Civil Law Child Protection - The Welfare of the Child PDF

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This document discusses civil law aspects of child protection. It details the legal frameworks and considerations related to the welfare of children, particularly emphasizing the concept of 'Best Interests of the Child'.

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9. 9. Der zivilrechtliche Kindesschutz – das Wohl des Kindes Das Grundgesetz räumt den Eltern im Art. 6 Abs. 2 GG eine umfassende Kompetenz 1 für die Pflege und die Erziehung ihrer Kinder ein. Die verfassungsrechtliche Gewähr- leistung des Elternrechts dient in erster Lin...

9. 9. Der zivilrechtliche Kindesschutz – das Wohl des Kindes Das Grundgesetz räumt den Eltern im Art. 6 Abs. 2 GG eine umfassende Kompetenz 1 für die Pflege und die Erziehung ihrer Kinder ein. Die verfassungsrechtliche Gewähr- leistung des Elternrechts dient in erster Linie dem Schutz des Kindes. Dort, wo der Schutz des Kindes durch die Eltern und ihr Elternrecht nicht gewährleistet ist, hat der Staat sein in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verankertes Wächteramt auszuüben. Im Zivilrecht wird dies zentral durch § 1666 BGB umgesetzt. Das dort an hervorgehobener Stelle ge- nannte Kindeswohl ist die zivilrechtliche Konkretisierung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das Kindeswohl ist auch in anderen Bestimmungen angesprochen (§§ 1632 Abs. 4, 1682, 1684, 1685 BGB), inhaltlich stimmen diese mit § 1666 BGB überein, in- sofern ist § 1666 BGB die zentrale zivilrechtliche Kindesschutznorm. Ausführlich behandelte Bestimmungen n Zur Gefährdung des Kindeswohls: §§ 1666, 1666 a BGB n Zum Verfahren: §§ 155, 157, 159, 160 FamFG n Zum Verfahrensbeistand: § 158 FamFG Wichtige, interessante Entscheidungen n Zum Elternrecht und zum Kindesrecht: BVerfG K 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04 n Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 1666a BGB: BVerfG K 13.7.2017 – BvR 1202/17 n Zur Aufklärungs- und Anhörungspflicht der Gerichte: BVerfG 19.11.2011 – BvR 178/14 n Zur Aufgabe und Bedeutung des Verfahrensbeistands: BVerfG 18.6.1986 – 1 BvR 857/85, 9.1 Struktur und Voraussetzungen Wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des Elternrechts kann in dieses nicht 2 einfach durch die Verwaltung, durch eine Behörde, durch das Jugendamt eingegriffen werden, sondern ein solcher Eingriff muss durch ein Gericht, das Familiengericht erfol- gen. § 1666 BGB enthält eine Vielzahl sogenannter unbestimmter Rechtsbegriffe: „kör- perliches, geistiges oder seelisches Wohl des Kindes“, „gefährdet“, „nicht gewillt oder nicht in der Lage“, „Maßnahmen“, „Gefahr nicht auf andere Weise… begegnet wer- den kann“, „Abwendung der Gefahr erforderlich“. Erforderlich ist deswegen bei jeder gerichtlichen Entscheidung nach § 1666 BGB die konkrete und sorgfältige Auslotung des Einzelfalls und die detaillierte, auf sozialpädagogischer, human- und sozialwissen- schaftlicher Basis nachvollziehbare Feststellung der konkreten Gefahr für das Wohl des Kindes. Stets gilt es zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden, professio- nelle Erkenntnis und persönliche Überzeugungen zu entflechten. Orientierungslinie ist ausschließlich das Wohl des Kindes. Dabei sind zwei Aspekte von besonderer Bedeu- tung: Zum einen ist das Wohl des Kindes Maßstab dafür, ob interveniert wird, und zum anderen ist es Maßstab dafür, mit welchen Maßnahmen interveniert wird. Bei dem „Ob“ stellt sich die Frage, ob ein Eingriff stattfinden soll. Das staatliche 3 Wächteramt kann nicht die für das Kind beste Erziehung (wer sollte das auch definie- 137 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES ren?) sichern, sondern es soll das Kind vor Schaden bewahren. So ist es zunächst Auf- gabe der Jugendämter und dann von Jugendämtern und Familiengerichten, alle Mög- lichkeiten sozialpädagogischen und sozialstaatlichen Handelns auszuschöpfen, um „Diesseits des Kindeswohls“ (Goldstein 1982, 23 ff.) das Kindeswohl zu sichern: Ins- besondere soll zunächst die Erziehungsfähigkeit der Eltern gestärkt werden. Dies wird ausdrücklich durch § 1666 a BGB zum Ausdruck gebracht. Aber auch dieser wichtige Gedanke darf nicht – wie stets im Kindschaftsrecht – zu einem unumstößlichen Prinzip werden: Nach wie vor wird es Situationen geben, die eine unmittelbare gerichtliche In- tervention erfordern. Entscheidend ist, ob für die Zukunft eine Gefährdung des Kin- deswohls anzunehmen ist (Münder 2017, 66 f.). Eine Gefährdung liegt vor, wenn durch die psychosoziale Sozialisationssituation, in der sich der Minderjährige gegen- wärtig befindet, konkret benennbare Schädigungsfolgen wahrscheinlich eintreten, so- dass sich bei einer Nichtveränderung der Situation eine erhebliche Schädigung des kör- perlichen, geistigen und seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraus- sehen lässt. Die befürchtete Gefahr muss im Einzelfall konkret benannt und eine weni- ger schädliche Alternative entwickelt werden. 4 Bei dem „Wie“ ist das Wohl des Kindes Maßstab für die konkrete familiengerichtliche Maßnahme. Der unbestimmte Rechtsbegriff des Wohls des Kindes (Rn 2) ermöglicht es, die unterschiedlichen und individuellen Bedingungen des Einzelfalles zu berücksich- tigen und flexibel und problemangemessen Hilfen zu entwickeln. Prognoseentschei- dungen für die Zukunft bedeuten die Abklärung, was in der konkreten Situation die am wenigsten schädliche Alternative für die Minderjährigen ist (Goldstein 1982, 49 ff.). Das ist die Abwägung verschiedener Alternativen gegeneinander, auch mit dem Risiko (wie bei allen Prognoseentscheidungen) von Fehleinschätzungen. Aus diesem Grunde ist die Überprüfung einer einmal getroffenen Entscheidung durch das Fami- liengericht in regelmäßigen Abständen notwendig und in § 1696 Abs. 2 BGB ausdrück- lich angesprochen. 