Einführung in die Politikwissenschaft: Autokratie (PDF)
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Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
2024
Dr. Christina-Marie Juen
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This document is a lecture on political science, focusing on political systems and autocracy. It covers the topic of democratization and the characteristics of various autocratic regimes. The lecture was given on October 29, 2024.
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EINFÜHRUNG IN DIE POLITIKWISSENSCHAFT Politische Systeme: Autokratie Dr. Christina-Marie Juen 29.10.2024 Aktuelles https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-10/oecd-wahl-georgien-manipulation Seite 2 Ziele und Inhalt – Was führt zu (Ent-)Demokratis...
EINFÜHRUNG IN DIE POLITIKWISSENSCHAFT Politische Systeme: Autokratie Dr. Christina-Marie Juen 29.10.2024 Aktuelles https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-10/oecd-wahl-georgien-manipulation Seite 2 Ziele und Inhalt – Was führt zu (Ent-)Demokratisierung? – Welche Arten von Autokratien gab/gibt es früher und heute? – Welche Auswirkungen haben politische Systeme? Seite 3 Demokratisierung und Entdemokratisierung Demokratisierung – Welche Faktoren führen dazu, dass ein Staat demokratisch ist/wird? – Strukturelle Faktoren – Institutionelle Faktoren – (Nicht-staatliche) Akteure – Internationalen Einflüsse Seite 4 1) Strukturelle Faktoren – Ökonomische Entwicklung als Voraussetzung für Demokratisierung (Lipset, 1959) – je besser es einer Nation ökonomisch geht, desto eher wird sie eine Demokratie → ökonomische Entwicklung löst soziale Transformation aus, führt zu besserem Lebensstandard, Urbanisierung, Bildung – Aber: nicht alle reichen Staaten sind zwingend demokratisch – schneller ökonomischer Aufstieg kann bei fehlender sozialer Entwicklung auch zu Problemen führen – Umgekehrter Effekt: Demokratisierung und stabile Institutionen führen zu ökonomischem Wohlstand (Acemoglu et al., 2008) Seite 5 2) Institutionelle Faktoren – Wahrscheinlichkeit, dass Staat erst demokratisch ist und dann autokratisch wird, ist gering – Aber: präsidentielle Systeme eher anfällig für Entdemokratisierung – Polarisierung des Parteiensystems und der Gesellschaft – ‘checks and balances’ anfälliger dafür ausgehebelt zu werden (bspw. wenn Exekutive die Judikative und Legislative kontrolliert) – Institutionelle Strukturen können also fragile Demokratien schaffen – Autokratien besonders stabil, wenn Parteien vorhanden sind → Militärdiktaturen wenig stabil Seite 6 3) Akteure – Organisationen, Akteure und Soziale Bewegungen sind zentraler Bestandteil von Demokratien – Polarisierung durch politische Eliten kann zu Entdemokratisierung führen – Soziale Bewegungen habe eine wichtige Rolle → Aggregation von Interessen ohne Revolution Seite 7 4) Internationale Einflüsse – Demokratisierung wird nicht nur ‘von innen heraus’ angetrieben, sondern kann auch durch externe Faktoren begünstigt werden (Geddes, 1999) – Staaten beeinflussen sich gegenseitig (‘democratic contagion’): – wenn sich ein Staat demokratisiert, folgen andere Staaten (oft Nachbarstaaten) – Demokratisierung ausgelöst durch enge internationale Zusammenarbeit oder durch den Einfluss von Internationalen Organisationen Seite 8 Demokratisierungswellen Empirisch lassen sich ‘Wellen der Demokratisierung’ (Huntington, 1991) beobachten. 