Arbeitshilfe § 35a SGB VIII (2020) - Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche - LVR/LWL
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2020
Lorenz Bahr-Hedemann, Birgit Westers
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This document is a 2020 working guide for youth welfare offices on procedures for providing support to children and adolescents with mental disabilities (mental health). It details the steps involved in the application process, assessment of eligibility, support planning, participation of various stakeholders, and concludes with examples of cases and a schema for use.
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§ 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung EINE ARBEITSHILFE FÜR JUGENDÄMTER Teil I: Verfahren Zweite Fassung, gültig ab 1. Januar 2020 1 LANDESJUGEN...
§ 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung EINE ARBEITSHILFE FÜR JUGENDÄMTER Teil I: Verfahren Zweite Fassung, gültig ab 1. Januar 2020 1 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2 § 35a SGB VIII Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer seelischen Behinderung EINE ARBEITSHILFE FÜR JUGENDÄMTER Teil I: Verfahren Zweite Fassung, gültig ab 1. Januar 2020 V1 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Diese Arbeitshilfe wurde von den beiden nordrhein-westfälischen Landesjugendämtern in einer Arbeitsgruppe mit Fach- und Leitungskräften aus 15 Jugendämtern unterschiedlicher Strukturtypen und Größen erarbeitet. Mitglieder der Arbeitsgruppe Simone Ackermann, Kreisjugendamt Lippe Claudia Falk-Trude, Jugendamt Leverkusen Tanja Horn, Jugendamt Minden Reinhold Kauling, Jugendamt Münster Uta Leiting, Jugendamt Emmerich Tina Lüdenbach, Jugendamt des Rheinisch-Bergischen Kreises Agnes Moch, Jugendamt Herford Michele Offermann, Jugendamt Aachen René Olbrück, Jugendamt Königswinter Barbara Pahlke, Jugendamt Hilden Dorothee van Rennings, Kreisjugendamt Düren Inga Ribbentrupp, Kreisjugendamt Höxter Renate Spanier, Jugendamt Bonn Sandra Streich, Jugendamt Düsseldorf Ulla Wies, Jugendamt Marl Leitung Sandra Eschweiler & Linda Krolczik, LVR-Landesjugendamt Rheinland Nadja Gaßmann, LWL-Landesjugendamt Westfalen Impressum Herausgeber: Landschaftsverband Rheinland, LVR-Landesjugendamt, 50633 Köln, www.jugend.lvr.de Landschaftsverband Westfalen-Lippe, LWL-Landesjugendamt Westfalen, 48133 Münster, www.lwl.org Verantwortlich: Lorenz Bahr-Hedemann, Landesrat LVR-Landesjugendamt Rheinland Birgit Westers, Landesrätin LWL-Landesjugendamt Westfalen Redaktion: Sandra Eschweiler, LVR-Landesjugendamt Rheinland; [email protected] Köln/Münster im Januar 2020 V2 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN Vorwort Seit Jahren steigen die Zahlen der durch die Jugendämter gewährten Eingliederungshilfen gemäß § 35a SGB VIII für junge Menschen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung. Nach dem HzE Bericht 2019 haben sich die Hilfen in NRW vom Jahr 2008 bis zum Jahr 2017 fast verdreifacht. Im Jahr 2017 wurden mehr als 25.000 Hilfen für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit einer (drohenden) seelischen Behinderung gewährt. Neben den steigenden Hilfezahlen fordert auch das Verfahren zur Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und der Hilfegewährung die Jugendämter heraus. Dieses ist angesichts der geteilten Zuständigkeit für junge Men- schen mit (drohenden) Behinderungen von Eingliederungshilfe und Jugendhilfe sowie aufgrund der in diesem Kontext anzuwenden Vorgaben des SGB IX sehr komplex. Vor diesem Hintergrund und dem daraus resultierenden Wunsch der Jugendämter haben die beiden nordrhein- westfälischen Landesjugendämter im Jahr 2014 eine Arbeitshilfe zur Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII herausgegeben. Aufgrund der Änderungen durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), haben sich zum 1. Januar 2018 insbesondere die Vor- gaben zum Verfahren der Rehabilitationsträger in Teil 1 SGB IX umfassend verändert und die Arbeitshilfe verlor in Teilen ihre Gültigkeit, so dass sie überarbeitet werden musste. Weitere umfangreiche Änderungen im SGB IX erfolgten zum 1. Januar 2020. Deshalb und aufgrund der Komplexität der Änderungen hat sich die für die Überarbeitung gegründete Arbeits- gruppe entschlossen, die bisherige Arbeitshilfe in mehreren Schritten und Teilen zu überarbeiten. Dieser erste Teil bezieht sich (fast ausschließlich) auf das Verfahren des Jugendamtes als Rehabilitationsträger, also auf die Änderungen durch die zweite Reformstufe des BTHGs. Weitere Teile werden folgen, etwa zu den Leistungen der Eingliederungshilfe. Aufgrund der in Stufen eingetretenen Änderungen löst, die hier vorliegende 2. Fassung des Teil I »Verfahren« die 1. Fassung mit Gültigkeit bis Dezember 2019 ab. Wir hoffen, dass die Arbeitshilfe dazu beiträgt, mehr Sicherheit in der Handhabung der neuen Vorgaben zu erlangen und dadurch dieses bedeutende Arbeitsfeld der Jugendämter gut unterstützt – nicht zuletzt im Inte- resse der betroffenen jungen Menschen. Lorenz BAHR-HEDEMANN Birgit WESTERS Landesrat Landesrätin LVR-Dezernent Jugend LWL-Landesjugendamt Westfalen 3 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Inhalt 0. Einleitung………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… 1 1. Das Jugendamt als Rehabilitationsträger……………………………………………………………………………………………… 2 1.1 Übersicht über das Bundesteilhabegesetz…………………………………………………………………………………………… 2 1.2 Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz……………………………………………………………………………………… 3 1.3 Auswirkungen auf die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII………………………………………………………… 5 2. Verfahren bei Antragstellung im Jugendamt………………………………………………………………………………………… 6 2.1 Verfahren der Zuständigkeitsklärung…………………………………………………………………………………………………… 7 2.1.1 Beratung und Hinwirken auf Antragstellung……………………………………………………………………………… 9 2.1.2 Prüfung des Antrags und der Anwendung von § 14 SGB IX……………………………………………………… 11 2.1.3 Prüfung der grundsätzlichen Zuständigkeit ……………………………………………………………………………… 14 2.1.3.1 Prüfung der (vorrangigen) Zuständigkeit für mindestens eine der beantragten Leistungen………………………………………………………………………………………………… 15 Exkurs: Träger der sozialen Pflegeversicherung…………………………………………………………… 16 Exkurs: Vorrangige Zuständigkeit der Schulen……………………………………………………………… 19 2.1.3.2 Prüfung der altersbedingten Zuständigkeit…………………………………………………………………… 21 2.1.3.3 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit……………………………………………………………………………… 23 2.1.4 Weiterleitung an zuständigen Rehabilitationsträger………………………………………………………………… 24 2.1.5 Prüfung des Vorliegens/Einholung der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme……………………………………………………………………………………… 26 2.1.6 Prüfung des Ausschlusses einer geistigen und/oder körperlichen Behinderung……………………… 28 2.1.6.1 Prüfung des Bestehens von Leistungskongruenz………………………………………………………… 30 Exkurs: Zuständige Träger der Eingliederungshilfe ……………………………………………………… 32 2.1.7 Prüfung der alleinigen Zuständigkeit des Jugendamtes…………………………………………………………… 33 Exkurs: Selbstbeschaffte Hilfen………………………………………………………………………………………………… 34 2.2 Verfahren der Anspruchsprüfung und Hilfeplanung……………………………………………………………………………… 35 2.2.1 Prüfung des Abweichens der seelischen Gesundheit………………………………………………………………… 37 2.2.2 Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung………………………………………………………………………………………… 40 2.2.3 Abschließende Einschätzung und Entscheidung über Leistungsanspruch und Hilfeart…………… 44 2.2.4 Auswahl des Leistungserbringers……………………………………………………………………………………………… 49 2.2.5 Hilfeplangespräch ……………………………………………………………………………………………………………………… 50 Exkurs: Beispiel für die Zielformulierung im Hilfeplan für eine Hilfe zur angemessenen Schulbildung durch eine Integrationsassistenz………………………………………………… 53 2.2.6 Beendigung oder Zuständigkeitswechsel…………………………………………………………………………………… 54 2.2.6.1 Beendigung der Hilfe……………………………………………………………………………………………………… 54 2.2.6.2 Zuständigkeitswechsel: Übergabe an zuständigen Träger…………………………………………… 56 2.3 Verfahren der Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger und Teilhabeplanung………………………………… 59 Exkurs: Verhältnis von Teilhabe- und Hilfeplan…………………………………………………………………………………… 60 2.3.1 Prüfung der grundsätzlichen Zuständigkeit des Jugendamtes für die Leistungsgruppe(n)……… 62 2.3.2 Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger………………………………………………………………………………… 63 2.3.2.1 Antragssplitting und Weiterleitung an den zuständigen Rehabilitationsträger…………… 63 2.3.2.2 Anforderung der Feststellungen weiterer Rehabilitationsträger…………………………………… 65 4 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 2.3.2.2.1 Prüfung des Rehabilitationsbedarfs nach allen in Betracht kommenden kommenden Leistungsgesetzen……………………………… 67 Exkurs: Gutachten nach § 17 SGB IX………………………………………………………… 68 2.3.3 Prüfung der Voraussetzungen einer Teilhabeplankonferenz……………………………………………………… 69 2.3.4 Teilhabeplanung…………………………………………………………………………………………………………………………… 71 2.3.4.1 Teilhabeplanung in Form einer Teilhabeplankonferenz………………………………………………… 71 2.3.4.2 Teilhabeplanung im Umlaufverfahren…………………………………………………………………………… 74 2.3.5 Bewilligung…………………………………………………………………………………………………………………………………… 77 2.3.5.1 Bewilligung durch mehrere Rehabilitationsträger………………………………………………………… 77 2.3.5.2 Bewilligung durch den leistenden Rehabilitationsträger und Beantragung von Exkurs: Anpassung des Teilhabeplans…………………………………………………………………………… 80 3. Verfahren des Jugendamts als zweit- oder drittangegangener Rehabilitationsträger………………… 81 3.1 Verfahren als zweitangegangener Rehabilitationsträger……………………………………………………………………… 81 3.1.1 Bei Zuständigkeit des Jugendamtes…………………………………………………………………………………………… 81 3.1.2 Bei Unzuständigkeit des Jugendamtes……………………………………………………………………………………… 81 3.2 Verfahren als drittangegangener Rehabilitationsträger……………………………………………………………………… 82 4. Verfahren als beteiligter Rehabilitationsträger……………………………………………………………………………………… 83 4.1 