5 § 1666 Abs. 1 BGB nennt als Voraussetzung zwei Aspekte: die Kindeswohlgefährdung (oder die Gefährdung des Kindesvermögens) und die nicht vorhandene Bereitschaft oder Fähigkeit der Eltern, die Gefahr abzuwehren. Es handelt sich hierbei um eine Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe. Hilfreich ist es deshalb, typische Merkmale, Fallgruppen für die verschiedenen Gefährdungslagen zu beschreiben (Rn 9 ff.). 6 Ein Verschulden der Sorgeberechtigten ist nicht erforderlich, es kommt allein darauf an, ob und inwieweit die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer Kindeswohlge- fährdung vorliegen. Da § 1666 BGB eine Generalklausel mit unbestimmten Begriffen (Rn 2) eine komplizierte Norm ist, verführt dies immer wieder dazu, eigene Wertvor- stellungen, Lebenserfahrungen, Vorverständnisse und Vorurteile in die Entscheidungen einfließen zu lassen. Bisweilen – gerade, wenn ein Konflikt von Erwachsenen im Hin- tergrund steht – wie z.B. bei Zuordnungskonflikten (Rn 9 ff. 11) – versuchen die betei- ligten erwachsenen Akteure, über den Begriff „Kindeswohl“ zu einer Entscheidung in ihrem Sinn zu kommen. Bei § 1666 BGB geht es nicht um die Berechtigung oder Rich- tigkeit von bestimmten Werten oder Normen, schichtenspezifische Vorurteile dürfen nicht in die Würdigung des Kindeswohls einfließen. Deswegen ist es wichtig, sich auf einer solch weitmöglichst versachlichten Ebene an der Perspektive des Wohls des Kin- des zu orientieren. 7 Als zweite Voraussetzung familiengerichtlicher Gefahrenabwehrmaßnahmen muss hin- zukommen, dass die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzu- 138 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.2 Die realen Gefährdungslagen 9. wenden. Ob dies aus Gründen der Unfähigkeit, Gleichgültigkeit oder Unwilligkeit ge- schieht, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist die Zukunftsprognose: Muss davon ausgegangen werden, dass die Eltern auch zukünftig nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwehren? Erst wenn prognostiziert wird, dass die Eltern auch in der Zukunft für die Sicherstellung des Schutzes des Kindes ausfallen – aus wel- chen Gründen auch immer – ist die Möglichkeit familiengerichtlicher Eingriffe gege- ben. An dieser Stelle wird der Kern des § 1666 BGB deutlich: Da in der Regel die Jugend- 8 ämter über die Situation Bescheid wissen und in den meisten Fällen den Eltern Hilfen anbieten (Rn 23), kommt es entscheidend darauf an, ob die Eltern bereit sind, die ih- nen angebotenen Hilfen anzunehmen. Ist dies der Fall, so findet trotz Vorliegen ent- sprechender Gefährdungslagen keine gerichtliche Intervention nach § 1666 BGB statt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist es möglich, einer bestehenden oder un- mittelbar drohenden Kindeswohlgefährdung zu begegnen, indem mit Zustimmung der Sorgeberechtigten Hilfen zur Erziehung nach § 27 ff. SGB VIII realisiert werden (Münder u.a., 2020 Kap. 9.2). Sind die Eltern nicht bereit oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so wird regelmäßig seitens des Jugendamtes das Familiengericht informiert, damit es entsprechende Maßnahmen treffen kann (Münder u.a. 2020, Kap. 9.2). 9.2 Die realen Gefährdungslagen Wie die Realität der Problemlagen bei Kindeswohlgefährdung ist, wurde Ende der 9 1970er-Jahre von Simitis (1979) und Zenz (1979) untersucht. Ende der 1990er-Jahre wurden die Erkenntnisse durch das Forschungsprojekt „Kindeswohl zwischen Jugend- hilfe und Justiz“ (Münder/Mutke/Schone 2000) vertieft. In den Jahren 1989-2015 gab es zahlreiche Gesetzesänderungen zum Kinderschutz und zu §§ 1666,1616a BGB. In einem zweiten Forschungsprojekt „Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz“ (Münder 2017; Seidenstücker/Münder ZKJ 2019, 7 ff.) wurde untersucht, was sich da- durch verändert hat. Zugleich konnten typisierte Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen herausgearbeitet werden. Diese Typisierungen können nicht alle Bereiche abdecken, sodass es immer wieder Einzelfälle geben wird, die nicht in diese Kategorien einzuordnen sind. Solche Untersuchungen können immer nur das „Hellfeld“, also die bekannt gewordenen Fälle analysieren, das „Dunkelfeld“ bleibt unbekannt. Verände- rungen, die sich in den knapp 20 Jahren zwischen den beiden letzten Untersuchungen zum Kindeswohl ergeben haben, können so tatsächlich stattgefundene Veränderungen wiedergeben, sie können aber auch dadurch entstanden sein, dass es zu Verschiebun- gen zwischen dem Hellfeld und dem Dunkelfeld gekommen ist. 9.2.1 Vernachlässigung Hierbei handelt es sich um eine andauernde oder wiederholte Unterlassung der physi- 10 schen (Ernährung, Pflege, Gesundheitsfürsorge) oder psychischen (Zuwendung, Förde- rung und Bereitstellung von Entfaltungsmöglichkeiten) Versorgung des Kindes. Auf- grund von Unfähigkeit oder fehlender Bereitschaft sorgeberechtigter Personen werden kindliche Lebensbedürfnisse nicht wahrgenommen oder nicht befriedigt, sodass die Entwicklung des Kindes beeinträchtigt oder geschädigt wird. In quantitativer Hinsicht stellt die Vernachlässigung mit etwa 50 Prozent der Fälle, bei denen die Jugendhilfe bei Gericht mitwirkt, die hauptsächliche Gefährdungslage dar (Münder/Mutke/Schone 139 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES 2000, 99 ff. Münder 2017, 136 ff.; Seidenstücker/Münder ZKJ 2019,10/). Betroffen sind hier vorwiegend kleinere Kinder beiden Geschlechts. Häufig sind die Sorgeberech- tigten aufgrund ihrer konkreten Lebenslage damit überfordert, die Versorgung ihres Kindes angemessen sicherzustellen. Deshalb können gerade in diesen Fällen materielle und sozialpädagogische Hilfen von besonderer Bedeutung sein, weswegen gründlich zu prüfen ist, ob nicht der Einsatz von Hilfen, anstelle eines familiengerichtlichen Ein- griffs, die für alle Beteiligten sinnvollere Lösung darstellt. 