1. Demokratisierungswelle 1828–1926 1. Gegenwelle 1922–1942 2. Demokratisierungswelle 1943–1962 2. Gegenwelle 1958–1975 3. Demokratisierungswelle 1974 –1994 3. Gegenwelle seit ca. 1994 Seite 9 Demokratisierungswellen 1. Welle: – 19. Jahrhundert bis frühes 20. Jahrhundert: mit der Einführung des Wahlrechts für manche Gruppen der Bevölkerung begannen sich Staaten wie die USA, Kanada und UK zu demokratisieren - gefolgt von europäischen Staaten nach dem 1. Weltkrieg → Definition als Demokratie (Huntington, 1991), wenn nur Teile der Bevölkerung wählen dürfen, wäre heute unzulänglich → Ende: vor dem 2. Weltkrieg Seite 10 Demokratisierungswellen 2. Welle: – Nach dem 2. Weltkrieg: Demokratisierung sehr vieler Staaten als Reaktion auf den Krieg und durch den Einfluss von USA und UK → Ende: 1960er Jahre mit dem Aufstieg vieler Militärdiktaturen in Lateinamerika und dem Zusammenbruch einiger neuer Demokratien in Afrika → Militärputsch und externe Invasion als größte Bedrohungen für Demokratie Seite 11 Demokratisierungswellen 3. Welle: – Ab den 1970er Jahren: Demokratisierung mit dem Sturz der autokratischen Regime in Portugal, Spanien und Griechenland, und auch nachdem lateinamerikanischer Staaten ihre Militärdiktaturen in den 1980ern überwunden haben → Ende: Anfang der 1990er Jahre (Lührmann und Lindberg, 2019) → Höhepunkt der Autorkratisierung 2017: Länder mit Autokratisierung übersteigt Zahl der Demokratisierung → Entdemokratisierung von innen heraus (Aushebeln der Gewaltenteilung) Seite 12 Demokratisierungs- und Autokratisierungswellen Seite 13 Abbildung aus Lührmann und Lindberg (2019) Demokratisierung und Autokratisierung Abbildung aus Varieties of Democracy Report, 2024 Seite 14 5 Minuten Pause Seite 15 Was sind Autokratien? Was sind Autokratien? – Lange Zeit nur Messung von Demokratie – ‘Autokratisch’ war alles was nicht demokratisch war – Heute wissen wir: – Autokratien unterscheidet sich von Demokratien – und: Autokratien unterscheiden sich auch untereinander (Caramani, 2017) – Autokratien definieren sich durch fehlende Wechsel in der Regierung sowie fehlende freie Wahlen (Bernauer et al., 2022) Seite 16 Regime-Klassifikation nach Aristoteles Anzahl Herrschende Für Wohl Aller Für Wohl der Herrschenden Einer Monarchie Tyrannis Wenige Aristokratie Oligarchie Viele Polis Demokratie Seite 17 Was sind Autokratien? – Alle Autokratien kennzeichnen sich durch Herrschaft weniger Personen – in Monarchien bspw. durch König:innen, die das Wohl Aller berücksichtigen – in Oligarchien bspw. durch Reiche, die nur zum eigene Nutzen regieren – Herrschaft vieler in Polis und Demokratie – Demokratie laut Aristoteles zum Nachteil der wohlhabenden Mitte der Bürger:innen (Golder et al., 2017) Seite 18 Was sind Autokratien? – Vor Demokratisierung in Westeuropa vor allem Monarchien und Oligarchien – Diktaturen (Tyrannis) sind das was wir im 20. Jh. im Allgemeinen als Autokratie verstehen – häufig auch Militärdiktaturen – Heute unterscheiden sich Diktaturen stark von früher – Guriev und Treisman (2022) unterscheiden zwischen fear dictators (Diktaturen der Angst) und spin dictators (Diktaturen der Manipulation) Seite 19 Klassifikation nach Guriev und Treisman (2022) Fear Dictators Spin Dictators Viel gewaltsame Unterdrückung, viele poli- Wenig gewaltsame Unterdrückung, wenig tisch motivierte Tötungen und Gefangene politisch motivierte Tötungen und Gefan- gene Öffentliche Gewalt, um Menschen zu be- Nicht-öffentliche Gewalt, um Bild einer sta- herrschen bilen Herrschaft zu erzeugen Zensur und keine kritischen Medien (mit manche kritische Medien erlaubt (oftmals Verboten) Medien vereinnahmt) offizielle Ideologie und offensive Propa- keine offizielle Ideologie und subtile Pro- ganda paganda keine liberalen Kriterien von Demokratie Anschein einer Demokratie Abschottung und kaum internationale Ein- Weltoffen und offene Grenzen Seite 20 flüsse zugelassen Die neue Generation Diktatoren Merkmale von Diktaturen der Manipulation: – nicht-demokratisches System – Wahlen, in denen mindestens eine andere Partei antritt – kritische Medien vorhanden – Gezielte