Antragssplitting……………………………………………………………………………………………………………………………………… 83 4.2 Abgabe von Feststellungen…………………………………………………………………………………………………………………… 84 5. Fallbeispiele zum neuen Verfahren nach dem SGB IX………………………………………………………………………… 85 6. Literaturverzeichnis……………………………………………………………………………………………………………………………………… 87 7. Anlagen…………………………………………………………………………………………………………………………………………………………… 90 7.1 Prüfschema…………………………………………………………………………………………………………………………………………… 91 7.2 Stellungnahme der Schule……………………………………………………………………………………………………………………… 94 7.3 Diagnosebögen zur Feststellung einer Teilhabebeeinträchtigung………………………………………………………… 97 7.4 Abschließende Einschätzung ……………………………………………………………………………………………………………… 101 5 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 0. Einleitung Ziel dieser Arbeitshilfe ist es, den mit der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII befassten Fachkräften eine praxisnahe Handreichung zur Verfügung zu stellen, die das komplexe Verfahren von der Antragstellung bis zur Beendigung einer Hilfe abbildet. Das erste Kapitel beschreibt die Rolle des Jugendamtes als Rehabilitationsträger und fasst die durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, kurz Bundesteilhabegesetz (BTHG), in Kraft getretenen Änderungen zusammen. Diese verändern das Verfahren des Jugendamtes. Das Verfahren wird im zweiten Kapitel für die Konstellation, dass ein Antrag im Jugendamt gestellt wird, ausführlich beschrieben. Es wird aufgrund der Komplexität in drei Verfahrensschritten und Flussdiagrammen abgebildet. Inhaltlich stehen die einzelnen Teilprozesse im Mittel- punkt, um den Fachkräften eine Orientierung zu geben, welche Handlungsschritte mit welchen Inhalten erfor- derlich sind. Viele der dort dargestellten Prozesse sind auch durchzuführen, wenn das Jugendamt einen weitergeleiteten Antrag erhält. Deshalb werden die Verfahren des Jugendamtes als zweit- bzw. drittangegangener Rehabilita- tionsträger im dritten Kapitel nur im Hinblick auf ihre Besonderheiten skizziert. Im vierten Kapitel werden die Aufgaben des Jugendamtes beschrieben, wenn es von einem anderen Rehabilitationsträger beteiligt wird. Das fünfte Kapitel beinhaltet drei Fallbeispiele, um die praktische Umsetzung des Verfahrens zu verdeutlichen. In der Anlage finden sich die gleichen Vordrucke wie in der Arbeitshilfe aus dem Jahr 2014, nur das Schema zur Zuständigkeitsprüfung wurde entsprechend der neuen Vorgaben überarbeitet. Da die Praxis der Hilfegewährung stark durch die Rechtsprechung beeinflusst ist, werden in den Kapiteln jeweils zum Themenbereich existierende Urteile oder Beschlüsse aufgeführt. Dies sind insbesondere die des Bundes- verwaltungsgerichts und des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts. Da die Sozialgerichtsbarkeit für die anderen Rehabilitationsträger zuständig ist, werden relevante Urteile/Beschlüsse des Bundessozialge- richts und des nordrhein-westfälischen Landessozialgerichts ebenfalls berücksichtigt. Auf die Rechtsprechung von einzelnen Verwaltungs- bzw. Sozialgerichten oder aus anderen Bundesländern wird hingewiesen, wenn es zu diesen Fragen keine höhergerichtliche oder nordrhein-westfälische Rechtsprechung gibt. Dabei ist zu berück- sichtigen, dass die zitierten Entscheidungen sich auf Einzelfälle beziehen und sich nicht immer vollständig über- tragen lassen. Hinsichtlich der neuen Vorgaben des SGB IX, insbesondere bezüglich des neu eingeführten Verfahrens der Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger und der Teilhabeplanung, bestehen noch viele Unklarheiten, die - so ist zu befürchten - wahrscheinlich auch nur durch die Rechtsprechung aufgelöst werden können. 1 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 1. Das Jugendamt als Rehabilitationsträger Ziel der Eingliederungshilfe für junge Menschen mit einer (drohenden) seelischen Behinderung ist, bestehende oder drohende Teilhabebeeinträchtigungen durch die Gewährung der jeweils individuell notwendigen und geeig- neten Hilfe zu mildern oder bestenfalls abzuwenden. Kinder, Jugendliche und jungen Volljährigen sollen durch die Hilfe altersentsprechende Möglichkeiten der Teilhabe erlangen. Verankert ist die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer (drohenden) seelischen Behinderung in § 35a SGB VIII. Mit der Einführung des SGB IX im Jahr 2001 wurden die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zum Rehabilitationsträger im Rahmen der Hilfegewährung nach § 35a SGB VIII bestimmt. Dadurch gelten in diesem Kontext (auch) die Regelungen des SGB IX, die durch das Bundesteilhabegesetz umfassend geändert wurden. 1.1 Übersicht über das Bundesteilhabegesetz Das Bundesteilhabegesetz ist ein Artikelgesetz. Mit ihm werden diverse Gesetze geändert, im Schwerpunkt das SGB IX. Das Inkrafttreten erfolgt in vier Stufen: Stufen des Inkrafttretens des Bundesteilhabegesetzes 1. Stufe Änderungen der Freibeträge im SGB XII 1.1. 2017 Änderungen im Schwerbehindertenrecht 2. Stufe Allgemeiner Teil und Schwerbehindertenrecht werden zu Teil 1 und 3 SGB IX 1.1. 2018 Änderungen im Gesamtplanverfahren und Vertragsrecht im SGB XII 3. Stufe Herauslösen der Eingliederungshilfe aus dem SGB XII 1.1. 2020 Aufnahme als Teil 2 SGB IX 4. Stufe Neugestaltung des Zugangs zur Eingliederungshilfe 1.1. 2023 Von Bedeutung für die Jugendhilfe sind insbesondere die 2. Stufe und die 3. Stufe, die sich auf die Teile 1 und 2 des SGB IX beziehen. Mit dem Gesetz sollen insbesondere Leistungen „wie aus einer Hand“ erbracht werden und zeitintensive Zuständigkeitskonflikte der Träger untereinander vermieden werden. Dazu werden im ersten Teil des SGB IX für alle Rehabilitationsträger verbindliche Grundsätze normiert. Im zweiten Teil des SGB IX wird die aus dem SGB XII herausgelöste Eingliederungshilfe als „Besondere Leistungen zur selbstbestimmten Lebensführung für Menschen mit Behinderung“ geregelt. Das SGB IX wird zu einem Leistungsgesetz aufgewertet.1 1 Drucksache 18/9522, S. 2 ff 2 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 1.2 Änderungen durch das Bundesteilhabegesetz § 5 SGB IX umfasst ab 1. Januar 2018 fünf Leistungsgruppen. Neu ist die Leistungsgruppe „Leistungen zur Teilhabe an Bildung“, die den schon bisher für diese Leistungen zuständigen Rehabilitationsträgern zugeordnet wurde. Für vier dieser Leistungsgruppen können die Träger der Jugendhilfe gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX Rehabilitationsträger sein: Rehabilitationsträger und Leistungsgruppen Rehabilitations- Leistungen zur Leistungen zur Unterhalts- Leistungen Leistungen träger/ medizinischen Teilhabe am sichernde und zur sozialen zur Teilhabe an Leistungs- Rehabilitation Arbeitsleben andere Teilhabe Bildung gruppen ergänzende Leistungen Gesetzliche Krankenkassen × × Bundesargentur für Arbeit × × Gesetzliche Unfall- × × × (×) × versicherung Gesetzliche Renten- × × × versicherung Kriegsoferfür- sorge × × × × × Träger der öffentlichen × × × × Jugendhilfe Träger der Eingliederungs- × × × × hilfe Nicht zuständig sind die Jugendämter für die Leistungsgruppe „unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen“. Neu ist der Begriff „Träger der Eingliederungshilfe“. Durch eine Übergangsregelung in § 241 Abs. 8 SGB IX traten bis zum 31.12.2019 die Träger der Sozialhilfe an deren Stelle. Nach § 94 SGB IX waren die Träger der Ein- gliederungshilfe zum 1.1.2020 durch die Länder zu bestimmen. Mit dem Ausführungsgesetz zum Neunten Buch Sozialgesetzbuch (AG-SGB IX NRW) hat das Land NRW die Landschaftsverbände und die Kreise sowie kreis- freien Städte bestimmt. Die Zuständigkeiten und Leistungsvoraussetzungen der Rehabilitationsträger richten sich weiterhin gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IX nach dem jeweiligen Leistungsgesetz, das heißt für die Jugendhilfe nach § 35a oder § 41 in Verbindung mit § 35a SGB VIII. 3 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN Allerdings gehen seit dem 1. Januar 2018 gemäß § 7 Abs. 2 SGB IX die Kapitel 2 bis 4 (§§ 9-24 SGB IX) den jeweiligen Leistungsgesetzen aller Rehabilitationsträger vor. Diese regeln insbesondere die vorrangige Prüfung von Leistungen zur Teilhabe (§ 9), die frühzeitige Erkennung von Reha-Bedarfen und Hinwirkung auf Antragsstellung (§ 12), die Bedarfsermittlung mit geeigneten, standardisierten Instrumenten (§ 13), die Möglichkeit, einen Antrag im Einvernehmen und in der Frist ein zweites Mal weiterzuleitenden („Turbo- klärung“) und die Einführung des Begriffs „leistender Rehabilitationsträger“ (§ 14), wenn Leistungen mehrerer Rehabilitationsträger notwendig sind, die Verpflichtung des leistenden Rehabi- litationsträgers zur Beteiligung dieser (§ 15), zudem zur Durchführung eines Teilhabeplanverfahren (§ 19), ggf. auch einer Teilhabeplankonferenz (§ 20), dies zusätzlich zum Hilfeplanverfahren (§ 21), die Teilhabeplanung auch bei Leistungen aus mehreren Leistungsgruppen oder auf Wunsch der Leistungsbe- rechtigten (§ 19). Während die §§ 9-24 SGB IX somit den Vorschriften des SGB VIII vorgehen, sind die anderen Vorschriften des Teil 1 SGB IX zu berücksichtigen, sofern sich aus dem SGB VIII als Spezialgesetz nichts Abweichendes ergibt (§ 7 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Gemäß § 26 SGB IX vereinbaren die gesetzlichen Krankenkassen, die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfall- und Rentenversicherung sowie der Kriegsopferversorgung/-fürsorge gemeinsame Emp- fehlungen zur Sicherung ihrer Zusammenarbeit im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e.V. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe, die an der Vorbereitung der Emp- fehlung beteiligt werden, orientieren sich nach § 26 Abs. 5 SGB IX bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach dem SGB IX an diesen Empfehlungen oder können ihnen beitreten2. Für die neuen Verfahrensvorgaben im Teil 1 SGB IX wurde die „Gemeinsame Empfehlung Reha-Prozess“ (nachfolgend GE Reha-Prozess genannt) entwickelt.3 Da diese die gesetzlichen Vorgaben konkretisiert, werden ihre Regelungen ergänzend zum Gesetzestext herangezogen. Des Weiteren erfolgten strukturelle Änderungen, insbesondere: die Verpflichtung der Rehabilitationsträger, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass ein Rehabi- litationsbedarf frühzeitig erkannt und auf eine Antragstellung der Leistungsberechtigten hingewirkt wird, insbesondere durch die Bereitstellung und Vermittlung von barrierefreien Informationsangeboten und die Benennung von Ansprechstellen (§ 12 SGB IX); die Einführung der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (§ 32 SGB IX), die vom Bund befristet gefördert wird und die Beratung durch die Rehabilitationsträger ergänzt4, die „Gemeinsamen Servicestellen“ werden abgeschafft; die Einführung eines jährlichen Teilhabeverfahrensberichts (§ 41 SGB IX) für alle Rehabilitationsträger zu 16 Erhebungsmerkmalen. Die Daten müssen die Jugendämter erheben und an die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) e.V. melden; Zum 1. Januar 2020 wurde die Eingliederungshilfe aus dem SGB IX gelöst und bildet den Teil 2 des SGB IX. Dementsprechend verweist § 35a Abs. 3 SGB VIII ebenfalls ab 1. Januar 2020 zu den Aufgaben und Zielen der Hilfe, zu der Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen auf Kapitel 6 des Teils 1 des SGB IX sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 SGB IX. § 90 SGB IX bestimmt die Auf- gaben der Eingliederungshilfe. In den Kapiteln 3 bis 6 werden die Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Leistungsgruppen unterteilt ausgestaltet: 2 Bislang ist kein Beitritt erfolgt (Stand 08.01.2020). 3 Diese steht auf den Seiten der BAR zum Download zur Verfügung (bar-frankfurt.de). 4 Regionale Angebote der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung finden sich unter teilhabeberatung.de. 4 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Kapitel 3 Medizinische Rehabilitation, Kapitel 4 Teilhabe am Arbeitsleben, Kapitel 5 Teilhabe an Bildung und Kapitel 6 Soziale Teilhabe.5 Die Eingliederungshilfe-Verordnung wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2020 aufgehoben. 1.3 Auswirkungen auf die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII Das Jugendamt kann im Kontext der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in mehreren Konstellationen nach § 14 SGB IX betroffen sein: als erstangegangener Rehabilitationsträger, wenn der Antrag beim Jugendamt direkt gestellt wurde oder als zweitangegangener Rehabilitationsträger, wenn der Antrag von einem anderen Rehabilitationsträger an das Jugendamt weitergeleitet wurde oder als drittangegangener Rehabilitationsträger, wenn das Jugendamt aufgrund seiner Zuständigkeit im Einver- nehmen mit dem zweitangegangenen Träger einen Antrag von diesem übernimmt („Turboklärung“). Sind mehrere Rehabilitationsträger beteiligt und ist ein anderer leistender Rehabilitationsträger, kann das Jugendamt zudem beteiligter Rehabilitationsträger in Form des „Splitting-Adressaten“ sein, wenn der leistende Rehabilitations- träger einen Teilantrag an das Jugendamt weiterleitet (§ 15 Abs. 1 SGB IX) oder beteiligter Rehabilitationsträger sein, in dem seine Feststellungen vom leistenden Rehabilitationsträger angefordert werden (§ 15 Abs. 2 SGB IX). In diesem Kontext kann das Jugendamt auch der das Teilhabeplanverfahren durchführende Rehabilitations- träger sein. Dieser tritt an die Stelle des leistenden Rehabilitationsträger, wenn die Rehabilitationsträger dieses in Abstimmung mit den Leistungsberechtigten vereinbaren (§ 19 Abs. 5 SGB IX). 5 Siehe Ausführungen im Kapitel 2.2.3. 5 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 2. Verfahren bei Antragstellung im Jugendamt Angesichts der Komplexität wurde der gesamte Prozess von der Beratung bis zur Beendigung der Hilfe in drei Verfahren unterteilt und als separate Flussdiagramme abgebildet: 1. Verfahren der Zuständigkeitsklärung 2. Verfahren der Anspruchsprüfung und Hilfeplanung 3. Verfahren der Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger und Teilhabeplanung Erläuterung der Symbole des Flussdiagramms Die Nummerierung der Teilprozesse entspricht den Überschriften der Unterabschnitte im zweiten Kapitel der Arbeitshilfe. Teilprozess mit einem (Zwischen-)Ergebnis Schnittstelle zu einem anderen internen Entscheidung Ende Prozess 6 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1 Verfahren der Zuständigkeitsklärung Wird im Jugendamt ein Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII oder auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 i.V.m. § 35a SGB VIII gestellt, sind nicht nur die diesbezüglichen Leistungsvoraussetzungen zu prüfen, sondern auch die vorrangigen Leistungsverpflichtungen anderer Rehabilitationsträger. Da das Jugendamt im Kontext der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII Rehabilitationsträger ist, greifen zudem die Vorgaben des SGB IX und damit die Zwei-Wochen-Frist des § 14 Abs. 1 SGB IX zur Zuständigkeitsklärung. Angesichts der jugendhilferechtlichen Vorgaben zum Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII stellt die Einhaltung der Fristen des § 14 SGB IX eine besondere Herausforderung für die Jugendämter dar. Bei der Ausgestaltung des SGB IX wurden die Vorgaben des SGB VIII nicht ausreichend berücksichtigt. Die zweiwöchige Frist zur Prüfung der Zuständigkeit sollte unbedingt eingehalten werden, um nicht Hilfen gewähren zu müssen, für die ein anderer Rehabilitationsträger zuständig wäre und für die eine Kostenerstattung nach § 105 SGB X gemäß § 16 Abs. 4 SGB IX ausgeschlossen ist. Aufgrund der Vielzahl und der Komplexität der zu prüfenden Voraussetzungen, wird der Prozess nachfolgend detailliert beschrieben. Zur praktischen Umsetzung des Verfahrens wurde der Vordruck „Prüfschema“ (Anlage 1) entwickelt.6 6 Dieser Vordruck wurde in der ursprünglichen Fassung 2008 von den ASD-Leitungen der Jugendämter der Städte Bergisch Gladbach und Wer- melskirchen sowie des Rheinisch-Bergischen Kreises entwickelt und im Rahmen der Arbeitshilfe überarbeitet/ergänzt. 7 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN Verfahren der Zuständigkeitsklärung 1. Beratung und Hinwirken auf Antragstellung Antrag nein Ende ja 2. Prüfung des Antrags und der Anwendung von § 14 SGB IX 3. Prüfung der grundsätzlichen Zuständigkeit 3.1 Prüfung der (vorrangigen) 3.2 Prüfung der 3.3 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit altersbedingten Zuständigkeit für mindestens eine der Zuständigkeit beantragten Leistungen 4. Weiterleitung an zuständigen Zuständigkeit nein Rehabilitations- träger ja 5. Prüfung des Vorliegens/Einholung einer ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme 6. Prüfung des Ausschlusses einer geistigen und/oder körperl. Behinderung Ausschluss nein 6.1 Prüfung des Bestehens von Leistungskongruenz ja 7. Prüfung der alleinigen Zuständigkeit des Leistungs- Jugendamtes kongruenz ja nein 2.3 Verfahren Alleinige der Beteiligung nein Zuständigkeit weiterer Rehaträger & Teilhabe- ja planung (zusätzlich 2.2 Verfahren zu 2.2) der Anspruchs- prüfung & Hilfe- planung zusätzlich/parallel zu 8 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1.1 Beratung und Hinwirken auf Antragstellung Teilprozess 1 Beratung und Hinwirken auf Antragstellung Ziel(e) Der junge Mensch und/oder sein gesetzliche(r) Vertreter sind über die Leistungen, das Verfahren und die Ziele der Eingliederungshilfe sowie ihre Rechte und Pflichten informiert. Beim Erkennen eines Rehabilitationsbedarfs wurde auf eine Antragstellung hingewirkt. Verantwortliche Person Zuständige Fachkraft Beteiligte Personen Junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Bei Bedarf andere Rehabilitationsträger Tätigkeiten Beratung über: ǧ mögliche Leistungen zur Teilhabe und zuständige Rehabilita- tionsträger, ǧ die Leistungsvoraussetzungen (§ 35a SGB VIII) und das Ver- fahren zur Inanspruchnahme, ǧ ggf. das Verfahren nach § 14 SGB IX, ǧ ggf. das Verfahren nach § 15 SGB IX, ǧ ggf. das Teilhabeplanverfahren, die Möglichkeit einer Teilhabe- plankonferenz (§§ 19-23 SGB IX), ǧ das Hilfeplanverfahren (§ 36 SGB VIII), ǧ die Möglichkeit der unabhängigen Teilhabeberatung nach § 32 SGB IX, ǧ die Leistungen der Eingliederungshilfe und Formen der Leis- tungserbringung (auch die Möglichkeit des Persönlichen Budgets), ǧ Ziele der Leistungen zur Teilhabe, ǧ die Beteiligungsrechte sowie das Wunsch- und Wahlrecht (§§ 5, 8, 9, 36 SGB VIII), ǧ die Mitwirkungspflichten (§ 21 Abs. 2 SGB X, §§ 60 ff SGB I), ǧ die Kostenbeteiligung bei (teil-)stationären (§ 91 ff SGB VIII). Gewinnung einer ersten Einschätzung zur Lebenssituation und zum Bedarf des jungen Menschen Hinwirken auf Antragstellung bei Erkennen eines Rehabilitations- bedarfs Frist Spätestens bei der Antragstellung Information Informationsangebote, z.B. Flyer oder Infoblätter Erläuterungen Im SGB I sind die allgemeinen Beratungspflichten der Sozialleistungsträger vorgegeben: die Aufklärungspflicht nach § 13 SGB I, die Beratungspflicht über Rechte und Pflichten gemäß § 14 Abs. 1 SGB I, die Auskunftspflicht zu Sozialleistungen (Benennung des zuständigen Leistungsträgers und alle Sach- und Rechtsfragen, die für den Auskunftssuchenden von Bedeutung sein können) nach § 15 SGB I. 9 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN § 12 Abs. 1 SGB IX verpflichtet die Rehabilitationsträger zudem, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um eine frühzeitige Erkennung eines Rehabilitationsbedarfs zu ermög- lichen (insbesondere durch die Bereitstellung und Vermittlung von geeigneten barrierefreien Informations- angeboten sowie die Benennung von Ansprechstellen), auf eine Antragstellung hinzuwirken. Diese Pflichten betreffen den Rehabilitationsbedarf in seiner Gesamtheit und nicht nur nach dem SGB VIII, sondern auch nach anderen Leistungsgesetzen. Damit werden die allgemeinen Beratungspflichten aus dem SGB I erweitert. Bei Unsicherheiten ist eine Information bei anderen Leistungsträgern einzuholen, um eine falsche oder unvollständige Beratung zu vermeiden.7 Bei der Betreuung und Begleitung von jungen Menschen mit Behinderung soll frühzeitig und gezielt auf Indizien für einen Teilhabebedarf geachtet und ggf. auf eine Antragstellung hingewirkt werden (§ 12 Abs. 1 GE Reha-Prozess). Dies auch, wenn im Rahmen einer Beantragung anderer Sozialleistungen ein Rehabilitationsbedarf erkannt wird. Des Weiteren greifen die Beratungspflichten aus dem SGB VIII. Wird ein Antrag gestellt, schließt sich als nächstes dessen Prüfung an. 7 Im Falle einer Falschberatung (unrichtige oder unvollständige Auskunft oder Beratung) greift ggf. der von Rechtsprechung entwickelte sozial- rechtliche Herstellungsanspruch (Walhalla, S. 55). 