Modul Automatisierungstechnik 1 PDF

Summary

Dieses Dokument ist ein Kapitel zum Thema Regelungstechnik im Modul Automatisierungstechnik 1. Es behandelt lineare, zeitinvariante Differentialgleichungssysteme, Modellbildung und Dynamiken verschiedener Beispiele wie Fahrzeugen, Wassertanks und Feder-Masse-Schwinger.

Full Transcript

Modul Automatisierungstechnik 1 Regelungstechnik w(t) + e(t) u(t) y(t) Regler Strecke − Moritz Lang, Department Industrial Engineering Inhaltsverzeichnis 1 Lineare, zeitinvariante Dif...

Modul Automatisierungstechnik 1 Regelungstechnik w(t) + e(t) u(t) y(t) Regler Strecke − Moritz Lang, Department Industrial Engineering Inhaltsverzeichnis 1 Lineare, zeitinvariante Differentialgleichungssysteme 2 1.1 Modellbildung...................................... 2 1.1.1 Beispiel 1: Bewegungsgleichungen Fahrzeug.................. 2 1.1.2 Beispiel 2: Gekoppelte Wassertanks....................... 3 1.1.3 Beispiel 3: Feder-Masse-Schwinger....................... 5 1.2 LZI-Systeme 1. Ordnung................................ 5 1.2.1 Allgemeine Beschreibung............................ 5 1.2.2 Homogene Dynamiken und Stabilität...................... 7 1.2.3 Sprungantwort.................................. 11 1.3 LZI-Systeme 2. Ordnung................................ 16 1.3.1 Allgemeine Beschreibung............................ 16 1.3.2 Homogene Dynamiken und Stabilität (reelle Pole)............... 17 1.3.3 Homogene Dynamiken und Stabilität (komplexe Pole)............. 20 1.3.4 Sprungantwort.................................. 24 1.4 Selbstcheck....................................... 27 1.4.1 Linearmotor................................... 27 1.4.2 RC-Glied..................................... 27 1.4.3 Schwingfähiges System............................. 28 1 1 Lineare, zeitinvariante Differentialgleichungssysteme In diesem Kapitel werden lineare, zeitinvariante (LZI) Systeme eingeführt und deren mögliche Dyna- miken analysiert. Der Fokus liegt dabei auf einem der wichtigsten Konzepte der Regelungstechnik: der Stabilität (bzw. Instabilität) von Systemen. Es wird vorgestellt, wie die Stabilität eines LZI- Systems über dessen Pole bestimmt werden kann. Letztere geben auch grundlegende Informationen über die Zeitkonstanten eines Systems, sowie ob dieses schwingfähig ist. Es wird zudem vorgestellt, wie die Parameter eines LZI-Systems anhand der Sprungantwort identifiziert werden können (das so- genannte „inverse Problem“). Den Anfang machen allerdings drei Beispielsysteme, für die wir Schritt für Schritt die entsprechenden LZI-Modelle herleiten und an denen wir später jedes neue Konzept veranschaulichen. 1.1 Modellbildung 1.1.1 Beispiel 1: Bewegungsgleichungen Fahrzeug Das erste Beispielsystem ist ein Modell, dass die (stark vereinfachten) Bewegungsgleichungen eines Fahrzeuges beschreibt (Abbildung 1.1). Das Fahrzeug hat dabei die Position s(t) (Einheit: m) und die Masse m = 1400 kg, und bewegt sich mit der Geschwindigkeit v(t) (Einheit: m/s) auf einer ebenerdigen Fahrbahn nach rechts (v(t) > 0) bzw. links (v(t) < 0). Die Variable t (Einheit: s) stellt dabei die Zeit dar. Position 𝑠(𝑡), Geschwindigkeit 𝑣(𝑡) Fahrwiderstand 𝐹𝑤 (𝑡) ≈ 𝑐𝑤 𝑣(𝑡) Antriebskraft 𝐹𝐴 (𝑡) Masse 𝒎 Abbildung 1.1: Stark vereinfachtes Modell eines Fahrzeuges. Auf das Fahrzeug wirken zwei Kräfte: (i) Die Antriebskraft FA (t) (Einheit: N), die das Fahrzeug nach rechts (FA (t) > 0 N) oder links (FA (t) < 0 N) beschleunigt bzw. abbremst; sowie (ii) die Fahrwiderstandskraft FW (t), die der derzeitigen Bewegungsrichtung des Fahrzeugs entgegenwirkt und dieses abbremst. Zu jedem Zeitpunkt t kann die Antriebskraft FA (t) beliebig vom Fahrer ge- setzt werden kann (über Gaspedal und Bremse), während sich die Fahrwiderstandskraft FW (t) über 2 physikalische Gesetzmäßigkeiten (Luft-, Roll-, Haftwiderstand etc.) ergibt und damit außerhalb der Kontrolle des Fahrers liegt. Vereinfachend nehmen wir an, dass FW (t) = cW · v(t) dabei proportional zur derzeitigen Geschwindigkeit v(t) ist1 , mit Proportionalitätskonstante cW = 130 N s/m. Um aus dieser abstrakten Modell eine mathematische Beschreibung der Systemdynamiken her- zuleiten, benötigen wir physikalische Gesetzmäßigkeiten, die die gegebenen bzw. bekannten Größen (Antriebskraft FA (t), Parameter cW ) mit den Größen, die für uns von Interesse sind (Geschwindig- keit v(t) und Position s(t)) verbindet. Die erste dieser Gesetzmäßigkeiten ist das zweite Newtonsche Gesetz „Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung“: d m · a(t) = m v(t) = −cW · v(t) + FA (t). dt Rt Die zweite benötigte Gesetzmäßigkeit ist, dass die Position s(t) = 0 v(τ )dτ das Integral der Geschwindigkeit v(t) ist. Wenn wir beide Seiten nach der Zeit ableiten, ergibt sich: d s(t) = v(t). dt Zusammengefasst ergeben sich also folgende Modellgleichungen: d cW 1 v(t) = − · v(t) + FA (t) (1.1a) dt m m d s(t) = v(t) (1.1b) dt Bevor wir die sich aus diesen Gleichungen ergebenden Dynamiken des Fahrzeugmodells analysieren, schauen wir uns zuerst zwei weitere Modelle an. 1.1.2 Beispiel 2: Gekoppelte Wassertanks Das zweite Beispielmodell beschreibt die Dynamiken der Füllhöhen h1 (t) (Einheit: cm) und h2 (t) von zwei gekoppelten Wassertanks (Abbildung 1.2). Die beiden Tanks sind annähernd zylinderförmig mit Grundflächen A1 = 1.25 m2 und A2 = 0.5 m2. Der erste Tank wird über einen Zufluss Qin (t) (Einheit: l/min) mit Wasser befüllt. Der Abfluss Q1 (t) des ersten Tanks bildet zugleich den Zufluss des zweiten Tanks. Der Abfluss Q2 (t) des zweiten Tanks verlässt das System. 1 Die hier verwendete lineare Approximation ist nur eine erste, recht ungenaue Näherung. Zum Beispiel resultiert der Luftwiderstand in einer Kraft, die (bei Windstille) näherungsweise proportional zum Quadrat der Geschwindigkeit ist (FW,Luf t (t) ∝ v 2 (t)). 3 𝑄𝑖𝑛 (𝑡) ℎ1 𝑡 0 𝑄1 (𝑡) ℎ2 (𝑡) 0 𝑄2 (𝑡) Abbildung 1.2: Vereinfachtes Modell zweier gekoppelter Wassertanks. Der Zufluss Qin (t) zum ersten Tank kann zu jedem Zeitpunkt t (Einheit: min) frei gesetzt werden. Wir nehmen vereinfacht an, dass die Abflüsse Q1 (t) = k1 h1 (t) und Q2 (t) = k2 h2 (t) aus dem ersten bzw. zweiten Tanks näherungsweise proportional zur jeweiligen Füllhöhe h1 (t) bzw. h2 (t) sind2 , mit Proportionalitätskonstanten k1 = 0.5 l/(min cm) und k2 = 1.5 l/(min cm). Da Wasser (annähernd) inkompressibel ist, muss die Differenz zwischen Zufluss und Abfluss bei beiden Tanks der jeweiligen Änderung des gespeicherten Wasservolumens V1 (t) bzw. V2 (t) (Einheit: l) entsprechen: d V1 (t) = Qin (t) − Q1 (t) = Qin (t) − k1 h1 (t) dt d V2 (t) = Q1 (t) − Q2 (t) = k1 h1 (t) − k2 h2 (t). dt Das Wasservolumen V1 (t) im ersten Tank entspricht dem Produkt der Füllhöhe h1 (t) und der Grundfläche A1 , es gilt also: h1 (t) = 1 A1 V1 (t). An diesem Punkt ist es wichtig auf die Einheiten zu achten, da diese bei Grundfläche ([A1 ] = m2 ), Volumen ([V1 (t)] = l = dm3 ) und Füllhöhe ([h1 (t)] = cm) nicht übereinstimmen. Zur einfacheren Darstellung führen wir daher die Konstante c= A11 mit Einheit cm/l ein: =1 z }| { z =1 }| { 1 1 (0.1 m)3 100 cm c1 = = 2 · 3 · = 0.08 cm/l. A1 1.25 m (1 dm) 1m Eine entsprechende Berechnung für den zweiten Tank ergibt c2 = 1 A2 = 0.2 cm/l. Aus h1 (t) = c1 V1 (t) und h2 (t) = c2 V2 (t) ergeben sich dann die Modellgleichungen d d h1 (t) = c1 V1 (t) = −c1 k1 h1 (t) + c1 Qin (t) (1.2a) dt dt d d h2 (t) = c2 V2 (t) = +c2 k1 h1 (t) − c2 k2 h2 (t). (1.2b) dt dt Auch diesmal brechen wir hier unsere Analyse des Wassertankmodells vorerst ab um uns ein letztes Beispiel eines physikalischen Systems anzuschauen. 