Vorlesung POL_P1: Einführung in die Politikwissenschaft PDF
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Universität Heidelberg
2024
Prof. Dr. Jale Tosun
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These lecture notes cover an introduction to political science, focusing on political thought from the 18th and 19th centuries. It details the work of important thinkers like Hobbes, Rousseau, and Hegel, and touches on contemporary relevance.
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Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/25 Vorlesung POL_P1 Einführung in die Politikwissenschaft Politische Ideengeschichte – „Revolutionäre Gedanken“ 05. November 2024 Einleitung Die „Teildisziplinen“ der modernen Politikwissenschaft 1. Politische Theorie und Ideengeschichte 2. Soz...
Prof. Dr. Jale Tosun Wintersemester 2024/25 Vorlesung POL_P1 Einführung in die Politikwissenschaft Politische Ideengeschichte – „Revolutionäre Gedanken“ 05. November 2024 Einleitung Die „Teildisziplinen“ der modernen Politikwissenschaft 1. Politische Theorie und Ideengeschichte 2. Sozialwissenschaftliche Methoden (als Querverstrebung) 3. Internationale Politik und Außenpolitik (Internationale Beziehungen) 4. Politische System- oder Regierungslehre 5. Policy-Forschung 6. Verwaltungswissenschaft 7. Politische Soziologie und Psychologie Einführung in die Politische Wissenschaft 2 Gliederung I. Politische Ideengeschichte II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte III. Aktuelle Relevanz IV. Fazit V. Literatur Einführung in die Politische Wissenschaft 3 I. Politische Ideengeschichte Politische Theorie Politische Politische Moderne Ideengeschichte Philosophie Politische Theorie Einführung in die Politische Wissenschaft 4 I. Politische Ideengeschichte Politische Ideengeschichte: „Archiv der Politikwissenschaft“ (Münkler 2003) Wie haben sich politische Ideen entwickelt? Disziplinenübergreifend: Geschichtswissenschaft, Philosophie, Rechtswissenschaft, Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft Einführung in die Politische Wissenschaft 5 I. Politische Ideengeschichte Politische Philosophie ist der Versuch, Meinungen über das politische „Ganze“ gegen Erkenntnisse desselben zu tauschen (Leo Strauss) Teilbereich der Politikwissenschaft, der sich mit den philosophischen Lehren aus Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt Politische Philosophie als normative oder politische Ordnungswissenschaft Sucht begründbare Wertmaßstäbe und Entscheidungsverfahren zur Erlangung von Zielen Politische Philosophie kommt nicht ohne Politische Ideengeschichte aus Einführung in die Politische Wissenschaft 6 I. Politische Ideengeschichte Moderne politische Theorie: Das Hauptanliegen und Ziel moderner politischer Theorie liegt darin, eine präzise Erfassung politischer und sozialer Phänomene zu ermöglichen und mit Hilfe empirischer Theorien zu erklären, weshalb bestimmte Phänomene auftreten, wie sie beschaffen sind und wie sie sich weiter entwickeln werden. Einführung in die Politische Wissenschaft 7 I. Politische Ideengeschichte Wie betreiben wir die Politische Ideengeschichte? Drei unterschiedliche Herangehensweisen in der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte und Philosophie (Druwe 1993: 32): − die normativ-ontologische − die kritisch-dialektische − die analytisch-rekonstruktive Methode Einführung in die Politische Wissenschaft 8 I. Politische Ideengeschichte Die politischen Ideen können historisch in drei Abschnitte untergeteilt werden (Schuber & Klein 2020): Altertum › Suche nach dem idealen Staat und einer gerechten Ordnung (Plato) › Vergleich realer Staaten und dem tugendhaften Leben in solchen Staaten (Aristoteles) › Untersuchung zur Staatsorganisation und der Herrschaft der Gesetze (Augustinus) › Unterscheidung zwischen Gottes Reich und dem irdischen Staat (Augustinus) Mittelalter › endgültige Trennung zwischen religiösem Glauben und politischem Willen Einführung in die Politische Wissenschaft 9 I. Politische Ideengeschichte Neuzeit › Entwicklung moderner Herrschaftstechniken (Machiavelli) › Entwicklung der modernen Staatsidee und der Souveränitätslehre (Bodin) › Überwindung des Naturzustandes durch den Staat und Beginn der modernen Vertragsidee (Hobbes) › Entwicklung der Gewaltenteilungslehre (Locke, Montesquieu) › Entwicklung der Lehre von der Volkssouveränität (Rousseau) › Entwicklung und Garantie der Grundrechte und Menschenrechte › Schutz individueller Freiheiten und Recht gegenüber dem Staat, d. h. Vorrang von Individuum und Gesellschaft vor staatlichem Machtanspruch (US- amerikanische Verfassung) › Idealisierung des Staates gegenüber der Gesellschaft (Hegel) Einführung in die Politische Wissenschaft 10 I. Politische Ideengeschichte Gewaltenteilung Legislative = Gesetzgebende Gewalt Exekutive = Ausführende Gewalt Judikative = Rechtssprechende Gewalt https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-in-einfacher-sprache/249931/gewaltenteilung/ Einführung in die Politische Wissenschaft 11 I. Politische Ideengeschichte Grundrechte › Grundrechte sind die in den Verfassungen der jeweiligen Staaten aufgelisteten staatlich garantierten Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsmacht Menschenrechte › Menschenrechte sind die angeborenen unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen, die die moralische und rechtliche Basis