10 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1.2 Prüfung des Antrags und der Anwendung von § 14 SGB IX Teilprozess 2 Prüfung des Antrags und der Anwendung von § 14 SGB IX Ziel(e) Der Antrag ist vollständig, die Identität und das (konkretisierte) Leistungsbegehren sind erkennbar. Es ist geklärt, ob § 14 SGB IX Anwendung findet. Verantwortliche Person Zuständige Fachkraft Beteiligte Personen Junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Tätigkeiten Entgegennahme/Aufnahme des Antrags, bei mündlichen Anträgen schriftliche Dokumentation Prüfung der Antragsberechtigung Prüfung der Vollständigkeit (Identität und konkretisierbares Leis- tungsbegehren) Ggf. Hinwirken auf die Vervollständigung fehlender Angaben Einholen von Schweigepflichtentbindungen für notwendige Rück- sprachen mit Dritten Prüfung, ob § 14 SGB IX Anwendung findet Dokumentation des Ergebnisses Frist Unverzüglich8 nach Vorliegen des Antrags Dokumente Schriftlicher Antrag (hilfsweise Vermerk) Bei Bedarf Schweigepflichtentbindungen Prüfschema Erläuterungen Antragstellung Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen setzt regelmäßig voraus, dass ein Antrag gestellt ist. Für den Antrag ist keine Form vorgesehen, er kann auch mündlich oder in der Form schlüssigen Verhaltens gestellt werden.9 Wenn der Eindruck besteht, dass Leistungen gewünscht sind, ist es nach § 16 Abs. 3 SGB I Aufgabe der Fach- kraft des Jugendamts, auf eine Antragsstellung beziehungsweise eindeutigere Willensbekundung und auf die Ergänzung unvollständiger Angaben hinzuwirken.10 Ein Antrag liegt vor, wenn die Identität und der Gegenstand des Begehrens zu erkennen sind.11 Hingegen stellt eine allgemeine Problembeschreibung mit der Bitte um Beratung keinen Antrag dar. Bei mündlicher Antrag- stellung sollte eine Verschriftlichung schnellstmöglich zum Nachweis der Willensbekundung nachgeholt werden. Anspruchsinhaber der Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII ist (im Gegensatz zur Hilfe zur Erziehung) das Kind bzw. der Jugendliche. Vor der Vollendung des 15. Lebensjahres erfolgt die Antragsstellung durch den/ 8 Unverzüglich bedeutet juristisch „ohne schuldhaftes Verzögern“ (vgl. § 121 Abs. 1 BGB). 9 BVerwG, Beschluss vom 17.02.2011, 5 B 43/10; anders als in § 19 Abs. 3 GE Reha-Prozess, dort wird fälschlicherweise die Kenntnisnahme für die Jugendhilfe als fristauslösend beschrieben. 10 DIJuF-Gutachten, JAmt 10/2012, S. 523 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 13.05.2013, 12 B 400/13 11 Prehn in Diering u.a., § 12 Rn. 213; BT-Drucksache 14/5074, S. 102 11 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN die Personensorgeberechtigten als gesetzliche Vertreter. Nach der Vollendung des 15. Lebensjahres kann der Antrag durch den Jugendlichen gestellt werden (§ 36 SGB I), es sei denn der gesetzliche Vertreter schränkt die Handlungsfähigkeit ein. Bei stationären Hilfen ist das Einverständnis der Personensorgeberechtigten (als Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechtes) prinzipiell notwendig. Bei Antragsstellung durch nur einen von zwei sorgeberechtigten Elternteilen ist die Willensbekundung des anderen Elternteils einzuholen. Bei Hilfe gemäß § 41 i.V.m. § 35a SGB VIII ist der oder die junge Volljährige antragsberechtigt. Nach § 19 Abs. 2 GE Reha-Prozess liegt ein die Frist auslösender Antrag vor, wenn die Identität und ein konkre- tisierbares Leistungsbegehren erkennbar sind und sich dieses konkretisierbare Leistungsbegehren unabhängig von verwendeten Begriffen auf Leistungen zur Teilhabe i.S.v. § 4 SGB IX bezieht. Bei Unklarheit über die begehrte Leistung gilt bei der Konkretisierung das Meistbegünstigungsprinzip, wonach davon auszugehen ist, dass die Leistungen begehrt werden, die nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (§ 5 Abs. 3 GE Reha-Prozess).12 Bei der Beantragung ist auch zu prüfen, ob sich über die individuelle Zuständigkeit hinaus ein möglicher Bedarf an Leistungen zur Teilhabe ergibt. Ggf. ist auf eine entsprechende Antragstellung hinzuwirken (§ 12 Abs. 4 GE Reha-Prozess). Wird später, aber noch während der Zwei-Wochen-Frist zur Zuständigkeitsprüfung, ein weiterer Bedarf festge- stellt, der nicht vom Antrag umfasst ist, hat der Rehabilitationsträger nach § 25 Abs. 1 GE Reha-Prozess dafür Sorge zu tragen, dass dieser Gegenstand des Verwaltungsverfahrens wird und auf eine ergänzende Antrag- stellung hinzuwirken. Die Frist richtet sich dabei nach dem Eingang des ursprünglichen Antrags. Prüfung der Anwendung von § 14 SGB IX § 14 SGB IX gibt den Rehabilitationsträgern Fristen zur Klärung der Zuständigkeiten vor. Er wurde mit dem Ziel eingeführt, die möglichst schnelle Leistungserbringung zu sichern.13 Es gibt allerdings Ausnahmen, keine Anwendung findet § 14 SGB IX bei: Rechtsträgeridentität, d.h. wenn der Jugendhilfeträger auch der Träger der Eingliederungshilfe ist (bei kreis- freien Städten oder Kreisen)14, Hilfen außerhalb des § 35a SGB VIII, bei denen die Jugendhilfe kein Rehabilitationsträger ist, also Anträge von Menschen ohne (drohende) Behinderung (bei Hilfen zur Erziehung15 oder Hilfen nach § 19 SGB VIII). Dabei ist zu beachten, dass auch wenn kein Antrag auf Leistungen nach § 35a SGB VIII gestellt wird, aber Umstände bekannt sind, dass eine Hilfe nach § 35a SGB VIII in Betracht kommt, § 14 SGB IX anzuwenden ist.16 Findet § 14 SGB IX keine Anwendung, entfallen die Fristen und Verfahrensvorgaben. Das Prüfverfahren bleibt gleich. Im Interesse des oder der Antragsstellenden sollte dieses ebenfalls zeitnah erfolgen. Findet § 14 SGB IX Anwendung, muss der Rehabilitationsträger gemäß Abs. 1 innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags feststellen, ob er nach dem für ihn geltenden Leistungsgesetz für eine der beantragten Leis- tungen (vorrangig) zuständig ist. Ist dies nicht der Fall, muss er den Antrag gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX innerhalb der Frist an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten. Nach der Rechtsprechung 12 So auch BSG, Urteil vom 21.8.2008, B 13 R 33/07. Nach dem OVG NRW (Beschluss vom 13.05.2013, 12 B 400/13) ist die Benennung der Bedarfslage, nicht jedoch einer konkreten Leistung erforderlich. 13 BT-Drucksache 14/5074, S. 102 14 VG Oldenburg, Beschluss vom 16.04.2007, 13 B 152/07; LSG NRW, Urteil vom 26.07.2010, L 20 SO 38/09 ZVW; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 29.10.2015, L 8 SO 122/12 15 OVG NRW, Urteil vom 01.04.2011, 12 A 153/10 16 OVG NRW, Beschluss vom 13.05.2013, 12 B 400/13 12 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN des Bundessozialgerichts erfolgt eine rechtzeitige Weiterleitung des Antrags, wenn er innerhalb der - höchstens zwei Wochen plus einen Werktag17 betragenden - Prüfungs- und Weiterleitungsfrist abgesandt wird.18 Nach Ablauf der Frist ist eine Weiterleitung nicht mehr möglich. Ein Fristversäumnis begründet die gesetz- liche Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers. Gemäß § 16 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX ist die Kostenerstattung gemäß § 105 SGB X für unzuständige Rehabilitationsträger, die eine Leistung ohne Wei- terleitung des Antrags erbracht haben, nicht anzuwenden, es sei denn, die Rehabilitationsträger vereinbaren Abweichendes. Eine Ausnahme sieht § 16 Abs. 4 S. 2 SGB IX vor, wenn der Rehabilitationsträger von der Wei- terleitung abgesehen hat, weil zum Zeitpunkt der Prüfung Anhaltspunkte für eine Zuständigkeit aufgrund der Ursache der Behinderung bestanden haben, dann besteht ein Kostenerstattungsanspruch nach § 105 SGB X. Nach § 72 Abs. 1 GE Reha-Prozess besteht zudem eine Ausnahme und ein Kostenerstattungsanspruch nach § 104 SGB X, wenn der erstangegangene Träger seine Zuständigkeit irrtümlich angenommen hat und sich seine Nichtzuständigkeit im Nachhinein19 herausstellt. Der die Frist versäumende Rehabilitationsträger bleibt so lange zuständig, wie die Leistung normalerweise bewilligt worden wäre. Eine Befristung der Leistung durch den erstangegangenen Träger mit der Aufforderung, einen Antrag beim eigentlich zuständigen Rehabilitationsträger zu stellen, ist nur unter den Voraussetzungen des § 32 SGB X zulässig, z.B. wenn ein gewisser Leistungszeitraum durch das Gesetz vorgegeben ist.20 Ein Folge- oder Verlängerungsantrag für die gleiche Leistung ist kein neuer Antrag, der nach § 14 SGB IX weiter- zuleiten ist.21 Das OVG NRW unterscheidet dabei, ob der Verlängerungsantrag beim schon leistenden Träger gestellt wurde, dann ist er nicht nach § 14 SGB IX zu behandeln, oder ob er bei einem anderen (vormals nicht involvierten) Rehabilitationsträger gestellt wird, dann ist § 14 SGB IX anzuwenden.22 17 Nach § 26 Abs. 1 SGB X gilt § 193 BGB im Sozialverwaltungsverfahren für die Berechnung von Fristen. § 193 BGB besagt, wenn der letzte Tag einer Frist auf einen Sonntag, Feiertag oder Samstag fällt, der nächste Werktag an die Stelle eines solchen Tages tritt. 18 BSG, Urteil vom 03.11.2011, B 3 Kr 8/11 R 19 Nach § 72 Abs. 3 GE Reha-Prozess unabhängig davon, ob sich die Nichtzuständigkeit vor oder nach Bewilligung der Leistung herausstellt. 