2 Nach Torricellis Theorem ist die Ausflussgeschwindigkeit aus einem Tank näherungsweise proportional zur Wurzel der p Füllhöhe (Qout (t) ∝ h(t)). Die hier verwendete lineare Approximation ist daher nur eine erste Näherung. 4 1.1.3 Beispiel 3: Feder-Masse-Schwinger Als letztes Beispielmodell betrachten wir einen gedämpften Feder-Masse-Schwinger (Abbildung 1.3). Dieser besteht aus einer Masse m = 1 kg mit Position s(t) (Einheit: m) und Geschwindigkeit v(t) (Einheit: m/s), einer Feder mit Federkonstante k = 4 Nm, und einer Dämpfung mit Dämpfungskon- stante c = 0.5 kg/s. Anregung Fu (t) Geschwind. 𝑣(𝑡) Position 𝑠(𝑡) Masse 𝒎 Federkonstante 𝑘 Dämpfungskonstante 𝑐 Abbildung 1.3: Modell eines gedämpften Feder-Masse Schwingers. Auf die Masse wirken drei Kräfte: (i) Die Feder mit Kraft Fk (t) = −ks(t), (ii) die Dämpfung mit Kraft Fc (t) = −cv(t), und (iii) eine externe Kraft Fu (t), deren Wert frei gesetzt werden kann und die das System anregt. Aus dem zweiten Newtonschen Gesetz sowie dem Zusammenhang zwischen Position und Geschwindigkeit ergeben sich dann die Modellgleichungen d c k 1 v(t) = − v(t) − s(t) + Fu (t) (1.3a) dt m m m d s(t) = v(t). (1.3b) dt 1.2 LZI-Systeme 1. Ordnung 1.2.1 Allgemeine Beschreibung In allen drei besprochenen Beispielen haben wir die Systemdynamiken mathematisch über gekoppelte Differentialgleichungen (DGLs) beschrieben (Gleichungen (1.1), (1.2) und (1.3)). Genau genommen handelt es sich bei den Modellen jeweils um lineare, zeitinvariante Differentialgleichungssysteme (kurz: LZI-Systeme). In diesem Kapitel beginnen wir unsere Betrachtung mit LZI-Systemen 1. Ordnung. LZI-Systeme 1. Ordnung bestehen nur aus einer Differentialgleichung und haben die Form d x(t) = ax(t) + bu(t), x(0) = x̄, (1.4a) dt y(t) = cx(t) + du(t). (1.4b) Folgende Variablen tauchen in der Gleichung auf: Parameter a, b, c und d: Eigenschaften des Systems, die sich nicht mit der Zeit ändert, also konstant sind. Beispiele sind Massen, Kapazitäten oder Hohlvolumen. 5 Zustand x(t): Eigenschaft des Systems, die sich mit der Zeit ändert, also dynamisch ist. Beispie- le sind Geschwindigkeit, Füllstand, Spannung oder Temperatur. Im Gegensatz zu den Eingängen (s.u.) kann der zeitliche Verlauf x(t) eines Zustandes nicht beliebig gesetzt werden, sondern ergibt sich aus den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die mit Gleichung 1.4 beschrieben wer- den.  Anfangswert x̄: Um den zeitlichen Verlauf vom Zustand x(t) über Gleichung 1.4 berechnen zu können, müssen wir seinen Wert x(0) = x̄ zum Anfangszeitpunkt t0 = 0 kennen. Oft ist die Anfangsbedingung implizit, wird also bei der Systembeschreibung weggelassen. In dem Fall gilt meist x(0) = x̄ = 0.  Eingang u(t): Ein Einflussfaktor, von dem die Dynamik des Zustandes x(t) abhängt und dessen Größe wir zu jedem Zeitpunkt t beliebig setzen können. Beispiele sind wie weit ein Wasserhahn aufgedreht oder ein Gaspedal betätigen ist.  Ausgang y(t): Legt fest, an welcher Größe des Systems wir interessiert sind, bzw. welche wir messen. Meist messen wir direkt den Zustand, d.h. es gilt y(t) = x(t) (c = 1 und d = 0). Diesen Fall nehmen wir auch im kompletten Rest dieses Kapitels an; die explizite Definition des Ausgangs wird dann auch oft weggelassen. Der allgemeine Fall (c ̸= 1 und d ̸= 0) wird jedoch in den darauffolgenden Kapiteln vereinzelt auftreten und ist daher hier zur Vollständigkeit genannt. Für beliebige Eingänge u(t) ist die Lösung von Gleichung 1.4 (also der zeitliche Verlauf des Zu- stands x(t) bzw. des Ausgangs y(t)) nur schwer zu bestimmen. Deswegen schauen wir uns in den folgenden Kapitel zwei wichtige Sonderfälle an: (i) Die homogenen Dynamiken und (ii) die Sprun- gantwort. Fortsetzung Beispiel 1: Bewegungsgleichungen Fahrzeug Wenn wir beim Fahrzeugmodell (1.1) nur an der Geschwindigkeit v(t), nicht aber an der Position s(t), interessiert sind, können wir die DGL für s(t) weglassen und erhalten folgendes LZI-System 1. Ordnung: d cW 1 v(t) = − · v(t) + FA (t), v(0) = v̄ (1.5a) dt m m y(t) = v(t). (1.5b) Die Geschwindigkeit v(t) stellt also sowohl den Zustand als auch den Ausgang des Systems dar, und die Antriebskraft FA (t) den Eingang. Die Werte von a, b, c und d in Gleichung 1.4 können durch Parametervergleich bestimmt werden (Tabelle 1.1). Fortsetzung Beispiel 2: Gekoppelte Wassertanks Ähnlich können wir beim Wassertankmodell (1.2), wenn wir nur an der Füllhöhe h1 (t) des ersten Tanks interessiert sind, die DGL für den zweiten Tank weglassen, da diese nicht die Dynamik des 6 ersten Tanks beeinflusst: d h1 (t) = −c1 k1 h1 (t) + c1 Qin (t), h1 (0) = h̄1 (1.6a) dt y(t) = h1 (t). (1.6b) In diesem Fall stellt also die Füllhöhe h1 (t) sowohl den Zustand als auch den Ausgang des Sys- tems dar, und der Zufluss Qin (t) in den ersten Tank den Eingang. Auch hier ergeben sich durch Parametervergleich die Werte von a, b, c und d in Gleichung 1.4 (Tabelle 1.1). Modell Zustand x(t) Ausgang y(t) Param. a Param. b Param. c Parameter d Fahrzeug v(t) v(t) − cm W 1 m 1 0 Wassertank h1 (t) h1 (t) −c1 k1 c1 1 0 Tabelle 1.1: Entsprechungen der Variablen der LZI-Systeme (1.5) und (1.6) zu denen in Gleichung 1.4.  Kapitel 1.2.1: Das Wichtigste in Kürze! Die Dynamik vieler einfacher Systeme kann durch lineare, zeitinvariante (LZI)-Systeme 1. Ordnung beschrieben werden: d x(t) = ax(t) + bu(t), x(0) = x̄, dt y(t) = cx(t) + du(t). x(t) bezeichnet dabei den Zustand, x̄ die Anfangsbedingung, u(t) den Eingang und y(t) den Ausgang des Systems. Der Eingang u(t) kann frei gesetzt werden, die Dynamiken des Zustands x(t) und des Ausgangs y(t) ergeben sich aus der Systemgleichung. Meist wird der Zustand direkt gemessen. Es gilt also y(t) = x(t) (c = 1 und d = 0). 