BSc Ergotherapie - eEinheit Schmerz - PDF
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ZHAW - Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
2024
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This document provides learning objectives, pain stories, and neurological foundations for a BSc Ergotherapie course at ZHAW. It includes questions to test understanding of nerve systems and sensory physiology. The learning materials are for internal use within the Ergotherapy program.
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BSc Ergotherapie eEinheit Schmerz Erstellt 2022, überarbeitet 2024 © ZHAW Zürcher Hochschule Angewandte Wissenschaften, Department Gesundheit, Ergotherapie Nichts aus dieser eSequenz darf vervielfältigt und/oder veröffentlicht werden ohne die vorherige schriftliche Zustimmung der Zürcher Hochschu...
BSc Ergotherapie eEinheit Schmerz Erstellt 2022, überarbeitet 2024 © ZHAW Zürcher Hochschule Angewandte Wissenschaften, Department Gesundheit, Ergotherapie Nichts aus dieser eSequenz darf vervielfältigt und/oder veröffentlicht werden ohne die vorherige schriftliche Zustimmung der Zürcher Hochschule Angewandte Wissenschaften Winterthur, Department Gesundheit, Studiengang BSc Ergotherapie Diese eSequenz ist ausschliesslich für den internen Gebrauch im BSc Ergotherapie bestimmt. Die Prüfung der eEinheit Schmerz findet im Rahmen der Modulprüfung BA.ER.301 in KW 44 statt. Die Lernfragen in der eEinheit können beliebig oft beantwortet werden. Lernziele eEinheit Schmerz Schmerzgeschichten - Einleitung in die Thematik Grundlagenwissen - Nerven und Nervensystem Lernfragen Nerven und Nervensystem Was verstehen wir unter "Schmerz"? Lernfragen Was verstehen wir unter "Schmerz"? Schmerzphysiologie und Schmerzpathophysiologie Lernfragen Schmerzphysiologie und Schmerzpathophysiologie Clinical Flags - Warnsignale im medizinischen Kontext Klient:innen mit chronischen Schmerzen in der Ergotherapie FAQs zur eEinheit Schmerz Kapitel 1 von 11 Lernziele eEinheit Schmerz BSc Ergotherapie Die Lernziele stecken den erwarteten Lerngewinn ab und sollen Ihnen bei der Prüfungsvorbereitung helfen. BA.ER.301_20240612_Lernziele_eEinheit_Schmerz_ER23_HS2024.pdf 151.5 KB Kapitel 2 von 11 Schmerzgeschichten - Einleitung in die Thematik BSc Ergotherapie Erstaunliche Schmerzgeschichten Schmerzen sind wirklich eine erstaunliche Erfahrung. Wir alle kennen Schmerzen. Und die meisten von uns kennen irgendwelche Geschichten über Menschen, die schlimme Verletzungen erlitten haben ohne dass Sie zum Zeitpunkt der Verletzung Schmerz empfunden haben. Aber auch kennen wir Menschen, die jeden Tag Schmerzen haben. Lesen Sie die erstaunlichen Schmerzgeschichten und tauchen Sie langsam aber sicher in das Phänomen Schmerz ein... Diese Geschichten stammen aus dem Buch von David Butler und Lorimer G. Moseley "Schmerzen verstehen", 2016. Geschichte 1 Kriegsgeschichten Es gibt viele Geschichten aus Kriegszeiten. Nehmen Sie zum Beispiel den Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, dem bei einer Routineuntersuchung die Brust geröntgt wurde. Dabei wurde eine Gewehrkugel entdeckt, die schon seit 60 Jahren in seinem Hals steckte und er wusste nichts davon. In vielen Geschichten geht es um Soldaten, die schlimme Kriegsverletzungen erlitten, manchmal sogar Körperteile verloren, aber über wenig oder gar keine Schmerzen berichteten. Geschichte 2 Kein Schmerz Als Präsident Reagan im März 1918 angeschossen wurde, spürte er keinen Schmerz. An dem Jahrestag des Attentats sagte er: «Ich bin noch nie angeschossen worden, ausser auf einem Filmset. Dort tat ich so als ob es weh tun würde. Jetzt weiss ich dass das nicht immer so ist»..( 1999, zit. nach Butler & Moseley, 2016, S. 7) Geschichte 3 Papierschnitt Das Verhältnis zwischen dem Ausmass der Verletzung und der Intensität der Schmerzen kann sich auch anders herum auswirken (anders als bei der Kriegsgeschichte). Wie ist das, wenn man sich mit dem Blatt Papier in den Finger schneidet? Der Schnitt ist nicht tief, es gibt keinen grossen Gewebeschaden, aber es tut richtig weh, es brennt und wir können uns nicht wirklich erklären warum dieser kleine Schnitt so weh tun kann… Geschichte 4 Mit Pillen gegen Schmerzen Menschen auf der ganzen Welt konsumieren pro Jahr ungefähr 100 Milliarden Aspirin Tabletten. Wenn man diese Tabletten alle in eine Reihe nebeneinander legen würde, wäre diese Linie 1 Million Kilometer lang (von der Erde zum Mond und zurück). Wenn wir unsere Schmerzen besser verstehen würden, dann bräuchten wir vielleicht nicht so viele Tabletten schlucken. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Form einer Tablette eine entscheidende Rolle für Ihre Wirkung spielt. Durchsichtige Kapseln mit bunten Kügelchen wirken besser als Kapseln mit weissen Kügelchen. Kapseln mit weissen Kügelchen wirken wiederum besser als bunte Tabletten. Bunte Tabletten wirken besser als weisse viereckige Tabletten mit abgerundeten Kanten. Letztere wirken aber besser als runde weisse (Buckalew & Coffield, 1982, zit. nach Butler&Moseley, 2016, S. 11). Geschichte 5 Fussballer kennen keine Schmerzen - oder doch? Ein alltägliches Beispiel, bei dem extreme Kräfte auf einen Körper wirken, ohne dass über Schmerz geklagt wird: Wenn ein Fussballspieler gerade ein wichtiges Tor geschossen hat, fällt in den meisten Fällen seine gesamte Mannschaft buchstäblich über ihn her; ein Gesamtgewicht von fast einer Tonne lastet dann auf ihm. Aber er wird sich jedes Mal wieder lachend aufrappeln und weiterspielen. Stellen Sie sich vor, ein gesamtes Fussballteam würde sich auf jemanden stürzen, der gerade eine Strasse entlang kommt. Das würde demjenigen wohl sehr weh tun und zu rechtlichen Konsequenzen führen. Und unter diesen Umständen kann schon eine winzige Verletzung der Auslöser für ein Leben mit chronischen Schmerzen sein. Geschichte 6 Surfer's Paradies Surfer, die auf die perfekte Welle warteten und denen ein Bein von einem Hai abgebissen worden ist, berichten häufig, dass Sie in dem Moment nur eine Art «Stoss» gespürt hätten. (www.sharkattacksurvivors.com) Geschichte 7 Von Bandscheiben Zwei der am häufigsten vorkommenden Schmerzen bei Menschen sind Kopfschmerzen und Schmerzen im unteren Rücken (LWS). Die Intensität der Lendenwirbelsäulenbeschwerden korreliert selten mit dem Ausmass der pathologischen Veränderungen an den Bandscheiben oder Nerven (Jensen, 1994, zit. nach Butler & Moseley, 2016, S. 8). Das heisst, dass erschreckende Diagnosen wie "Bandscheibenvorfall" oder "gequetschte Nerven" nicht zwangsläufig zu irgendwelchen Schmerzsymptomen führen müssen. Wieviel Schmerzen man spürt, ist nicht unbedingt vom Schweregrad des Gewebeschadens abhängig. Einfacher gesagt: Wenn es zu keinen Schmerzen kommt, heisst das, dass ihr Gehirn diese Gewebeveränderung nicht als bedrohlich einstuft. Geschichte 8 Väter im Gebärsaal Schmerzen sind wirklich komplex. Es gibt ein Phänomen namens «Couvade Syndrom», in denen der Vater Wehenschmerzen verspürt. In machen Kulturen ist man sogar der Meinung, dass solche Väter ihre Vaterrolle umso ernster nehmen, je mehr Schmerzen sie verspüren. Manche Frauen betreuen dann sogar den Vater, während sie ihr Kind gebären (Bainbridge, 2000; Merskey , 1994; zit nach Butler & Moseley, 2016, S. 10) Tatsache ist... …dass bei jeder Schmerzerfahrung viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, aber letztendlich entscheidet allein das Gehirn, ob etwas schmerzt oder nicht. Und das gilt ausnahmslos für alle Fälle. Referenzen Butler, D. & Moseley, L.G. (2016). Schmerzen verstehen. Heidelberg: Springer. Kapitel 3 von 11 Grundlagenwissen - Nerven und Nervensystem BSc Ergotherapie Um die Schmerzphysiologie zu verstehen, ist das Wissen über die Funktion des menschlichen Nervensystems und über die Sinnesphysiologie grundlegend. In der eEinheit Neuro und in der eEinheit Sinne haben Sie sich bereits damit auseinander gesetzt. Zur Auffrischung Ihres Wissens können Sie optional die folgenden Kapitel in Ihrem Buch "Ergotherapie Prüfungswissen, Anatomie, Biologie und Physiologie" von Zervos-Kopp, J. (2017 resp. 2022) lesen und anschliessend die Lernfragen zu den biomedizinischen Grundlagen lösen. Hinweis: Für den Zugang zu den E-Book-Kapiteln via Link, müssen Sie mit dem ZHAW-Netzwerk verbunden sein. Zentrales Nervensystem, Kapitel 10.1 1 (https://eref.thieme.de/ebooks/cs_19414817#/ebook_cs_19414817_cs55 10) 2 Peripheres Nervensystem, Kapitel 10.2 (https://eref.thieme.de/ebooks/cs_19414817#/ebook_cs_19414817_cs61 40) 3 Vegetatives Nervensystem, Kapitel 10.3 (https://eref.thieme.de/ebooks/cs_19414817#/ebook_cs_19414817__Ref 35894441) Haut- und Somatosensorik, Kapitel 11.1 4 (https://eref.thieme.de/ebooks/cs_19414817#/ebook_cs_19414817_cs67 45) L e r n fr a g e n Ne r v e n u n d Ne r v e n s y s t e m Kapitel 4 von 11 Lernfragen Nerven und Nervensystem BSc Ergotherapie Überprüfen Sie ihr Wissen über das Nervenvensystem und die Sinnesphysiologie zu Haut- und Somatosensorik. Die Wissensüberprüfung ist freiwillig und zählt nicht zum Leistungsnachweis. Frage 01/09 Was sind afferente und efferente Fasern? Afferente = Leiten Impulse zum ZNS hin Efferente= Leiten Impulse vom ZNS zur Zielzelle hin Afferente = Leiten Impulse vom ZNS zur Zielzelle hin Efferente= Leiten Impulse zum ZNS hin Frage 02/09 Woraus besteht das ZNS und woraus das PNS? ZNS: Hirnnerven und Spinalnerven (Nerven aus dem Rückenmark) PNS: Gehirn und Rückenmark ZNS: Gehirn und Rückenmark PNS: Hirnnerven und Spinalnerven (Nerven aus dem Rückenmark) Frage 03/09 Welche beiden Aussagen zum Nervensystem sind korrekt? Das Nervensystem ist das Regulationssystem des Körpers. Es nimmt Reize auf, leitet sie weiter oder hemmt sie, verarbeitet sie zu einem Gesamteindruck und löst Reaktionen aus. Das Nervensystem nimmt keine Sinnesreize auf. Andere Systeme sind dazu da die Sinnesreize zu verarbeiten. Das Nervensystem