20 LSG NRW, Beschluss vom 09.10.2013, L 20 SO 380/13 B ER 21 BSG, Urteil vom 25.09.2014, B 8 SO 7/13 R; Bayerischer VGH, Beschluss vom 30.07.2018, 12 ZB 18.175 und DIJuF-Gutachten JAmt 11/2015, S. 557 22 OVG NRW, Beschluss vom 22.10.2018, 12 B 1348/18 13 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 2.1.3 Prüfung der grundsätzlichen Zuständigkeit Nach § 20 GE Reha-Prozess ist die Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers gegeben, wenn er nach seinem Leistungsgesetz für die Erbringung zumindest einer der vom Antrag umfassten Leistungen in Betracht kommt. Insgesamt unzuständig im Sinne des § 14 SGB IX ist der erstangegangene Rehabilitationsträger, wenn er nach seinem Leistungsgesetz für keine der vom Antrag umfassten Rehabilitationsleistungen in Betracht kommt. Ist das Jugendamt im Verhältnis zu einem anderen Rehabilitationsträger allerdings nur nachrangig zuständig, entspricht dies im Kontext des § 14 SGB IX einer Insgesamt-Unzuständigkeit.23 § 14 SGB IX ist auch im Ver- hältnis zweier Sozialleistungsträger anwendbar, die in einem Vorrang-/Nachrangverhältnis stehen.24 Die grundsätzliche Zuständigkeit des Jugendamtes ist folglich gegeben, wenn es für mindestens eine der beantragten Leistungen (vorrangig) zuständig ist, die altersbedingte Zuständigkeit gegeben ist, die örtliche Zuständigkeit besteht. Diese Fragen sind nicht voneinander zu lösen, da beispielsweise bei festgestellter örtlicher Unzuständigkeit – soweit möglich – im Interesse der antragsstellenden Person direkt der örtlich und sachlich zuständige Rehabilitationsträger ermittelt werden sollte, damit der Antrag an diesen weitergeleitet werden kann. 23 Schönecker/Meysen in Münder u.a., § 10 Rn. 4; DIJuF-Themengutachten: Auswirkungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) auf die Kinder- und Jugendhilfe (Verfahrensfragen) – erste Hinweise für die Praxis, TG-1233 Rn. 6 24 BSG, Urteil vom 30.06.2016, B 8 SO 7/15 14 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1.3.1 Prüfung der (vorrangigen) Zuständigkeit für mindestens eine der beantragten Leistungen Teilprozess 3.1 Prüfung der (vorrangigen) Zuständigkeit für mindestens eine der beantragten Leistungen Ziel(e) Es ist geklärt, ob das Jugendamt unter Berücksichtigung vorran- giger Leistungszuständigkeiten anderer Rehabilitationsträger für min- destens eine der beantragten Leistungen zuständig ist. Bei Anträgen auf Leistungen zur Teilhabe an Bildung ist zudem geprüft, ob eine vorrangige Verpflichtung der Schule besteht. Verantwortliche Person Fallzuständige Fachkraft Beteiligte Personen Bei Bedarf junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Bei Bedarf andere Rehabilitationsträger Bei Bedarf andere Stellen (z.B. Schule, Schulaufsicht) Tätigkeiten Prüfung, aus welchen Leistungsgruppen Leistungen beantragt werden Prüfung von vorrangigen Verpflichtungen ǧ der Krankenkasse bzw. der Rentenversicherung bei Leistungen der medizinischen Rehabilitation, ǧ der Bundesagentur für Arbeit bzw. der Rentenversicherung bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, ǧ der Unfallversicherung oder der Opferentschädigung bei Leis- tungen aus allen Leistungsgruppen, ǧ der Schule bei Leistungen zur Teilhabe an Bildung. Bei Bedarf Nachfrage bei den o.g. Trägern zur Klärung der Zuständigkeit bzw. Leistungsvoraussetzungen Dokumentation des Ergebnisses Frist Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist25 Dokumente Prüfschema Bei Bedarf Stellungnahme der Schule (Anlage 2)26 Erläuterungen Das Jugendamt muss prüfen, ob es nach seinem Leistungsgesetz für die Erbringung zumindest eine der vom Antrag umfassten Leistungen in Betracht kommt (§ 20 GE-Reha-Prozess). Dabei ist auch zu prüfen, ob ein anderer Rehabilitationsträger oder die Schule vorrangig verpflichtet ist. Das Vor- und Nachrangverhältnis der Träger ist in § 10 SGB VIII geregelt. Nach Abs. 1 sind die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen, der Bundesagentur für Arbeit, der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetz- lichen Rentenversicherung und der Kriegsopferfürsorge als Rehabilitationsträger sowie der Schulen vorrangig vor Leistungen der Jugendhilfe. Der Vorrang anderer Träger gilt aber nur so weit der vorrangig Verpflichtete seinen Leistungsverpflichtungen nachkommt. Werden die Leistungen des vorrangigen Trägers nicht tatsächlich 25 Diese und die nachfolgend genannten Fristen beziehen sich auf die Voraussetzung, dass § 14 SGB IX Anwendung findet (die Ausnahmen sind im Kapitel 2.1.2 aufgeführt). 26 Ein weiterer Vordruck zur Stellungnahme der Schule findet sich in der gemeinsamen Arbeitshilfe der Bezirksregierung Münster und des Land- schaftsverbandes Westfalen-Lippe zur Zusammenarbeit von Jugendämtern und Schule. 15 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN oder zeitnah erbracht, muss die nachrangig verpflichtete Jugendhilfe als Ausfallbürge eintreten, wenn ein Leistungsanspruch besteht. Ein etwaiger Nachrang bewirkt keine Freistellung und keine alleinige Zuständigkeit des vorrangig verpflichteten Trägers.27 Die endgültige Zuordnung der Leistungsverantwortung und Wiederher- stellung des Vorrangs erfolgt dann zwischen den Rehabilitationsträgern im Wege der Kostenerstattung. Zuständigkeit der gesetzlichen Krankenkassen Die gesetzlichen Krankenkassen28 sind gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX zuständig für die Leistungen zur medi- zinischen Rehabilitation sowie unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen. Sie sind vorrangig zuständig, wenn ein Versicherungsverhältnis besteht und die Leistungen auf die Wiederherstellung der Gesundheit zielen sowie unter ärztlicher Aufsicht und Verantwortung erbracht werden.29 Leistungen der Krankenversicherung werden nur nach Maßgabe der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesaus- schuss30 verordnet, die den Charakter von untergesetzlichen Normen haben.31 Dazu gehören beispielsweise die Rehabilitations-Richtlinie, die Heilmittel-Richtlinie und die Psychotherapie-Richtlinie. Letztere erkennt die analy- tische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie an.32 Durch einen Beschluss im November 2018 hat der Gemeinsame Bundesausschuss auch die systemische Therapie bei Erwachsenen als Psychotherapieverfahren anerkannt.33 Aufgrund des Vorrangs der gesetzlichen Krankenversicherung besteht eine Pflicht, Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse geltend zu machen vor therapeutischen Leistungen nach SGB VIII.34 Exkurs: Träger der sozialen Pflegeversicherung Die Pflegekassen als Träger der Pflegeversicherung sind keine Rehabilitationsträger und abweichend von § 10 Abs. 1 SGB VIII ist im SGB XI keine Nachrangigkeit verankert. Dies bedeutet, dass kein Ausschluss von Jugendhilfeleistungen besteht, wenn der junge Mensch pflegebedürftig ist. Im Kollisionsfall kann sich keiner der beiden Träger auf den Vorrang des anderen Trägers berufen.35 Besteht keine Kollision, weil keine Gleich- artigkeit der Leistungen gegeben ist, kommt eine (ergänzende) Leistungspflicht der Pflegekassen in Betracht, z.B. zu Leistungen der häuslichen Pflege oder Kurzzeitpflege.36 27 BVerwG, Beschluss vom 22.05.2008, 5 B 203/07 28 Die privaten Krankenkassen sind keine Rehabilitationsträger nach dem SGB IX. Ihre Leistungen richten sich ausschließlich nach ihrer Satzung. 29 BVerwG, Urteil vom 13.03.2003, 5 C 6/02 30 Abrufbar auf den Seiten des Gemeinsamen Bundesausschuss (g-ba.de) 31 Da beispielsweise die Heilmittel-Richtlinie Lese- und Rechtsschreib-Störungen als nicht verordnungsfähig ausschließt, besteht für eine Legasthe- nietherapie keine Leistungspflicht der Krankenversicherung (SG Regensburg, Urteil vom 10.11.2004, S 14 KR 38/04). 32 Psychotherapie-Richtlinie, abrufbar auf den Seiten des Gemeinsamen Bundesausschusses 33 Der Beschluss ist abrufbar auf den Seiten des Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Anpassung der Psychotherapie-Richtlinie ist zum 22.11.2019 erfolgt. 34 VG Karlsruhe, Urteil vom 19.02.2008, 9 K 1866/07 35 Wiesner in Wiesner, § 10 Rn. 21c 36 Schönecker/Meysen in Münder u.a., § 10 Rn. 16 16 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Zuständigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung Die gesetzliche Rentenversicherung ist nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX zuständig für Leistungen zur medizi- nischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und andere ergän- zende Leistungen.37 Die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe steht nach § 13 Abs. 1 SGB VI im pflicht- gemäßen Ermessen der Rentenversicherungsträger. Voraussetzungen sind, dass die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung erheblich gefährdet bzw. gemindert ist und durch die Leistungen voraussichtlich erhalten bzw. wiederhergestellt werden kann. Dazu müssen persönliche und versicherungsrechtliche Voraus- setzungen gegeben sein (§ 10 f. SGB VI). Die gesetzliche Rentenversicherung erbringt Leistungen zur medizi- nischen Reha für Kinder von Versicherten oder Beziehern einer Rente. Voraussetzung ist, dass die Krankheit des Kindes oder Jugendlichen (ausgenommen akute Erkrankungen oder Infektionskrankheiten) Einfluss auf dessen spätere Erwerbsfähigkeit haben kann. Zudem erbringt sie Reha für selbstversicherte Jugendliche und junge Erwachsene. Die Kosten für eine stationäre medizinische Kinder- und Jugend-Reha übernehmen die gesetzlichen Kranken- kassen und die gesetzliche Rentenversicherung gleichrangig, sofern die versicherungsrechtlichen Vorausset- zungen gegeben sind.38 Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit Die Bundesagentur für Arbeit ist gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX zuständig für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltersichernde und andere ergänzende Leistungen. Bei den Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben besteht seit dem 1. Januar 2018 eine Trennung der Leistungszuständigkeit: Die Bundes- agentur für Arbeit ist zuständig für Leistungen zum Erhalt, zur Verbesserung, zur Herstellung oder Wiederher- stellung der Erwerbsfähigkeit (§ 49 SGB IX).40 Durch den Verweis auf den geschlossenen Leistungskatalog des § 111 SGB IX und den Wegfall des Verweises auf § 33 SGB IX (in der Fassung vom 31.12.2017) ist das Jugendamt im Rahmen der Eingliederungshilfe nur für Leistungen an nicht erwerbsfähige junge Menschen zuständig.39 Dies sind Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten für Menschen mit Behinderung (§ 58 SGB IX), bei anderen Leistungsanbietern (§ 60 SGB IX) und bei privaten und öffentlichen Arbeitgebern unter Nutzung eines Budgets für Arbeit (§ 61 SGB IX). Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung Die gesetzliche Unfallversicherung ist nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 2. HS SGB IX für Kinder, Schüler und Studie- rende für alle Leistungsgruppen zuständig, für andere kraft Gesetzes Pflichtversicherte sind die Leistungen zur Teilhabe an Bildung ausgenommen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 1. HS SGB IX). Die gesetzliche Unfallversicherung ist vor- rangig zuständig, wenn ein Arbeitsunfall oder Wegeunfall während des Besuchs entsprechender Maßnahmen ursächlich ist (§ 8 SGB VII). Die Leistungen ergeben sich im Wesentlichen aus den §§ 26 ff. SGB VII. 37 Die Träger der Alterssicherung der Landwirte allerdings nicht für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. 38 Weitere Informationen finden sich auf der Seite kinder-und-jugendreha-im-netz.de. 39 von Boetticher, § 3 (Änderungen im Jahr 2018) Rn. 475 f. 40 Auch für Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich anerkannter Werkstätten für Menschen mit behinderung ist die Bundes- agentur für Arbeit gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX zuständig, sofern kein der in Nr. 2 bis 4 genannten Träger zuständig ist. 17 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN Zuständigkeit der Kriegsopferfürsorge Die Träger der Kriegsopferversorgung und die Träger der Kriegsopferfürsorge im Rahmen des Rechts der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden sind gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX zuständig für alle Lei- stungsgruppen. Voraussetzung für eine vorrangige Zuständigkeit ist der Anspruch des jungen Menschen auf Leistungen der Opferentschädigung. Dieser besteht, wenn der junge Mensch eine gesundheitliche Schädigung infolge eines vorsätzlichen, mit Strafe bedrohten rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen sich oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr erlitten hat (§ 1 Abs. 1 OEG). Dabei ist zu prüfen, ob die Leis- tungen der Opferentschädigung den Bedarf vollumfänglich decken. Ist dies nicht gegeben oder wird wegen einer Überschreitung der Vermögensschongrenzen keine Leistungen nach OEG gewährt, ist (beim Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen) Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII zu gewähren und der zuständige Träger der Kriegsopferfürsorge erstattet ggf. dem Jugendamt die von ihm zu leistenden Kosten.41 In NRW sind die Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen für OEG-Leistungen zuständig. Zuständigkeit der Träger der Eingliederungshilfe Die Träger der Eingliederungshilfe sind nach § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX für die gleichen Leistungsgruppen zuständig wie die Träger der Jugendhilfe, die Abgrenzung der Zuständigkeit ist abhängig von der Art der Behinderung (siehe Kapitel 2.1.6 und 2.1.6.1). Ist das Jugendamt im Verhältnis zu einem anderen Rehabilitationsträger nur nachrangig zuständig, entspricht dies im Kontext des § 14 SGB IX einer Insgesamt-Unzuständigkeit und der Antrag ist an den vorrangig zustän- digen Rehabilitationsträger weiterzuleiten.42 Dies ist nicht möglich, wenn nebeneinander stehende Zuständig- keiten mehrerer Rehabilitationsträger (ohne Leistungskongruenz) bestehen, dann greifen die Vorgaben des § 15 SGB IX (siehe 2.3 Verfahren zur Beteiligung weiterer Rehabilitationsträger). 41 Schönecker/Meysen in Münder u.a., § 10 Rn. 18 42 Schönecker/Meysen in Münder u.a., § 10 Rn. 4 18 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Exkurs: Vorrangige Zuständigkeit der Schulen Bei den Leistungen zur Teilhabe an Bildung gehen die Leistungen der Schule den Leistungen der Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 1 SGB VIII vor. Die Besonderheit hierbei im Kontext der Eingliederungshilfe ist, dass Schule kein Rehabilitationsträger ist, an den der Antrag weitergeleitet werden kann. Da Schule kein Sozialleistungs- träger ist, entfällt zudem die Möglichkeit der Kostenerstattung. Der Vorrang der Schule setzt voraus, dass im öffentlichen Schulwesen eine bedarfsdeckende Hilfe in recht- licher und tatsächlicher Hinsicht zur Verfügung steht.43 Die Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde für einen bestimmten Förderort bindet den Sozialleistungsträger.44 Dies gilt auch dann, wenn aus Sicht und Prüfung der Schulaufsichtsbehörde sowohl eine integrative Beschulung sowie eine Beschulung an einer Förderschule möglich sind und die Schulaufsichtsbehörde den Eltern ein schulisches Wahlrecht einräumte. Auch in diesem Fall ist die Entscheidung der Eltern für eine integrative Beschulung vom Sozialleistungsträger zu respektieren, ohne dass der Mehrkostenvorbehalt entgegengehalten werden kann. Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Entscheidung ausdrücklich auf die Grundrechte der Eltern und Kinder.45 Auf die Beschulung an einer Förderschule anstelle einer Privatschule kann der Betroffene dann verwiesen werden, wenn eine schulrechtliche Entscheidung vorliegt, dass der Förderbedarf dort zu erfüllen ist.46 Solange die Schulaufsichtsbehörde nicht entschieden hat, dass ein Schüler zum Besuch einer Förderschule verpflichtet ist, kann der Sozialleistungsträger keinen Wechsel auf die Förderschule verlangen.47 Gemäß § 20 SchulG NRW findet die sonderpädagogische Förderung in der Regel in der allgemeinen Schule als Gemeinsames Lernen für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung statt. Die Eltern können bei einem festgestellten Förderbedarf abweichend hiervon die Förderschule (Förder- schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, Geistige Entwicklung, Hören und Kommunikation, Körperliche und motorische Entwicklung, Lernen, Sehen und Sprache) als Förderort wählen. Nur noch im Ausnahmefall bestimmt die Schulaufsichtsbehörde den Förderort. Einen Antrag auf Feststellung des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs und des Förderschwerpunktes können grundsätzlich nur noch die Eltern stellen (§ 19 SchulG NRW). Besteht ein entsprechender Bedarf, schlägt die Schulaufsichtsbehörde den Eltern mit Zustimmung des Schulträgers mindestens eine allgemeine Schule vor, an der ein Angebot zum Gemeinsamen Lernen besteht. Nach § 92 SchulG NRW gehören die Aufwendungen für die individuelle Betreuung und Begleitung von Schü- lerinnen und Schülern nicht zu den Schulkosten. Dadurch werden die Kosten der schulischen Inklusion den Trägern der Jugendhilfe- und Eingliederungshilfe auferlegt, die im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe an Bildung insbesondere Integrationsassistenzen für den Schulbesuch gewähren. Ausgeschlossen von den Tätigkeiten der Integrationsassistenz ist der sogenannte pädagogische Kernbereich der Schule. Die Vorgabe und Vermittlung der Lerninhalte muss in der Hand der Lehrerin oder des Lehrers bleiben.48 Der Unterricht selbst, seine Inhalte, das pädagogische Konzept der Wissensvermittlung und die Bewertung der Schülerleistung sind dem pädagogischen Kernbereich zuzuordnen.49 Der Kernbereich ist nicht 43 OVG NRW, Beschluss vom 28.10.2011, 12 B 1182/11 und Beschluss vom 05.05.2011, 12 A 2195/10 44 BVerwG, Urteil vom 28.04.2005, 5 C 20/04 45 BVerwG, Urteil vom 26.10.2007, 5 C 35/06 46 OVG NRW, Beschluss vom 02.03.2010, 12 B 105/10 47 OVG NRW, Urteil vom 15.06.2000, 16 A 3108/99 48 BSG, Urteil vom 22.03.2012 B 8 SO 30/10 R 49 BSG, Urteil vom 9.12.2016, B 8 SO 8/15 R 19 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN betroffen, wenn die Integrationsassistenz die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer absichert und mit die Rah- menbedingungen für einen erfolgreichen Schulbesuch schafft.50 Die Integrationsassistenz beschränkt sich auf unterstützende Tätigkeiten bei der Umsetzung der Arbeitsaufträge.51 Die Schule hat keine Möglichkeit, den Schulbesuch von einer Integrationsassistenz abhängig zu machen und den Schulbesuch ohne eine solche zu verhindern. Die einzig rechtlich vorgesehene Möglichkeit ist eine Ent- scheidung der Schulaufsichtsbehörde über das Ruhen der Schulpflicht (§ 40 Abs. 2 SchulG NRW). Solange dies nicht erfolgt ist, kann das Kind bzw. können die Eltern eine entsprechende Beschulung verlangen.52 Nach der Rechtsprechung des OVG und der Verwaltungsgerichte in NRW kann das Jugendamt allerdings nicht die Beantragung eines AOSF-Verfahrens als Grundlage der Vor- und Nachrangprüfung einfordern: Leitet die Schulbehörde kein Verfahren ein, kann das Jugendamt die Leistung nicht verweigern.53 Besteht bereits ein Anspruch auf Leistungen nach § 35a SGB VIII, kann das Jugendamt die Eltern im Rahmen der Vorrangprüfung nicht auf die Antragstellung auf sonderpädagogische Förderung verweisen, da keine gesetzlich begründete Mitwirkungspflicht der Eltern eines Schülers dem Jugendamt gegenüber besteht, über die dortige Mitwirkung hinaus auch die Einleitung eines schulrechtlichen AOSF-Verfahrens zu beantragen.54 Eine andere Rechtspre- chung zeigt sich außerhalb Nordrhein-Westfalens, so nehmen andere Gerichte die Eltern regelmäßig in die diesbezügliche Mitwirkungspflicht.55 Solange keine Änderung dieser Rechtsauffassung der Verwaltungsgerichte in NRW erfolgt, kann die not- wendige Vorrangprüfung in dieser Konstellation nur über die Stellungnahme der Schule und der Schulaufsicht vorgenommen werden. Diese sollte darlegen, ob die Möglichkeiten der Förderung56 und des Nachteilsausgleichs57 durch die Schule ausreichend ausge- schöpft wurden, welche weiteren Möglichkeiten der Förderung und des Nachteilsausgleichs in Betracht kommen, ggf. welche Beschulung/Schulform angemessen ist, ggf. ob eine geeignete Schule im öffentlichen Schulwesen zur Verfügung steht, bzw. wenn nicht, welche speziellen Anforderungen an eine Hilfe im schulischen Bereich zu stellen sind, die das öffentliche Schulwesen nicht erfüllen kann (Darstellung des individuell behinderungsbedingten Mehrbedarfs). 