1.2.2 Homogene Dynamiken und Stabilität Das LZI-System (1.4) wird als homogen bezeichnet, wenn der Eingang konstant auf Null gesetzt wird (u(t) = 0), also das System nicht angeregt wird. In dem Fall vereinfacht sich die DGL für den Zustand zu: d x(t) = a · x(t) x(0) = x̄. (1.7) dt Eine Ruhelage (Englisch: steady-state) ist ein Wert xSS des Zustands, an dem das System keine Dynamik zeigt, also d dt x(t) = 0 gilt. Initialisiert man ein System in der Ruhelage, setzt also x̄ = xSS , verharrt das System für alle Zeiten in der Ruhelage (x(t) = xSS für t ≥ 0). Ob eine Ruhelage existiert 7 und welchen Wert diese hat, hängt vom Wert des Eingangs u(t) ab. Betrachten wir das homogene System, setzen also u(t) = 0, erhalten wir für a ̸= 0 genau eine Ruhelage: d ! x(t) = a · x(t) = 0 ⇒ xSS = 0. dt Für a = 0 ist die Bedingung d dt x(t) = 0 dagegen immer, das heißt unabhängig vom Wert von x(t), erfüllt. Jeder beliebige Zustand ist damit eine Ruhelage. Abseits einer Ruhelage zeigt ein System Dynamiken, der Zustand x(t) verändert sich also mit der Zeit. Diese zeitliche Abhängigkeit für eine gegebene Anfangsbedingung x(t) = x̄ stellt die Lösung der Differentialgleichung dar. Für den homogenen Fall ergibt sich diese stets zu x(t) = x̄eat. (1.8) Dass dies wirklich die Lösung des homogenen Systems darstellt, können wir wir durch Einsetzen in die DGL und die Anfgangsbedingung (1.7) überprüfen: d d ! x(t) = ax(t) ⇒ (x̄eat ) = x̄aeat = ax̄eat ✓ dt dt ! x(0) = x̄ ⇒x̄ea·0 = x̄ · 1 = x̄ ✓ Der Parameter a wird auch Pol des Systems genannt und dann meist als s bezeichnet. Es gilt jedoch stets s = a (der Grund für die „doppelte Benennung“ wird bei LZI-Systemen 2. Ordnung klar). Das Vorzeichen vom Pol spielt in der Regelungstechnik eine herausragende Rolle, da dieses über die qualitativen Systemdynamiken, genauer über die Stabilität, entscheidet (Abbildung 1.4): Instabiler Fall: Für s = a > 0 divergiert die Exponentialfunktion (x̄e at t→∞ −→ ±∞). Als Konse- quenz nimmt der Zustand nach einiger Zeit beliebig große (x̄ > 0) bzw. kleine Werte (x̄ < 0) an, egal wie klein die Anfangsbedingung x̄ war (solange x̄ ̸= 0). Stabiler Fall: Für s = a < 0 konvergiert die Exponentialfunktion gegen Null (x̄e at t→∞ −→ 0). Als Konsequenz nähert sich der Zustand mit der Zeit beliebig nahe der Ruhelage xSS = 0 an, egal wie groß die Anfangsbedingung x̄ war.  Grenzstabiler Fall: Für s = a = 0 ist die Exponentialfunktion konstant Eins (x̄e0·t = x̄). Theoretisch verharrt damit der Zustand für immer an der Anfangsbedingung (x(t) = x̄). Prak- tisch gibt es aber fast immer nicht-modellierte Störgrößen oder Effekte, die entweder zu einem gerichteten oder zufälligen Drift führen. Der Zustand eines instabilen Systems strebt natürlich nur theoretisch, nicht jedoch praktisch gegen ±∞: Früher oder später würde das instabile Modell die Wirklichkeit nicht mehr adäquat beschreiben und „irgendetwas“ würde passieren, das die Divergenz aufhält. Ein Linearantrieb könnte z.B. an sei- ner Endposition automatisch gestoppt werden, was „nur“ das Modell unbrauchbar macht. Es kann allerdings auch Systemversagen auftreten, z.B. elektrische Schaltungen bei zu hohen Spannungen durchbrennen. Im schlimmsten Fall droht menschlicher Schaden. In der Regelungstechnik ist daher Stabilität (fast) immer die Minimalanforderung. Wie ein instabiles System mittels eines Reglers sta- bilisiert werden kann, schauen wir uns etwas später an. Im Folgenden nehmen wir erst einmal an, dass das System bereits stabil oder zumindest grenzstabil ist. 8 4 4 4 3 3 3 Zustand x(t) 2 2 2 1 1 1 0 0 0 0 5 10 0 5 10 0 5 10 Zeit t Zeit t Zeit t Abbildung 1.4: Homogene Dynamiken (u(t) = 0) eines instabilen (s = a = 0, 2, links), stabilen (s = a = −0, 5, Mitte) und grenzstabilen (s = a = 0, rechts) LZI-Systems 1. Ordnung. Wenn das homogene System (1.7) stabil ist, also s = a < 0 gilt, strebt der Zustand x(t) gegen die Ruhelage xSS = 0. Doch wie „schnell“ findet diese Konvergenz statt? Dies kann mittels der Zeitkonstante 1 1 T =− =−. a s beschrieben werden. Zum Zeitpunkt t = T hat der Zustand einen Wert von x(T ) = x̄eaT1 = x̄e−1 , was x(T1 ) x̄e−1 = = e−1 ≈ 37% x(0) x̄ seines Anfangswert entspricht. Bei t = 2T ist der Zustand bereits auf 14%, und bei t = 3T auf 5% seines Anfangswertes abgefallen. Die Zeitkonstante T1 (und damit der Pol s = − T11 ) kann direkt aus den homogenen Dynamiken abgelesen werden. Dafür bestimmt man entweder den Zeitpunkt, bei dem der Zustand x(t) auf 1 e ≈ 37% seines Anfangswertes abgesunken ist, also bei dem gilt x(T1 ) = x̄e. Alternativ kann man an x(t) zum Zeitpunkt t = 0 eine Tangente anlegen. Der Schnittpunkt dieser Tangente mit der X-Achse ist dann T1 (Abbildung 1.5). Fortsetzung Beispiel 1: Bewegungsgleichungen Fahrzeug Im vereinfachten Fahrzeugmodell (1.5) bestimmen wir durch Koeffizientenvergleich den Pol zu s = − cm W. Die Lösung für die Geschwindigkeit im homogenen Fall (u(t) = 0) ist daher cW v(t) = v̄e− m t. (1.9) Da der Pol negativ ist, ist das System stabil und die Geschwindigkeit des unbeschleunigten Fahrzeuges strebt mit Zeitkonstante T = 1 s = m cW ≈ 10.76 s gegen die Ruhelage vSS = 0 m/s (Abbildung 1.5). Nach 3T ≈ 32 s ist dabei die Geschwindigkeit bereits auf 5% der Anfangsgeschwindigkeit gefallen. Wäre der Fahrwiederstand vernachlässigbar (cW = 0), wäre das Modell jedoch grenzstabil und das Fahrzeug würde für alle Ewigkeit mit der Anfangsgeschwindigkeit weiterfahren (v(t) = v̄). Ein instabiles System würden wir erhalten, wenn wir zum Beispiel eine Aufnahme eines unbeschleunigten 9 Fahrzeugs rückwärts ablaufen lassen, das heißt die Richtung der Zeit umdrehen. Mit t̂ = −t erhalten wir d d cW 1 v(t̂) = − v(−t) = · v(t̂) − FA (t̂). dt̂ dt m m Auch bei einem ausgeschalteten Motor könnte es dann erscheinen, als wenn das Fahrzeug aus dem Stand (der Ruhelage) rückwärts beschleunigt. Fortsetzung Beispiel 2: Gekoppelte Wassertanks Im Modell mit nur einem Wassertank (1.6) ist der Pol bei s = −c1 k1 und damit die Dynamik der Füllhöhe des Tanks gegeben durch h1 (t) = h̄1 e−c1 k1 t. (1.10) Damit ist auch dieses Modell stabil: Wenn der Tank nicht befüllt wird, läuft er mit Zeitkonstante T = 1 s = 1 c1 k1 ≈ 25 min komplett aus, das heißt gegen die Ruhelage h1,SS = 0 (Abbildung 1.5). Wäre der Ausfluss des Tanks jedoch verstopft (k1 = 0), wäre das System jedoch grenzstabil und der Füllstand würde konstant bleiben (h1 (t) = h̄1 ). 100 16 Geschwindigkeit v(t) [m/s] Füllhöhe h1(t) [cm] 75 12 50 8 25 4 0 0 0 T 20 40 0 T 50 100 Zeit t [s] Zeit t [min] Abbildung 1.5: Homogene Dynamiken des Fahrzeugs (1.5) (links) und des Wassertank (1.6) (rechts), jeweils für drei verschiedene Anfangsbedingungen. 10  Kapitel 1.2.2: Das Wichtigste in Kürze! Die homogenen Dynamiken x(t) eines LZI-Systems 1. Ordnung ergeben sich, wenn man den Eingang gleich Null setzt (u(t) = 0): d x(t) = ax(t), x(0) = x̄. dt Bei einer Ruhelage xSS zeigt ein LZI-System keine Dynamiken. Es gilt: d dt x(t) = 0. Für a ̸= 0 hat das homogene System eine Ruhelage bei xSS = 0. Für a = 0 sind alle Zustände Ruhelagen. Die Lösung des homogenen Systems ist stets x(t) = x̄est , mit s = a dem Pol des Systems. Der Pol bestimmt die Stabilität des Systems (s < 0: stabil, s = 0 grenzstabil, s > 0 instabil). Ein stabiles System strebt für u(t) = 0 zur Ruhelage (x(t) → xSS = 0); ein instabiles System divergiert (x(t) → ±∞); und ein grenzstabiles System zeigt keine Dynamik (x(t) = x̄). Instabilität kann zu Systemversagen führen, deshalb ist Stabilität der gewünsch- te/herzustellende Systemzustand. Für ein stabiles System (s = a < 0) gibt die Zeitkonstante T = − 1s an, wie schnell dieses zur Ruhelage strebt. Die Zeitkonstante T , und damit der Pol s = − T1 , kann mittels des Schnittpunktes der Tangente an x(t) bei t = 0 und der X-Achse abgelesen werden (Abbildung 1.5). 