Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kindesalter PDF
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Universitätsklinikum Würzburg
Dipl.-Psych. A. Harzdorf
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This document is a handout about the treatment of dissociative and somatoform disorders in children and adolescents.
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Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kindes- und Jugendalter Dipl.-Psych. A. Harzdorf Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Direktor: Prof. Dr....
Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kindes- und Jugendalter Dipl.-Psych. A. Harzdorf Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Direktor: Prof. Dr. M. Romanos I. Dissoziative Störungen II. Somatoforme Störungen Was ist „Dissozation“? Dissoziieren = trennen, zur Seite schieben Dissoziiert werden v.a. unwichtige und “brisante” Dinge Fähigkeit zur Dissoziation ist etwas Alltägliches Je mehr Stress, desto mehr Dissoziation Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 3 Definition „Dissoziative Störung“ Teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration von: Erinnerungen an die Vergangenheit Identitätsbewusstsein unmittelbaren Empfindungen Kontrolle von Körperbewegungen nach Remschmidt et al., 2006 Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 4 Definition „Dissoziative Störung“ Meist plötzlicher Beginn und plötzliches Ende dissoziativer Zustandsbilder Kein Nachweis einer körperlichen Krankheit, welche die Symptome hinreichend erklären könnte Meist zeitlicher Zusammenhang zwischen den dissoziativen Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen Unwillentliche und unbewusste Generierung der Symptomatik nach Remschmidt et al., 2006 Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 5 Diagnosen nach ICD-10 Dissoziative Amnesie (F44.0) Dissoziative Fugue (F44.1) Dissoziativer Stupor (F44.2) Dissoziative Trance- und Besessenheitszustände (F44.3) Dissoziative Bewegungsstörungen (F44.4) Dissoziative Krampfanfälle (F44.5) Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6) Dissoziative Störungen, gemischt (F44.7) Sonstige Dissoziative Störungen (F44.8) F44.80 Ganser-Syndrom F44.81 Multiple Persönlichkeit(-sstörung) F44.82 Transitorische dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] in Kindheit und Jugend F44.88 Sonstige dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] Depersonalisations- und Derealisationssyndrom (F48.1) Master-Präsentation 6 F44.0 Dissoziative Amnesie plötzlich auftretender, meist unvollständiger retrograder Erinnerungsverlust (personen-, ereignis- oder zeitbezogen) Gedächtnislücken beziehen sich v.a. auf autobiographische Informationen (z.B. traumatische Ereignisse) Selten eigenständig, oft im Rahmen anderer dissoziativer Störungen (z.B. Fugue) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 7 F44.1 Dissoziative Fugue plötzliche, unerwartete Entfernung vom Zuhause/ Arbeitsplatz oder Unterbrechung der allgemeinen Aktivität Patient*innen zeigen keine psychopathologischen Auffälligkeiten oder kognitiven Defizite, erscheinen „normal“ z.B. Verlust der Identität und Annehmen neuer Identität, gleichzeitig besteht teilweise oder vollständige Amnesie für den Fuguezustand Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 8 F44.2 Dissoziativer Stupor bewegungs- und reaktionsloser Zustand liegend oder auch sitzend mutistisch erhaltener Muskeltonus, Körperhaltung, Atmung, gelegentliches Öffnen der Augen, koordinierte Augenbewegungen keine Bewusstseinsstörung Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 9 F44.81 Dissoz. Identitätsstörung „Multiple Persönlichkeitsstörung“ gemeinsames, jedoch nicht gleichzeitiges Vorkommen mehrerer Persönlichkeiten in einem Individuum einzelne Identitäten können sich unterscheiden in Namen, Alter, Geschlecht, kognitivem Niveau, Ausdrucksverhalten, emotionaler und sozialer Reagibilität und Interessensbildung Persönlichkeiten sind sich ihrer Existenz oft nicht bewusst CAVE: fehlende valide wissenschaftliche Begründung Symptomatik oft durch andere Erkrankungen erklärbar (Borderline-PS, PTBS, Psychose) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 