gegebenheiten sowie dessen Sehnsucht, sich jeman- dem zugehörig zu fühlen als ein grundlegendes Bedürfnis und Quelle neurotischer Entwicklungen (Dührssen, 1979). 2.4.5 Kognitive Wende Im Jahr 1948 trafen sich Wissenschafter:innen aus verschiedenen kognitionswis- senschaftlichen Disziplinen (Psychologie, Informationstheorie, Linguistik, Philoso- phie, Neurowissenschaften und Kybernetik) im Rahmen eines von der Hixon-Stif- tung finanzierten Symposiums (dem sog. Hixon-Symposium) zum Thema: „Cere- bral mechanisms in behavior“. Das war der Beginn einer interdisziplinären Zusam- menarbeit, der heute vielfach als Beginn der Kognitiven Wende angesehen wird (Gardner, 1989). Zu dieser Zeit wurde deutlich, dass der Behaviorismus weder in seiner physiologischen noch in seiner psychologischen Form die Ansprüche erfül- len konnte, die seine Vertreter ursprünglich damit verbunden hatten. Ein weiteres wichtiges Datum war der 11. September 1956 – das als Geburts- datum der Kognitionswissenschaft einging – mit dem Symposium on Information Theory am MIT, bei dem Vertreter drei zentraler Disziplinen wegweisende Beiträge einbrachten (vgl. Gardner, 1989, S. 40)6 : Psychologie: George Miller Er zeigte, dass die menschliche Fähigkeit, z. B. die Anzahl von Elementen korrekt einzuschätzen oder die Zahl der Einheiten, die Menschen im Kurzzeitgedächtnis behalten können, auf maximal sieben Elemente plus/minus zwei (7±2) beschränkt ist. Linguistik: Noam Chomsky Er geht davon aus, dass allen natürlichen Sprachen eine universelle, nicht erlernte Grammatik zu Grunde liegt, die die biologi- sche Basis für den menschlichen Spracherwerb bildet. Computerwissenschaft: Allen Newell und Herbert Simon Sie beschreiben die Logiktheorie-Maschine, die in der Lage war, logische Theoreme zu beweisen. 6 Viele der damals neuen Ideen im Zusammenhang mit mentalen Repräsentationen und Pro- blemlösen sind nach wie vor Kernelemente der heutigen Kognitiven Psychologie. 46 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Das im Behaviorismus vollständig ausgeklammerte subjektive Empfinden ei- nes Menschen, summiert als „Black Box“, wurde wegen des Ausschlusses we- sentlicher mentaler Prozesse in Frage gestellt und führte zu einer Neuorientierung, die diese Prozesse in den wissenschaftlichen Fokus rückte. Die kognitive Wende führte zum Kognitivismus, in dessen Zentrum – im Gegensatz zum Behavioris- mus – nicht direkt beobachtbare Vorgänge stehen: höhere kognitive Funktionen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Wahrnehmen, Denken, Entscheiden oder Er- innern. All diese Prozesse werden vor dem Hintergrund der Informationsverarbei- tung betrachtet und der Mensch als informationsverarbeitendes System, dessen subjektive Innenwelt (Gedanken, Vorstellungen etc.) für Handlungen entscheidend sind. In diesem Sinne wird in der Kognitionspsychologie Verhalten nicht nur als Re- sultat externer Bedingungen (wie im Behaviorismus), sondern auch als Ergebnis interner Handlungsziele gesehen. Dadurch wurde die Modellvorstellung eines pas- siv reagierenden Menschen von dem Modell eines planenden, selbsttätig handeln- den und wahrnehmenden Individuums abgelöst. Die Kognitive Wende erfasste ne- ben der Allgemeinen Psychologie (siehe Kapitel 5) sämtliche Teilgebiete der Psy- chologie bis hin zu den Anwendungsbereichen. Die Kognitionspsychologie ist da- mit – mit Beginn der 1970er Jahre – zur dominierenden Richtung innerhalb der Psychologie avanciert. Kybernetik: Donald E. Broadbent und George A. Miller Der Begriff Informationsverarbeitung (als Untersuchungsansatz) beschreibt die Er- forschung kognitiver Prozesse anhand computerisierter Modelle. Dieser Untersu- chungsansatz ist der Kybernetik