1.2.3 Sprungantwort Sprungantwort eines stabilen Systems Im letzten Kapitel haben wir gesehen, dass sich die Zeitkonstante T = − a1 und damit der Pol s = a = − T1 eines stabilen LZI-Systems 1. Ordnung (s < 0, Gleichung 1.4) aus den homogenen Dynamiken (u(t) = 0) ablesen, d.h. identifizieren lässt (Abbildung 1.5). Dies ist praktisch aber nur möglich, wenn sich die Anfangsbedingung x(0) = x̄ genügend weit von der Ruhelage xSS = 0 entfernt befindet, das heißt die Dynamiken des Systems noch erkennbar sind. Zudem lässt sich der Wert des Parameters b in Gleichung 1.4 über die homogenen Dynamiken nicht identifizieren. Aus diesen Gründen wird für die Systemidentifikation meist nicht die homogene Dynamik, sondern die Sprungantwort eines LZI-Systems betrachtet. Diese ergibt sich, wenn sich das System initial in der Ruhelage befindet (x(0) = x̄ = xSS = 0) und mittels eines Eingangssprungs zum Zeitpunkt t = 0 angeregt wird. Das bedeutet, dass für t < 0 der Eingang auf u(t) = 0 gesetzt wird (und damit das stabile System zur Ruhelage xSS = 0 strebt), für t ≥ 0 der Eingang jedoch sprunghaft auf den Wert u(t) = û geändert wird, mit û der Sprunghöhe. Da sich das System vor dem Eingangssprung in der Ruhelage befindet (x(t) = xSS = 0 für t < 0), reicht es, seine Dynamiken für Zeiten t ≥ 0 zu betrachten. Hier ist jedoch der Eingang konstant (u(t) = û), und wir erhalten für ein LZI-System 1. Ordnung: d x(t) = ax(t) + bû x(0) = 0. (1.11) dt 11 Ist das System stabil (s = a < 0), konvergiert sein Zustand nach dem Eingangssprung gegen eine neue Ruhelage x̂, die wir (wie vorher) durch setzen von d dt x(t) = 0 berechnen können: d ! b x(t) = a · x(t) + b · û = 0 ⇒ x̂ = − û = K û. dt a Die neue Ruhelage x̂ nach dem Eingangssprung ist also proportional zur Sprunghöhe û. Der Pro- portionalitätsfaktor x̂ b K= =−. û a wird Verstärkungsfaktor genannt. Zusammen mit T = − a1 bildet K eine komplette, alternative Parametrisierung des Systems, d 1 x(t) = (−x(t) + Ku(t)) , x(0) = 0, dt T da K und T aus a und b berechnet werden können und andersherum (a = − T1 und b = T ). K Um die gesamte Sprungantwort zu berechnen, führen wir den transformierten Zustand ∆x(t) = x(t) − x̂ = x(t) + ab û ein. Dieser ist so gewählt, dass in den neuen ∆x-Koordinaten die Ruhelage nach dem Sprung bei Null ist (∆x d = x̂ + b û = 0). Wenn wir die inverse Transformation x(t) = a x̂ + ∆x(t) = ∆x(t) − ab û direkt in die Gleichung 1.11 einsetzen, erhalten wir: d b b b   (∆x(t) − û) = a ∆x(t) − û + bû, ∆x(0) − û = 0 dt a a a d b ⇒ ∆x(t) = a · ∆x(t), ∆x(0) = −x̂ = û. dt a Die Antwort des Systems auf einen Eingangsprung der Höhe û in x-Koordinaten entspricht also den homogenen Dynamiken mit Anfangsbedingung ∆x ¯ = b û in ∆x-Koordinaten (Abbildung 1.6). a Für letztere wissen wir bereits, dass die Dynamiken gegeben sind durch b at ∆x(t) = ∆x(0)eat = ûe. a 12 û = 10 Eingang u(t) 5 0 -2 0 2 4 6 8 10 T 1 =2 0 K û = 20 0 x(t) Zustand x(t) Transf. Zust. 10 -10 0 -20 = -K û -2 0 2 4 6 8 10 Zeit t Abbildung 1.6: Oben: Eingangsprung mit Höhe û = 10 zum Zeitpunkt t = 0. Unten: Sprungantwort eines stabilen Systems mit a = −0, 5 und b = 1 (T = − a1 = 2, K = − ab = 2) auf den Eingangsprung. Diese Dynamiken in den ∆x-Koordinaten können wir mit x(t) = ∆x(t) − ab û in x-Koordinaten zurücktransformieren und erhalten damit die Sprungantwort des Systems auf einen Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0 (Abbildung 1.6): b at b  t  x(t) = ûe − û = K û 1 − e− T. a a Diese Gleichung beschreibt, wie wir bei bekannten Werten von a und b (bzw. von K und T ) die Sprungantwort eines stabilen Systems berechnen können (das sogenannte direk- te Problem). Oft stehen wir allerdings vor dem inversen Problem: Ein LZI-System 1. Ord- nung (1.4) ist gegeben, von dem wir die Parameter a und b (bzw. von K und T ) nicht kennen. Wir können nun experimentell einen Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0 auf das System geben und anhand der Sprungantwort die Parameterwerte iden- tifizieren (d.h. das inverse Problem lösen). Dafür gehen wir nach folgenden Algorithmus vor: Algorithmus 1.1 : Identifikation von stabilen (s < 0) LZI-Systemen 1. Ordnung mit y(t) = x(t) Data : Sprungantwort x(t) für Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0. Result : Verstärkungsfaktor K, Zeitkonstante T , Pol s = a und Parameter b. 1 Bestimmen des Wertes x̂, gegen den x(t) für t → ∞ strebt. 2 Berechnen des Verstärkungsfaktors K = ûx̂. 3 Einzeichnen der Parallelen y(t) = x̂ zur X-Achse (Abbildung 1.6). 4 Einzeichnen der Tangente an x(t) zum Zeitpunkt t = 0+. Im z-Koordinatensystem schneidet diese die X-Achse zum Zeitpunkt T , was dem Schnittpunkt mit der Geraden y(t) = x̂ im x-Koordinatensystem entspricht (Abbildung 1.6). Ablesen dieses Schnittpunkts T. 5 Berechnen des Pols s = a = − T1 und des Parameters b = T. K 13 Sprungantwort eines grenzstabilen Systems Für ein grenzstabiles (s = a = 0) LZI-System 1. Ordnung wird die Sprungantwort x(t) auf einen Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û zum Zeitpunkt t = TSprung = 0 beschrieben durch: d x(t) = bû, x(0) = 0. (1.12) dt Es ist leicht zu sehen, dass das System nicht gegen eine neue Ruhelage x̂ strebt, da die Gleichung ! d dt x(t) = bû = 0 keine Lösung besitzt. Da die rechte Seite der Gleichung 1.12 unabhängig vom Zustand x(t) ist, können wir aber einfache beide Seiten integrieren und erhalten: x(t) = bût. û = 10 Eingang u(t) 5 0 -1 0 1 2 3 4 5 100 Zustand x(t) 50 x=Kû t t 0 -1 0 1 2 3 4 5 Zeit t Abbildung 1.7: Oben: Eingangsprung mit Höhe û = 10 zum Zeitpunkt t = 0. Unten: Sprungantwort eines grenzstabilen (s = a = 0) LZI-Systems 1. Ordnung mit Verstärkungsfaktor K = b = 2. Die Sprungantwort des grenzstabilen LZI-Systems 1. Ordnung ist also eine Gerade, deren Steigung d dt x(t) = bû = K û proportional zur Höhe û des Eingangssprungs ist (Abbildung 1.7). Auch hier wird der Proportionalitätsfaktor d dt x(t) K= = b. û Verstärkungsfaktor genannt. Jedoch stimmt die Definition des Verstärkungsfaktors für grenzstabile LZI-Systeme nicht mit der für stabile LZI-Systeme überein. Letzterer war mit − ab definiert und wäre für grenzstabile Systeme (a = 0) unendlich. Zur Identifikation des Verstärkungsfaktors K = b eines grenzstabiles LZI-Systems 1. Ordnung messen wir wieder die Sprungantwort des Systems und lösen das inverse Problem mit folgenden Algorithmus: 14 Algorithmus 1.2 : Identifikation von grenzstabilen (s = a = 0) LZI-Systemen 1. Ordnung (1.4) Data : Sprungantwort x(t) für Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0. Result : Verstärkungsfaktor K = b. 1 Beliebige Wahl einer Zeitdifferenz ∆t. 2 Abschätzen, um welchen Betrag ∆x der Zustand x(t) während ∆t steigt. 