löst nur Reaktionen wie Muskelbewegungen oder Schmerzempfindungen aus. Durch das Nervensystem werden vorwiegend Körperfunktionen innerviert, die den Körper in erhöhte Leistungsbereitschaft versetzen und den Abbau von Energiereserven zur Folge haben. Das Nervensystem umfasst drei grosse Untereinheiten: Das zentrale Nervensystem (ZNS), das periphere Nervensystem (PNS) und das vegetative Nervensystem. Frage 04/09 Wie unterscheidet sich eine A-Delta-Nervenfaser von einer C-Nervenfaser? Eine A-Delta-Faser leitet die Schmerzinformation 20 Mal schneller als eine C- Nervenfaser. Eine C-Nervenfaser leitet die Schmerzinformation doppelt so schnell wie eine A-Delta-Faser. Frage 05/09 Welche Rezeptoren sind Mechanorezeptoren? Kreuzen sie alle zutreffenden an. Merkel-Zellen Ruffini Körperchen Vater-Paccini Lamellenkörperchen Follikel-Rezeptoren Meissner-Tastkörperchen Frage 06/09 Was sind die Aufgaben der verschiedenen Rindenfelder? Sie senden Impulse von der Hirnrinde zur sekundär motorische Rindenfelder Muskulatur Sie speichern alle Informationen über primär motorische Rindenfelder frühere Bewegungsabläufe ab. Sie erhalten Informationen aus den primär sensorische Rindenfelder peripheren Sinnesorganen. Sie ergänzen periphere Informationen mit sekundär sensorische Rindenfelder abgespeicherten früheren Sinneseindrücken. Frage 07/09 Welche drei Aussagen sind dem limbischen System zu zuordnen? Das limbische System besteht aus Hippocampus, Gürtelwindung und Mandelkern. Das limbische System gehört zum Kleinhirn. Das Überführen von Gedächtnisinhalten in das Langzeitgedächtnis wird unter anderem durch das limbische System gesteuert. Im Mandelkern werden Gefühlsregungen vermittelt und interpretiert. Das Riechzentrum liegt ausserhalb des limbischen Systems. Frage 08/09 Das Rückenmark wird in 31 Segmente eingeteilt, aus denen Spinalnervenpaare entspringen. Ordnen Sie die entsprechende Anzahl Spinalnervenpaare den Wirbelsäulensegmenten zu. Steissbein 8, C1-C8 Lendenwirbelsäule, LWS 12, Th1-Th12 Kreuzbein 5, L1-L5 Halswirbelsäule, HWS 5, S1-S5 Brustwirbelsäule, BWS 2, Co1-Co2 Frage 09/09 Welche Beschreibungen zu Nozisensoren (Nozizeptoren) sind korrekt? (Anmerkung zum Buch Zervos-Kopp (2022) und anderen Quellen: Fälschlicherweise werden Nozisensoren oft als Schmerzrezeptoren bezeichnet (wie auch in Zervos-Kopp, 2022). Tatsächlich wird der Schmerz aber nicht durch die Nozisensoren wahrgenommen, sondern erst vom Gehirn. Die Naturwissenschaften nennen die Schmerzwahrnehmung "Nozizeption", obwohl erst im Gehirn über eine Schmerzempfindung entschieden wird und eben nicht in den Rezeptoren. Das sorgt oft für Verwirrung. Doch mehr dazu im Kapitel "Schmerzphysiologie und Schmerzpathophysiologie"). Nozisensoren sind freie Nervenendigungen im Gewebe. Die meisten unserer Rezeptoren sind sehr spezialisiert. Allerdings gibt es überall im Körper auch Generalisten, die ganz unterschiedliche Reize wahrnehmen. Dazu gehören auch Nozisensoren: Sie registrieren fast alles in unserem Körper. Aber sie leiten eine Information nur weiter, wenn der Reiz das Gewebe schädigen könnte. Dann aber geben sie Gas und haben Vorrang vor allen anderen Infor-mationen, die zum Gehirn wollen. Deswegen unterbrechen Sie Ihre Gedanken und Träumereien sofort, wenn Sie auf einen Seeigel getreten sind. Nozizeptoren sind Sinnesrezeptoren für noxische (den Organismus schädigende oder bedrohende) Stimuli. Sie gehören zu den langsam leitenden Afferenzen der Gruppen Aδ- und C-Fasern und werden funktionell nach ihren Antworteigenschaften bei mechanischer, thermischerund chemischer Stimulation klassifiziert. Nozizeptoren nehmen Schmerzreize wahr. Kapitel 5 von 11 Was verstehen wir unter "Schmerz"? BSc Ergotherapie 1 Was ist Schmerz Die IASP (Internationl Association for the Study of Pain) definierte im Jahre 1994 den Schmerz als "eine unangenehme sensorische und emotionale Empfindung verbunden mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung" (Merskey & Bogduk, 1994). Die Schmerzforscher Williams und Craig schlugen im Jahre 2016 folgende Ergänzung zur bestehenden Definition von Schmerz vor: "Schmerz ist eine quälende, Besorgnis erregende Erfahrung, einhergehend mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung, sensorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Anteilen." (Williams & Craig, 2016) Diese Definition erweitert die Sicht- und Denkweise der IASP um den kognitiven und den sozialen Aspekt. Was glauben Sie bezüglich Schmerzen...? Zum Schmerz gehört immer eine Verletzung Schmerz macht immer weh Schmerz ist individuell Je stärker die Schmerzen, umso schlimmer die Verletzung Schmerzen gehen vorbei Schmerzen können auch ohne Gewebeschaden (Verletzung) entstehen SUBMIT 2. Schmerzverständnis früher und jetzt Was man früher glaubte... Als ein Vorreiter der Aufklärung propagierte das Universalgenie René Descartes (1596–1650) naturwissenschaftliche Denkmuster. Sein Mitte des 17. Jahrhunderts aufgezeichnetes Prinzip des «Glockenstrang-Schmerzmodells» (Abb. 1) gilt bis heute für viele Laien und Medizinalpersonen als selbstverständliche Tatsache. Man glaubt noch immer: Damit Schmerz entstehen kann, ist eine körperliche Schädigung notwendig. Diese Schädigung löst eine nervliche Reizung aus, welche wie über einen «Glockenstrang» zum Bewusstsein geleitet wird (Egloff et al., 2008). und manche immernoch glauben! Laut Descartes beschreibt der empfundene Schmerz das Ausmass der Köperschädigung proportional (Abb. 2). Heute weiss man: Starke Schmerzen bedeuten nicht automatisch grosser Schaden am Körper! Abb. 1: Glockenstrang- Abb. 2: Weg des Schmerzes Modell (Egloff, Egle & von nach Descartes (Egloff, Egle Känel, 2008) & von Känel, 2008) Descartes’ grosser Verdienst ist eine Differenzierung zwischen somatischer Schmerzursache, nervlicher Schmerzübermittlung und subjektiver Schmerzwahrnehmung. Descartes gilt als klassischer Vertreter eines dualistischen Körperverständnisses. Diese Zweiteilung dominiert bis heute im westlichen Medizinverständnis, indem bei «Körper» und «Psyche» von zwei Dingen unterschiedlicher Natur ausgegangen wird. Wann stösst das alte "Glockenstrang-Modell" an seine Grenzen? Das Glockenstrang-Modell stösst sofort an seine Grenzen, wenn Schmerzen geklagt werden, bei welchen keine genügend erklärende Ursache gefunden wird. Die kartesianischen Ärzt:innen ("kartesianisch" nach Renatus Cartesius, dem latinisierten Namen des René Descartes benannt) bleiben dann den kartesianischen Patient:innen eine «naturwissenschaftliche» Erklärung schuldig. Falls Sie sich noch vertiefter in die historische Entwicklung vom Schmerzverständnis einlesen wollen, finden Sie den Artikel von Egloff, Egle & von Känel (2008) anschliessend als PDF (optional). Egloff_Egle_vonKaenel_2008_Schmerzmodelle.pdf 404.9 KB Zeitgemässes Schmerzverständnis - Jetzt! Die Hypothese von René Descartes, die impliziert, dass Schmerzen grundsätzlich von einer strukturellen Schädigung oder Verletzung kommen, ist veraltet. Doch wird noch immer häufig nach dieser frühzetlichen These routinemässig gehandelt (Luomajoki & Schesser, 2018). Schmerz ist das am häufigsten beklagte Symptom in der Allgemeinpraxis. Wenn wir ehrlich sind, sind unsere Vorstellungen noch immer stark von einem dualistischen Schmerzverständnis geprägt, indem wir versuchen „somatische“ und „psychogene“ Schmerzen auseinander zu halten. Sie werden lernen wie Schmerzen nach aktuellem Verständnis entstehen und immer besser nachvollziehen können, warum die «Glockenstrang-Theorie»von Descartes, die noch in vielen Köpfen verankert ist, veraltet ist. Schmerzen können nämlich auch ohne Körperschädigung entstehen! Bild: Articulate Wie müssen wir nun den Schmerz richtig verstehen? Hier vier wesentliche Punkte, wie Schmerzen zeitgemäss zu verstehen sind (Moseley, 2007): 1 Schmerz ist kein messbarer Indikator, der Informationen über den Zustand eines Gewebes gibt. (Also nicht: Je schlimmer der Schmerz, umso übler die Verletzung!) 2 Schmerz wird von verschiedenen Faktoren moduliert: Von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Das Verhältnis zwischen dem Mass an Schmerz und dem Zustand von 3 Gewebe wird je länger der Schmerz anhält (noch) weniger aussagekräftig. Schmerz kann verstanden werden als bewusste Wahrnehmung, die 4 Zustande kommt wenn das Gehirn eine Gefahr wahrnimmt und das Gewebe in Gefahr sieht. Beispiel: Hier ein Beispiel, wie mit dem heutigen Wissen eine "Schmerzerfahrung" verstanden werden kann: Sie hüpfen aus dem Zug, kommen etwas schief mit dem Fuss auf dem Perron auf. Eigentlich müssten Sie schnell zur ZHAW, da Sie eine Prüfung haben und nicht zu spät kommen dürfen. Wie entscheidet ihr Gehirn? Werden Sie Schmerzen haben oder nicht? Bild: Articulate Um diese "bedrohliche Situation" besser zu verstehen, schauen wir die untenstehende Abbildung (3) an. Inputs Die verschiedenen Inputs (Sensorische Inputs, frühere Erfahrung, kulturelle Faktoren, soziale Umgebung, Erwartungen, Glaube, Wissen und Logik) beeinflussen die Bedeutung welcher wir der potenziell bedrohlichen Situation beimessen. How dagerous is this really? Das Gehirn entscheidet letztendlich, ob die Situation als bedrohlich oder nicht bedrohlich eingestufft wird. Die mögliche Bedrohungswahrnehmung wird hier als "How dangerous is this really?" bezeichnet. Bewertung der Situation Wie wir die Situation bewerten, beeinflusst dann ob wir Angst verspüren oder welche Erwartungshaltung wir gegebenüber einer Situation haben. Angst und Erwartungshaltungen triggern das Gehirn Massnahmen zum Schutz einzuleiten oder eben nicht. Schutzmassnahmen Mögliche Schutzmassnahmen, die das Gehirn auslösen kann: Schmerz, motorische Reaktion, Immunreaktion, Sympathikus aktivieren (SNS) oder eine hormonelle Reaktion. Abb. 3: Moseley (2007, S. 171), Klicken Sie auf die Runden Punkte auf der Abbildung, um eine erweiterte Erklärung zur Abbildung zu erhalten. Schmerz