9.2.2 Seelische Misshandlung 11 Bei der seelischen Misshandlung erfährt das Kind Ablehnung, wird terrorisiert oder isoliert, in der Entwicklung seines Selbstwertgefühls beeinträchtigt, von den Eltern ab- wertend behandelt, psychisch unter Druck gesetzt, verängstigt, überfordert oder zu- rückgewiesen. Zur seelischen Misshandlung zählt auch die extreme Überbehütung oder die symbiotische Fesselung der Kinder. Im familiengerichtlichen Verfahren ist die- se Form der Misshandlung besonders schwer nachzuweisen: Eine mögliche Gefähr- dung müsste als solche erkannt werden, auch wenn die schädigenden Auswirkungen noch nicht offensichtlich feststellbar sind. Folglich spielen hier Prognosen (und die da- mit verbundenen Unsicherheiten) über die voraussichtliche Entwicklung des Kindes in der Familie eine besondere Rolle. Die seelische Misshandlung wurde in etwa 13 Pro- zent der Fälle in beiden Untersuchungen als hauptsächlicher Gefährdungstatbestand definiert (vgl. jeweils a.a.O. Rn 10). 9.2.3 Kind als Objekt von Erwachsenenkonflikten 12 Juristisch firmiert dieses soziale Problem bisweilen unter dem Stichwort „Missbrauch des Herausgabeverlangens“ nach § 1632 BGB (z.B. BVerfGK 3.2.2017 – 1 BvR 2569/16). Hier wachsen Minderjährige in einem Beziehungsgeflecht auf, in dem die rechtlichen Inhaber der Personensorge keine bestimmende Rolle (mehr) spielen, oft- mals sich jedoch emotionale Beziehungen zu der formal nicht zuständigen Person ent- wickelt haben, was wesentlich vom Zeitfaktor und vom Alter des Kindes abhängig ist. So kann es beispielsweise zu Konflikten zwischen Pflegeeltern und Eltern kommen (vgl. Kap. 8.3.1.), zwischen Eltern und Verwandten (Großeltern) oder zwischen Eltern- teilen, bei denen nur ein Elternteil sorgeberechtigt ist. Häufig ist in diesen Fällen die Dialogfähigkeit zwischen den Erwachsenen (Eltern, Großeltern, Pflegeeltern) stark ge- stört, sodass das Kind fast unvermeidlich in den Konflikt zwischen den Erwachsenen einbezogen und dadurch in seiner Entwicklung beeinträchtigt wird. Nicht selten wird einer solchen sozialen Beziehung Vorrang vor der formalen Elternbeziehung einzuräu- men sein (vgl. Kap. 8.3.1.2.). Aus den rechtstatsächlichen Untersuchungen (Rn. 10) er- gibt sich, dass diese Problemlagen zwischen den beiden Kindeswohluntersuchungen von 4 Prozent auf über 10 Prozent gestiegen sind (Münder 2017,137; Seidenstücker/ Münder ZKJ 2019,10) 9.2.4 Körperliche Misshandlung 13 Als körperliche Misshandlung werden Verletzungen des Kindes bezeichnet, die aktiv durch Erwachsene (meist Sorgeberechtigte) verübt werden. Sie umfasst alle gewalt- samen Handlungen, die dem Kind körperliche Schäden und Verletzungen zufügen, da- bei stehen körperliche Misshandlungen von Kindern oft im Kontext genereller familiä- rer Gewalt. Mit den körperlichen Misshandlungen sind regelmäßig auch psychische 140 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.2 Die realen Gefährdungslagen 9. Misshandlungen verbunden, das Kind erfährt nicht ausschließlich den körperlichen Schmerz: Es erlebt Bedrohung, Feindseligkeit und Gewalt seitens einer Person, die es dennoch liebt und auf die es in jeder Hinsicht angewiesen ist. Die Folgen von Miss- handlungen sind neben körperlichen Verletzungen und psychischen Krankheiten Kon- takt- und Konzentrationsstörungen, auffälliges Sozialverhalten u.v.m. In den knapp 20 Jahren zwischen den beiden Kindeswohlstudien ist es zu einem Anstieg von 6,6 Pro- zent auf 10,4 Prozent körperlicher Misshandlungen bei den (Haupt-)Gefährdungslagen gekommen (vgl. die Angaben Rn. 10). 9.2.5 Autonomiekonflikte Hierunter versteht man Konflikte, bei denen sich unterschiedliche Lebensauffassungen 14 von Eltern und jugendlichen Minderjährigen gegenüberstehen. Insbesondere ab der Pu- bertät findet bei den Jugendlichen ein Streben nach Autonomie und ein Einüben in selbstständige (und damit ggf. auch gegen die Position der Eltern gerichtete) Handlun- gen und Entscheidungen statt. Wird dieser Prozess unterbunden oder wird die Eigen- entscheidung des Minderjährigen grob missachtet, kann dessen seelisches und geistiges Wohl erheblich beeinträchtigt werden (vgl. Staudinger/Coester § 1666 Rn. 134). Be- sonders betroffen sind jugendliche Mädchen, nicht selten in Migrantenfamilien: hier kann es zum Konflikt zwischen der Entwicklung autonomer weiblicher Lebensentwür- fe und Vätern mit patriarchalischen Wertvorstellungen kommen, wo neben der alters- bedingten Ablösungsproblematik unterschiedliche kulturelle Entwicklungen der älte- ren und der jüngeren Generation eine Rolle spielen. Autonomiekonflikte wurden in den erwähnten Untersuchungen (Rn. 10) in etwa 6 Prozent der Fälle als Hauptgefähr- dungslage benannt. Wie schwer sich Richter auch bei Autonomiekonflikten damit tun, nicht ihre Wertvorstellungen als Maßstab zu nehmen, sondern die konkrete Kindes- wohlgefährdung, zeigt sich bei dem normativ hochbesetzten Fragebereich des Schwan- gerschaftsabbruchs: Richter haben bisweilen selbst eine positive oder negative Einstel- lung zum Schwangerschaftsabbruch (was eine individuell zulässige Wertung ist), und nehmen diese (ihre individuelle) Position zum Ausgangspunkt ihrer Entscheidung, an- stelle sich in der konkreten Situation um die Klärung zu bemühen, was für das jeweili- ge Mädchen dieser konkrete Schwangerschaftsabbruch an Gefährdung oder Nichtge- fährdung bedeutet. 9.2.6 Sexueller Missbrauch Als sexueller Missbrauch wird jede sexuelle Handlung bezeichnet, die an oder vor 15 einem Kind oder Jugendlichen entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird, oder der Minderjährige aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Un- terlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Die erwachsene Person nutzt ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Min- derjährigen zu befriedigen. Bei der Kindeswohlgefährdung durch sexuellen Missbrauch tritt oft das Problem auf, dass ein Verdacht besteht, dieser jedoch ebenso wenig wie das Gegenteil bewiesen werden kann. So handelt es sich hier nicht selten um eine Grat- wanderung, Kinder unbegründet von ihren Eltern(teilen) zu trennen und evtl. Unschul- dige zu stigmatisieren bzw. zu dulden, dass Kinder missbraucht werden. Soweit nach Ausschöpfung aller Erkenntnisquellen eine Klärung nicht möglich ist, ist von Seiten des Familiengerichts eine umfassende Risikoabwägung erforderlich, wobei es im Ver- fahren nach § 1666 BGB nicht um strafrechtliche Fragen geht, sondern um die Siche- 141 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES rung des Kindeswohls. Bei Gefährdung des Kindeswohls durch sexuellen Missbrauch waren fast ausschließlich Mädchen betroffen. Die Altersspanne reichte von 3 bis 18 Jahren. Im Zeitraum der knapp 20 Jahre zwischen den beiden Kindeswohluntersu- chungen ist der sexuelle Missbrauch als Hauptgefährdungslage der Kinder von 7,9 Prozent auf 1,6 Prozent zurückgegangen (a.a.O. Rn. 10). 