zuzuordnen – der Wissenschaft, die sich mit Zu- sammenhängen komplexer organischer und anorganischer Systeme beschäftigt und ursprünglich in Technik und Biologie verortet war, aber auch auf andere Diszi- plinen wie Psychologie ausgeweitet wurde. Abweichend vom Behaviorismus setzte sich in den Biowissenschaften zuneh- mend die Erkenntnis durch, dass Lebensvorgänge nicht als einseitige Reiz-Reak- tions-Beziehungen, sondern als Regelkreisvorgänge zu verstehen sind. Für die theoretische Umsetzung beziehungsweise Darstellung dieser Annahmen diente die Kybernetik (wörtlich: Steuerungslehre). Kybernetische Systeme verfügen über Ziele (also Soll-Werte), Wissen (einen Speicher) und verwenden zur Zielerreichung Pläne (Computerprogramme). Donald E. Broadbent (1926–1993) beispielsweise setzte kognitive Vorgänge in Relation zur damaligen Computertechnik. Er postulierte, dass Menschen Reize empfangen, senden, verarbeiten und speichern können. Darüber hinaus betonte er, dass Faktoren wie Müdigkeit sich auf die Verarbeitungskapazität auswirken, und die menschliche Wahrnehmung auch von Filterprozessen (z. B. selektiver Auf- merksamkeit) beeinflusst wird. Ein der Kybernetik entlehntes Modell zur Beschreibung von zielfokussiertem Verhalten wurde von George A. Miller (1920–2012) und Kollegen veröffentlicht. 47 KAPITEL 2. GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Das sogenannte TOTE-Modell7 beschreibt, wie ein Mensch bei einer geplanten Handlung vorgeht: Zuerst wird die Situation hinsichtlich des Ziels geTestet, kommt es in Folge zu einer Ist-Soll-Wert-Diskrepanz wird eine Operation zur Zielerrei- chung eingeleitet. Anschließend wird erneut der Erfolg geTestet und bei Erfolg wird die Handlung beEndet. Der Streit, ob Verhalten als Resultat externer Bedingungen oder (im Sinn von ausschließlich) interner Handlungsziele zu erklären ist, wird auf elegante Art ge- löst, indem interne Ziele und externe Bedingungen in einem anschaulichen Modell vereint werden. Vom Kognitivismus zum Konnektionismus: ein neuer Paradigmenwechsel? 1986 postulierten David E. Rumelhart und James L. McClelland mit ihrem Band Parallel distributed processing ein neues Modell der Informationsverarbeitung – den Konnektionismus. Eine Kernannahme des Konnektionismus besteht darin, dass kognitive Phänomene durch wenige allgemeingültige Informationsverarbei- tungsprinzipien erklärt werden können. Ein konnektionistisches Modell (= neuro- nales Netzwerk) besteht aus Einheiten (units; analog zu Neuronen) und Verbin- dungen (connections) zwischen diesen Einheiten (analog zu Synapsen). Diese Einheiten sind in mehreren Schichten (analog zu Neuronenschichten im Cortex) angeordnet, welche eine parallele Verarbeitung durch Tausende von Verknüpfun- gen innerhalb Hunderter von Einheiten ermöglichen. Konnektionistische Modelle können beispielsweise zur Erklärung der Beeinträchtigung bei Patient:innen mit Hirnschäden beitragen und sind dementsprechend in der kognitiven Neuropsycho- logie von Bedeutung. Ein Paradigmenwechsel in Richtung Konnektionismus hat sich letztlich nicht erfüllt, wenngleich konnektionistische Methoden in der kogniti- ven Psychologie zur Modellbildung weit verbreitet sind. Seit der Etablierung des ersten psychologischen Labors hat sich die Psycho- logie als Wissenschaft ständig weiterentwickelt, alte und neuere Debatten wurden (weiter-)verfolgt, Erkenntnisse gewonnen und das Verständnis über das Erleben und Verhalten der Menschen vorangetrieben. Der geschichtliche Überblick endet an dieser Stelle. Wie sich die Psychologie aktuell zeigt, wird im Einleitungskapitel (Kapitel 1) dargestellt. 7 Test-Operation-Test-Exit 48

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