ist als Output vom zentralen Nervensystem zu verstehen. Schmerz tritt auf, wenn Körpergewebe bedroht ist (im Falle des Beispiels wäre es das Körpergewebe ihres Fusses). Wenn Körpergewebe bedroht ist, dann sendet das zentrale Nervensystem bestimmte Signale aus. Dieses Aussenden von Signalen hat zwei wichtige Aspekte: 1 Erstens treten weitere Reaktionen (nicht nur Schmerz!) des zentralen Nervensystems auf, wenn das Gewebe als bedroht wahrgenommen wird. Zweitens wird die Art und Weise, wie das Nervensystem reagiert, nicht 2 vom tatsächlichen Zustand des Gewebes oder der wirklichen Bedrohung für das Gewebe bestimmt, sondern von der subjektiven Wahrnehmung der Bedrohung. Wenn Sie mehr Details über diese Abbildung und die dahinterstehenden Theorien wissen möchten, dann lesen Sie den Text von Moseley (2007). Der untenstehende Text als PDF von Moseley (2007) ist für Sie optional. Moseley_2007_Reconceptualising_pain_according_to_modern_pain_sc.pdf 293.2 KB Zurück zum Beispiel.... Sie erhalten einen nozizeptiven Input durch den Misstritt. Anhand von früheren Erfahrungen und Wissen bewerten sie diese Situation. Da gibt es nun mehrere mögliche Szenarien, wie ihr Gehirn mit der Situation umgeht. Szenario 1: Einen Fuss zu verstauchen kann passieren, Sie hatten das in der Vergangenheit schon öfters. Das ist nicht schlimm. Los an die Prüfung! Sie merken die leichte Schwellung um den Knöchel erst zu Hause. Szenario 2: Sie hatten einmal einen Beinbruch, der ewig hatte bis er heilte, diese Situation erinnert sie wieder daran. Sie setzen sich auf die nächste Bank mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie schreiben der Dozierenden eine E-Mail, dass Sie nicht mehr gehen können, sie haben enorme Schmerzen und Angst, dass der Fuss gebrochen und instabil ist. 3 Schmerzkomponenten Schmerz ist ein komplexes Konstrukt aus biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Die erzeugenden Faktoren und die Effekte von Schmerz werden anhand des bio-psycho-sozialen Modells begreifbar (Luomajoki & Schesser, 2018; Moseley, 2007; Moseley & Butler, 2017). Engel beschrieb 1977 erstmals das Bio-psycho-soziale Modell. Abb. 4: Bio-psycho-soziales Modell wie es Moseley & Butler darstellen (Moseley&Butler, 2017, S.12) Die Gesamtempfindung "Schmerz" setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Wir betrachten die einzelnen Schmerzkomponenten nun genauer. Beachten Sie, dass die Einteilung von den einzelnen Komponenten ins bio-psycho-soziale Modell nicht immer ganz eindeutig ist. Einzelne Komponenten können sich in Schnittstellen befinden. Schmerzkomponenten Schmerzkomponente 1 Sensorisch-diskriminative Komponente Sie umfasst die Analyse des noxischen (schädlichen) Reizes nach Ort, Intensität, Art und Dauer (Schaible, 2010). Schmerzkomponente 2 Affektive Komponente Die noxischen Reize werden bewertet vor dem Hintergrund der momentanen Stimmungs- und Motivationslage. Die Schmerzempfindung löst fast immer eine unlustbetonte Emotion aus, wodurch das Wohlbefinden gestört wird (Schaible, 2010). Schmerzkomponente 3 Vegetative Komponente Sie umfasst Reaktionen des vegetativen Nervensystems, die durch noxische Reize ausgelöst werden. Es treten sowohl Aktivierungen des sypathischen Nervensystems als auch Reaktionen wie Blutdruckabfall und Übelkeit auf (Schaible, 2010). Schmerzkomponente 4 Motorische Komponente Sie zeigt sich in Schutzreflexen, durch die das betroffene Körperteil von der Schmerzquelle entfernt wird. Auch Schonhaltungen und Muskelverspannungen sind motorische Schmerzkomponenten (Schaible, 2010). Schmerzkomponente 5 Kognitive Komponente Der Schmerz wird anhand früherer Schmerzerfahrung bewertet und nach seiner aktuellen Bedeutung eingestuft. Kognitive Prozesse können Schmerzäusserungen auslösen (psychomotorische Komponente z.B. Mimik und Wehklagen) (Schaible, 2010). Bei Schmerzen hängt es auch davon ab, was als mögliche Ursache angenommen wird. Zum Beispiel werden Frauen, die nach einer Brustamputation Schmerzen als Zeichen einer fortschreitenden Krankheit ansehen, diese als intensiver empfinden als jemand, der einen Schmerz einer anderen Ursache zuschreibt, unabhängig davon, was tatsächlich im Gewebe passiert (Smith et al., 1988; zit. nach Butler&Moseley, 2016). Fehlendes Wissen und mangelndes Verständnis verstärken Ängste (auch Teil der affektiven Komponente) und können im Körper eine gewisse Eigendynamik entwickeln. Ungeklärte und anhaltende Schmerzen und tiefe, unsichtbare Verletzungen sind bedrohlichere Schmerzen als zum Beispiel Schmerzen von sichtbaren Hautverletzungen. Man weiss auch, dass der Bedarf an schmerzhemmenden Medikamenten umso geringer ist, je besser Patienten über den bevorstehenden chirurgischen Eingriff informiert worden sind. Wenn Patienten wissen, dass postoperative Schmerzen ganz normal sind, dann verkürzt sich sogar der Krankenhausaufenthalt (Johansson et al., 2005; zit. nach Butler&Moseley, 2016). Schmerzkomponente 6 Soziale Komponente Das Ausmass einer Schmerzbewertung und einer Schmerzäusserung hängt zum Beispiel sehr von der aktuellen sozialen Situation, vom familiären Herkommen, von der Erziehung und auch von der ethnischen Herkunft ab (Berlit, 2006). Menschen in der persönlichen Umgebung haben Einfluss darauf wieviel Schmerz man empfindet. In Schmerzexperimenten hat man festgestellt, dass Männer eine grössere Schmerztoleranz haben, wenn sie von Frauen getestet werden (Levine&Simone, 1991; zit. nach Butler&Moseley, 2016). Genauso werden Patienten, die von einem fürsorglichen und besorgten Ehepartner begleitet werden, häufig stärkere Schmerzen beschreiben als jemand im Beisein eines weniger aufmerksamen Ehepartners (Newton-John& Williams, 2006; zit. nach Butler&Moseley, 2016). Eine Schmerzsituation wirkt sich letztlich auch auf die soziale Umgebung (Familie, Arbeitsplatz, etc.) eines Menschen aus (Luomajoki&Schesser, 2018). Zusammenfassung Die erzeugenden Faktoren und die Effekte von Schmerz werden anhand des bio-psycho- sozialen Modells begreifbar. So wird zum Beispiel die Rehabilitation einer akuten, biologischen Verletzung durch die psychische Konstitution des Betroffenen positiv (Zuversicht) oder negativ (Angst) beeinflusst, was sich letztlich auf dessen soziale Situation (Familie, Arbeitsplatz, etc.) auswirkt (Luomajoki & Schesser, 2018). 4 Einteilung von Schmerz In der Literatur werden verschiedene Schmerzarten unterschieden. Es wird häufig versucht den Schmerz nach folgenden Kriterien einzuteilen: 1. Dauer 2. Pathogenese/Entstehung 3. Lokalisation Hier finden Sie eine kurze Übersicht. Die physiologischen Prozesse der einzelnen Schmerzarten werden im Kapitel Schmerzphysiologie und Schmerzpathophysiologie genauer erläutert. Einteilung von Schmerz 1... nach Dauer Page 1 of 9 Narrative Review Chronic pain as a symptom or a disease: the IASP Classification of Chronic Pain for the International Classification of Diseases (ICD- Rolf-Detlef 11) , , , , Michael , Rafael , Milton , Nanna B. , Maria Adele , Stein Beatrice Treedea,*, , Eva , Patricia , Antonia Peter , Qasim Svenssonw,x, I. , Serge , Benoliele Johan , Stephan CohenfStefanFinneruph,i, 03/15/2019 Downloaded Giamberardinok Kaasal,m,n, Korwisib Winfried Koseko Riefb Lavand’hommep Barkeb W.S. Michael Azizc Vlaeyeny,z,aa, Bennettd Perrotr Shuu-Jiun Joachim on Schugt,u, from Abstract EversgBlairMichael B. Firstj Chronic Nicholasq Scholzs H. Smithvpain isof Wangbb,cc a major source BhDMf5ePHKav1zEoum1tQfN4a+kJLhEZgbsIHo4XMi0hCyw https://journals.lww.com/pain Classification Diseases, chronic of suffering. painand It epidemiological interferes with investigations daily functioning difficult and often is by a multimodal diagnoses wide forrange pain are ofnot management. represented In cooperation systematically. impedes accompanied recurs health bycontexts, policy including 3 decisions distress. pain Yet, inInregarding the medicine, International The In lackpain conditions primary chronic ofmore https://journals.lww.com/pain withtheWHO, care, an such and such than IASPWorkingmonths. BhDMf5ePHKav1zEoum1tQfN4a+kJLhEZgbsIHo4XMi0hCyw appropriate codes Group asadequate fibromyalgia low-resource as renderschronic or has pain accurate nonspecific environments. financing of from call this syndromes, developed subgroup a pain can“chronic classification be the primary sole systemthator pain.” a leading is In 6 on neuropathic low-back pain,pain, ischronic chronic pain secondary may visceralor be conceived pain, Chronic pain, access other and pain to chronic subgroups, complaint initially Downloaded applicable be and defined initsrequires conceived secondary pain is as as pain asecondary special symptom. that musculoskeletal to treatment an and as persists 03/15/2019 chronic a disease lead pain. to posttraumatic in improved These own conditions and right; classification are inpostsurgical ourand proposal, summarized pain, diagnostic as we underlying care. secondary Implementation Keywords: disease: Classification, chronic of headache these codes cancer-related ICD-11, inChronic the upcoming pain, pain, chronic Diagnoses, coding, “chronic thereby secondary advancing pain” where theand orofacial recognition pain ofleast may Chronic at chronic 11th Symptom, edition Disease, of International Chronic primary Classificationpain, of Coding chronic 1. pain as a health condition in its own right. 