9.3 Die gerichtliche Entscheidung 16 Liegt eine Gefährdung des Kindeswohls vor, so hat das Familiengericht nach § 1666 Abs. 1 BGB „die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind“. Inhaltlich will der Gesetzgeber damit ganz bewusst dem Familiengericht einen großen Handlungsspielraum, ein Auswahlermessen, einräumen. So haben die Gerichte die Möglichkeit, auf die ganz spezifischen Bedingungen der jeweiligen Einzelfälle abge- stimmt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. § 1666 Abs. 3 BGB zählt beispiel- haft („insbesondere“) auf: Gebote, öffentliche Hilfe (der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheitsfürsorge) in Anspruch zu nehmen, Gebote, für die Einhaltung der Schul- pflicht zu sorgen, Verbote die Familienwohnung zu nutzen oder sich im Umkreis der Wohnung aufzuhalten, Verbindung mit dem Kind aufzunehmen (im Einzelnen Ernst FPR 2008, 602 ff.). Damit sollte insbesondere auf Maßnahmen unterhalb der Schwelle einer Einschränkung oder eines Entzugs des Sorgerechts hingewiesen werden. 17 Wenn so auch über den Begriff der erforderlichen Maßnahme für die Gerichte ein fast uneingeschränkter Handlungsspielraum besteht, so ist dieser durch den in § 1666a BGB genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt. Dieser Grundsatz be- deutet, dass nur die Maßnahmen möglich sind, die einerseits das Kindeswohl sichern, andererseits aber zugleich den geringstmöglichen Eingriff in das Elternrecht bedeuten. Wie schwierig hier Entscheidungen der Gerichte in Einzelfällen sind, zeigen die unter- schiedlich Schwerpunkt setzenden Entscheidungen des BGH (BGH 6.2.2019 – XII ZB 408/18, FamRZ 2019, 598 m. Anm. Hammer) einerseits und die des BVerfG (BVerfG 21.9.2020 – 1 BvR 528/19, FamRZ 2021, 104 m. Anm. Hammer) andererseits. Wegen des Eingriffs in das Elternrecht ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu be- achten, bei den in Betracht zu ziehenden Maßnahmen muss das Mittel gewählt wer- den, das am wenigsten die Elternposition beeinträchtigt, Vorrang haben stets helfende, unterstützende Maßnahmen. Nach § 1666 a Abs. 1 BGB ist bei familientrennenden Maßnahmen stets zu prüfen, ob durch andere öffentliche Hilfen die Trennung vermie- den werden kann. Und nach § 1666 a Abs. 2 BGB ist der Entzug der gesamten Perso- nensorge unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nur dann möglich, wenn andere Gefahrenabwehrmaßnahmen nicht ausreichen. Dabei kommt es stets auf die genaue Analyse des Einzelfalls an, ein schematisches Vorgehen darf nicht stattfinden. So kann der Entzug der gesamten Personensorge in einem Fall unverhältnismäßig und damit unzulässig (BVerfGK 13. 7. 2007 – 1 BvR 1202/17), in einem anderen Fall aber die durchaus geeignete und damit verhältnismäßige Maßnahme (BVerfGK 24.4.2018 – 1 BvR383/18) sein. 18 Von besonderer Bedeutung ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Maßnahmen, die eine Trennung von Eltern und Kindern, die Herausnahme aus der Familie, zur Folge haben. Denn wegen der verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Dimension solcher Maßnahmen sind sie nach Auffassung des EGMR grundsätzlich als vorüberge- hende Maßnahmen anzusehen, die aufzuheben seien, sobald die Umstände es gebieten (EGMR 26.2.2002 – 46544/99). Aber auch hier gilt der Vorrang des Kindeswohls, 142 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.3 Die gerichtliche Entscheidung 9. was dazu führen kann, dass bei zunehmender Dauer einer Fremdunterbringung nicht einfach eine Herausgabe an die Eltern erfolgen kann, sondern eine Abwägung stattzu- finden hat (BVerfGK 3.2.2017 – 1 BvR 2569/16). Wegen dieser verfassungsrechtlichen Dimension muss das Gericht selbst in seiner Entscheidung deutlich machen, dass es diese Abwägung zwischen Kindeswohl und Elternrecht vorgenommen hat, welche an- deren Maßnahmen unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit, des mildesten Mittels in Erwägung gezogen wurden, eine Bezugnahme auf den Antrag des Jugendamtes oder auf das Gutachten eines Sachverständigen reicht dafür nicht aus. Welche Maßnahme in Frage kommt, lässt sich deswegen nie generell, sondern immer 19 nur unter genauester Berücksichtigung der konkreten Umstände der jeweiligen Einzel- fälle ermitteln n Als mildestes Mittel richterlicher Maßnahmen erscheinen Auflagen, Gebote wie die Verpflichtung der Eltern, Hilfe zur Erziehung, kinderpsychotherapeutische Behand- lungen in Anspruch zu nehmen. Eine solche Maßnahme bleibt unterhalb der Schwelle des Eingriffes, bestimmt aber punktuell das erzieherische Handeln der El- tern. Wenn es allerdings nicht gelingt, die Eltern über eine bloße formale Befolgung der Verpflichtung hinaus für die Mitwirkung am erzieherischen Prozess ihres Kindes zu gewinnen, handelt es sich regelmäßig nicht um eine geeignete Maßnahme. n Gem. § 1666 Abs. 3 BGB kann das Gericht Erklärungen der Inhaber der elterlichen Sorge ersetzen. Damit wird das Gericht in die Lage versetzt, in den Fällen, in denen eine Erklärung der Eltern oder eines Elternteils notwendig ist (z.B. Einwilligung in einen operativen Eingriff), um eine Gefahr für das Kind abzuwenden, diese Erklä- rung zu ersetzen. Auch hier handelt es sich um punktuelle Maßnahmen. Wenn es um Entscheidungen geht, die für den Minderjährigen längerfristige Auswirkungen haben (z.B. Gewährung längerfristiger jugendhilferechtlicher Leistungen), wird in den meisten Fällen eine entsprechende Ersetzung der elterlichen Erklärung nicht ausreichend sein. n Da nicht selten die nicht (mehr) vorhandene Bereitschaft der Personensorgeberech- tigten, Hilfe zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) in Anspruch zu nehmen, der