10 F48.1 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom eigener Körper/Körperteile oder Umwelt werden als seltsam verfremdet, unwirklich, künstlich und automatisiert erlebt Derealisation: Entfremdungserleben bzgl. der Umwelt Depersonalisation: Entfremdungserleben bzgl. sich Selbst bzw. dem eigenen Körper Realitätsprüfung intakt („Als-ob-Erleben“) Symptomatik erzeugt Angst („Ich werde verrückt), ist quälend Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 11 F44.4 Dissoziative Bewegungsstörungen vollständiger oder partieller Verlust der Bewegungsfähigkeit zumeist der unteren, aber auch der oberen Extremitäten oft partielle Schwäche der Extremitäten, gleichzeitig Zittern und Schütteln Dysarthrie (Sprechstörung) und Aphonie (vollständiger Stimmverlust) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 12 F44.5 Dissoziative Krampfanfälle epilepsieähnliche Anfallsereignisse große Bandbreite zwischen Ohnmachten (»swoons«) und tonisch-klonischer Symptomatik tlw. dramatische Ausdrucksformen (»Arc de cercle«) Einnässen, Verletzungen beim Sturz oder Zungenbiss treten meist nicht auf Patient*innen tlw. ansprechbar Paul Richer (Paris, 1885) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 13 F44.6 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Störungen der Sinneswahrnehmungen der versch. Sinnesmodalitäten teilweiser oder vollständiger Verlust der normalen Hautempfindungen an Körperteilen oder am ganzen Körper Seh-, Hör- oder Riechverlust (selten vollständig) Sehbeeinträchtigungen: oft Gesichtsfeldeinschränkung (Tunnelsehen) und Verlust Sehschärfe Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 06.07.2023 14 Psychopathologische Auffälligkeiten Symptomatik erscheint zweckgerichtet und hat einen Ausdrucksgehalt, der mit der Auslösesituation zusammenhängen kann Zweckorientierung ist für Außenstehende sichtbar, für Patient*innen jedoch nicht Symptomatik hat “demonstrativen” Charakter Belle indifférence: Gleichgültigkeit oder Indolenz der/s Patient*in trotz der Schwere der Symptomatik und Beeinträchtigungen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 15 Differentialdiagnosen Ausschluss primär organischer Verursachung der Symptome (z.B. Epilepsie) Simulation Artifizielle Störung („Münchhausen-Syndrom“) andere psychischer Störungen, z.B.: Somatoforme Störungen Schizophrenie Emotional-instabiler PS Depressiver und katatoner Stupor Bipolare Störungen akute Belastungsreaktionen, PTBS substanzbezogenen Störungen (v.a. Intoxikation und Entzug) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 16 Komorbiditäten Angststörungen Somatisierungsstörung Persönlichkeitsstörungen (emot.-instabil, histrion, ängstl.-vermeidend) PTBS, Akute Belastungsreaktion Selbstverletzendes Verhalten Depression Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 17 Epidemiologie Lebenszeitprävalenz 0,6% (Faravelli, 2004) Ca. 1-2% der Aufnahmen in KJP-Kliniken Erstmanifestation meist im Jugendalter bzw. frühem Erwachsenenalter ♀>♂ Häufiger bei Migranten Prognose (Jans et al., 2008): Katamneseintervall von 12 Jahren 82,6 % psychiatrische Erkrankung (Angststörungen, somatoforme Störungen, 50% Persönlichkeitsstörungen) 26,1 % Konversionsstörung Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 18 Ätiologie Diathese-Stress-Modell Neurobiologische Mechanismen Disponierende Persönlichkeitsstruktur Ätiologische Bedeutung traumatischer Lebenserfahrungen in der Genese dissoziativer Störungen unstrittig Aber: Bedeutung umschriebener oder chronischer sexueller Traumatisierungen überschätzt Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 19 Ätiologie Familiäre Häufung Modelllernen „Symptomwahl“ bestimmende Verletzungen oder Erkrankungen in der Vorgeschichte Aktuelle oder aktualisierte Konflikt- oder Überforderungssituation Operante Faktoren in Form positiver oder negativer Verstärkung („sekundärer“ Krankheitsgewinn) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 20 Ätiologie Konflikt- oder Überforderungssituationen: Schule (kognitive Überforderung, Lern- und Leistungsstörungen) Familie (Konflikte, Krankheiten, Todesfälle, etc.) Soziales Umfeld (Außenseitertum, Übergriffe, etc.) Kritische Lebensereignisse (Umzug, Verlust Arbeitsplatz) Organische Erkrankung Psychische Dauerbelastung (z.B. Erkrankung der Eltern) Schwellensituationen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 21 Therapie dissoziativer Störungen übende und einsichtsorientierte und symptomorientierte problemaktualisierende Maßnahmen Maßnahmen Cave: fehlende evidenzbasierte Leitlinien! Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 22 Wichtige Prinzipien der Behandlung Beziehungsaufbau entscheidend für weitere Behandlung Symptomatik ernst nehmen Simulations- und Manipulationsvorwurf vermeiden („Pseudoanfälle“ „unerklärte Symptome“), Symptomatik nicht willentlich produziert Erkrankungsmodell der/s Patient*in und der Familie respektieren, aber Alternative anbieten Enger Austausch mit Ärzt*innen (Hausärzt*in, Kinderärzt*in, etc.) Realistische Behandlungsziele vereinbaren, um rasche Erfolge zu garantieren Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 23 Therapie dissoziativer Störungen vom „Bewusstseinstypus“ Berücksichtigung Komorbidität Reduktion der Dissoziationsneigung (BPS, PTBS) Konfrontation mit möglichen traumatischen Erlebnissen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 24 Therapie dissoziativer Störungen vom „Bewusstseinstypus“ Verbesserung der Gefühls- und Spannungsregulation: - Spannungskurve - Aufbau funktionaler Emotionsregulationsstrategien - individualisierter Notfallkoffer Steigerung der Veränderungsmotivation Vier-Felder-Schema Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 25 Aufbau einer Veränderungsmotivation Pro Contra Früher «abschalten», weniger Schmerzen, „ich habe wohl komisch gewirkt“ weniger Ekel Keine Wut, für die ich bestraft worden wäre Aktuell «abschalten» bei völliger Unsicherheit, Scham Überforderung Kontrollverlust, Bevormundung Gefühl von Scheitern Ärger ausgelöst, Konflikt nicht geklärt Risikosituationen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 26 Therapie dissoziativer Störungen vom „Bewusstseinstypus“ Kontingenzmanagement: Unterbrechung der Symptomverstärkung durch Angehörige (aufgrund von Fürsorge) mittels Aufklärung, Verstärkung funktionalen Verhaltens Reduktion emot. Verwundbarkeit: auf Ernährung, Trinkmenge, Bewegung und Schlaf achten, Substanzabusus Symptomtagebücher/ Verhaltensanalysen Erarbeitung von Auslösern, Frühwarnzeichen und Konsequenzen Auslösesituationen beenden: z.B. Beendigung gewaltvoller Beziehungen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 27 Therapie dissoziativer Störungen vom „Bewusstseinstypus“ Datum/ Art der Intensität Situation Gefühl Gedanken Frühwarn- Uhrzeit Dissoziation 0-100 davor davor davor zeichen 10.00 war völlig 80 Neue Mitschülerin hat Scham, Angst „Mir glaubt Müde, angespannt Uhr, weggetreten, wie im mich gefragt, ob ich keiner“, „Sie wegen Referat, Schul- Autopiloten schon mal einen darf es nicht „Tunnelblick“, nicht pause Freund hatte erfahren“ mehr zugehört Identifikation von Frühwarnzeichen auf Gedanken-, Gefühls-, Körper- und Verhaltensebene Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 28 Therapie dissoziativer Störungen vom „Bewusstseinstypus“ Antidissoziative Fertigkeiten Erhöhung der Kontrolle über dissoziative Zustände Präventiv oder zur Unterbrechung dissoziativer Zustände Grounding-Techniken (Fokussierung des körperlichen Kontakts zur Umgebung) Realitätsprüfung (z.B. Benennung des gegenwärtigen Ortes) Starke Sinnesreize Geschmack (Ingwer, Chili) Geruch (Tigerbalsam) Geräusche (laute Musik, Klatschen), Sehen (Augenbewegungen) Haptisch (Steinchen im Schuh) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 29 Therapie dissoziativer Störungen vom „Konversionstypus“ 1. Aufklärung 2. Entlastung von akut überfordernden Anforderungen 3. Funktionstraining, Steigerung von Alltagsanforderungen 4. Psychotherapeutische Interventionen mit zunehmend konflikt- und einsichtsorientiertem Charakter Behandlungsansätze, die Aufdeckungsarbeit und Traumabearbeitung als grundsätzlich notwendige Behandlungsstrategie fordern („recovered memory therapy“), sind obsolet Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 30 Vermittlung psychosomatischer Zusammenhänge Es gibt Beschwerden / Symptome ohne Krankheit, z.B.: Schwindel, Übelkeit bei Höhe Andere körperliche Begleiterscheinungen von psychischen Vorgängen (z.B. Herzklopfen / Zittern bei Aufregung; roter Kopf bei Scham; aber auch: blass vor Schreck; Freezing bei Tieren) Dissoziation bei Extrembelastung Es gibt Unterschiede zwischen Menschen, wie stark sie körperlich auf Stress reagieren und wie sie dies wahrnehmen Zentrale Botschaft: „nervöse Blockaden“, die gelöst werden können durch Umlernen und Training Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 31 Funktionstraining Ziel: Symptome „ohne Gesichtsverlust“ aufgeben können „Brücke bauen“, „escape under honour“ Therapeutische Methoden einsetzen, die direkt darauf abzielen, die dissoziative Symptomatik zu vermindern bzw. zu kontrollieren: Aktive Maßnahmen: Bewegungsübungen, Krankengymnastik Passive Maßnahmen: Massage, Wärmebehandlungen, Reizstimulation Operante Verfahren/Kontingenzmanagement: Verhinderung weiterer med. Untersuchungen!, Verstärkung von Erfolgen (z.B. TGT) Schrittweise Steigerung der Alltagsanforderungen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 32 Psychotherapeutische Interventionen unterstützend, angstreduzierend, konfliktaufarbeitend, den sekundären Krankheitsgewinn minimierend Bewältigung von Entwicklungsaufgaben unterstützen und psychosoziale Integration fördern (Introspektionsfähigkeit, soziale Kompetenz; Selbständigkeit) Vermeidung von Affektüberschwemmungen, Steigerung der Affekttoleranz (Erlernen von Strategien zur Emotionsregulation) Verbesserung der Selbstwahrnehmung Reduktion des sekundären Krankheitsgewinns Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 33 Pharmakotherapie bei ausgeprägter psychiatrischer Komorbidität (nach Leitlinie der Komorbidität) Cave: Attribution der Verbesserung nicht auf Medikation, sondern auf psychotherapeutische Interventionen (Selbstwirksamkeit verbessern) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 34 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome potentiell lebensbedrohliche Verweigerung der Nahrungsaufnahme Verweigerung in weiteren Bereichen: Teilhabe an Alltagsaktivitäten Kommunikation Bewegung Vernachlässigung von Körperhygiene und Selbstfürsorge aktive Weigerung, Hilfe und Unterstützung anzunehmen (aber auch Patienten mit passivem Widerstand) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 35 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 36 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome Gemeinsamkeiten mit dissoziativen Störungen: Körperbezogene Symptome, die nicht diejenigen einer somatischen Erkrankung sind (z.B. Anorexie, Bewegungsstörung, Aphonie, Ausscheidungsstörung, stuporöser Zustand) Häufig begleitende somatoforme Symptome Gemischte klinische Bilder mit Veränderungen im Krankheitsverlauf Indifferenz bezüglich der Schwere der Erkrankung Belastungen und Konflikte sind zentral für die Genese Negative Verstärkung der Symptomatik (Entlastung durch Vermeidung einer Lebenssituation, für die Bewältigungsmöglichkeiten fehlen) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 37 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome Unterschiede zu dissoziativen Störungen: Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 38 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome Therapeutische Prinzipien Lebenssichernde Maßnahmen Differenzialdiagnostik Psychoedukation (Modell mit Botschaft: „Heilung ist möglich“) Physiotherapie und Pflege in therapeutischem Setting Begleitende Elternarbeit Therapeutische Haltung: Akzeptanz („Gegenübertragung!“) Druck erhöht Reaktanz: deswegen Geduld und Zeit und kein therapeutischer Aktionismus Offenheit Vorsichtiges Einführen eines Rehabilitationsprogrammes (zielsymptomorientiert: Kommunikation, Bewegung, Selbstfürsorge, Aktivitätsaufbau, Nahrungsaufnahme) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 39 Exkurs: Pervasive Refusal Syndrome Therapeutische Prinzipien: Individuelle Psychotherapie (zunächst fertigkeitenorientiert) Psychosoziale Stütze für individuelle und familiäre Belastungen: zentral ist die Schaffung einer bewältigbaren Lebensperspektive Behandlung von Begleitstörungen: Angst, Depression, PTBS erst nach Stabilisierung Medikation für gezielte Behandlung von Begleitsymptomen Reintegration und Generalisierungsstrategien Koordination der Maßnahmen ist essentiell Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 40 II. Somatoforme Störungen F45.