50 BVerwG, Urteil vom 18.10.2012, 5 C 21/11; OVG NRW, Beschluss vom 19.05.2014, 12 B 344/14 51 LSG NRW, Beschluss vom 05.02.2014, L 9 SO 429/13 B ER 52 DIJuF-Gutachten, JAmt 6/2017, S. 304 ff 53 OVG NRW, Beschluss vom 30.01.2004, 12 B 2392/03 54 OVG NRW, Beschluss vom 04.05.2012, 12 B 369/12 55 DIJuF-Gutachten, JAmt 9/2015, S. 440 f 56 Bei Lese- und Rechtschreibstörungen (Legasthenie) ist die Schule gemäß Runderlass des Kultusministeriums vom 19. Juli 1991 und Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 4. Dezember 2003 verpflichtet, allgemeine und zusätzliche Fördermaßnahmen durchzuführen, mindestens ein halbes Schuljahr mit bis zu drei Wochenstunden. 57 Der Nachteilsausgleich soll die durch die Behinderung bestehende Benachteiligung ausgleichen, im Unterricht und bei Leistungsbewertungen. Nähere Informationen finden sich auf den Seiten des Schulministeriums (schulministerium.nrw.de). 20 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1.3.2 Prüfung der altersbedingten Zuständigkeit Teilprozess 3.2 Prüfung der altersbedingten Zuständigkeit Ziel(e) Die altersbedingte Zuständigkeit ist geklärt. Verantwortliche Person Fallzuständige Fachkraft Beteiligte Personen Bei Bedarf junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Tätigkeiten Bei Kindern: Prüfung, ob der Schuleintritt erfolgt ist bzw. die beantragte Leistung nach dem Schuleintritt erfolgen soll Bei jungen Volljährigen Prüfung, ob der Antrag vor dem Erreichen des 21. Lebensjahrs gestellt wird Bei Erstanträgen von 20-Jährigen kurz vor dem 21. Geburtstag Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahmegewährung nach § 41 Abs. 1 S. 2 SGB VIII vorliegen: ǧ liegen diese vor, ist der Jugendhilfeträger vorrangig zuständig; ǧ liegen diese nicht vor, sollte der Antrag direkt vom zuständigen Träger der Eingliederungshilfe bearbeitet werden. Dokumentation des Ergebnisses Frist Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist Dokumente Prüfschema Erläuterungen Eingliederungshilfe für Kinder vor dem Schuleintritt Nach § 27 AG-KJHG NRW sind Maßnahmen der Frühförderung für Kinder, die noch nicht eingeschult sind, unab- hängig von der Art der Behinderung vorrangig von den Trägern der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zu gewähren. Die Jugendhilfe ist somit erst ab dem Schuleintritt für die Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII zuständig und ein diesbezüglicher Antrag ist an den zuständigen Träger der Eingliederungshilfe weiterzuleiten. Hilfe für junge Volljährige Hilfe für junge Volljährige nach § 41 i.V.m. § 35a SGB VIII wird beim Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen nach dem vollendeten 18. Lebensjahr gewährt, in der Regel bis zum 21. Lebensjahr. Die Hilfegewährung setzt nicht voraus, dass die Verselbständigung bis zum 21. Lebensjahr erreicht wird. Dabei ist die Hilfe nicht not- wendig auf einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auch schon auf einen Fortschritt im Entwicklungsprozess bezogen. Die Hilfe muss geeignet sein, die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit 58 BVerwG, Urteil vom 23.09.1999, 5 C 26/98 21 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN zu eigenverantwortlicher Lebensführung zu fördern.58 Dies gilt unabhängig davon, wann dieser Entwicklungs- prozess zum Abschluss kommen und ob jemals das Optimalziel erreicht wird.59 Nur wenn keine Teilerfolge zu erwarten sind, die Persönlichkeitsentwicklung vielmehr stagniert, ist die Hilfe mangels Eignung und Erfolgsaus- sicht zu versagen.60 Bis zum 21. Lebensjahr ist bei jungen Volljährigen mit einer (ausschließlich) drohenden oder bestehenden seelischen Behinderung die Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 4 S. 1 SGB VIII vorrangig gegenüber Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX. In begründeten Einzelfällen ist gemäß § 41 Abs. 1 S. 2 eine begrenzte Weitergewährung über das 21. Lebensjahr hinaus möglich. Die maximale Grenze ist gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII die Vollendung des 27. Lebensjahres. Da die Ausnahmegewährung über das 21. Lebensjahr nur als Fortsetzung einer schon gewährten Hilfe vorge- sehen ist, ist eine Erstantragsstellung nach dem 21. Lebensjahr nicht möglich. Für Erstanträge nach dem 21. Lebensjahr ist der überörtliche Träger der Eingliederungshilfe zuständig.61 Bei Erstanträgen kurz vor dem 21. Geburtstag ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Ausnahmege- währung über das 21. Lebensjahr hinaus vorliegen. Das bedeutet, es muss eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass ein erkennbarer und schon Fortschritte zeigender Entwicklungsprozess zur Erreichung der Ziele des § 41 SGB VIII (Persönlichkeitsentwicklung und eigenverantwortliche Lebensführung) vorliegt, der durch die (Weiter-)Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme gefördert werden könnte.62 Von einer hohen Wahrschein- lichkeit ist auszugehen, wenn deutliche Hinweise dafür vorliegen, dass positive Veränderungen im Verhalten bzw. in der Befindlichkeit des Hilfeempfängers authentischer Ausdruck einer auf Nachhaltigkeit angelegten Fort- entwicklung seiner Persönlichkeit und/oder Eigenverantwortlichkeit sind.63 Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der Jugendhilfeträger vorrangig zuständig.64 Liegen diese Vorausset- zungen nicht vor und würde somit ein Wechsel der Zuständigkeit mit der Vollendung des 21. Lebensjahres ein- treten, sollte der Antrag direkt vom zuständigen Träger der Eingliederungshilfe bearbeitet werden.65 Unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen hinsichtlich der Frage, ob der in § 41 Abs. 1 S. 2 SGB VIII auf- geführte „begrenzte Zeitraum“ bei der Antragstellung kurz vor dem 21. Lebensjahr ein Kriterium für die Ent- scheidung über die Zuständigkeit darstellt.66 59 OVG NRW, Beschluss vom 20.01.2016, 12 A 2117/14 60 OVG NRW, Urteil vom 21.03.2014, 12 A 1845/12 61 Rundschreiben 41/45/2004 des LVR-Landesjugendamts Rheinland vom 21.10.2004 und Rundschreiben Nr. 23/2004 des LWL-Landesjugendamts Westfalen vom 27.09.2004 62 OVG NRW, Urteil vom 21.03.2014, 12 A 1845/12 und Beschluss vom 20.01.2016, 12 A 2117/14 sowie Beschluss vom 15.09.2017, 12 E 303/17; LSG NRW, Urteil vom 23.03.2017, L 9 SO 79/17 63 OVG NRW, Urteil vom 21.03.2014, 12 A 1845/12 64 Die ggf. später durchzuführende Übergabe an den Träger der Eingliederunghilfe ist in Kapitel 2.2.6.2 beschrieben. 65 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger 2009a, S. 35 (ab 1.1.20 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe), abrufbar auf den Seiten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (lwl.org) 66 Das LSG NRW (Urteil vom 21.05.2012, L 20 SO 608/10) geht davon aus, dass es bei der Prognose einer längerfristigen Hilfegewährung über das 21. Lebensjahr hinaus geboten sein kann, die Leistung der Eingliederungshilfe zuzuordnen. Das OVG NRW (Beschluss vom 19.12.2013, 12 A 391/13) sieht es hingegen als ausreichend an, wenn bei einem Hilfebeginn vor Vollendung des 21. Lebensjahres die Voraussetzungen der Lei- stungsgewährung vorliegen. 22 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN 2.1.3.3 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit Teilprozess 3.3 Prüfung der örtlichen Zuständigkeit Ziel(e) Die örtliche Zuständigkeit ist (mindestens vorläufig) geklärt. Verantwortliche Person Fallzuständige Fachkraft Beteiligte Personen Bei Bedarf junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Ggf. anderes Jugendamt Tätigkeiten Prüfung der örtlichen Zuständigkeit: ǧ bei Leistungen an Minderjährige nach § 86 SGB VIII ǧ bei Leistungen an junge Volljährige nach § 86a SGB VIII Ist die örtliche Zuständigkeit nicht zu klären, muss nach § 86d SGB VIII das Jugendamt vorläufig tätig werden, in dessen Bereich sich der junge Mensch tatsächlich aufhält. Dokumentation des Ergebnisses Frist Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist Dokumente Prüfschema Erläuterungen Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach den §§ 86 ff. SGB VIII. Bei nicht zu klärender Zuständigkeit oder bei Untätigkeit des zuständigen Jugendamtes, ist nach § 86d SGB VIII das Jugendamt, in dessen Bereich sich der Leistungsberechtigte tatsächlich aufhält, zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet. Nach § 24 SGB IX bleibt die Verpflichtung zum Erbringen vorläufiger Leistungen nach dem jeweiligen Leistungs- gesetz unberührt, d.h. für die vorläufige Leistungsgewährung gilt § 86d SGB VIII. Die Anwendung von § 43 SGB I dagegen ist nach § 24 SGB IX ausgeschlossen. Da auch die Weiterleitung zwischen zwei Jugendämtern nach § 14 SGB IX erfolgt, stellt sich die Frage zum Ver- hältnis von § 86d SGB VIII zu § 14 SGB IX. § 86d SGB VIII bleibt anwendbar, wenn trotz ordnungsgemäßer Sachverhaltsaufklärung seitens des erstangegangenen Rehabilitationsträgers die örtliche Zuständigkeit für die beantragte Leistung nicht innerhalb der Zweiwochenfrist zu klären ist.67 In dieser Konstellation ist folglich das Jugendamt, in dessen Bereich sich der junge Mensch tatsächlich aufhält, zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet. Abhängig vom Gesamtergebnis der Zuständigkeitsprüfung wird der Antrag entweder weitergeleitet (im Kapitel 2.1.4 beschrieben) oder es schließen sich weitere Prüfungen an (in den Kapiteln 2.1.5 fortfolgende beschrieben). 