Grund für das Tätigwerden des Familiengericht ist (vgl. Kap. 9.1.), ist der Entzug des Rechts, Hilfen zu Erziehung zu beantragen, eine familiengerichtliche Maßnahme, die in besonderer Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht: Sie ist treff- genau, zielführend und nicht so eingriffsintensiv wie der Entzug der Personensorge. n Ein schwerwiegender Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht ist der Entzug der Personensorge und die Bestellung eines Pflegers an Stelle der Eltern. In solchen Fäl- len wird schon wegen § 1666 a Abs. 2 BGB zu prüfen sein, ob der Entzug der ge- samten Personensorge notwendig ist. n Der insgesamt schwerwiegendste Eingriff ist der Entzug der gesamten elterlichen Sorge und die Bestellung eines Vormundes. In vielen Fällen und gerade auch dann, wenn die Eltern angebotene öffentliche Hilfen nicht akzeptierten, wurde von den Gerichten als „Standardmaßnahme“ das Aufent- haltsbestimmungsrecht entzogen, hierfür ein Pfleger bestellt (meistens das Jugendamt), der dann die notwendige außerfamiliale Unterbringung der Minderjährigen einleiten kann. Trotz weiterhin bestehenden Sorgerechts im Übrigen haben die Eltern hier in al- len Erziehungsangelegenheiten nur wenig Einwirkungsmöglichkeiten. Somit ist der faktische Eingriff größer als der rechtliche. Hinzu kommt, dass die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts allein nicht ausreicht, um entsprechende Hilfen zur Er- 143 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES ziehung zu beantragen. Deswegen muss in diesen Fällen auch das Recht, Hilfen zur Er- ziehung zu beantragen, den Eltern entzogen werden (vgl. dazu Tammen in Münder u.a. FK-SGB VIII, § 27 Rn. 36) 20 Während in der Kindeswohl-Untersuchung vom Ende des letzten Jahrhunderts der Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts (29 Prozent), der Entzug des Personensorge- rechts (27 Prozent) und der Entzug der elterlichen Sorge (12 Prozent) die häufigsten Maßnahmen waren, Auflagen dagegen (z.B. Auferlegung, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen) nur in wenigen Fällen (8 Prozent) vorkamen, hat sich dies, sicherlich auch wegen der Änderung des § 1666a Abs. 3 BGB, inzwischen deutlich geändert, wie die folgende Tabelle zeigt. Tabelle 6: Maßnahmen des Familiengerichts bei Gefährdung des Kindeswohls (2012–2019) 2012 2015 2018 2019 Anrufung des FamG durch das JA nach 16.875 20.806 24.939 27.980 § 8a SGB VIII wg. akuter KWG Maßnahmen des Familiengericht (ge- 28.797 29.405 31.504 32.591 samt) Auferlegung der Inanspruchnahme von 8.970 8.730 9.081 9.542 Leistungen der Kinder- u. Jugendhilfe (§ 1666 Abs. 2 Nr. 1 BGB) Teilweise Übertragung der elterl. Sorge 7.605 7.818 8.523 8.670 auf das Jugendamt oder einen Dritten als Pfleger (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) Vollständige Übertragung der elterl. Sor- 6.795 7.585 7.512 7.787 ge auf das Jugendamt oder einen Dritten als Vormund (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) Gebote od. Verbote gegenüber Personen- 3.355 3.637 4.479 4.678 sorgeberechtigten oder Dritten (§ 1666 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 BGB) Ersetzung von Erklärungen der Personen- 2.102 1.635 1.909 1.914 sorgeberechtigten (§ 1666 Abs. 3 Nr. 5) Quelle: Statistisches Bundesamt Destatis 2021-04-17; Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe Gefährdungsein- schätzungen nach § 8a Absatz 1 SGB VIII 2019 21 Die Aufgabe des Familiengerichts ist es, genau und präzise auf die Gefährdung des Kindeswohls einzugehen und zu eruieren, welches die geeignete Maßnahme, auch in Form von Hilfe und Unterstützung, sein könnte. Das Gericht hat damit auch eine rechtsstaatliche Kontrollaufgabe wahrzunehmen, nicht nur wegen der verfassungs- rechtlichen Rechtsstaatsgarantie, sondern auch in Bezug auf die europarechtliche Per- spektive zur Sicherung von Menschenrechten. Im Ergebnis muss dies dazu führen, dass die Gerichte in phantasievollerer und differenzierter Weise Maßnahmen in Erwägung ziehen und anwenden. So ist es in vielen Fällen innerfamiliärer Gewaltproblematik (Misshandlung, sexueller Missbrauch) möglicherweise eher kontraproduktiv, das Kind aus der Familie herauszunehmen. Sinnvoller könnte es sein, die misshandelnde, miss- brauchende Person aus der Familie herauszunehmen, zu verweisen – was inzwischen zunehmend in solchen Situationen getan wird. In vielen Fällen der Vernachlässigung verfügen die Sorgeberechtigten nicht über hinreichende Kompetenzen, um eine hinrei- chende Versorgung der Kinder sicherzustellen. Hier kann die Herausnahme der Kinder 144 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.4 Die Stellung des Jugendamtes 9. nicht das einzige Mittel sein, sondern erforderlich ist die Unterstützung der familiären Ressourcen bis hinein in den materiellen Bereich. Es wird jedoch immer Fälle geben, in denen eine Trennung der Kinder von ihren Eltern und der damit verbundene Entzug elterlicher Sorgerechte die einzige Möglichkeit bietet, die Kinder wirksam zu schützen. 9.4 Die Stellung des Jugendamtes In den meisten Fällen erfahren die Familiengerichte durch die Jugendämter über die 22 Kindeswohlgefährdung. Hier ist es zunächst primäre Aufgabe von Jugendhilfe, frühzei- tig Jugendhilfeleistungen zu erbringen. Zugleich ist die Jugendhilfe verpflichtet, wenn sie es für erforderlich hält, das Familiengericht wegen einer Kindeswohlgefährdung zu informieren (§ 8 a Abs. 3 SGB VIII – ausführlich Münder u.a. 2020, Kap. 4.3.). Kommt es zu einer Information des Familiengerichts, so unterrichtet es insbesondere über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichts- punkte zur Entwicklung des Minderjährigen ein und weist auf weitere Möglichkeiten der Hilfe hin (§ 50 Abs. 2 SGB VIII). Aufgrund der gerichtlichen Entscheidungen wird das Jugendamt in vielen Fällen zum Pfleger und Vormund bestellt. Entsprechend seiner Mitwirkung im familiengerichtlichen Verfahren (§ 50 SGB VIII) hat das Jugendamt im Verfahren vor dem Familiengericht eine durchaus beachtliche Position: Nach § 162 FamFG ist es anzuhören, hat die