Tötung politischer Feinde max. 10 pro Jahr – Anzahl politischer Gefangener übersteigen 1.000 pro Jahr nicht Seite 21 Entwicklung (Guriev und Treisman, 2022) Seite 22 Die neue Generation Diktatoren – ‘Diktaturen der Manipulation’ können wie illiberale Demokratien wirken – Minimaldefinition von Demokratie wird eingehalten, jedoch sind keine persönliche Freiheiten vorhanden – Aber: – Manipulation von Wahlen so, dass sie nicht von der eigentlichen Mehrheit abgewählt werden können – Einfluss auf Gerichte und Aushebeln der Gewaltenteilung sichert Macht – Spin Dictators agieren in Korsett demokratischer Institutionen, die jedoch nicht mehr demokratisch sind (Guriev und Treisman, 2022) Seite 23 Beispiel: China – Nicht einfach zu klassifizieren – Expert:innen im Land sehen eher Manipulation als Angst – manche private Medien sind erlaubt, nicht alle Sozialen Netzwerke sind verboten – Gewalt im Vergleich zu früher deutlich geringer – Expert:innen außerhalb des Landes sehen eher Angst – politische Opposition wird verfolgt, auch bestimmte Bevölkerungsgruppen – Gewalt und Unterdrückung auch in Medien Seite 24 Beispiel: China – Chinesische Diktatoren nennen China oft ‘eine andere Art der Demokratie’ (Guriev und Treisman, 2022) – Mischung aus Unterdrückung sowie veralteter Ideologie – Zusätzlich: modernste Technologie – Verfolgung Oppositioneller online – Soziale Netzwerke durch staatliche Hacker und Bots dominiert Seite 25 Welche Effekte haben politische Systeme? Effekte von Regimetypen – Haben demokratische Staaten besseres Wirtschaftswachstum als Diktaturen? – Forschung zeigt sehr unterschiedliche Ergebnisse – Demokratie fördert wirtschaftliches Wachstum (Acemoglu et al., 2019; Olson et al., 1991) – Demokratie verhindert wirtschaftliches Wachstum (Tavares und Wacziarg, 2001) – Warum sollte dieser Zusammenhang überhaupt bestehen? Seite 26 Schutz des Eigentums – Schutz des Eigentums durch Rechtsstaatlichkeit in Demokratien fördert Wirtschaft – Demokratie fördert dadurch Investitionen der Bürger:innen – diese fühlen sich sicher durch Rechtsstaat – Aber: Eigentumsrechte und ein verlässliches (wenn auch unfaires) Rechtssystem kann es auch in Diktaturen geben (Golder et al., 2017) – Andererseits auch Demokratien mit einem schwachen Rechtssystem Seite 27 Autonomie der Diktatoren – Autonomie von Diktatoren durch fehlenden Druck bestimmter Akteure – Politiker:innen in Demokratien sind Druck und finanziellem Interesse von verschiedenen Interessengruppen ausgesetzt – Wiederwahl hängt davon ab – Diktatoren können schneller Ausgaben für kurzfristige Politikinhalte machen und Wirtschaft fördern – Interesse daran, weil wirtschaftliche Stabilität auch Bürger:innen zufrieden stellt (Guriev und Treisman, 2020; Neundorf et al., 2022) Seite 28 Abschließend... Diskussionsfragen – Was sind die größten (internationalen und innerstaatlichen) Herausforderungen mit denen Diktatoren umgehen müssen, wenn sie ihr Regime erhalten wollen? Seite 29 Woche 4, 5.11.2024 Parlamentarismus und Präsidentialismus – Wie unterscheiden sich die verschiedenen Regierungssysteme? – Wie funktioniert Regierungsbildung im Parlamentarismus? Seite 30 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Seite 31 Literatur Acemoglu, Daron, Simon Johnson, James A Robinson und Pierre Yared. 2008. “Income and democracy.” American Economic Review 98 (3): 808–42. Acemoglu, Daron, Suresh Naidu, Pascual Restrepo und James A Robinson. 2019. “Democracy does cause growth.” Journal of political economy 127 (1): 47–100. Bernauer, Thomas, Detlef Jahn, Patrick M. Kuhn und Stefanie Walter. 2022. Einführung in die Politikwissenschaft. Vol. 5. Caramani, Daniele. 2017. Comparative politics. Oxford University Press. 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