67 Wiesner in Wiesner, Vor § 35a Rn. 14a; Kunkel/Kepert in Kunkel, § 86d Rn. 15 23 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 2.1.4 Weiterleitung an zuständigen Rehabilitationsträger Teilprozess 4 Weiterleitung an zuständigen Rehabilitationsträger Ziel(e) Der Antrag ist (fristgerecht) an den zuständigen Rehabilitationsträger weitergeleitet. Verantwortliche Person Fallzuständige Fachkraft Beteiligte Personen Zuständiger Rehabilitationsträger Junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Tätigkeiten Ggf. vorherige (telefonische) Kontaktaufnahme zum zuständigen Rehabilitationsträger und Ankündigung der Weiterleitung Weiterleitung des Antrags gemäß § 16 Abs. 2 SGB I, wenn § 14 SGB IX keine Anwendung findet oder unverzügliche Weiterleitung nach § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX mit bereits vorliegenden Unterlagen und mit einer schriftlichen Begründung Schriftliche Information der antragsstellenden Person Frist Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist Dokumente Schreiben an zuständigen Rehabilitationsträger mit vorliegenden Unterlagen Schreiben an antragsstellende Person Erläuterungen Hat das Jugendamt festgestellt, dass es für keine der beantragten Leistungen vorrangig zuständig ist, ist der Antrag an den nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. Findet § 14 SGB IX keine Anwendung, erfolgt die Weiterleitung nach § 16 Abs. 2 SGB I. Findet § 14 SGB IX Anwendung, erfolgt die Weiterleitung gemäß § 14 Abs. 1 SGB IX innerhalb der Zwei-Wochen- Frist an den nach Auffassung des Jugendamtes zuständigen Rehabilitationsträger. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erfolgt eine rechtzeitige Weiterleitung des Antrags, wenn er innerhalb der - höchstens zwei Wochen plus einen Werktag68 betragenden - Prüfungs- und Weiterleitungsfrist abgesandt wird.69 Nach § 21 Abs. 3 GE Reha-Prozess wird der Weiterleitung eine schriftliche Begründung beigefügt, aus der hervorgeht, dass eine inhaltliche Prüfung der Zuständigkeit stattgefunden hat. Der zweitangegangene Rehabilitationsträger muss nach § 14 Abs. 2 SGB IX innerhalb von drei Wochen nach Antragseingang den Rehabilitationsbedarf umfassend feststellen – vorbehaltlich der Turboklärung. Erfolgt letztere nicht, wird der zweitangegangene als leistender Rehabilitationsträger im Außenverhältnis endgültig lei- stungspflichtig. 68 Nach § 26 Abs. 1 SGB X gilt § 193 BGB im Sozialverwaltungsverfahren für die Berechnung von Fristen. § 193 BGB besagt, wenn der letzte Tag einer Frist auf einen Sonntag, Feiertag oder Samstag fällt, der nächste Werktag an die Stelle eines solchen Tages tritt. 69 BSG, Urteil vom 03.11.2011, B 3 Kr 8/11 R 24 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Auch die Weiterleitung durch den erstangegangenen Rehabilitationsträger an einen anderen rechtlich selb- ständigen Träger desselben Sozialleistungsbereiches führt gemäß § 22 Abs. 2 GE Reha-Prozess dazu, dass dieser zweitangegangener Rehabilitationsträger ist.70 Dieses wurde für die Träger der Rentenversicherung und Sozialhilfe durch die Rechtsprechung bestätigt.71 Gleiches gilt auch für die Weiterleitung des örtlichen an den überörtlichen Träger.72 Ausgenommen sind die Fälle, in denen der örtliche Träger Aufgaben für den überörtlichen Träger im Rahmen von Delegation wahrnimmt.73 Eine weitere Ausnahme besteht gemäß § 22 Abs. 1 GE Reha-Prozess, wenn ein Rehabilitationsträger einen Antrag erkennbar für einen anderen Reha- bilitationsträger (beispielsweise auf dessen Antragsvordrucken) aufnimmt. In den beiden letztgenannten Kon- stellationen wird die Frist des § 14 SGB IX erst mit Eingang bei dem Rehabilitationsträger ausgelöst, für den der Antrag bestimmt ist. 70 Bezüglich der Anwendbarkeit von § 14 SGB IX zwischen Trägern der Jugendhilfe: von Boetticher/Meysen in Münder u.a., § 35a Rn. 86 unter Verweis auf DIJuF-Gutachten JAmt 02/2004, S. 75. 71 BSG, Urteil vom 20.04.2010, B 1/3 KR 6/09 R und Urteil vom 08.09.2009, B 1 KR 9/09 R bzgl. Rentenversicherungsträger; LSG Baden-Würt- temberg, Urteil vom 11.07.2012, L 2 SO 2400/10 bzgl. Sozialhilfeträger 72 SG Aachen, Beschluss vom 07.07.2010, S 20 SO 72/10 ER 73 Diese Aufgaben finden sich in den Satzungen zur Heranziehung zu Aufgaben des Eingliederungshilfeträgers und überörtlichen Trägers der Sozial- hilfe des Landschaftsverbandes Rheinland und des Landschaftsverbandes Westfalen. 25 § 35a SGB VIII | Teil I: VERFAHREN 2.1.5 Prüfung des Vorliegens/Einholung der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme Teilprozess 5 Prüfung des Vorliegens/Einholung einer ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme Ziel(e) Die notwendige ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII liegt vor oder wurde angefordert. Verantwortliche Person Zuständige Fachkraft Beteiligte Personen Junger Mensch und/oder gesetzliche(r) Vertreter Arzt bzw. Psychotherapeut nach § 35a Abs. 1a SGB VIII Tätigkeiten Klärung mit dem jungen Menschen oder gesetzlichen Vertreter, ob eine ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme vor- liegt bzw. eine Diagnostik erfolgte: ǧ Liegt den Leistungsberechtigten eine ärztliche bzw. psychothe- rapeutische Stellungnahme oder ein Arztbericht vor, werden sie aufgefordert, diese vorzulegen. Die Frist des § 14 SGB IX beginnt dann mit dem Eingang im Jugendamt.74 ǧ Ist zwar eine Diagnostik erfolgt, liegt aber noch keine ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme vor, ist zu prüfen, ob diese zeitnah erstellt werden kann und den Anforderungen des § 35a Abs. 1a entspricht. ǧ Ist noch keine Diagnostik erfolgt (oder entspricht diese nicht den Anforderungen des § 35a Abs. 1a), werden den Antrags- stellern - analog § 17 Abs. 1 SGB IX - nach Möglichkeit drei Stellen für die Diagnostik benannt, aus denen sie wählen können.75 ǧ Ist es nicht möglich, eine ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme binnen dieser Frist zu erhalten, sollte eine Schweigepflichtentbindung zur Rücksprache mit dem behan- delnden (Kinder-)Arzt oder Therapeuten o.ä. eingeholt werden, damit zum Zweck der Zuständigkeitsklärung innerhalb der Frist geklärt werden kann, ob eine geistige und/oder körperliche Behinderung vorliegt bzw. ausgeschlossen werden kann. Dokumentation des Vorgehens bzw. des Ergebnisses Frist Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist Dokumente Ggf. ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme Ggf. Schweigepflichtentbindung Prüfschema Erläuterungen Für die Zuständigkeitsklärung des Jugendamts muss eine medizinische Diagnose vorliegen, um die sachliche Zuständigkeit in Form der Zuordnung zur Jugend- oder Eingliederungshilfe klären zu können. Die Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) erfolgt gemäß § 35a Abs. 1a SGB VIII durch die Stellungnahme eines 74 VG Arnsberg, Urteil vom 22.05.2007, 11 K 2375/06 75 Kepert/Vondung in Kunkel, § 35a Rn. 14 26 LANDESJUGENDÄMTER RHEINLAND UND WESTFALEN Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder Arztes oder psychologischen Psychotherapeuten mit besonderen Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern/Jugendlichen (bspw. spezialisierte Ärzte aus sozialpädiatrischen Zentren, Gesund- heitsamt oder einer Beratungsstelle etc.76). Die Diagnostik kann auch durch eine Fachstelle Diagnostik im Jugendamt erfolgen, unzulässig ist aber deren ausschließliche Benennung.77 Dabei ist zu beachten, dass diese ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme nicht eine Begutachtung zur Feststellung des Rehabilitationsbedarfs gemäß § 17 SGB IX darstellt, sondern „nur“ der Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit als eine der Leistungsvoraussetzungen dient.78 Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erfolgt in der Regel durch das Jugendamt. Der/die Leistungsberechtigte bzw. die Eltern können eine ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme beibringen, bspw. in Form eines Arztberichtes. Für das Jugendamt entstehen dadurch keine Kosten. Die Kosten für die Diagnostik sind durch die Krankenkasse zu übernehmen, dem Jugendamt könnte gegebenenfalls für einen ärztlichen Befundbericht die entsprechende Gebührenziffer der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) in Rechnung gestellt werden oder es wird ein gesonderter Erstattungsbetrag für diese Stellungnahme vereinbart.79 Fordert das Jugendamt einen Bericht nach einem vorgegebenen Muster oder zu speziellen Fragen an, sind die Kosten hierfür zu übernehmen.80 Die ärztliche/psychotherapeutische Stellungnahme muss hinreichend aktuell sein. Dies ist bei einer ein Jahr alten Stellungnahme nicht mehr der Fall81, älter als ein halbes Jahr sollte die Stellungnahme in der Regel nicht sein. Liegt eine solche Stellungnahme bei der Antragstellung noch nicht vor, ist nach der Kommentierung von Wiesner für die ärztliche bzw. psychotherapeutische Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII die für die Erstellung eines Gutachtens in § 17 Abs. 2 S. 1 SGB IX vorgesehene Frist entsprechend maßgeblich.82 Das Jugendamt muss dann gemäß § 14 Abs. 2 S. 3 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach Vorliegen der Stellungnahme entscheiden. Das Einholen einer ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme innerhalb der Fristen des SGB IX ist angesichts der bestehenden Versorgungslücke im Gesundheitswesen, selbst durch Kooperationsabsprachen mit den in § 35a Abs. 1a SGB VIII genannten Personen, kaum möglich. Laut der Bundes-Psychotherapeuten- Kammer beträgt die Wartezeit für ein Erstgespräch in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche knapp 5 Wochen (womit noch keine Diagnostik erfolgt ist).83 Ist die Frist nicht einzuhalten, sollten die diesbezüglichen Gründe dokumentiert werden. Da davon auszugehen ist, dass die Frist für die Zuständigkeitsklärung dadurch nicht unterbrochen wird, muss die Klärung hilfsweise und soweit möglich durch Rücksprache mit dem behandelnden (Kinder-)Arzt oder Thera- peuten etc. erfolgen. 76 von Boetticher/Meysen in Münder u.a., § 35a Rn. 50 77 VG Göttingen, Urteil vom 26.01.2006, 2 A 161/05 78 Sächsisches OVG, Beschluss vom 09.05.2016, 4 B 92/16; Wiesner in Wiesner, Vor § 35a Rn. 18 79 Fegert u.a., S. 181 80 DIJuF-Gutachten JAmt 01/2006, S. 85 81 Sächsisches OVG, Beschluss vom 24.03.2015,