3 Da ∆x = K û∆t gilt (Abbildung 1.7): Berechnen des Verstärkungsfaktors mit K = b = ∆tû. ∆x Sprungantwort eines instabilen Systems Zwar lässt sich theoretisch auch die Sprungantwort für ein instabilen (s = a > 0) LZI-System 1. Ordnung definieren, diese würde aber gegen ±∞ divergieren: û = 10 Eingang u(t) 5 0 -1 0 1 2 3 4 5 200 Zustand x(t) 150 100 50 0 -1 0 1 2 3 4 5 Zeit t Abbildung 1.8: Oben: Eingangsprung mit Höhe û = 10 zum Zeitpunkt t = 0. Unten: Sprungantwort eines instabilen LZI-Systems 1. Ordnung mit a = 0.5 und b = 1. Praktisch spielen Sprungantworten von instabilen Systemen jedoch keine Rolle, da zu deren Mes- sung das System zuerst auf die Ruhelage xSS = 0 gebracht werden muss. Schon kleinste Fehler bei der Positionierung führen aber bereits zur Divergenz des Systems zu ±∞ vor dem Eingangssprungs, was eine Messung der Sprungantwort unmöglich macht. 15  Kapitel 1.2.3: Das Wichtigste in Kürze! Die Sprungantwort bezeichnet die Dynamik x(t) eines LZI-Systems mit Anfangsbedingung x̄ = xSS = 0, das mit einem Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0 angeregt wird. Die Sprungantwort x(t) ist immer proportional zur Eingangssprunghöhe û (doppelte Sprung- höhe ⇒ doppelte Spungantwort). Für ein stabiles (s = a < 0) LZI-System 1. Ordnung (1.4) ist die Sprungantwort x(t) = t  K û 1 − e− T , mit Verstärkungsfaktor K = − ab und Zeitkonstante T = − a1. Die Sprun- gantwort strebt gegen die neue Ruhelage x̂ = K û. Für s = a < 0 kann mittels Algorithmus 1.1 aus der Sprungantwort die Parameter a, b, K und T des Systems bestimmt werden. Für ein grenzstabiles (s = a = 0) LZI-System 1. Ordnung (1.4) ist die Sprungantwort eine Gerade mit Steigung K û, x(t) = K ût, mit Verstärkungsfaktor K = b. Für s = a = 0 kann mittels Algorithmus 1.2 aus der Sprungantwort der Verstärkungsfaktor K = b bestimmt werden. 1.3 LZI-Systeme 2. Ordnung 1.3.1 Allgemeine Beschreibung Ein lineares, zeitinvariantes (LZI)-System 2. Ordnung besteht aus zwei gekoppelten Differentialglei- chung 1. Ordnung, wobei jede der DGLen von beiden Zuständen x1 (t) und x2 (t) abhängen kann: d x1 (t) = a11 x1 (t) + a12 x2 (t) + b1 u(t), x1 (0) = x̄1 , (1.13a) dt d x2 (t) = a21 x1 (t) + a22 x2 (t) + b2 u(t), x2 (0) = x̄2 , (1.13b) dt y(t) = c1 x1 (t) + c2 x2 (t) + du(t) (1.13c) Wie zuvor bei LZI-Systemen 1. Ordnung ist hier die allgemeine Definition des Ausgangs angegeben. In den meisten Fällen messen wir jedoch direkt einen der beiden Zustände, es gilt also entweder y(t) = x1 (t) (c1 = 1 und c2 = d = 0) oder y(t) = x2 (t); (c2 = 1 und c1 = d = 0). Die Definition des Ausgangs dient dann primär dazu zu kommunizieren, welcher der beiden Zustände gemessen wird. Ist dies aus dem Kontext klar oder unerheblich, kann auch hier die explizite Definition des Ausgangs weggelassen werden. 16 1.3.2 Homogene Dynamiken und Stabilität (reelle Pole) Auch für LZI-Systeme 2. Ordnung erhalten wir die homogenen Dynamiken, wenn wir den Eingang auf Null setzen (u(t) = 0): d x1 (t) = a11 x1 (t) + a12 x2 (t), x1 (0) = x̄1 , (1.14a) dt d x2 (t) = a21 x1 (t) + a22 x2 (t), x2 (0) = x̄2 , (1.14b) dt Wir können die Ruhelagen des Systems bestimmen, indem wir beide Ableitungen gleichzeitig zu ! Null setzen ( dt d x1 (t) = d dt x2 (t) = 0). Unabhängig von den Parametern des Systems finden wir dann stets eine Ruhelage bei x1,SS = x2,SS = 0. Wie zuvor können jedoch weitere Ruhelagen auftreten wenn das System grenzstabil ist (und nur dann). Die Lösungen für die homogenen (u(t) = 0) Dynamiken für die beiden Zustände sind im Allge- meinen3 gegeben durch x1 (t) =z̄11 es1 t + z̄12 es2 t (1.15a) x2 (t) =z̄21 e s1 t s2 t + z̄22 e , (1.15b) das heißt, jeweils durch die Summe von zwei Exponentialfunktionen. Dabei stimmen die Pole s1 und s2 , nicht aber die Vorfaktoren z̄11 ,... , z̄22 , in den Gleichungen für x1 (t) und x2 (t) überein. Wir können die beiden Pole s1 und s2 berechnen, indem wir die allgemeine Lösungen (1.15) direkt in die DGLen des homogenen Systems (1.14) einsetzen. Um auch die Vorfaktoren z̄11 ,... , z̄22 zu bestimmen, müssten wir die Gleichungen zusätzlich auch in die Anfangsbedingungen x1 (0) = x̄1 und x2 (0) = x̄2 einsetzen. In vielen Fällen reicht uns allerdings die Kenntnis der Pole komplett aus, da diese die Eigenschaften des Systems beschreiben, die Werte der Vorfaktoren z̄11 ,... , z̄22 sich jedoch mit jeder neuen Anfangsbedingung ändern. Wenn beide Pole reell sind (siehe unten), streben die Lösungen für x1 (t) und x2 (t) (1.15) gegen Null wenn beide Pole kleiner Null sind (s1 , s2 < 0); das System ist dann stabil. Ist nur einer der Pole größer als Null (s1 > 0 oder s2 > 0), können einer oder beide Zustände divergieren; das System ist instabil. Im Fall wenn ein Pol kleiner als Null ist und der andere gleich Null ist4 , divergieren die Zustände zwar nicht, konvergieren aber auch nicht gegen Null; das System ist grenzstabil. Ein einziger Pol bei Null reicht also aus, das gesamte System grenzstabil zu machen, egal „wie negativ“ der andere Pol ist. Ebenso reicht ein einziger positiver Pol aus, das gesamte System instabil zu machen, unabhängig von den Wert des anderen Pols. Jeder negative Pol si < 0 definiert eine Zeitkonstante Ti = 1 si des Systems. Diese geben an, wie schnell die jeweilige Exponentialfunktion in der allgemeinen Lösung (1.15) gegen Null konvergiert. Ein grenzstabiles System hat damit eine Zeitkonstante, ein stabiles System zwei (T1 und T2 ). Im 3 Es kann vorkommen, dass Pole „mehrfach“ auftreten, also s = s1 = s2 gilt. In diesem Fall fallen die Terme der Lösung zusammen, also z̄11 est + z̄12 est = (z̄11 + z̄12 )est = z̄1 est. In manchen Fällen tritt dann jedoch ein zusätzlicher Term der Form z̄1′ tes1 t auf. Die genauen Bedingungen, wann dies passiert, werden hier nicht betrachtet und wir nehmen stets an, dass jeder Pol nur einfach auftritt. 4 Wie in der vorherigen Fußnote bereits beschrieben, betrachten wir nicht den Fall, wenn beide Pole gleich Null sind. 17 letzteren Fall sind diese Zeitkonstanten häufig unterschiedlich groß, dass System zeigt also sowohl schnelle als auch langsame Dynamiken. Meist sind wir daran interessiert, wie schnell das gesamte System zur Ruhe kommt. Dies wird durch die langsameren Dynamiken, also durch die größere der beiden Zeitkonstanten, definiert. Es gilt also T = max(T1 , T2 ). Fortsetzung Beispiel 1: Bewegungsgleichungen Fahrzeug Wenn wir bei dem Fahrzeugmodell (1.1) sowohl an der Position s(t) als auch der Geschwindigkeit v(t) interessiert sind, ergeben sich für den homogenen Fall, also wenn die Antriebskraft Null ist (FA (t) = 0), die Dynamiken d cW v(t) = − v(t), v(0) = v̄, dt m d s(t) = v(t), s(0) = s̄. dt Einsetzen der allgemeine Lösung (1.15) v(t) = z̄11 es1 t + z̄12 es2 t direkt in die erste DGL ergibt: d cW v(t) = − v(t) dt m d   cW   ⇒ z̄11 es1 t + z̄12 es2 t = − z̄11 es1 t + z̄12 es2 t dt  m cW cW   s1 t ⇒ z̄11 s1 + e + z̄12 s2 + es2 t = 0. m m | {z } | {z } ! ! =0 =0 Diese Gleichung kann nur erfüllt werden, wenn die Faktoren vor den beiden Exponentialfunktionen jeweils gleich Null sind. Entweder z̄11 oder z̄12 muss