- Somatoforme Störungen wiederholte Darbietung körperlicher Beschwerden, die das Vorliegen eines medizinischen Krankheitsfaktors nahe legen, ohne dass jedoch eine hinreichende pathophysiologische Ursache für die Beschwerden festgestellt werden kann Jedes Organsystem kann betroffen sein Zu den häufigsten Einzelbeschwerden gehören Schmerzsymptome Typische Verhaltensweisen: Körperliches Schonverhalten (nicht verordnungsgemäße) Einnahme von Medikamenten erhöhte Inanspruchnahme medizinischer Dienste bzw. häufige Ärzt*innenwechsel („doctor shopping“) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 42 F45.0 Somatisierungsstörung Anhaltendes Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die durch keine diagnostizierbare körperliche Erkrankung hinreichend erklärt werden kann Ständige Sorge um Symptome, Leiden und mehrfach Arztbesuche Hartnäckige Weigerung die neg. Arztbefunde langfristig zu akzeptieren Gastrointestinale, kardiovaskuläre, urogenitale Symptome oder Haut- und Schmerzsymptome Dauer: mind. 2 Jahre Zeitkriterium im Kindes- und Jugendalter oft nicht erfüllt F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung (Dauer mind. 6 Monate) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 43 F45.2 Hypochondrische Störung Überzeugung an höchstens zwei schweren körperlichen Erkrankungen zu leiden oder anhaltende Beschäftigung mit einer angenommenen Entstellung/Missbildung Ständiges Sorgen bzgl. Krankheit, Leiden und Arztbesuche Hartnäckige Weigerung die neg. Arztbefunde langfristig zu akzeptieren Dauer: mind. 6 Monate im Kindes- und Jugendalter sehr selten Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 44 F45.3 Somatoforme autonome Funktionsstörung Schilderung von Symptomen, die wie eine Erkrankung des gastrointestinalen, kardiovaskulären, urogenitalen oder respiratorischen Systems imponieren (vegetativ bedingt) Zusätzlich vegetative Symptome – Schweißausbrüche, Erröten, etc. Weitere Symptome: u.a. Brustschmerz, leicht ermüdbar, häufiger Stuhlgang, erhöhte Miktionsfrequenz Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 45 F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung Kontinuierlicher, an den meisten Tagen anhaltender schwerer Schmerz in einem Körperteil ohne Nachweis einer hinreichenden somatischen Ursache Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 46 F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung 16-jährige Jugendliche mit seit 4 Jahren bestehenden Kopfschmerzen Vor 4 Jahren Migräne diagnostiziert, zunehmende Frequenz und Intensität, zuletzt 4–5 Wochen durchgehend Kopfschmerzen Durch zahlreiche Klinikaufenthalte und Krankheitstage im vergangenen Schuljahr kaum in der Schule gewesen sowie Leistungsabfall Anamnese: Trennungsangst, problematische Trennung der Ke, müsse sich um jüngere Geschwister kümmern, depressive Verstimmung und sozialer Rückzug Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 47 Symptomatik somatoformer Störungen im Kindes- und Jugendalter Kindesalter: Rezidivierende Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen Kopfschmerzen, Blässe, Müdigkeit Variieren beträchtlich hinsichtlich Frequenz und Dauer, aber wenig Symptomfluktuation Adoleszenz: Symptome nähern sich denen des Erwachsenenalters an Somatoforme Störungen treten vereinzelt bereits im typischen Bild auf Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 48 Dissoziative vs. somatoforme Störung Gemeinsamkeiten Durch körperliche Erkrankung nicht hinreichend erklärbar Stehen mit Belastungsmomenten in Zusammenhang („Konversion“ in das Körperliche) Betroffene bzw. deren Eltern haben ein organisches Krankheitskonzept Treten vermehrt gemeinsam auf Es bestehen ähnliche Komorbiditäten Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 49 Dissoziative vs. somatoforme Störung Unterschiede: Somatoforme Störungen: Dissoziative Störungen: werden über das autonome betreffen Nervensystem vermittelt und betreffen die quergestreifte