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Hospital, Leeds, Department Neurogastroenterology, Norway, University, United Department European of of Oslo, Blizard Kingdom, New of YorkPage e Palliative Oslo, Institute, State Norway, Department Anesthesiology, 1Australia, ofo /ofandg9 Care Barts Psychiatric Acute Department Newark, CeSI-MeT, Sydney, Pain NJ,G of Department Clinic, ClinicalMedicine,Danish The Department States, Discipline London of Psychology, School ofPain Hotel Clinical Research Anaesthesiology of Dieu of Pain Medicine Philipps-University Neurology, Hospital, Centre Research Neuroscience, and and Paris (PRC), Dentistry, Pain Karolinska m Neurology, Diagnostic Aarhus, Postoperative Hospital, Marburg, United D’Annunzio Australia, Denmark, xInstitute, Descartes Sciences, Perth,Krankenhaus Department New Australia,Rutgers Service, University, ofYork, Department School Dental Paris,NY, vLindenbrunn, Division Saint United Luc of France, of of Dental sStates, Hospital, Medicine,Population Faculty Oncology, k of Center, Queen tInstitute,Aarhus Medicine, Translational Denmark and j University, Medical Department Health Department School, Research, of of Neuroradiology, University Medicine KU Leuven, and of Aarhus Western Catholic Health States Universityand f University ofGenomics Chieti K liD k It tit t t fHO of Louvain University A ddi l U th i SBrussels of Dundee i l it d H d it l Belgium q Artikel von Treede et al., 2019 (fakultativ): Chronic pain as a symptom or disease Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen dem akuten Schmerz mit seiner eindeutigen Warn- und Schutzfunktion sowie dem chronischen Schmerz, der eine eigenständige Krankheit geworden ist oder als Symptom einer chronischen Störung auftritt. Akuter Schmerz Die Warn- und Schutzfunktion des akuten Schmerzes (der Nozizeption, siehe bei Pathogenese/Entstehung) dient der körperlichen Unversehrtheit beziehungsweise der Funktionsfähigkeit. Akute Schmerzen haben die Aufgabe, Schädigungen aufzuzeigen und durch Einleiten von Ausweichreaktionen vor weiteren Schäden zu bewahren. Postoperative Schmerzen werden ebenfalls den akuten Schmerzen zugeordnet (Salgo, 2007). Chronischer Schmerz Chronischer Schmerz ist definiert als Schmerz, der über einen Zeitraum von länger als drei Monaten auftrit (WHO, 2018). Chronische Schmerzen werden in primäre und sekundäre Schmerzen unterteilt (WHO, 2018). Diese aktualisierte Klassifikation ist in der International Classification of Diseases, 11th Revision (ICD-11) enthalten. Chronischer primärer Schmerz Der chronische Schmerz stellt die Hauptsymptomatik dar und bildet eine eigenständige Krankheit (z.B. Fibromyalgie, CRPS) (Treede et al., 2019). Chronischer sekundärer Schmerz Der chronische Schmerz tritt als Symptom einer chronischen Störung (z.B. chronisch neuropathischer Schmerz, chronischer postoperativer Schmerz) auf (Treede et al., 2019). 2... nach Pathogenese / Entstehung Abb.: Schaible, 2019, S. 666 Nozizeption Der Ausdruck Nozizeption umfasst die Vorgänge, mit denen das periphere und zentrale Nervensystem noxische Reize aufnimmt und verarbeitet. Noxische Reize sind Reize, die das Gewebe potenziell oder aktuell schädigen. Die Nozizeption warnt uns vor Gewebeschädigungen und wir leiten unwillkürlich Gegenmassnahmen ein (z.B. rasches Wegziehen der Hand von der heissen Herdplatte) (Schaible, 2010). Je nach Entstehungsort werden somatische und viszerale Schmerzen unterschieden. Die somatischen Schmerzen werden nochmals unterteilt in einen oberflächlichen Schmerz aus Haut oder Schleimhaut sowie einen tiefen Schmerz, der von Muskulatur, Knochen oder Gelenken ausgeht. Der tiefe somatische Schmerz besitzt einen eher dumpfen Charakter, während der oberflächliche Schmerz aus einer frühen hellen und einer späteren dumpfen Komponente besteht. Der viszerale oder Eingeweideschmerz ist dumpf und schlecht lokalisierbar, wird öfters von vegetativen Reaktionen begleitet und kann in korrespondierende Head-Zonen im Bereich der Haut ausstrahlen. Dieser Schmerz ist auch bekannt als „übertragener Schmerz” oder referred pain z.B. der Schmerz der in die Brust ausstrahlt bei einem Herzinfarkt (Schaible, 2010). Pathophysiologische Nozizeption Neben den Schmerzreizen, die von aussen auf den Körper einwirken, können auch körpereigene Schmerzmediatoren chemische Reize und damit Schmerzen auslösen. Der pathophysiologische Nozizeptorschmerz wird durch pathophysiologische Organveränderungen ausgelöst (z.B. bei Entzündungen). Er ist ein wichtiges Symptom vieler Erkrankungen (Schaible, 2010). Zu dieser Art Schmerz zählen beispielsweise die Schmerzen, die bei rheumatoider Arthritis auftreten. Neuropathische Schmerzen Bei neuropathischen Schmerzen besteht eine Schädigung des Nervensystems. Der Schmerzimpuls geht nicht von den Nervenendigungen (Nozizeptoren) aus, sondern aus dem Nervenverlauf. Der Schmerz wird jedoch in das Versorgungsgebiet der Nerven projiziert („projizierter Schmerz“). Neuropathische Schmerzen können aus einer Reihe von Krankheiten oder Verletzungen entstehen. Dabei kann die primäre Schädigung jede Ebene des schmerzverarbeitenden Systems betreffen, z.B. das periphere Nervensystem, Hirnnerven, Spinalwurzeln, das Rückenmark oder Gehirn. Kurz: Neuropathische Schmerzen sind Syndrome, die nach einer Schädigung oder Erkrankung somatosensorischer Nervenstrukturen im peripheren und/oder zentralen Nervensystem entstehen (Baron et al. 2010). Noziplastische Schmerzen (nicht auf Abbildung) Traditionell wurden zwei mechanistische Schmerzkategorien unterschieden: nozizeptiver und neuropathischer Schmerz. Noziplastische Schmerzen sind nun eine dritte, neue mechanistische Schmerzkategorie. Anders als bei nozizeptiven oder neuropathischen Schmerzen findet sich weder eine Gewebeschädigung, noch eine Läsion im somatosensorischen Nervensystem. Die IASP-Definition (2017) erklärt die Pathophysiologie als veränderte Nozizeption infolge einer Modulation der Reizverarbeitung. Die Breite der Definition und ihre nur entfernte Verknüpfung mit neurophysiologischen Mechanismen machen sie allerdings potentiell zum Sammelbecken unspezifischer und unklarer Befunde (Magerl, 2022). 3... nach Lokalisation Abb: Treede et al., 2019, S. 21 Schmerzarten werden häufig nach dem Gewebe oder Körperteil bezeichnet, in denen der Schmerz lokalisiert wird: Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Brustschmerzen, Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen zählen dabei zu den häufigsten Formen. Über die Entstehung (Pathogenese) der Schmerzen sagt diese Unterscheidung allerdings wenig aus. Im ICD-11 (WHO, 2018) werden die chronischen Schmerzen nach deren Ursache (primär oder sekundär) und nach Lokalisation eingeteilt (siehe Abbildung.) Einteilung von Schmerz: Zusammenfassung Dauer - Akuter Schmerz - Chronischer Schmerz (primärer oder sekundärer chronischer Schmerz) Pathogenese - Nozizeption (oberflächliche, tiefe, viszerale) - Pathophysiologische Nozizeption (entzündliche Nozizeption) - Neuropathische Schmerzen - Neuroplastische Schmerzen Lokalisation C O NT I NU E Referenzen Baron, R., Binder, A., & Wasner, G. (2010) Neuropathic pain: diagnosis, pathophysiological mechanisms and treatment. Lancet Neurol, 9, 807–819 Berlit, P. (2006). Klinische Neurologie. Springer. Butler, D.S., & Moseley, G.L. (2016). Schmerzen verstehen. Springer. Egloff. N., Egle, T, & von Känel, R. (2008). Weder Descartes noch Freud? Aktuelle Schmerzmodelle in der Psychosomatik. Mini Review. Praxis, 97, 549 –557. IASP-International Association for the Study of Pain.(2017). IASP Terminology. IASP PAIN Terms. https://www.iasp-pain.org/resources/terminology/ Luomajoki, H., & Schesser, R. (2018). Schmerzmechanismen und Clinical Reasoning. Der Schmerzpatient, 1, 7-18. Melzack, R., & Wall, P.D. (1965). Pain mechanisms: A new theory. Science. 150, 971–9. Merskey, H., & Bogduk, N. (1994). Classification of Chronic Pain. IASP Press. Magerl, W. (2022). Noziplastischer Schmerz. Schmerz.Therapie. 5, 9–17. Moseley, G.L. (2007). Reconceptualising pain according to modern pain science. Physical Therapy Reviews, 12, 169–178. DOI: 10.1179/108331907X2230 Moseley, G.L., & Butler, D.S. (2015). Fifteen Years of Explaining Pain: The Past, Present, and Future. The Journal of Pain, 16, 807-813. Moseley, G.L., & Bulter, D.S. (2017). Explain Pain Supercharged. Noigroup Publications. Schaible, H.G. (2010). Nozizeption und Schmerz. In R.F. Schmidt R.F., F. Lang & M. Heckmann (Hrsg.) Physiologie des Menschen (S.666-682). Springer. Schaible, H.G. (2019). Nozizeption und Schmerz. In R. Brandes et al. (Hrsg.), Physiologie des Menschen (S.666-682). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56468-4_51 Treede, R.D. et al. (2019). Chronic pain as a symptom or a disease: the IASP Classification of Chronic Pain for the International Classification of Diseases (ICD-11). Pain, 160, 19-27. Williams, A.C., & Craig, K.D. (2016). Updating the definition of pain. Pain, 157, 2420-2423. World Health Organization. (2018). International statistical classification of diseases and related health problems (11th Revision, ICD-11). Heruntergeladen von https://icd.who.int/browse11/l-m/en am 19. August 2019. Kapitel 6 von 11 Lernfragen Was verstehen wir unter "Schmerz"? BSc Ergotherapie Testen Sie Ihr Wissen über das Kapitel "Was verstehen wir unter Schmerz?". Frage 01/05 Welche Aussagen beeinhaltet die aktuelle Schmerzdefinition von Williams & Craig, 2016? Kruezen Sie alle korrekten Aussagen an. Schmerz ist eine Erfahrung Schmerz ist einhergehend mit tatsächlicher oder potentieller Gewebeschädigung Schmerz ist objektiv messbar Schmerz hat sensorische Anteile Schmerz hat emotionale Anteile Schmerz hat kognitive Anteile Schmerz hat soziale Anteilen Frage 02/05 Warum ist das Glockenstrang-Schmerzmodell nach René Descartes veraltet? Kreuzen Sie alle korrekten Antworten an. Die Meinung, dass das Ausmass einer Körperschädigung immer im proportionalen Verhältnis zum empfundenen Schmerz steht, ist veraltet. Damit Schmerz entstehen kann, ist eine körperliche Schädigung notwendig. Heute weiss man: Ohne Gewebeschaden keinen Schmerz. Heute weiss man: Schmerz wird von verschiedenen Faktoren moduliert: von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren. Das Glockenstrang-Modell nach Descartes kann nicht erklären, warum Menschen über Schmerzen klagen, obwohl keine Gewebeschädigung als Ursache festgestellt