ungleich Null sein, sonst müsste die Geschwin- digkeit konstant Null sein (v(t) = 0). Wenn sowohl z̄11 als auch z̄12 ungleich Null wären, würden die beiden Pole und damit die Exponentialfunktionen in der Lösung jedoch zusammenfallen. Wir nehmen daher an, dass z̄11 ̸= 0 und z̄12 = 0 gilt. Daraus ergibt sich der erste Pol, s1 = − cm W , während s2 cW noch unbestimmt ist. Einsetzen von v(t) = z̄11 e− m t in die Anfangsbedingung v(0) = v̄ ergibt dann z̄11 = v̄. Nicht überraschend haben wir also die selbe Lösung für v(t) wie zuvor (1.9) gefunden. cW cW Einsetzen von v(t) = v̄e− m t und s(t) = z̄21 e− m t + z̄22 es2 t in die zweite DGL ergibt dann: d s(t) = v(t) dt d  cW  cW ⇒ z̄21 e− m t + z̄22 es2 t = v̄e− m t dt cW   cW ⇒ − z̄21 − v̄ e− m t + z̄22 s2 es2 t = 0. m | {z } | {z } ! ! =0 =0 Daraus ergibt sich z̄21 = − cm W v̄ und s2 = 0. Einsetzen in s(0) = x̄ ergibt dann z̄22 = x̄ + m cW v̄. Die Lösung des homogenen Problems ist also gegeben durch cW v(t) = v̄e− m t m  cW  s(t) = x̄ + v̄ 1 − e− m t cW 18 Da ein Pol negativ und einer gleich Null ist, ist das gesamte Modell grenzstabil. Dies kann man direkt an den homogenen Dynamiken sehen (Abbildung 1.9): Die Geschwindigkeit des Fahrzeuges strebt zwar mit Zeitkonstante T = − s11 = m cW ≈ 10.76 s gegen Null, nicht jedoch die Position. Geschw. v(t) [m/s] 60 40 20 0 0 10 20 30 40 Position s(t) [m] 400 200 0 0 10 20 30 40 Zeit t [s] Abbildung 1.9: Homogene Lösung für das Fahrzeugmodell mit Anfangsgeschwindigkeit v(0) = 50 m/s und -position s(0) = 0 m. Fortsetzung Beispiel 2: Gekoppelte Wassertanks Ähnlich können wir die homogenen Dynamiken des kompletten gekoppelten Wassertankmodells (1.2) analysieren, das heißt, wenn wir kein Wasser in den ersten Tank zufließen lassen (Qin (t) = 0): d h1 (t) = −c1 k1 h1 (t), h1 (0) = h̄1 dt d h2 (t) = +c2 k1 h1 (t) − c2 k2 h2 (t), h2 (0) = h̄2. dt Da die Lösung h1 (t) = h̄1 e−c1 k1 t für die Füllhöhe des ersten Tanks bereits bekannt ist (1.10), d.h. z̄11 = h̄1 , z12 = 0 und s1 = −c1 k1 gilt, ergeben sich, wie zuvor durch Einsetzen von h1 (t) und h2 (t) = z̄21 e−c1 k1 t + z̄22 es2 t in die zweite DGL d h2 (t) = +c2 k1 h1 (t) − c2 k2 h2 (t) dt d     ⇒ z̄21 e−c1 k1 t + z̄22 es2 t = +c2 k1 h̄1 e−c1 k1 t − c2 k2 z̄21 e−c1 k1 t + z̄22 es2 t dt   ⇒ −z̄21 c1 k1 − c2 k1 h̄1 + c2 k2 z̄21 e−c1 k1 t + z̄22 (s2 + c2 k2 ) es2 t = 0. | {z } | {z } ! ! =0 =0 Wieder müssen die Vorfaktoren vor den Exponentialfunktionen einzeln Null werden. Daraus ergibt sich der zweite Pol, s2 = −c2 k2 , sowie z̄21 = c2 k2 −c1 k1 h̄1. c2 k1 Schlussendlich erhalten wir den letzten fehlenden Parameter z̄22 = h̄2 − c2 k2 −c1 k1 h̄1 , c2 k 1 wenn wir die bisherigen Lösungen in die Anfangsbedin- gung h2 (0) = h̄2 für den zweiten Tank einsetzen (hier nur zur Vollständigkeit gegeben). Die Lösung 19 des homogenen Problems ist also gegeben durch h1 (t) = h̄1 e−c1 k1 t ! c2 k1 h̄1 c2 k1 h̄1 h2 (t) = e−c1 k1 t + h̄2 − e−c2 k2 t c2 k2 − c1 k1 c2 k2 − c1 k1 Da beide Pole negativ sind, ist das gesamte Modell stabil. Das bedeutet, dass beide Tanks komplett leer laufen, wenn die Tanks nicht befüllt werden (Abbildung 1.10). Die längere der beiden Zeitkon- stanten, T1 = − s11 = 1 c1 k1 ≈ 25 min, bestimmt dabei, wie schnell beide Tanks leer laufen. Die kürzere Zeitkonstante, T2 = − s12 = 1 c2 k2 ≈ 3.3 min, wie schnell sich die Füllhöhe des zweiten Tanks initial an die des ersten anpasst (Abbildung 1.10). Füllhöhe h1(t) [cm] 100 50 0 0 20 40 60 80 100 Füllhöhe h2(t) [cm] 40 20 0 -20 -40 0 20 40 60 80 100 Zeit t [min] Abbildung 1.10: Homogene Lösung für das Wassertankmodell mit Anfangsfüllständen h1 (0) = 100 cm und h2 (0) = 0 cm. 1.3.3 Homogene Dynamiken und Stabilität (komplexe Pole) Bei einem LZI-Systemen 2. (oder höherer) Ordnung kann es vorkommen, dass ein komplexer Wert √ s1 = σ + ωj für einen der Pole in der Lösung (1.15) herauskommt, mit j = −1 der imaginären Einheit, σ = Re(s1 ) dem Real- und ω = Im(s1 ) dem Imaginärteil des Pols. In diesem Fall existiert aber stets ein zweiter Pol s2 = σ − ωj mit komplex konjugierten Wert (gleicher Realteil aber umgedrehtes Vorzeichen beim Imaginärteil). Zudem sind dann auch die Vorfaktoren z̄11 ,... , z̄22 i.A. komplex, wobei z̄11 und z̄12 bzw. z̄21 und z̄22 jedoch stets komplex konjugierte Werte annehmen. Wenn komplex konjugierte Polpaare vorkommen, können wir die Eulersche Formel benutzen, um die betroffenen Terme in (1.15)durch rein reelle zu ersetzen (Details der Herleitung nicht gegeben). Für ein LZI-System 2. Ordnung wird dann die allgemeine Lösung (1.15) folgendermaßen umgeschrieben: x1 (t) =z̄11 e(σ+ωj)t + z̄12 e(σ−ωj)t ⇒ x1 (t) =A1 eσt cos(ωt + ϕ1 ) (1.16a) x2 (t) =z̄21 e(σ+ωj)t + z̄22 e(σ−ωj)t ⇒ x2 (t) =A2 eσt cos(ωt + ϕ2 ), (1.16b) 20 mit (anfänglichen) Amplituden A1 und A2 , und Phasen ϕ1 und ϕ2. Wie zuvor z̄11 ,..., z̄22 bei reellen Polpaaren, lassen sich A1 , A2 , ϕ1 und ϕ2 durch Einsetzen in die DGLs und Anfangsbedingung (1.13) für den homogenen Fall (u(t) = 0) berechnen. Komplex konjugierte Polpaare bedeuten also, dass die homogenen Dynamiken abklingende Schwin- gungen (σ < 0), aufklingende Schwingungen (σ > 0) oder Dauerschwingungen (σ = 0) zeigen. Abklingende Schwingungen entsprechen dabei stabilen, aufklingende instabilen, und Dauerschwin- gungen grenzstabilen Dynamiken. Über die Stabilität der Dynamiken entscheidet daher allein der Realteil σ = Re(s1 ) = Re(s2 ) des komplex-konjugierten Polpaares s1,2 = σ ± ωj, während der Betrag des Imaginärteils ω = | Im(s1 )| = | Im(s2 )| die Kreisfrequenz der auftretenden Schwingungen bestimmt. Ist ein System mit komplex konjugierten Poolpaar s1,2 = σ ± ωj stabil, ergeben sich zwei Zeit- konstanten: Die Zeitkonstante Tσ = − σ1 gibt an, wie schnell die Schwingungen abklingen, also das System gegen die Ruhelage x1,SS = x2,SS = 0 konvergiert. Die Zeitkonstante Tω = 2π ω gibt dahin- gegen die Periodendauer der Oszillationen an. Fortsetzung Beispiel 4: Feder-Masse-Schwinger Wenn der gedämpfte Feder-Masse-Schwinger (1.3) nicht angeregt wird (Fu (t) = 0), ergeben sich folgende, homogene Dynamiken: d c k v(t) = − v(t) − s(t) dt m m d s(t) = v(t). dt Einsetzen der allgemeinen Lösung (1.15), also von v(t) = z̄11 es1 t + z̄12 es2 t und s(t) = z̄21 es1 t + z̄22 es2 t , in die zweite DGL ergibt d s(t) = v(t) dt d   ⇒ z̄21 es1 t + z̄22 es2 t = z̄11 es1 t + z̄12 es2 t dt ⇒ (s1 z̄21 − z̄11 ) es1 t + (s2 z̄22 − z̄12 ) es2 t = 0, | {z } | {z } ! ! =0 =0 und damit z̄11 = s1 z̄21 und z̄12 = s2 z̄22. Einsetzen in die erste DGL ergibt dann d c k v(t) = − v(t) − s(t) dt m m d   c   k   ⇒ s1 z̄21 es1 t + s2 z̄22 es2 t = − s1 z̄21 es1 t + s2 z̄22 es2 t − z̄21 es1 t + z̄22 es2 t dt m m c k c k    2 s1 t 2 s2 t ⇒ s1 + s1 + z̄21 e + s2 + s2 + z̄22 e = 0. m m m m | {z } | {z } ! ! =0 =0 21 Die beiden Pole sind also gegeben durch die Lösungen der quadratischen Gleichung c k s2 + s+ =0 m m s c c2 k ⇒s1,2 = − ± −. 