Muskulatur innere Organe die Sinnesorgane und / oder gehen mit multiplen und teils wechselnden Beschwerden einher oder rein psychische Manifestationen (Somatisierungsstörung, somatoforme Schmerzstörung) Typisch ist exzessive Sorge wegen der Häufig ist überraschende Unbekümmertheit Symptome Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 50 Epidemiologie Lebenszeitprävalenz (Deutschland): 12% >33% der Pat. in pädiatrischer Praxis zeigen medizinisch nicht (ausreichend) erklärbare Beschwerden (Andresen et al. 2011; Kelly et al. 2010) v.a. undifferenzierte somatoforme Störung (Jungen: 9,0%; Mädchen: 12,4%) Kindesalter: ♀=♂; Jugendalter: ♀>♂ Schweden: Anstieg psychosomat. Beschwerden zwischen 1988 und 2011 von 5 % auf 9 % bei Jungen und von 17 % auf 25 % bei Mädchen (van Geelen und Hagquist, 2016) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 51 Ätiologie – Prädisponierende Faktoren Genetische und biologische Faktoren (z.B. überaktives autonomes Nervensystem, erhöhte Sensitivität gegenüber Schmerzen) Persönlichkeit: hoher Perfektionismus und Ängstlichkeit Geringe intellektuelle und/oder soziale Fertigkeiten sowie geringe Emotionsregulationsstrategien UND hohe (elterliche) Erwartungen Biografie: Trauma und Gewalterfahrungen, kritische Lebensereignisse Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 52 Ätiologie – Prädisponierende Faktoren Familienklima: höhere psychosoz. Belastung, häufige Konflikte dysfunktionales, feindseliges Familienklima perfektionistische Persönlichkeitsmerkmale, überbehütender Erziehungsstil intensive Beschäftigung mit körperlichen Symptomen Interozeptiver Wahrnehmungsstil: Körperliche Empfindungen werden als intensiv, schädlich erlebt Soziodemograph. Bedingungen: Weibl. Geschlecht, niedriger sozioökonom. Status Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 53 Ätiologie – Auslösende Faktoren Überforderung, Nichterfüllen von Erwartungen Kritische Lebensereignisse / Kränkungserlebnisse Organische Erkrankungen, Unfall Psychische Dauerbelastungen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 54 Ätiologie – aufrechterhaltende Faktoren Inadäquate Coping-Strategien / Emotionsregulierung Familiäre Interaktion und Verstärkungsbedingungen (z.B. familiäre Zuwendung, Entlastung, Vermeidung) Soziale Vorteile durch Krankheit Arzt-Patienten-Beziehung, z.B. Durchführung wiederholter diagnostischer Untersuchungen, unnötiger Eingriffe, Ausweichen auf somatische Bagatelldiagnosen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 55 Ätiologie – Aufrechterhaltung Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 56 Ätiologie – Aufrechterhaltung Kind klagt über somat. Symptome Eltern rücken somat. Symptome in den Brennpunkt Psychosoz. Stress, z.B. Schikanen Frei schwebende Angst zielt auf Symptome Das Kind erhält zusätzliche Aufmerksamkeit Fördert Somatisierung Abwesenheit von der in der Zukunft Schule ermöglicht Flucht vor Schikanen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 57 Ätiologie – Aufrechterhaltung Kind klagt über somatische Symptome Symptome Psychosozialer bleiben trotz Stress, Heilmitteln z.B. Schikanen bestehen Aufdeckung, Klärung führt dazu, dass Schikanen unter- Eltern gehen der bunden werden Sache auf den Grund Fördert Aufdeckung zukünftiger psychischer Kind berichtet Belastungen von Schikanen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 58 Therapie Gemeinsame Festlegung von Therapiezielen sollte vor allem eine Verbesserung der Lebensqualität, der Selbstwirksamkeit und der Körperwahrnehmung angestrebt werden Verbesserung bzw. Reduktion der Symptome und Toleranzentwicklung für körperliche Symptome Erarbeitung von erweiterten Erklärungsmodellen Anregung zu einem adäquaten Krankheitsverhalten Verbesserung komorbid bestehender psychischer Störungen Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 59 Therapie 1) Motivierung für die Psychotherapie 2) Vermittlung psychophysiologischen Grundlagenwissens 3) Aufmerksamkeit 4) Bewertungsprozesse 5) Krankheitsverhalten 6) Stress und Stressbewältigung 7) Rückfallprophylaxe Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 60 Motivierung für Psychotherapie Vorsicht vor unrealistischen Zielvorstellungen: Z. B. völlig beschwerdefrei werden Z.B. erst müssen Beschwerden weg sein, dann kann ich wieder dies/jenes tun… Statt dessen: Lernen, besser mit Beschwerden umgehen Trotz Beschwerden wieder am Alltag teilhaben „Ziel unserer Behandlung soll es sein, alternative Erklärungen für Deine Beschwerden zu entwickeln und Dir Strategien zum besseren Umgang damit zu vermitteln…“ Anbieten eines alternativen Störungsmodells, das im Verlauf der Behandlung von Patient*innen auf seine Richtigkeit überprüft werden soll (Pat. muss es NICHT von Beginn an für richtig befinden, bevor Behandlung starten kann!) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 61 Vermittlung psychophysiologischer Grundlagen Funktion von Stress: angeboren und sinnvoll, Fight-Flight, automatische Aktivierung bei Belastung Aufbau des vegetativen Nervensystems (Stresshormone, Stressreaktion) Körperliche Stressreaktion und Zeichen eigener Anspannung Wichtiges Tool: Selbstbeobachtung - Symptomtagebuch Erlernen von Entspannungsverfahren (Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Biofeedback, etc.) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 62 Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit als „mentaler Schweinwerfer“ Aufmerksamkeitsfokussierung als aufrechterhaltender Faktor Demonstration mit Hilfe einer Achtsamkeitsübung z.B. Körperreise, Kehlkopfübung Ziele: Vermittlung des Zusammenhangs zwischen Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung körperlicher Prozesse Abbau der verstärkten Selbstbeobachtung Förderung der Wahrnehmung positiver Außenreize (Genuss, Achtsamkeit) Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 63 Bewertungsprozesse Verdeutlichung des Zusammenhangs zwischen Gedanken und körperlichen Beschwerden Veränderung dysfunktionaler Gedanken, die sich auf die Verursachung und die Folgen der körperlichen Beschwerden beziehen Veränderung durch kognitive Umstrukturierung und Verhaltensexperimente Abbau ungünstiger Gesundheitsbegriffe „ein gesunder Körper ist stets beschwerdefrei“ Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 64 Kognitive Umstrukturierung Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 65 Abbau von Krankheitsverhalten Schonverhalten und seine Konsequenzen besprechen Kurzfristig: Abnahme der Angst, verstärkte Zuwendung, Entlastung Langfristig: Lebensqualität sinkt, Fokus auf körperliche Beschwerden, Befürchtungen bestätigt Erklärung des Teufelskreises zwischen Schonverhalten und körperlichen Beschwerden Schlechtere körperliche AZ/ Kondition Neue Symptome entstehen, Verschlimmerung der Vorhandenen Vernachlässigung von Aktivitäten/ Kontakten Aufbautraining Gemeinsame Erarbeitung eines pos. Aktivitätenplans/Bewegung Reduktion von Durchhalteverhalten, Erkennen von Belastungsgrenzen Erläuterung des Teufelskreises „Rückversicherung“ Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 66 Elternarbeit Finden eines angemessenen „Normalniveaus“ für Arztbesuche Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 67 Abbau von Krankheitsverhalten Thematisierung von Krankheits“gewinn“ Funktionalität der Symptome Welchen „Vorteil“ hat die Krankheit? Welche Funktionen übernehmen die Symptome? Welche Kompetenzen braucht Pat., um die Symptome ablösen zu können (Stressmanagement, Konfliktkompetenz, soziale Kompetenz, Wahrnehmung von Gefühlen, Emotionen als Bedürfnisanzeiger, Traumabehandlung) „Was will mir mein Körper sagen?“, Stuhldialog, assoziatives Netzwerk/ Lernprozesse Konflikt- Emotions- vermeidung vermeidung Pause Schmerzen ? Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 68 Literatur Brunner, R. (2012). Dissoziative und Konversionsstörungen. Springer Verlag. Groß, M. und Warschburger, P (2011). Chronische Bauchschmerzen bei Kindern. Hogrefe Verlag. Priebe, K., Schmahl, C. & Stiglmayr, C. (2013). Dissoziation- Theorie und Therapie. Springer Verlag. Voderholzer, U. & Hohagen, F. (2013). Therapie psychischer Erkrankungen. Elsevier Verlag. von Polier, G. und Simons, M. (2020). Somatoforme Störungen bei Kindern und Jugendlichen. In: Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Behandlung von dissoziativen und somatoformen Störungen im Kinder- und Jugendalter 69