werden konnte. Frage 03/05 Was beschreibt die sensorisch-diskriminative Schmerzkomponente? Kreuzen Sie die korrekte Aussage an. Die sensorische Schmerzkomponente umfasst primär die Reaktionen des vegetativen Nervensystems, die durch Schmerzreize ausgelöst werden. Die sensorische Komponente der Schmerzwahrnehmung beschreibt die bewusste Wahrnehmung von Qualität, Lokalisation, Stärke, Dauer und Häufigkeit der Schmerzen. Sie zeigt sich in Schutzreflexen, durch die das betroffene Körperteil von der Schmerzquelle entfernt wird. Auch Schonhaltungen und Muskelverspannungen sind sensorisch-diskriminative Schmerzkomponenten. Frage 04/05 Welche Aussage zur kognitiven Schmerzkomponente ist korrekt? Schmerzen von unsichtbaren inneren Verletzungen werden oft als weniger bedrohlich eingestuft, als zum Beispiel sichtbare Hautverletzungen. Grund: Weil man die Verletzung nicht sieht. Der Schmerz wird anhand früherer Schmerzerfahrung bewertet und nach seiner aktuellen Bedeutung eingestuft. Werden Klienten gut über postoperative Schmerzen aufgeklärt, dann verspüren die Klienten in der Regel stärkere Schmerzen. Frage 05/05 Ordnen Sie die verschiedenen Schmerzarten den passenden Erklärungen zu. Dieser Schmerz ist zu einem chronischer sekundärer Schmerz eigenständigen Krankheitsbild geworden. Dieser Schmerz tritt als Symptom einer chronischer primärer Schmerz chronischen Störung auf. Dieser Schmerz hat eine Warn- und akuter Schmerz Schutzfunktion. Dieser Schmerz entsteht, wenn das neuropathischer Schmerz Nervensystem geschädigt ist. Kapitel 7 von 11 Schmerzphysiologie und Schmerzpathophysiologie BSc Ergotherapie Das Verständnis der Physiologie und Pathophysiologie des Schmerzes ist wichtig, um die Symptome und Beschwerden von Klient:innen zu verstehen. Es ist beudetend den Klient:innen die Schmerzphysiologie verständlich erklären zu können. Es ist erwiesen, dass auch Nicht-Mediziner durchaus die Grundlagen der Schmerzphysiologie verstehen können (Moseley et al., 2002) und man weiss heute, dass Kenntnisse über Schmerzphysiologie die Art und Weise wie Menschen über Schmerzen denken verändert. Die Schmerzen werden dann als weniger bedrohlich wahrgenommen. Dies erleichtert den Umgang mit ihnen deutlich (Moseley, 2002). Inhalt 1 Nozizeption 2 Pathophysiologische Nozizeption (entzündungssbedingte Schmerzen) 3 Neuropathische Schmerzen 4 Noziplastische Schmerzen 5 Chronifizierung von Schmerzen 1 Nozizeption Nozizeption in Kürze Während Schmerz das bewusste subjektive Sinnes- und Gefühlserlebnis ist, das durch gewebeschädigende Reize ausgelöst werden kann, umfasst der Ausdruck Nozizeption die Vorgänge, mit denen das periphere und zentrale Nervensystem noxische Reize aufnimmt und verarbeitet. Noxische Reize sind mechanische, thermische oder chemische Reize, die das Gewebe potenziell oder aktuell schädigen (Schaible, 2010). Es gibt freie sensorische Nervenendigungen in unseren Geweben, sogenannte Nozisensoren (oder Nozizeptoren), die auf alle Arten von Reizen reagieren, die eine potentielle Gefahr für die Gewebe darstellen. Nozisensoren sind die Sinnesrezeptoren für noxische Reize. Bei der Aktivierung der Nozisensoren werden Signale mit höchster Dringlichkeit an das Rückenmark geschickt und von dort werden sie unter Umständen an das Gehirn weitergeleitet (Abb. 1). Die Aktivität dieser Nozisensoren wird Nozizeption genannt, was wörtlich "Gefahrensinn" bedeutet. Eine reine Nozizeption ist weder ausreichend noch notwendig um Schmerzen zu verspüren. In jedem von uns ist die Nozizeption fast ständig aktiviert aber nur manchmal empfinden wir tatsächlich Schmerzen. Nozizeption ist der häufigste aber keinesfalls der einizige Vorbote von Schmerzen. Zum Beispiel können bestimmte Gedanken direkt im Gehirn Alarmsignale aktivieren die Schmerzen auslösen, ohne dass irgendwo anders eine Nozizeption ausgelöst wird (Butler & Moseley, 2016). Abb. 1: Aua! In den Finger geschnitten! Die Verletzung der Haut führt zur Ausschüttung bestimmter Botenstoffe (z.B. Histamin, Prostaglandin) aus verschiedenen Zellen. Diese werden von speziellen Proteinen (Rezeptoren) an der Oberfläche von freien Nervenendigungen (den Nozizeptoren) gebunden. In der Nervenzelle entsteht somit ein Signal, das bis zum Rückenmark gelangt. Dort wird das Signal über eine Synapse (so wird die Verknüpfung zwischen zwei Nervenzellen bezeichnet) zu einer weiteren Nervenzelle übergeben und gelangt so bis zum Gehirn. Zeitgleich wird aber auch ein Signal via absteigende Bahn zurück zur Hand geschickt (Modulation nicht im Bild ersichtlich). Bild: https://m.simplyscience.ch/teens-liesnach-archiv/articles/aua-das-schmerzt-aber- warum.html Nozizeption im Detail Abb: http://physiologie.cc/XIV.4.htm Nozizeption im Detail 1 Nozizeption schematisch dargestellt Aufsteigendes System Durch die Schädigung von Gewebe enstehen algetische Substanzen und Entzündungsmediatoren. Diese Substanzen reizen die Nozizeptoren. Sobald die Nozizeptoren gereizt werden, ändert sich ihr Membranpotenzial (=Transformation, nicht auf Abb. dargestellt) und löst dadurch ein Aktionspotential aus (=Transduktion). Das "Schmerz"signal1 wird über aufsteigende (afferente) Nervenfasern (A-delta- und C-Fasern) ins Rückenmark (Hinterhorn) geleitet und umgeschaltet. Hier findet die Übertragung vom 1. zum 2. Neuron statt. Über aufsteigende Bahnen erreicht das Signal Hirnstamm und Grosshirn (= Transmission). Die Erkennung des Signals als Schmerz heisst Perzeption. Absteigendes System Vom Grosshirn gelangen Impulse in absteigenden (efferenten) Bahnen ins Rückenmark. Dort beeinflussen sie die Übertragung des Schmerzsignals (= Modulation). Schmerzmodulation kann Schmerzen verringern oder verstärken (Salgo, 2007). 1 "Schmerz"signal wird in Klammern gesetzt, da zu dem Zeitpunkt ja noch kein Schmerz empfunden wird. Der Ausdruck Schmerzsignal ist eigentlich falsch (Moseley&Butler, 2017). Modifiziert von http://e-learning.studmed.unibe.ch/webtbs/not104_medtherapie_akute/html/definition.php Nozizeption im Detail 2 vom Trauma zur Transduktion Ein Trauma (Verletzung, Verbrennung) führt zu einer Gewebeschädigung. Die geschädigten Zellen schütten als Folge der Schädigung algetische Substanzen oder Entzündungsmediatoren aus, welche die Nozizeptoren erregen (Salgo, 2007). Nozizeptoren sind die freien Nervenendigungen von Aδ-Nervenfasern (A-Delta) und C- Nervenfasern. "Freie Nervenendigungen" heisst, dass die Nervenfasern nicht an spezialisierte Rezeptoren gebunden sind (wie z.B, an Meissner-, Merkel-, Ruffini-Zellen) (Butler&Moseley, 2016). Transduktion=Aktivierung der Nozizeptoren durch Umwandlung der noxischen Reize (mechanische, thermische, oder chemische Stimuli) in elektrische Impulse (Gallacchi&Pilger, 2005). Modifiziert von http://e-learning.studmed.unibe.ch/webtbs/not104_medtherapie_akute/html/definition.ph Nozizeption im Detail 3 Wo im Körper gibt es Nozizeptoren? Die Nozizeptoren befinden sich über den ganzen Körper verteilt in: Knochen Muskeln Haut Gelenkkapseln Gefässwänden inneren Organen Nozizeption im Detail 4 Transduktion und Aufgabe der Nozizeptoren Als Antwort auf eine Noxe (schädlicher Reiz) werden im betroffenen Gewebe lokal zunächst verschiedene schmerzaktive (algetische) Substanzen gebildet und ausgeschüttet. Zu den algetischen Substanzen gehören neben der Prostaglandine (PG) auch die Bradykinine (Salgo, 2007). Die Substanzen Bradykinin und Prostagalandine, die bei Verletzungen oder Entzündungen gebildet werden, können die Nozizeptoren aktivieren oder für andere Reize (Hitze, Druck) sensibilisieren. Periphere schmerztherapeutische Massnahmen haben daher häufig die Entzündungshemmung zum Ziel (Pape, Kurtz,& Silbernagl, 2018). In den Nozizeptoren werden die chemischen Reize in elektrische Signale umgewandelt (=Transduktion) und zum Rückenmark weitergeleitet, wenn im 1. Neuron ein kritischer Schwellenwert (Aktionspotential) erreicht wurde (Salgo, 2007). Nozizeptoren haben aber nicht nur die Aufgabe gefährliche Reize zu melden. Mindestens drei Moleküle werden von den Nozizeptoren ausgeschüttet: CGRP, Substanz-P und Glutamat. Diese Moleküle (sogenannte "Power-Peptide") sind wichtig für die lokale Gewebeheilung. Sie bringen den Gewebeheilungsprozess zum starten (Moseley&Butler, 2017)--> nicht auf Abbildung dargestellt. Nozizeption im Detail 5 Von der Transduktion zur Transmission - Wann werden Botschaften gesendet? Was muss passieren, damit ein Nozizeptor genügend erregt ist, um das elektrische Signal (Aktionspotential) weiter Richtung Rückenmark zu leiten? Nozizeptoren sind elektrisch erregbar. Jedes Mal wenn sich ein Nozizeptor öffnet und positiv geladene Teilchen hineinströmen, wird der Nozizeptor etwas mehr erregt. Wenn sich weitere Nozizeptoren öffnen und die Erregung innerhalb des Neurons einen kritischen Punkt erreicht, kommt es zu einer kurzfristigen elektrischen Welle, die das Neuron durchströmt. Diese Welle wird Aktionspotential genannt. Über Aktionspotentiale übermittelt ein Nerv Nachrichten. Auf dem Diagramm stellt die horizontale Achse die Zeit und die vertikale Achse das Erregungsniveau (die elektrische Ladung) dar. Beachten Sie wie sich das Erregungsniveau hauptsächlich entsprechend der Anzahl offener Nozizeptoren verändert. Beachten Sie auch die kritische "Alles-oder-nichts-Schwelle", an der sich entscheidet, ob es zu einem Aktionspotential (Botschaft) kommt oder nicht (Butler& Moseley, 2016). Abbildung aus Butler&Moseley, 2016, S. 28-29 Nozizeption im Detail 6 Übung "Nozizeptoren aktivieren" Kratzen Sie sich intensiv auf dem Handrücken. So dass es ein bischen schmerzt. Sie haben nun Nozizeptoren aktiviert, mehrere Aktionspotentiale wurden ausgelöst. Das Signal wurde zum Rückenmark weitergeleitet. Gleichzeitig wurden (durch den Axonalen Reflex) die "Power Peptide" durch die Nozizeptoren ausgeschüttet. CGRP und Substanz P verursachen eine steigerung der Durchblutung (Vasodilatation), die