2m 4m2 m Für c2 < 4km wird der Term in der Wurzel negativ und es ergibt sich ein komplex q konjugiertes c2 Polpaar s1,2 = σ ± ωj mit Realteil σ = − 2m c und Imaginärteil (Kreisfrequenz) ω = k m − 4m2. Die Lösung des homogenen Problems hat also die Form s(t) = As eσt cos(ωt + ϕs ) d v(t) = s(t) = −As eσt (ωsin(ωt + ϕz ) − σcos(ωt + ϕz )) dt = Av eσt sin(ωt + ϕv ), √ mit Av = As ω 2 + σ 2 und ϕv = ϕs − atan σ + π. Sowohl bei Geschwindigkeit und Positi-  ω on handelt es sich also um sinusförmige Schwingungen mit exponentiell abklingender Amplitude (Abbildung 1.11). Die Periodendauer beträgt dabei Tω = 2π ω ≈ 3.16 s, und die Schwingungen klingen mit Zeitkonstante Tσ = − σ1 = 2m c = 4 s ab. 0.5 Position s(t) [m] As e t 0 -A s e t -0.5 0 5 10 15 20 Geschw. v(t) [m/s] 1 Av e t 0 -A v e t -1 0 5 10 15 20 Zeit t [s] Abbildung 1.11: Homogene Lösung für den gedämpften Feder-Masse-Schwinger mit Anfangsgeschwindigkeit v(0) = 0 und -position s(0) = 0.5 m. Die Werte von As , ϕs , Av und ϕv können durch Einsetzen in die Anfangsbedingungen berech- net werden. Befindet sich der Feder-Masse-Schwinger zum Beispiel zum Zeitpunkt t = 0 in Ruhe (v(0) = v̄ = 0) und an der Position s(0) = s̄, ergibt sich (ohne Rechenweg, da mühsam und eher uninteressant): s σ ω2 + σ2 σ2   ϕv = 0, ϕs = atan , Av = s̄ , As = s̄ 1 +. ω ω ω2 22  Kapitel 1.3.1-1.3.3: Das Wichtigste in Kürze! Ein LZI-System 2. Ordnung hat folgende Beschreibung: d x1 (t) = a11 x1 (t) + a12 x2 (t) + b1 u(t), x1 (0) = x̄1 , (1.17) dt d x2 (t) = a21 x1 (t) + a22 x2 (t) + b2 u(t), x2 (0) = x̄2 , (1.18) dt y(t) = c1 x1 (t) + c2 x2 (t) + du(t). (1.19) Meist wird einer der beiden Zustände direkt gemessen, also y(t) = x1 (t) oder y(t) = x2 (t). Ist der Eingang gleich Null (u(t) = 0), hat das homogene System stets eine Ruhelage bei x1,SS = x2,SS = 0. Grenzstabile Systeme können mehr Ruhelagen haben. LZI-Systeme 2. Ordnung haben zwei Pole. Diese sind entweder beide reell (Im(s1 ) = Im(s2 ) = 0), oder es liegt ein komplex konjugiertes Polpaar s1,2 = σ ± ωj vor. Im letzteren Fall ist das System schwingfähig. Ist der Eingang gleich Null (u(t) = 0), hat das homogene System die Lösung x1 (t) =z̄11 es1 t + z̄12 es2 t x2 (t) =z̄21 es1 t + z̄22 es2 t , mit s1 und s2 den Polen des Systems. Die Pole können durch Einsetzen in die DGLen des Systems ermittelt werden, die Konstanten z̄11 ,... , z̄22 durch Einsetzen in die Anfangsbedin- gungen. Meist sind wir nur an den Polen interessiert. Liegt ein komplex konjugiertes Polpaar s1,2 = σ ± ωj vor, kann die Lösung zu x1 (t) =A1 eσt cos(ωt + ϕ1 ) (1.20) σt x2 (t) =A2 e cos(ωt + ϕ2 ), (1.21) umgeschrieben werden. Über die Stabilität entscheiden alleine die Realteile der Pole. Sind beide negativ (Re(s1 ) < 0 und Re(s2 ) < 0), so ist das System stabil. Ist einer positiv (Re(s1 ) > 0 oder Re(s2 ) > 0), ist es instabil. Dazwischen liegt der grenzstabile Fall. Bei stabilen, nicht schwingfähigen Systemen definiert jeder Pol eine Zeitkonstante Ti = − s1i. Das gesamte System hat die Zeitkonstante T = max(T2 , T2 ). Bei stabilen, schwingfähigen Systemen (s1,2 = σ ± ωj) definiert Tσ = − σ1 die Zeitkonstante und Tω = 2π ω entspricht der Periodendauer der Schwingungen. 23 1.3.4 Sprungantwort Sprungantwort eines stabilen Systems Wie zuvor ist die Sprungantwort eines LZI-Systems 2. Ordnung dadurch definiert, dass es sich anfangs in der Ruhelage x1,SS = x2,SS = 0 befindet, und wir einen Sprung auf den Eingang mit Höhe û zum Zeitpunkt t = 0 geben. Für t ≥ 0 erhalten wir dann die Gleichungen d x1 (t) = a11 x1 (t) + a12 x2 (t) + b1 û, x1 (0) = 0, (1.22a) dt d x2 (t) = a21 x1 (t) + a22 x2 (t) + b2 û, x2 (0) = 0. (1.22b) dt Ist das System stabil (Re s1 < 0, Re s2 < 0), streben die Zustände gegen die neue Ruhelagen x̂1 und x̂2. Durch gleichzeitiges Nullsetzen der beiden Ableitungen, d dt x1 = d dt x2 = 0, erhalten wir a11 x̂1 + a12 x̂2 + b1 û = 0 a21 x̂1 + a22 x̂2 + b2 û = 0. Diese zwei Gleichungen können wir nach x̂1 und x̂2 auflösen. Gilt a11 a22 − a12 a21 ̸= 0, ergibt sich a12 b2 − a22 b1 a21 b1 − a11 b2 x̂1 = û x̂2 = û. a11 a22 − a12 a21 a11 a22 − a12 a21 | {z } | {z } K1 K2 Auch diesmal sind die beiden Ruhelagen x̂1 = K1 û x̂2 = K2 û proportional zur Sprunghöhe û, mit den Verstärkungsfaktoren K1 und K2. Wie zuvor bei LZI-Systemen 1. Ordnung führen wir dann zwei transformierte Zustände, ∆x1 (t) = x1 (t) − x̂1 und ∆x2 (t) = x2 (t) − x̂2 , ein und transformieren damit Gleichung 1.22 (Details ausge- lassen): d ∆x1 (t) = a11 ∆x1 (t) + a12 ∆x2 (t), ∆x1 (0) = −x̂1 , dt d ∆x2 (t) = a21 ∆x1 (t) + a22 ∆x2 (t), ∆x2 (0) = −x̂2. dt Die Sprungantwort eines LZI-Systems 2. Ordnung in (x1 , x2 )-Koordinaten entspricht also den ho- mogenen Dynamiken in (∆x1 , ∆x2 )-Koordinaten. Letztere können wir bereits berechnen und dadurch, nach Rücktransformation, die komplette Sprungantwort bestimmen. Allerdings ist es praktisch selten vonnöten, die Sprungantwort eines LZI-Systems 2. Ordnung aus den Systemgleichungen rechnerisch zu bestimmen, da diese viel einfacher simuliert werden könnte. Vielmehr sind wir meist auch bei LZI-Systemen 2. Ordnung am inversen Problem interessiert, al- so ein System mit unbekannten Dynamiken anhand der Sprungantwort als LZI-System 2. Ordnung zu identifizieren und mathematisch zu charakterisieren. Letzteres bedeutet normalerweise nicht, die Parameter a11 ,... , a22 , b1 und b2 herauszufinden. Dies wäre auch gar nicht möglich, da zwei LZI- Systeme mit unterschiedlichen Parametern die selben Ein-/Ausgangsdynamiken haben können, so dass es experimentell unmöglich ist, diese zu unterscheiden. Wir sind vielmehr an „zusammenfassen- den“ Parametern interessiert, die das Systemverhalten bestmöglich charakterisieren und bei einem Reglerentwurf später hilfreich sind. 24 Wir nehmen dafür im Folgenden an, dass der Zustand x2 (t) gemessen wird, also y(t) = x2 (t) gilt. Wir nehmen zudem vereinfachend an, dass der Eingang nur direkt auf den ersten Zustand x1 (t) wirkt, also der Parameter b2 Null ist. Dies entspricht dem am häufigsten vorkommenden LZI-Systemen 2. Ordnung, und vereinfacht die Systemidentifikation signifikant. Mit diesen Annahmen leiten wir dann im Folgenden zwei Algorithmen her, je nachdem ob das System schwingfähig ist oder nicht. K û=30 2 Füllhöhe h2(t) [cm] 20 10 WP 0 t 1 =T u 50 t 2 =T u +T g 100 150 200 Zeit t [min] Abbildung 1.12: Sprungantwort des Wassertankmodell (nur Füllhöhe h2 (t) Tank 2) auf Eingangssprung der Höhe Q̂IN = 15 l/min. Parameter: c1 = c2 = 0.08 cm/l und k1 = k2 = 0.5 l/(min cm). Ist das System nicht schwingfähig, das heißt die Pole sind rein reell (Im(s1 ) = Im(s2 ) = 0), steigt die Sprungantwort initial nur langsam an, dann eine Weile mit näherungsweise konstanter Steigung, und konvergiert schlussendlich ohne Überschwingen zur neuen Ruhelage x̂2 = K2 û (schwarze Kurve in Abbildung 1.12). Wir approximieren diesen Verlauf durch einen verzögerten linearen Anstieg (blaue Kurve in Abbildung 1.12): Bis zur Verzugszeit Tu = t1 ist diese Approximation konstant Null, und steigt dann während der Ausgleichszeit Tg = t2 −t1 linear bis zur neuen Ruhelage x̂2 an. Dabei haben Sprungantwort und Approximation am Wendepunkt W P der Sprungantwort den gleichen Wert und die selbe Steigung. Die Approximation wird also durch die charakteristischen Parameter K2 , Tu und Tg beschrieben, die über folgenden Algorithmus identifiziert werden können: Algorithmus 1.3 : Identifikation von stabilen, nicht schwingfähigen (Re(s1 ), Re(s2 ) < 0, Im(s1 ) = Im(s2 ) = 0) LZI-Systemen 2. Ordnung mit y(t) = x2 (t) und b2 = 0 Data : Sprungantwort x2 (t) für Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0. Result : Verstärkungsfaktor K2 , Verzugszeit Tu , und Ausgleichszeit Tg. 1 Bestimmen des Wertes x̂2 , gegen den x2 (t) für t → ∞ strebt. 