Stellung eines Beteiligten, ist von den Terminen recht- zeitig zu benachrichtigen, die Entscheidungen des Gerichtes sind ihm bekannt zu ma- chen und gegen Beschlüsse des Gerichts steht dem Jugendamt die Beschwerde zu. Damit hat das Jugendamt im Zusammenhang der Kindeswohlgefährdung eine domi- 23 nierende Stellung (dazu Ernst FF 2020, 195 ff.): regelmäßig werden die Familiengerich- te durch die Jugendämter über Kindeswohlgefährdungen informiert, Jugendämter ge- ben oft entsprechende Stellungnahmen ab, berichten über erzieherische und soziale Ge- sichtspunkte zur Entwicklung des Minderjährigen und ihnen wird in vielen Fällen an- schließend das Personensorgerecht (ganz oder teilweise) übertragen. Insbesondere nach der Entscheidung des Familiengerichts kommt dem Jugendamt nicht selten eine dop- pelte Aufgabe zu: Einerseits tritt das Jugendamt selbst als Amtspfleger/-vormund in die den Eltern entzogenen Rechte und Pflichten ein. Andererseits muss das bislang mit den Eltern nicht mögliche Hilfekonzept für den Minderjährigen umgesetzt werden. So be- findet sich das Jugendamt oft in einem institutionellen Rollenkonflikt. Der Gesetzgeber ist dem durch die Einführung des Verfahrensbeistands (vgl. Kap. 9.6.) begegnet. Tabelle 7: Sorgerechtliche Maßnahmen Jahr Anrufung des Familienge- Gerichtliche Maßnah- Gerichtliche Maßnahmen pro richts men zum vollständi- 100.000 Minderjährige gen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge 1991 8.759 6.998 45 2000 8.496 7.505 48 2010 16.252 12.771 96 Quelle: Münder 2017, 110; sowie eigene Berechnungen 145 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES 9.5 Verfahrenshinweise bei § 1666 BGB 24 Wenn ein öffentliches Interesse besteht, dann hat der Gesetzgeber auch im Zivilrecht das Verfahren als ein sogenanntes Amtsverfahren vorgesehen. So sind Verfahren nach §§ 1666 a f. BGB Amtsverfahren. Entsprechend § 24 FamFG hat das Familiengericht deswegen Hinweisen, Informationen, Anregungen – unabhängig woher sie kommen – von sich aus, von Amts wegen nachzugehen. Bei der Entscheidungsfindung des Famili- engerichts geht es nicht darum (wie etwa bei klassisch schuldrechtlichem Denken), von abstrakt formulierten und allgemein anwendbaren Konfliktlösungsgrundsätzen auf Einzelfälle zu deduzieren oder die Vorschläge des Jugendamtes allein nach formell rechtlichen Aspekten (Erforderlichkeit, Geeignetheit, Verhältnismäßigkeit der vorge- schlagenen Maßnahme) zu kontrollieren. Gerichtliches Handeln ist hier (stärker als sonst) eine problemergründende und problemanalysierende Tätigkeit, um zu einer in die Zukunft gerichteten Entscheidung zu kommen. Die ansonsten im juristischen Be- reich dominierende Subsumtions- und Ableitungstechnik stößt bei der Entscheidungs- findung im Bereich von Familienkonflikten an ihre Grenzen. Die Feststellung der fami- liären Situation, der Interessenlagen der Beteiligten, die Überprüfung möglicher Alter- nativen sind für die richterliche Entscheidung zentral. Damit findet die Sicherung des Kindeswohls entscheidend durch Verfahren statt. 25 Die Verfahren nach § 1666 BGB sind Verfahren in Personensorgerechtsangelegenhei- ten. Deswegen gelten hier die allgemeinen, für Personensorgerechtsverfahren maßgebli- chen Verfahrensvorschriften (ausführlich Kap. 8.6.). Jedoch sehen die einschlägigen Vorschriften des Familienverfahrengesetzes (FamFG) zusätzliche, spezielle Bestimmun- gen bei Kindeswohlverfahren vor. 26 So sind Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls nach § 155 FamFG vorrangig und beschleunigt durchzuführen. Das bedeutet, dass Verfahren bei Kindeswohlgefähr- dung allen anderen familiengerichtlichen Verfahren vorgehen, sie sind auch vorrangig zu anderen Kindschaftsverfahren, die nicht den Aufenthalt des Kindes, das Umgangs- recht oder die Herausgabe des Kindes betreffen (§ 155 Abs. 1 FamFG). Nach § 155 Abs. 2 FamFG bedeutet dies, dass spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens ein erster Termin anzusetzen ist, in dem eine Erörterung mit den Beteiligten stattfindet. In diesen Verfahren ist das Jugendamt zwingend anzuhören. In § 155 Abs. 3 FamFG ist das persönliche Erscheinen der verfahrensfähigen Beteiligten (z.B. Eltern) vorzusehen. Das bedeutet, dass Kinder unter 14 Jahren an diesem Termin nicht teilnehmen müssen, da sie nicht verfahrensfähig sind. Daraus folgt jedoch nicht, dass sie von diesem Erör- terungstermin ausgeschlossen sind, es liegt im Rahmen der Verfahrensgestaltung des Familiengerichts, ob es die unter 14-jährigen Kinder einbezieht. 27 § 157 FamFG sieht ausdrücklich die Erörterung der Kindeswohlgefährdung vor. Hier- bei geht es um die Klärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung, insbesondere auch darum, wie eine solche Kindeswohlgefährdung – vornehmlich durch öffentliche Hilfen – abgewendet werden kann. Wegen der Formulierung, dass das Gericht die Kindes- wohlgefährdung erörtern „soll“, ist die Erörterung der Kindeswohlgefährdung als Re- gelfall vorgeschrieben. Bei einer solchen Erörterung, die auch eine „Warnfunktion“ für die Eltern haben soll, werden die Eltern verpflichtend mit einbezogen, sie haben an diesem Termin persönlich teilzunehmen und können sich nicht etwa anwaltlich vertre- ten lassen; deswegen hat das Gericht nach § 157 Abs. 2 Satz 1 FamFG das persönliche Erscheinen der Eltern anzuordnen. Nach Abs. 1 Satz 2 „soll“ das Jugendamt geladen werden, dies scheint auf einen begrenzten Entscheidungsspielraum des Gerichtes hin- 146 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.5 Verfahrenshinweise bei § 1666 BGB 9. zuweisen. Bei Kindeswohlgefährdung ist es aber nicht vorstellbar, dass das Jugendamt nicht geladen wird. Nicht nur, weil es in den meisten Fällen möglicher Gefährdungs- einschätzung selbst das Gericht eingeschaltet hat, sondern auch beteiligt werden muss, wenn erörtert wird, wie eine mögliche Kindeswohlgefährdung abgewendet werden kann. Zudem haben die Jugendämter in diesen Fällen die entsprechenden sozialpäda- gogischen Aspekte einzubringen – § 50 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII. Auch