wichtig für den Start der Gewebeheilung ist. Darum sehen Sie nun einen roten Strich, dort wo Sie gekrazt haben. Nozizeption im Detail 7 Transmission und Nervenfasertypen Das Aktionspotential wird von den Nozizeptoren via primär afferenten Nervenfaser Aδ-Fasern (A-Delta) und C-Fasern zum Rückenmark geleitet und von da weiter zum Hirn (=Transmission). Die Botschaft, die über den Nerv zum Rückenmark gesendet wird, signalisiert lediglich "Gefahr". Rückenmark und Gehirn müssen die Signale empfangen, analysieren und daraus eine sinnvolle Bedeutung zusammenfügen, die vielleicht oder vielleicht auch nicht zu einer Schmerzerfahrung führen (Butler&Moseley, 2016). Die Aδ-Fasern sind myelinisiert und daher schnellleitend. Sie vermitteln einen hellen, gut lokalisierbaren Schmerz, welcher sofort nach der Gewebsschädigung wahrgenommen wird. Die C-Fasern sind unmyelinisiert und deshalb langsam leitend. Sie erzeugen einen dumpfen, schlecht lokalisierbaren Schmerz, welcher verzögert wahrgenommen wird und länger anhält. Eine besondere Faserart, die Aβ-Fasern, leiten nicht-schmerzbezogene Empfindungen wie Berührung oder Reibung weiter (Salgo, 2007). Eine schematische Darstellung dieser Fasers sowie deren Leitgeschwindigkeit sehen Sie auf der nächste Folie. Nozizeption im Detail 8 Nervenfasertypen Die Grafik zeigt die Dicke der verschiedenen primär afferenten Nervenfasern und nennt die Geschwindigkeit der Aktionspotentiale. Aktionspotentiale in C-Nervenfasern leiten etwa in einem Tempo von 3.5 Km/h. Das ist langsamer, als Sie gehen können. Aδ-Nervenfasern leiten Aktionspotentiale so schnell wie ein Sprinter. Die großen Ab- Nervenfasern für die taktilen Informationen, transportieren Aktionspotentiale beinahe so schnell wie Flugzeuge. (Salgo, 2007) Nozizeption im Detail 9 Instinktive Schmerzmodulation durch Aktivierung der Aβ- Faser Ein Mensch, der sich mit dem Hammer auf den Daumen schlägt und sofort seinen Daumen mit der anderen Hand kräftig umfasst, nützt unbewusst einen schmerzhemmenden Mechanismus aus: Durch Berührung oder Druck wird ein Impuls ausgelöst, der im Rückenmark via Aβ-Faser die Erregungsüberleitung des Schmerzsignals hemmt. Die großen Aβ-Nervenfasern sind für die taktilen Informationen zuständig und leiten viel schneller als die C-Nervenfasern und die Aδ-Nervenfasern. Nozizeption im Detail 10 Spinale Reflexe Im Hinterhorn des Rückenmarks kommt es einerseits zu Reflexverschaltungen. Da liegt die erste Schaltstelle.. Ein Teil der Impulse wird von den afferenten Neuronen auf Interneurone umgeschaltet. Diese Interneurone gehen mit den Vorderhornzellen synaptische Kontakte ein und ermöglichen dadurch spinale Reflexe. D.h. auf der Ebene des Rückenmarks sind direkte, reflektorische (motorische oder vegetative) Reaktionen auf das Signal möglich. Das Zurückziehen der Hand nach Berühren einer heissen Herdplatte beruht auf einem spinalen motorischen Reflex. Vegetative spinale Reflexe führen z.B. zu Durchblutungsänderungen in der Haut oder in den inneren Organen (Salgo, 2007). Interneurone können Warnsignal hemmende (z.B. Opioide) oder Warnsignal erregende Substanzen (Glutamat) ausscheiden (Jänig, 2014). Modifiziert von http://e-learning.studmed.unibe.ch/webtbs/not104_medtherapie_akute/html/definition.php?1 Nozizeption im Detail 11 Transmission Andererseits, nebst dem Spinalen Reflex, gelangt die Information über den Vorderseitenstrang (Tractus spinothalamicus) zum Ventrobasalkern des Thalamus und von dort weiter zum Cortex. Dabei übertragen die nozizeptiven Afferenzen das Signal im Hinterhorn entweder indirekt über Interneurone oder aber direkt auf Neurone mit aufsteigenden Fasern. Die Axone dieser Neurone kreuzen zuerst zur Gegenseite, um dann grösstenteils im Tractus spinothalamicus zum Hirnstamm aufzusteigen (Salgo, 2007). Transmission= Weiterleitung der afferenten nozizeptiven Information als elektrische Impulse im peripheren Nervensystem (PNS) und zentralen Nervensystem (ZNS) (Gallachi &Pilger, 2005). Nozizeption im Detail 12 Perzeption 1 Ein Teil der Gefahrenbotschaft wird via Tractus spinothalamicus vom Rückenmark zuerst zum Thalamus und dann weiter via limbisches System zum Cortex geleitet. Die erwähnten Anteile der Nozizeption, im Bild violett dargestellt, steuern die Reaktion des Körpers auf noxische Rreize. Im sensiblen Cortex wird der Schmerz bewusst und im limbischen System emotional bewertet. Die bewusste Schmerzwahrnehmung und genaue Lokalisation eines Schmerzes ist ein Lernprozess. Für jedes Hautareal gibt es ein repräsentatives und zuständiges Areal auf dem sogenannten sensiblen Homunculus (virtueller Körper). Durch Erfahrungen wird ein Stich in den kleinen linken Finger auch sofort als ein solcher bewusst (Salgo, 2007). Nozizeption im Detail 13 Perzeption 2 Ein anderer Teil der Gefahrenbotschaft steigt via Tractus spinothalamicus im Rückenmark zum lateralen Thalamus auf und projiziert dort weiter in den Gyrus postcentralis des Cortex. Die erwähnten Anteile der Nozizeption, im Bild rot dargestellt, sind an der Erkennung der Art, Intensität, Zeitdauer und Lokalisation des Schmerzes beteiligt (Salgo, 2007). Die Botschaft wird im Gehirn verarbeitet und wenn das Gehirn beschliesst, dass Sie in Gefahr sind und etwas dagegen tun müssen, dann wird es Schmerzen produzieren (Butler&Moseley, 2016). Nozizeption im Detail 14 Perzeption 3 Es gibt nicht nur ein einziges Schmerzzentrum im Gehirn, wie man immer angenommen hat. Es gibt viele Areale, die bei einer Schmerzerfahrung aktiv sind. Siehe Abbildung "Mögliche Schmerzknotenpunkte in einem Schmerzgedächtnis" (Butler&Moseley, 2016, S.33) Wir müssen bedenken, dass die Gefahrenbotschaft aus den Geweben, die über das Rückenmark zum Gehirn gesendet wurde, nur eines von vielen ankommenden Signalen ist. Viele von den "Schmerzknotenpunkten" können durch verschiedenste andere Reize aktiviert werden, die zeitgleich unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen (Butler& Moseley, 2016). Nozizeption im Detail 15 Schmerzreaktionen Schmerzen haben weitreichende Folgen für den gesamten Organismus. Der Körper antwortet auf Schmerzen mit verschiedenen Reaktionen: Beispielsweise erhöhter Blutdruck, erhöhte Herzfrequenz und erhöhtes Schlagvolumen, etc. (Salgo, 2007). Das Gehirn steuert die Zusammenarbeit von verschiedenen Systemen, die zusammen aktiv werden, um Sie ausser Gefahr zu bringen (Butler&Moseley, 2016). Nozizeption im Detail 16 Schmerzmodulation im Nervenstrang Zwischen peripherem Input (noxischer Reiz) und zentraler Schmerzregistrierung herrscht kein starres proportionales Ursache-Wirkung Prinzip. Das heisst: Nicht je stärker der periphere Reiz umso stärker der Schmerz! Verschiedene Strukturen des Nervenstrangs können eine Schmerzmodulation verursachen (siehe Abbildung). Modulation = Kontrolle und Bearbeitung der nozizeptiven Information durch spezififsche neuronale Hemmsysteme (Galacchi & Pilger, 2005). Die Modulation kann Schmerzen verringern oder verstärken. Beispiel für eine Schmerzmodulation: Bereits in den 1960er Jahren wurde vermutet, dass die Schmerzübertragung im Rückenmark entscheidend modifiziert wird (sog. Gate-Control- Theorie von Melzack und Wall). Man spricht dann von einer Modulation des nozizeptiven Reizes im Rückenmark (Egloff et al., 2008). Nozizeption im Detail 17 Gate-Control-Theorie Die Gate (=Tor)-Control-Theorie (Melzack & Wall, 1965) vergleicht die Schaltstellen im Rückenmark mit einem Tor. Melzak und Wall konnten zeigen, dass die Weiterleitung der Schmerzimpulse im Rückenmark sowohl von peripheren als auch von absteigenden Bahnen aus dem Gehirn gehemmt werden können. Der Organismus verfügt somit über ein körpereigenes Schmerzhemmsystem, das individuell und situationsabhängig mehr oder weniger stark aktiv ist. Die Gate-Control-Theorie ist alt. Betrachtet man diese aber als Modell, nicht als eine exakte Theorie (denn für Schmerzforscher ist sie zu ungenau), dann ist sie noch immer aktuell (Sufka & Price, 2002). Sie kennen bestimmt auch Situationen in denen Sie Schmerzen weniger wahrnehmen und diese in den Hintergrund treten? Wenn Sie ein spannendes Buch lesen oder ein angenehmes Gespräch führen, kann es vorkommen, dass sie das eigentlich schmerzende Knie gar nicht wahrnehmen. Dies kann anhand der Gate-Control-Theorie erklärt werden: In solchen Situationen schliesst sich das „Tor“ im Rückenmark etwas. Weniger Gefahrensignale passieren das Rückenmark und somit gelangen weniger Gefahrensignale zum Gehirn. Ablenkung, Entspannung, Wärme- oder Kälteanwendung, Selbstvertrauen oder eine optimistische Grundhaltung können zu einer Schmerzlinderung führen. Umgekehrt sind Passivität, Traurigkeit, Langeweile, Hilflosigkeit, Stress und Anspannung Faktoren, die den Schmerz verstärken und das „Tor“ eher öffnen: Der Schmerz wird als stärker und als unangenehmer empfunden (Lindenhof Bildung, 2013). Nozizeption im Detail 18 Absteigende Modulation Die schmerzhemmende Modulation wird vom Grosshirn ins Rückenmark durch absteigende Bahnen vermittelt. Wichtige Zentren der Schmerzkontrolle liegen im Mittelhirn und in der Medulla oblongata. Von dort führen absteigende Bahnen im Rückenmark zum Hinterhorn, wo sie synaptische Kontakte mit Interneuronen und Hinterhornneuronen eingehen und deren Entladung hemmen. Dadurch wird das Schmerzsignal abgeschwächt. Psychische Faktoren, z.B. Ablenkung, positive Emotionen aber auch Stress beeinflussen das Ausmass der deszendierenden Hemmmechanismen (Salgo, 2007). Nozizeption im Detail 19 Schmerzmodulation durch körpereigene Modulatoren Das absteigende, schmerzhemmende System wird physiologischerweise durch Schmerz und Stress aktiviert. Das Endorphinsystem wird beispielweise unter anderem in Notfallsituation aktiviert. Bisher wurde angenommen, dass die Endorphinausschüttung der Grund sei, warum manche schwer verletzte Menschen zunächst keine Schmerzen verspüren. Neben endogenen Opioiden sind auch Serotinin, Noradrenalin, Endomorphin als Neuromodulatoren auf verschiedenen Stufen dieses Systems beteiligt. Diese Eigenschaft wird therapeutisch bei der Verabreichung von Opioiden genutzt (Salgo, 2007). Zusammenfassung Nozizeption Periphere Nozizeptoren werden durch potentielle Gewebeschäden aktiviert. Die periphere Nozizeption wird dabei durch afferente Schmerzfasern vermittelt: A-delta-Fasern, myelinisiert: vermitteln mechanische und thermische Reize. Diese Fasern vermitteln den "schnellen"-Schmerz. C-Fasern, nicht myelinisiert: sind ebenfalls polymodal und vermitteln neben anderen Reizen den dumpfen, schlecht lokalisierbaren, "langsamen" Schmerz. Das Signal wird in das Rückenmark geleitet. Die aufsteigenden (afferenten) Bahnen übertragen das "Schmerzsignal" zum Gehirnstamm, Thalamus und anderen Hirnregionen. Die absteigenden (efferenten) Bahnen übertragen schmerzmodulierende Signale in die Peripherie. 