2 Berechnen des Verstärkungsfaktors K2 = û. x̂2 3 Einzeichnen der Parallelen y(t) = x̂2 zur X-Achse (Abbildung 1.12). 4 Einzeichnen der Tangente am Wendepunkt W P von x2 (t) (Abbildung 1.12) 5 Ablesen der Schnittpunkte t1 und t2 der Tangente mit der X-Achse bzw. mit der Geraden y(t) = x̂2. (Abbildung 1.12) 6 Berechnen der Verzugszeit Tu = t1 und der Ausgleichszeit Tg = t2 − t1. 25 0.5 (t 1,y 1) 0.4 (t 2,y 2) Position s(t) [m] 0.3 0.2 0.1 0 0 5 10 15 20 Zeit t [s] Abbildung 1.13: Sprungantwort des Feder-Masse-Schwingers auf Eingangssprung mit Höhe F̂u = 1 N. Ist das System dagegen schwingfähig, besitzt also ein komplex konjugiertes Polpaar s1,2 = σ ± ωj, schießt die Sprungantwort über die neue Ruhelage x̂2 = K2 û hinaus und nähert sich dieser dann mit exponentiell abklingenden Schwingungen (Abbildung 1.13). Diesen Verlauf beschreiben wir über den Verstärungsfaktor K2 , die Periodendauer Tω der Schwingungen sowie über die Zeitkonstante Tσ , die angibt wie schnell die Schwingungen abklingen. Diese können über folgenden Algorithmus identifiziert werden: Algorithmus 1.4 : Identifikation von stabilen, schwingfähigen (s1 = σ ± ωj, σ < 0) LZI- Systemen 2. Ordnung mit y(t) = x2 (t) und b2 = 0 Data : Sprungantwort x2 (t) für Eingangssprung von u(t) = 0 auf u(t) = û bei t = 0. Result : Verstärkungsfaktor K2 , Periodendauer Tσ , Zeitkonstante Tω und Pole s1,2 = σ ± ωj. 1 Bestimmen des Wertes x̂2 , gegen den x2 (t) für t → ∞ strebt. 2 Berechnen des Verstärkungsfaktors K2 = û. x̂2 3 Ablesen der Koordinaten (t1 , y1 ) und (t2 , y2 ) der ersten beiden Maxima der Schwingungen (Abbildung 1.13). 4 Berechnen der Periodendauer Tω ≈ t2 − t1 und der Zeitkonstante Tσ =  Tω y1 −x̂2 . log y2 −x̂2 5 Berechnen der Pole s1,2 = σ ± ωj mit σ = − T1σ und ω = 2π Tω Ist das System dagegen schwingfähig, schwingt es erst einige Male nach dem Eingangssprung um die neue Ruhelage herum bevor es dahin konvergiert (Abbildung 1.13). Die Periodendauer Tω ≈ t2 − t1 kann dabei abgeschätzt werden, indem man die Zeiten t1 und t2 von zwei benachbarten Maxima der Sprungantwort bestimmt. Für die Zeitkonstante Tσ , mit der die Schwingungen sich abschwächen, bestimmt man die Werte y1 und y2 dieser beiden Maxima (Abbildung 1.13). Es gilt dann Tσ = Tω  . y1 log y2 26  Kapitel 1.3.4: Das Wichtigste in Kürze! Die Sprungantwort (x1 (t), x2 (t)) ist immer proportional zur Eingangssprunghöhe û (doppelte Sprunghöhe ⇒ doppelte Sprungantwort). Wie bei den homogenen Dynamiken ist die Sprungantwort eines LZI-Systems 2. Ordnung durch die Überlagerung von zwei Exponentialfunktionen gegeben. Sind beide Pole stabil und reell, zeigt die Sprungantwort einen S-förmigen Verlauf ohne Über- schwingen (Abbildung 1.12). Sind die Pole komplex konjugiert, schwingt die Sprungantwort über (Abbildung 1.13). Stabile LZI-Systeme 2. Ordnung mit y(t) = x2 (t) und b2 = 0 können mittels Algorithmus 1.3 (nicht schwingfähig) bzw. Algorithmus 1.4 (schwingfähig) anhand der Sprungantwort charak- terisiert werden. 1.4 Selbstcheck 1.4.1 Linearmotor Sie legen an einem Linearmotor eine Spannung an und messen die Position des Schlittens. Die Beschleunigung ist dabei näherungsweise proportional zu der angelegten Spannung. Aufgabenstellung: Was sind die Zustände, und was sind der Ein- und Ausgang dieses Systems? 1.4.2 RC-Glied Gegeben sei ein RC-Glied, d.h. eine Reihenschaltung von einem ohmschen Widerstand R und einem Kondensator C (Abbildung 1.14). An der Reihenschaltung liegt eine zeitabhängige Eingangsspannung von ue (t) an, als Ausgang wird der sich ergebende Spannungsverlauf uc (t) am Kondensator gemessen. i(t) R ue(t) uc(t) C Abbildung 1.14: Modell eines RC-Gliedes. Am Kondensator haben Strom i(t) und Spannung uc (t) die Beziehung d 1 uc (t) = i(t). (1.23) dt C 27 Um diese DGL in ein LZI-System 1. Ordnung mit Zustand uc (t) umzuwandeln, müssen wir die rechten Seite so umformen, dass dort nur noch der Zustand uc (t) und der Eingang ue (t) auftauchen. Mit der Maschenregel erhalten wir ue (t) = ur (t) + uc (t) und damit i(t) = 1 R (ue (t) − uc (t)). Einsetzen in Gleichung 1.23 ergibt dann das LZI-System 1. Ordnung: d 1 1 uc (t) = − uc (t) + ue (t). (1.24) dt R·C R·C Aufgabenstellung: 10 8 Spannung u c (t) [V] 6 4 2 0 0 1 2 3 4 5 6 Zeit t [ms] Abbildung 1.15: Sprungantwort des RC-Glied auf einen Eingangssprung in ue (t) zum Zeitpunkt t = 0 mit unbekannter Sprunghöhe. Leiten Sie aus Gleichung 1.24 eine Formel für den Verstärkungsfaktor K des RC-Gliedes her. Abbildung 1.15 zeigt die Sprungantwort des RC-Gliedes auf einen Eingangssprung unbekannter Höhe ûe. Bestimmen Sie anhand der Sprungantwort die Eingangssprunghöhe ûe des Systems.  Bestimmen Sie anhand der Sprungantwort die Zeitkonstante T des Systems.  Wenn der eingesetzte Widerstand R = 10kΩ war, wie hoch war dann die Kapazität C des Kondensators? 1.4.3 Schwingfähiges System Gegeben sei folgendes homogene LZI-System 2. Ordnung: d x1 = −2Dω0 x1 − ω02 x2 , x1 (0) = x̄1 dt d x2 = x1 , x2 (0) = x̄2 dt y(t) = x2 , mit Dämpfungsgrad D und Eigenkreisfrequenz ω0. 28 Aufgabenstellung: Bestimmen Sie, in Abhängigkeit von D und ω , durch Einsetzen der allgemeinen Lösungen 0 (1.15) für x1 (t) und x2 (t) in die DGLen, die Pole s1 und s2 des Systems. Hinweis: Setzen Sie die allgemeinen Lösungen zuerst in die zweite DGL ein, um z̄11 als Funktion von z̄21 , und z̄12 als Funktion von z̄22 zu beschreiben. Erst danach setzen Sie die so veränderten allgemeinen Lösungen in die erste DGL ein. Nutzen Sie dann aus, dass die Faktoren vor z21 es1 t und z22 es2 t jeweils einzeln Null sein müssen. Beachten Sie auch, dass die Werte von z̄11 ,... , z̄22 nicht bestimmt werden müssen. Das Einsetzen in die Anfangsbedingungen ist daher nicht notwendig. Für welche Werte von D und ω ist das System stabil, instabil und grenzstabil? 0 Für welche Werte von D und ω ist das System schwingfähig? Bestimmen Sie für diesen 0 Bereich sowohl die Periodendauer Tω als auch die Zeitkonstante Tσ , mit der die Schwingungen abklingen. Nach welcher Zeit ist die Amplitude der Schwingung auf etwa 5% der anfänglichen Amplitude gesunken? Bestimmen Sie für Werte von D, für die das System stabil und nicht schwingfähig ist, die relevante Zeitkonstante, mit der die Zustände zur Ruhelage konvergieren. 29

Use Quizgecko on...
Browser
Browser