hier ist die Einbe- ziehung des Kindes in die Entscheidung des Familiengerichts gestellt, allerdings mit dem Hinweis, dass „in geeigneten Fällen“ die Erörterung über eine mögliche Kindes- wohlgefährdung auch mit dem Kind stattfinden soll. Von besonderer Bedeutung ist die persönliche Anhörung des Kindes nach § 159 28 FamFG. Hiernach sind die Kinder persönlich anzuhören, wenn sie das 14. Lebensjahr vollendet haben (Abs. 1), wenn sie dieses Lebensjahr noch nicht vollendet haben, so sind sie (Abs. 2) anzuhören, wenn ihre Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kin- des für die Entscheidung von Bedeutung sind – das wird bei Kindeswohlgefährdungs- verfahren regelmäßig der Fall sein. Bei der „Anhörung“ geht es nicht (nur) darum, dass dem Kind zugehört wird, sondern darum, dass sich das Familiengericht einen per- sönlichen Eindruck von dem Kind und dessen Situation verschafft. Dem Kind ist die Gelegenheit zur Äußerung zu geben (Abs. 4 S. 2). Es ist über den Gegenstand, den Ab- lauf und den möglichen Ausgang des Verfahrens in entsprechender Weise zu informie- ren; dies geschieht in der Praxis regelmäßig durch den Verfahrensbeistand (Kap. 9.6) und wenn ein Verfahrensbeistand bestellt ist, so soll diese persönliche Anhörung des Kindes in Anwesenheit des Verfahrensbeistandes stattfinden. Von hoher Bedeutung in einem Verfahren nach § 1666 BGB ist die Anhörung der El- 29 tern – § 160 FamFG. Wegen der Bedeutung des Elternrechts in diesem Zusammenhang sieht § 160 Abs. 1 S. 2 FamFG vor, dass die Eltern nicht nur – wie in anderen Perso- nensorgerechtsverfahren – angehört werden sollen, sondern sie sind anzuhören, die Anhörung der Eltern ist zwingend, liegt eine solche Anhörung nicht vor, ist stets ein Verfahrensfehler gegeben. In solchen Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls ist vom Gericht schon im 30 Anhörungs- und Erörterungstermin (§ 157 FamG) stets auch eine einstweilige Anord- nung zu prüfen § 157 Abs. 3 FamFG. Das einstweilige Anordnungsverfahren ist in §§ 49 ff. FamFG geregelt. Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung ist die Tatsa- che, dass Gefahr im Verzug ist: Unverzügliches Einschreiten ist erforderlich, wenn nicht abgewartet werden kann, um die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und der Kindeswohlgefährdung nicht auf andere Weise begegnet werden kann. In diesem Zusammenhang ist § 42 SGB VIII zu beachten: Hiernach haben die Jugendämter die Möglichkeit, vorläufige Schutzmaßnahmen für Minderjährige zu ergreifen (Inobhut- nahme bzw. Herausnahme des Minderjährigen – dazu Münder u.a. 2020, Kap. 10.1). Beim Verfahren der einstweiligen Anordnung kann auf bestimmte, das Verfahren in die Länge ziehende, Verfahrensweisen verzichtet werden: n Beweise brauchen nicht im üblichen Beweisverfahren erbracht zu werden, es genügt hier die Glaubhaftmachung (§ 51 Abs. 1 S. 2 FamFG – durch das Jugendamt); n von der vorherigen Anhörung der Beteiligten kann ebenso abgesehen werden (§ 160 Abs. 3 FamFG) wie von einer mündlichen Verhandlung (§ 51 Abs. 2 S. 2 FamFG). Durch „vorläufige“ Entscheidungen (etwa der – teilweisen – Entziehung des Sorge- 31 rechts verbunden mit der Bestellung eines Pflegers oder Vormunds) können nicht selten Tatsachen geschaffen werden, die die Chancen der Eltern auf die Wiedererlangung 147 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES ihres Sorgerechts verschlechtern und insofern faktisch eine endgültige Entscheidung vorwegnehmen. Deswegen muss das Gericht sich, trotz des Bemühens zur Beschleuni- gung, um weitmögliche Aufklärung bemühen. Gerade von der Anhörung der Verfah- rensbeteiligten sollte deswegen nur in ganz dringenden Ausnahmefällen abgesehen werden (ausführlich zu der Verfahrensgestaltung durch das Gericht; BVerfGK 7.4.2014 – BvR 3121/13.). Unterbleibt beim Erlass einer einstweiligen Anordnung we- gen Gefahr im Verzuge die Anhörung des sorgeberechtigten Elternteils, so muss die zwingend vorgeschriebene mündliche Anhörung unverzüglich nachgeholt werden (§ 160 Abs. 4 FamFG). 9.6 Der Verfahrensbeistand – Anwalt des Kindes – § 158 FamFG 32 In Fällen der Kindeswohlgefährdung besteht nicht selten auch ein Interessengegensatz zwischen Eltern/Personensorgeberechtigten und Kindern. Das gerichtliche Verfahren zur Sicherung des Kindeswohls richtet sich deswegen – insbesondere in der Wahrneh- mung der Personensorgeberechtigten – in der Sache auch gegen sie als die Eltern/Perso- nensorgeberechtigten. Dem Jugendamt und dem Gericht als den beteiligten Institutio- nen sind in gewisser Weise jedoch die Hände gebunden für eine eindeutige, allein am Kind orientierte Interessenvertretung: Das Jugendamt hat auch mit den Eltern und der Familie zu arbeiten, selbst nach der Entscheidung des Familiengerichts. Und dem Fa- miliengericht ist es untersagt, im Verfahren allein die Interessensposition eines Beteilig- ten zu vertreten. Deswegen wurde rechtspolitisch seit langer Zeit eine Interessensver- tretung für das Kind gefordert, der „Anwalt des Kindes“ (Salgo 1993; Salgo 1995). Gewicht erhielten diese Forderungen durch Entscheidungen des Bundesverfassungsge- richts, das ausführte, dass das Kind als Träger eigener Grundrechte in Verfahren der Verfassungsbeschwerden bezüglich seiner Interessensposition eigenständig vertreten sein müsse (BVerfG 18.6.1986–1 BvR 857/85; Salgo 1993, BVerfGE 72, 122 ff.; BVerfG 14.4.1987 – 1 BvR 332/86, BVerfGE 75, 201 ff.). Mit der Etablierung des Ver- fahrenspflegers (seit 2009 Verfahrensbeistand) durch das Kindschaftsrecht (1.7.1998) in § 158 FamFG kam der Gesetzgeber diesen Forderungen nach (ausführlich Salgo 2019). Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt ge- gen Kinder wurden (mit Wirkung vom 16.6.2021) u. a. die Bestimmungen zur Verfah- rensbeistandschaft wesentlich geändert (Menne NZFam 2020, 1033 ff.). § 158 Abs. 1 FamG legt fest, dass dem Kind in Kindschaftssachen ein Verfahrensbeistand, der fach- lich und persönlich geeignet ist, zu bestellen ist. § 158 a FamG enthält Ausführungen zu der fachlichen Geeignetheit des Verfahrensbeistandes: insbesondere entsprechende berufliche Qualifikationen, die gegebenenfalls nachzuweisen sind, und regelmäßige, mindestens alle zwei Jahre stattfindende, Fortbildungen. 