1.2 Nozizeption an einem Fallbeispiel dargestellt «Beim Grand-Prix von Bern bin ich auf dem nassen Asphalt ausgerutscht. Ich habe augenblicklich einen heftigen, stechenden Schmerz und später einen dumpfen, anhaltenden Schmerz im Fuss gespürt. Ich konnte zusehen wie mein ganzer Fuss anschwoll. Von der Sanität habe ich einen Eisbeutel erhalten. Ich habe ihn mit Druck um das Fussgelenk gebunden, was mir sehr gut tat. Auf der Notfallstation wurden mir Schmerzmedikamente verabreicht: Ich bekam eine Tablette «Ponstan» und eine Morphiumspritze. Ich war froh, dass meine Freundin auf dem Notfall dabei war und dass ich mich mit Fernsehen ablenken konnte. Ich konnte mich beruhigen und der Schmerz wurde erträglich». Bei Herrn Faser sind die Mechanismen der Schmerzphysiologie (Nozizeption und Schmerzmodulation) gut erkennbar. Schauen wir uns an, welche Mechanismen (Transduktion, Transmission, Perzeption und Modulation) die Schmerzwahrnehmung von Herr Faser beeinflussten: (Klicken Sie auf die Bilder, um die Erklärung auf der Rückseite zu sehen.) Transduktion Das Trauma am Fuss führt zu einer Gewebeschädigung. Die geschädigten Zellen schütten algetische Substanzen oder Entzündungs-mediatoren aus, welche die Nozizeptoren erregen. In den Nozizeptoren werden die chemischen Reize Transmission Die verschiedenen Schmerzfasern leiten den Schmerz unterschiedlich schnell. Herr Faser verspürte zunächst einen schnellen, stechenden Schmerz. Die Aδ- Fasern sind myelinisiert und daher schnellleitend. Sie vermitteln einen hellen, gut Perzeption und Modulation Die Schmerzreduktion durch Opiate beruht auf der Aktivierung der endogenen schmerzhemmenden Systemen. Opiate binden sich Opiatrezeptoren des ZNS an und hemmen dort die Entstehung und Weiterleitung 2 Pathophysiologische Nozizeption Pathophysiologische Nozizeption in Kürze Neben den Schmerzreizen, die von aussen auf den Körper einwirken, können auch körpereigene Schmerzmediatoren chemische Reize und damit Schmerzen auslösen. Der pathophysiologische Nozizeptorschmerz wird durch pathophysiologische Organveränderungen ausgelöst (z.B. bei Entzündungen). Er ist ein wichtiges Symptom vieler Erkrankungen (Schaible, 2010). Zu dieser Art Schmerz zählen beispielsweise die Schmerzen, die bei rheumatoider Arthritis auftauchen. Pathophysiologische Nozizeption (=entzündungsbedingte Schmerzen) im Detail Eine Erkrankung z.B. eine Entzündung in einem Gelenk kann zu einer charakteristischen Schmerzerscheinung führen, welche durch eine pathophysiologische Nozizeption zustande gekommen ist. Neben den Schmerzreizen, die von aussen auf den Körper einwirken, können also auch körpereigene Schmerzmediatoren mit den Nozizeptoren reagieren und damit Schmerzen auslösen. Häufig ist dies bei Entzündungen der Fall. Abbildung: colourbox.com Pathophysiologische Nozizeption 1 Der pathophysiologische Nozizeptorschmerz Der pathophysiologische "Nozizeptorschmerz" ist gekennzeichnet durch Hyperalgesie, Allodynie und Ruheschmerzen. Hyperalgesie = Stärkere Schmerzempfindungen als normal bei schmerzhafter Reizung (Schaible, 2010). Allodynie = Auftreten von Schmerzen durch normalerweise nicht-schmerzhafte Reize z.B. sanfte Berührungsreize (Schaible, 2010). Ruheschmerzen = Spontane Schmerzen ohne willkürliche mechanische oder thermische Reizung (Schaible, 2010). Ein Sonnenbrand zum Beispiel erzeugt eine thermische und mechanische Allodynie und Hyperalgesie der Haut, so dass eine Dusche mit gewohnter Temperatur und normalem Wasserstrahl Schmerzempfindungen auslösen kann. Ein entzündetes Gelenk schmerzt schon bei normalen Bewegungen, die sonst nicht schmerzen würden (Schaible, 2019, S. 677). Pathophysiologische Nozizeption 2 Sensibilisierungsprozesse bei Entzündungen Periphere und zentrale (spinale und zerebrale) Mechanismen können die Schmerzwahrnehmung steigern, dann spricht man von einer Sensibilisierung (Schaible, 2010). Sensibilisierungsprozesse verursachen die pathophysiologische Nozizeption. Zu einer Sensibilisierung kann es in den Nozizeptoren (peripher), im Rückenmark (spinal) oder im Gehirn (zerebral) kommen. Auf die periphere und die spinale Sensibilisierung gehen wir in diesem Kapitel näher ein. Pathophysiologische Nozizeption 3 Übersicht über Sensibilisierungsprozesse Pathophysiologische Nozizeption 4 Periphere Sensibilisierung - Sensibilisierung eines Nozizeptors bei Entzündung a Bildung und Freisetzung von Entzündungsmediatoren. Diese bilden im Bereich der sensorischen Nervenendigung ein entzündliches chemisches Milieu. b Senkung der Antwortschwelle eines Nozizeptors im Laufe des Sensibilisierungsprozesses: Die Nervenendigung wird so empfindlich für mechanische und thermische Reize, dass auch normalerweise nicht-noxische Reize die Faser erregen Was heisst das genau? Eine Entzündung führt zu Sensibilisierung von Nozizeptoren und zur Rekrutierung von bisher stummen Nozizeptoren! Die Sensibilisierung erzeugt die primäre Hyperalgesie im entzündeten Gewebe. Zusätzlich entwickeln viele Nozizeptoren im entzündeten Gebiet Spontanaktivität. Diese ist die Basis für Ruheschmerzen. Geschädigtes Gewebe ist also sensibler und schmerzempfindlicher als gesundes Gewebe. Abb: Schaible, 2019, S. 678 Pathophysiologische Nozizeption 5 Periphere Sensibilisierung Das Gleiche nun mit anderen Worten erklärt: Niveau der Schmerzverstärkung: Nozizeption, freie Nervenendigungen Eine Gewebeverletzung führt durch die Freisetzung von Entzündungsmediatoren zu klassischen Entzündungszeichen wie Ödem, Schmerz, Rötung, Wärme und Funktionseinschränkungen. Zusätzlich lösen diese Stoffe eine primäre Hyperalgesie aus. Diese periphere Sensibilisierung entsteht durch eine niedrige Reizschwelle der Nozizeptoren und wirkt somit als Schutzfunktion des Körpers (Salgo, 2007). Bei andauernder nozizeptiver Erregung können die Nozizeptoren ihre Erregungsschwelle senken und sogenannte „schlafende Nozizeptoren“ aktivieren. Der Nerv als "Feuermelder" wird damit quasi zum "Brandstifter". Ein weiterer Aspekt der peripheren Sensibilisierung beruht darin, dass üblicherweise auf Druckempfindung spezialisierte Nervenfasern (Aβ) bei entsprechender Stimulation auch zu "Schmerzü̈ berleitern" werden können (Petersen-Felix&Curatolo, 2002). Pathophysiologische Nozizeption 6 Spinale Sensibilisierung Auf eine periphere Sensibilisierung folgt häufig eine spinale Sensibilisierung. Hierbei werden Nozizeptoren im ZNS für Gefahrenmeldungen empfindlicher. Eine spinale Sensibilisierung erhöht die Weiterleitung der Gefahrensignale vom 1. Neuron auf das 2. Neuron zum Gehirn. Die spinale Sensibilisierung erklärt, weshalb häufig auch in gesunden Arealen um den Entzündungsherd herum eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit vorliegt, eine sogenannte sekundäre Hyperalgesie. Nach Abklingen des peripheren schmerzauslösenden Prozesses geht die spinale Sensibilisierung entweder zurück oder sie bleibt über das schädigende Ereignis hinaus bestehen (Schaible, 2010). Pathophysiologische Nozizeption 7 Spinale Sensibilisierung In anderen Worten, etwas ausführlicher erklärt: Niveau der Schmerzverstärkung: Synaptische Umschaltung im Hinterhorn des Rückenmarks (Vom 1. auf das 2. Neuron) Eingehende Schmerzreize werden im ZNS überschiessend verarbeitet. Übersensible Nozizeptoren leiten mehr Schmerzimpulse an das Rückenmark. Die Nervenzellen im Rückenmark bilden darum neue Rezeptoren, um alle Reize aufnehmen zu können. Sie werden damit überempfindlich. Das heisst, die Hinterhornneuronen auch von anderen Gewebsabschnitten werden jetzt sensibilisiert. Reize aus dem Impulsteppich von vorhin, die normalerweise gar nicht wahrgenommen wurden, werden jetzt als Gefahrensignale weitergeleitet, obwohl gar kein noxischer Reiz da ist. Zusätzlich erhöhen Zellen - die normalerweise sowohl auf Aβ- (taktile Reize) als auch auf nozizeptive Impulse reagieren - ihre Sensibilität so weit, dass sie sehr viel stärker und sehr viel länger Aktionspotentiale weiter leiten als dies unter normalen Umständen der Fall ist. Oft zeigt sich bei einer sekundären Hyperalgesie auch eine Allodynie (Egloff, Egle, von Känel, 2008). So wird das Gehirn ausgetrickst. Es operiert mit fehlerhaften Informationen über den Zustand in den Geweben (Butler&Moseley, 2016). Pathophysiologische Nozizeption 8 Spinale Sensibilisierung Die Abbildung zeigt die Sensibilisierung eines nozizeptiven Rückenmarkneurons (spinale Sensibilisierung) bei peripherer Entzündung. a: Zonen der primären und der sekundären Hyperalgesie b: Normale Nozizeption. Rezeptives Feld (gelber Kreis) eines Rückenmarkneurons im gesunden Gewebe. Bei noxischem Druck auf die Stellen 2 und 3 werden Aktionspotenziale ausgelöst, bei noxischem Druck auf das umgebende Gewebe (Stellen 1 und 4) dagegen nicht. c: Primäre und sekundäre Hyperalgesie. Nach Ausbildung einer Entzündung im rezeptiven Feld nimmt die Antwort auf mechanische Reizung des entzündeten Areales zu (Druck auf Stelle 2), und auch Reizung des benachbarten Gewebes (Stelle 3) löst stärkere Aktivität aus. Zudem vergrössert sich das rezeptive Feld, sodass auch die Reize an den Stellen 1 und 4 Aktionspotenziale auslösen (Schaible, 2019, S. 679; zit. nach Fölsch, Kochsiek & Schmidt, 2000, S.311). Also: Eine Hyperalgesie ist häufig nicht auf den Ort der Schädigung begrenzt (Zone der primären Hyperalgesie), sondern umfasst auch eine Zone im gesunden Gewebe um den Krankheitsherd herum (sekundäre Hyperalgesie). Pathophysiologische Nozizeption 9 Spinale Sensibilisierung - Bildhafte Beschreibung Als Folge der spinalen Sensibilisierung wird dem Gehirn weiss gemacht, dass es im Gewebe mehr Gefahren gibt, als dort tatsächlich vorhanden sind. Mit zwei bildhaften Vergleichen können Sie sich diese erhöhte Sensibilität vielleicht besser vorstellen: 1. Es ist ein bischen so, als hätten Sie nachdem in Ihr Gartenhaus eingebrochen wurde, ein supertolles Alarmsystem eingebaut. Bestimmt ist damit nun alles gesichert, aber jetzt geht der Alarm schon los, wenn nur eine kleine Maus über den Boden läuft. 2. Ihr Computer ist gestört. Sie drücken auf der Tastatur (=gesamtes Gewebe) ganz kurz auf einen Buchstaben, z.B. "G" (=Gefahr in den Geweben) doch auf dem Bildschirm (=Rückenmark) erscheinen sehr viele "Gs". GGGGGGGG (Butler&Moseley, 2016, S. 68) Zusammenfassung Periphere und zentrale Sensibilisierungsprozesse können die Schmerzwahrnehmung im Sinne einer pathophysiologischen Nozizeption/entzündungsbedingte Schmerzen steigern. Eine primäre Hyperalgesie ist eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit im Bereich der Schädigung. Eine sekundäre Hyperalgesie ist eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit ausserhalb des Krankheitsherdes. Eine periphere Sensibilisierung der Schmerzwahrnehmung findet auf Niveu der peripheren Nozizeptoren statt. Eine spinale Sensibilisierung findet auf Niveau der synaptischen Umschaltung im Hinterhorn des Rückenmarks statt. Die zerebrale Sensibilisierung wird im Kapitel 4. Noziplastische Schmerzen genauer erläutert Anmerkung zu den Begriffen: In der Literatur werden die spinale und zerebrale Sensibilisierung oft als zentrale Sensibilisierung bezeichnet. Das Rückenmark (spinal) bildet ja gemeinsam mit dem Gehirn (zerebral) das zentrale Nervensystem (ZNS). Stärkere Schmerzempfindungen Hyperalgesie als normal bei schmerzhafter Reizung (Schaible, 2010). Hyperalgesie im Bereich einer Primäre Hyperalgesie Schädigung bzw. Erkrankung (Schaible, 2010). Hyperalgesie im gesunden Gewebe ausserhalbdes Sekundäre Hyperalgesie Krankheitsherdes bzw. der Verletzung (Schaible, 2010). Auftreten von Schmerzen durch normalerweise nicht- Allodynie schmerzhafte Reize z.B. sanfte Berührungsreize (Schaible, 2010). Spontane Schmerzen ohne willkürliche mechanische oder Ruheschmerzen thermische Reizung (Schaible, 2010). Pathophysiologische Nozizeption: Bei einer Allodynie können bereits sanfte Berührungen eine Schmerzwahrnehmung erzeugen. 3 Neuropathische Schmerzen Definition Neuropathischer Schmerz ist als „Schmerz, der durch eine Läsion oder Erkrankung des somatosen-sorischen Nervensystems verursacht wird“ definiert (IASP, 2016). Entstehung Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigung oder Dysfunktion von Nervenfasern. Anders als bei einer "normalen" Nozizeption entstehen die Schmerzimpulse nicht im Bereich der Nervenendigungen von Nozizeptoren in den Geweben des Körpers. Verantwortlich ist beim neuropathischen Schmerz eine Aktivierung im Verlauf der Nervenbahnen, die vom Bereich der Nervenschädigung aus bis zum Gehirn reichen. Neuropathische Schmerzen unterscheiden sich somit von den sogenannten nozizeptiven Schmerzen, bei denen das Nervensystem intakt ist. Vereinfacht gesagt: Das Nervensystem selbst schmerzt (Schaible, 2010). Bild: https://www.schmerzordination.at/schmerzarten/neuropathische-schmerzen/ Symptome Brennen, einschiessender Schmerz, elektrisierender Schmerz, ausstrahlender Schmerz, schmerzhafte Kälte, Ameisenlaufen. Es besteht häufig eine Hyperalgesie oder eine Allodynie. Im Extremfall kann eine Allodynie so ausgeprägt sein, dass bereits das Anlegen eines Kleidungsstücks oder den Druck der Bettdecke Schmerzen auslöst (Schaible, 2010). Beispiele für Neuropathische Schmerzen Beispiele Neuropathische Schmerzen 1 Phantomschmerzen Phantomschmerz ist eine neuropathische Schmerzkrankheit, die nach Amputation oder Verlust eines Körperteils auftritt. Hierbei wird der Schmerz bizzarerweise gerade in dem fehlenden Körperteil empfunden. Der Schmerz ist extrem unangenehm, tritt episodenhaft auf und wandert häufig in der fehlenden Extremität von distal nach proximal (Schaible, 2010). Beispiele Neuropathische Schmerzen 2 Phantomschmerzen - Pathophysiologie Schematisches Diagramm der Hauptfaktoren, die für die Entwicklung von Phantomschmerz relevant sind: Bei Phantomschmerzen liegt eine pathologische Aktivierung des nozizeptiven Systems vor, verbunden mit neuroplastischen Veränderungen im Kortex. Am Nervenstumpf können Entladungen entstehen, die das nozizeptive System inadäquat aktivieren. Zusätzlich zeigt der Kortex eine Reorganisation, bei der die somatotopischen Areale der fehlenden Extremität von den benachbarten Körperarealen aus aktiviert werden können. Hierdurch kann es zu Aktivierungen kommen, die in die fehlende Extremität projiziert werden (Schaible, 2010; Flor & Andoh, 2017). Abb.: Flor & Andoh, 2017, S.151 Beispiele Neuropathische Schmerzen 3 Phantomschmerzen - Schmerz durch kortikale Reorganisation Phantomschmerzen geben uns einen Einblick in die "Landkarte" des Körperteils im Gehirn (den "virtuellen" Körper). Das Gehirn enthält tatsächlich viele virtuelle Körper. Unsere virtuellen Körper informieren uns, wo sich unser eigentlicher Körper räumlich befindet. Bei Phantomglieder ist immer noch das virtuelle Bein und die Verbindung des Beines zum Rest des Körpers im Gehirn repräsentiert, obwohl das Bein nicht mehr da ist (Butler&Moseley, 2016). Einige Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben gezeigt, dass Phantomschmerzen mit umfangreichen Veränderungen der Gehirnorganisation verbunden sind (Melzack et al., 1997; zit. nach Butler&Moseley, 2016). Auch bei chronischen Schmerzen kommt es zu solchen Umstrukturierungen im Gehirn (Moseley&Flo, 2012; zit nach Butler&Moseley, 2016). Diese Umstrukturierungen oder die kortikale Reorganisationen führen zu Veränderungen des virtuellen Körpers. Areale die keinen sensorischen Eingang mehr besitzen, zum Beispiel das verlorene Bein, werden von anderen "Eingängen" mitbenutzt. Die daraus resultierende Aktivierung wird fälschlicherweise der nicht mehr vorhandenen Gliedmasse zugeordnet (Schaible, 2010). Im Gehirn gehen die klaren Umrisse des virtuellen Beins verloren (Butler&Moseley, 2016). Abbildung: Kay Hofmann, https://www.dasgehirn.info/wahrnehmen/fuehlen/das-flexible-gehirn Beispiele Neuropathische Schmerzen 4 CRPS - Complex Regional Pain Syndrome "Ich bin 27Jahre alt und brach mir am 06. Juli 2016 bei einem Treppensturz das linke Sprunggelenk. Ich dachte das Ganze sei nach 6 Wochen Aircast Stiefel überstanden. Aber es kam alles anders. Mein Bein schwoll innerhalb dieser 6 Wochen immer mehr an, wurde warm und ich hatte unglaubliche Schmerzen. Selbst beim Anziehen von Socken musste ich mich zusammenreissen um nicht vor Schmerzen zu heulen. Die Orthopäden vermuteten eine verzögerte Wundheilung und kümmerten sich zunächstnicht wirklich um meinen linken Fuss und die von mir beschriebenen Symptome. Nein im Gegenteil, ein Orthopäde stellte noch den kränkenden Vergleich an: „Sie sind doch keine 90 wie ihre eigenen Patienten sondern Jahrgang 90, also reissen sie sich mal zusammen und laufen einfach“. Wie gerne hätte ich das getan, aber ich konnte einfach nicht, ich konnte nicht einmal den Fuss auf den Boden aufsetzen. Aber man nahm mich nicht ernst. Auch nicht, als ich von den Sensibilitätseinschränkungen berichtete, die ich empfand. Und dabei wusste ich in diesem Fall genau wovon ich sprach, da ich selbst Ergotherapeutin bin" (CRPS-Netzwerk, 2018). Beispiele Neuropathische Schmerzen 5 CRPS Symptome Mit dem Begriff des CRPS werden verschiedene schmerzhafte Zustände zusammengefasst, welche typischerweise nach einem auslösenden Ereignis distal an einer Extremität (Hand oder Fuss) auftreten (Tschopp & Brunner, 2017). Klinisch manifestiert sich das CRPS als vielfältiger Symptomkomplex, bestehend aus sensiblen, vasomotorischen, sudomotorischen, motorischen und trophischen Störungen. Die Art und Intensität dieser Veränderungen treten individuell verschieden auf und ändern sich im Verlauf der Erkrankung. Das Spektrum der klinischen Manifestationen ist in der Tabelle zusammengefasst. Über die Hälfte der CRPS Patienten entwickeln zudem eine veränderte Wahrnehmung der betroffenen Extremität, was bis zu einem Fremdkörpergefühl oder dem Wunsch zur Amputation führen kann (Bodde et al., 2011; zit. nach Tschopp & Brunner, 2010). Beispiele Neuropathische Schmerzen 6 CRPS Pathologie Kennzeichnend tritt das CRPS nach einem auslösenden Ereignis auf. Dabei handelt es sich vorwiegend um ein Trauma, d.h. eine Kontusion, Fraktur oder eine Operation. Spontan auftretende CRPS sind bekannt, treten jedoch insgesamt selten auf (Tschopp & Brunner, 2017). Ursache Man geht davon aus, dass mehrere pathophysiologische Mechanismen zu einem CRPS beitragen (Marinus et al., 2011): abnormale Entzündungsmechanismen (starke Schwellung, Hitze) periphere und/oder zentrale Sensibilisierung vasomotorische Dysfunktionen (betroffene Hände/Füsse sind zu Beginn meist heiss, später eher kalt) fehlangepasste Neuroplastizität (verursacht eine diffuse Körperwahrnehmung des betroffenen Körperteils, Veränderungen auf dem primären Motorkortex verursachen motorische Störungen) Beispiele Neuropathische Schmerzen 7 Schmerzen nach Querschnittlähmung Häufig treten in der Folge einer Querschnittlähmung neuropathische Schmerzen auf, die Klient:innen zusätzlich bel