33 § 158 Abs. 2 FamFG legt nunmehr verbindlich fest, dass das Familiengericht für das minderjährige Kind in Kindschaftssachen einen Verfahrensbeistand u.a. in allen Fällen der §§ 1666, 1666 a BGB zu bestellen hat, und nicht mehr nur, wie ehedem, wenn dies zur Interessenswahrnehmung des Kindes erforderlich war. Generell werden in § 158 Abs. 2 FamFG alle die Fälle aufgezählt, in denen die Bestellung zwingend rechtlich er- forderlich ist. § 158 Abs. 3 FamFG regelt nun die Fälle, in denen in der Regel die Be- stellung eines Verfahrensbeistandes erforderlich ist, so bei: n Erheblichem Interessensgegensatz zwischen gesetzlichem Vertreter und Kind; n Trennung des Kindes von der Person, in deren Obhut es sich befindet; 148 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9.7 Internationales Recht und Kindeswohlgefährdung 9. n Verfahren zur Herausgabe des Kindes; n wesentlicher Beschränkung des Umgangsrechts. In all diesen Fällen ist in der Regel ein Verfahrensbeistand zu bestellen. Sieht das Ge- richt in diesen Fällen von einer Bestellung ab, ist eine (ausführliche) Begründung not- wendig – § 158 Abs. 3 S. 2 FamFG. Wird ein Verfahrensbeistand nicht bestellt und fehlt es an einer solchen Begründung, so ist das Verfahren fehlerhaft. Die Bestellung des Verfahrensbeistandes hat so früh wie möglich zu erfolgen. Hinsichtlich der Aufgaben des Verfahrensbeistands gab es ehedem unterschiedliche 34 Auffassungen (vgl. 6. Aufl. Kap. 12.5.2), was dazu führte, dass die ehemalige Verfah- renspflegschaft durch Ungleichzeitigkeiten und Unterschiedlichkeiten gekennzeichnet war (vgl. die grundlegende Untersuchung zur Verfahrenspflegschaft von Münder/ Hannemann/Bindel-Kögel 2009). Die Aufgaben sind nun in § 158 b FamG ausführli- cher und klarer geregelt. So ist die zentrale Aufgabe des Verfahrensbeistands, die Inter- essen des Kindes festzustellen und sie im gerichtlichen Verfahren zu vertreten. In seiner nun ausdrücklich schriftlich anzufertigenden Stellungnahme gegenüber dem Gericht hat der Verfahrensbeistand sowohl den Willen des Kindes (also dessen subjektives In- teresse), als auch das Kindeswohl (das als das objektive Interesse des Kindes bezeichnet werden kann) einzubeziehen. Er hat das Kind über das Verfahren zu informieren, es ihm zu erklären und dem Kind damit die Möglichkeit zu geben, das Verfahren zu ver- stehen. Ausdrücklich ist vorgesehen, dass der Verfahrensbeistand die gerichtliche Ent- scheidung mit dem Kind zu erörtern hat. Über diese Aufgaben hinaus kann das Ge- richt ihm nach § 158 b Abs. 2 FamFG ausdrücklich zusätzliche Aufgaben übertragen (Gespräche mit den Eltern und weiteren Bezugspersonen, Mitwirkung an einvernehm- lichen Regelungen); diese zusätzlichen Aufgaben hat das Gericht konkret festzulegen und es hat die Beauftragung zu begründen. Die Rechtsstellung der Verfahrensbeistand ist vornehmlich in § 158b FamFG geregelt. 35 Er ist in eigenem Namen tätig, er ist also nicht gesetzlicher Vertreter o. ä. des Kindes. Er ist (§ 158b Abs. 3 FamFG) Beteiligter und hat damit die Rechte eines Beteiligten, das Recht auf Akteneinsicht (§ 13 FamFG), das Recht auf Teilnahme am Gerichtster- min, es muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, an Kindesanhörungen teilzuneh- men. Ausdrücklich ist auch festgelegt, dass er die Möglichkeit hat, im Interesse des Kindes Rechtsmittel einzulegen (§ 158b Abs. 34 S. 25 FamFG). Festgelegt ist, dass der ehrenamtlich tätige Verfahrensbeistand einen Aufwendungsersatz erhält, Der berufs- mäßige Verfahrensbeistand erhält eine Vergütung, die pauschaliert ist: Für die normale Tätigkeit als Verfahrenspfleger zurzeit je Rechtszug 350 Euro, im Fall des § 158 b Abs. 2 FamFG (Rn. 34) 550 Euro. Die nicht berufsmäßig tätigen Verfahrensbeistände erhalten einen Ersatz ihrer Aufwendungen nach § 277 Abs. 1 FamFG. 9.7 Internationales Recht und Kindeswohlgefährdung Bezüglich des internationalen Rechts bei Kindeswohlgefährdung kann weitgehend auf 36 die allgemeinen Ausführungen im internationalen Recht im Eltern/Kind-Rechtsverhält- nis in Kap. 8.5. verwiesen werden. So gilt für die Zuständigkeit der Gerichte das in Deutschland seit 1.1.2011 gültige 37 KSÜ und die seit 1.3.2005 in Deutschland gültige Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (sogenannte Brüssel IIa-VO) der EU (ausführlich Kap. 1.3.2 und 8.5). Beide sind maß- geblich für die elterliche Sorge und damit auch für die „Entziehung“ der elterlichen 149 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9. DER ZIVILRECHTLICHE KINDESSCHUTZ – DAS WOHL DES KINDES Verantwortung. Im Verhältnis der beiden Bestimmungen zueinander ist die Brüssel IIa- VO vorrangig, für Angehörige der EU-Staaten ist regelmäßig auf diese Verordnung zu- rückzugreifen, ansonsten auf das KSÜ. In der Sache ist das Ergebnis für die Zuständig- keit der Gerichte identisch (Art. 8 in der Verordnung und Art. 15 des KSÜ): Es ist das Gericht, die Behörde örtlich zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt einer Antrag- stellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. 38 Bezüglich des anwendbaren Rechts würden Art. 21 und Art. 24 EGBGB greifen, sofern keine vorrangigen staatsvertraglichen Regelungen existieren. Mit dem KSÜ existiert für den Bereich des Kindeswohls eine solche vorrangige Regelung. Auch hier gilt für das Verhältnis dieser beiden Rechtsquellen untereinander wieder das Gesagte. Nach den Bestimmungen des KSÜ wenden die Behörden, Gerichte der jeweiligen Staaten ihr eigenes Recht, bei einem Fall in Deutschland also § 1666 BGB, an (vgl. Art. 15 KSÜ). Weiterführende Literatur n Zum Kindeswohl,§ 1666 BGB: Simitis u.a. 1979; Zenz 1979; Münder 2017 n Zur Verfahrensbeistandschaft; Salgo u.a. 2019 150 https://doi.org/10.5771/9783748900603-137 Generiert durch Technische Hochschule Köln, am 13.10.2024, 19:21:13. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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