der Menschheit bilden. Sie sind vor- und überstaatlich und können daher auch nicht von diesem verliehen, sondern nur als solche anerkannt werden Einführung in die Politische Wissenschaft 12 II. Zeitstrahl (ohne Hobbes) 1762 1792 1821 „Vom Gesellschafts- „Die Verteidigung „Grundlinien der vertrag“ von Jean- der Frauenrechte“ Philosophie des Jacques Rousseau von Mary Rechts“ von G.W.F. 1790 Wollstonecraft Hegel „Reflections on the 1815 Revolution“ von „Carta de Jamaica“ Edmund Burke von Simón Bolívar 1770 1848 1776 1789 1810 Unabhängigkeits- Französische Unabhängigkeits- erklärung USA Revolution kriege Lateinamerika Einführung in die Politische Wissenschaft 13 https://www.azquotes.com/author/6763-Thomas_Hobbes Einführung in die Politische Wissenschaft 14 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hobbes (1588-1679) Ideenlehre: Realismus Schwerpunkt: Naturzustand und Sozialvertrag Der Naturzustand ist bei Hobbes ein hypothetischer Zustand („Krieg aller gegen alle“) Menschen sind rationale Wesen, die ihre Macht maximieren wollen und aus Eigeninteresse handeln (Selbsterhaltung; „der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) Aber es gibt ein Problem des kollektiven Handelns: Individuen trauen einander nicht genug, um die Waffen niederzulegen Die Lösung: Die Übertragung der Macht an eine dritte Partei mittels eines Sozialvertrags Einführung in die Politische Wissenschaft 15 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hobbes (1588-1679) Im dem zentralen Werk Leviathan (1651) beschreibt Hobbes seine Vorstellung vom Staat und der menschlichen Natur; der Staat ist ein grausames, künstliches, aber auch notwendiges Konstrukt Der Herrscher ist ein absoluter Herrscher, der die Macht in sich vereint und dadurch den Kriegszustand beendet (dieser entsteht durch die unkontrollierte Freiheit des Einzelnen) Der Herrscher wird durch einen Sozialvertrag legitimiert, dem alle rational denkenden Menschen zustimmen würden Die Aufgabe des Souveräns ist es, den Bürger zu schützen; hierfür geben die Bürger ihre individuelle Freiheit auf und ordnen sich dem Souverän unter Der Sozialvertrag wird obsolet, wenn der Souverän nicht für Stabilität und Frieden sorgen kann Einführung in die Politische Wissenschaft 16 Einführung in die Politische Wissenschaft 17 https://www.azquotes.com/author/12698-Jean_Jacques_Rousseau Einführung in die Politische Wissenschaft 18 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Rousseau (1712-1778) Ideenlehre: Republikanismus Schwerpunkt: der allgemeine Wille Systematische Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Politik: − Wenn die Gesellschaft durch ihre politischen Institutionen geformt wird, dann kann die Gesellschaft durch politisches Handeln zum Besseren verändert werden Mensch losgelöst von der Gesellschaft: − Menschen sind geprägt durch eine natürliche Selbstliebe und dem Wunsch nach Selbsterhaltung − Die bürgerliche Gesellschaft („die Besitzenden“) beendet diesen „Naturzustand“ („Leben in Unschuld“) Einführung in die Politische Wissenschaft 19 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Rousseau (1712-1778) Gesellschaftsvertrag als positiver Impuls, um eine souveräne Macht in der Gesellschaft entstehen zu lassen – ohne Aufgabe der individuellen Freiheit Freiheit und Gleichheit als eine Einheit Volkssouveränität ≠ direkte Beteiligung der Bürger an der Demokratie Die Souveränität soll in Volksversammlungen („allgemeiner Wille“) ausgeübt werden, welche die Regierungsaufgaben an eine Exekutive („Einzelwillen“) übertragen; ansonsten könnte es zu Korruption und Bürgerkrieg kommen Problem: Was ist der allgemeine Wille? Was ist mit Minderheitenschutz? Rousseau als Aushängeschild der Französischen Revolution Einführung in die Politische Wissenschaft 20 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Rousseau (1712-1778) Exkurs zu Republik: › Eine Republik ist eine Staatsform, die das Gegenstück zur Monarchie bildet › Sie ist charakterisiert dadurch, dass die Herrschaft über zeitlich befristete Wahlämter ausgeübt wird › Sie ist am Gemeinwohl orientiert › Zumeist geht in einer Republik die höchste Gewalt vom Staatsvolk aus (Volkssouveränität) – sie ist die oberste Quelle der staatlichen Legitimität › Die innere Ausgestaltung einer Republik variiert von Staat zu Staat; Republiken müssen auch nicht zwingend Demokratien sein, auch wenn sie es oft sind (vgl. Volksrepublik China oder Islamische Republik Iran) Einführung in die Politische Wissenschaft 21 https://www.azquotes.com/author/2186-Edmund_Burke Einführung in die Politische Wissenschaft 22 https://www.philomag.de/artikel/edmund-burke-und-der-staat-test Einführung in die Politische Wissenschaft 23 23 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Burke (1729-1797) Ideenlehre: Konservatismus Schwerpunkt: die politische Tradition „Reflections on the Revolution in France“ (1790): − Wie der Titel schon verrät, war dies eine direkte Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution − Die Leidenschaft des Einzelnen dürfe nach Burke nicht das politische Urteilsvermögen trüben − Die Regierung entspricht einem Organismus mit Vergangenheit (und Zukunft), weshalb ihre Ausrichtung nicht grundlegend verändert werden kann; die Regierung ist geprägt von Stabilität und Inkrementalismus (Veränderungen in kleinen Schritten); sie stellt ein Erbe dar, das sicher in die Zukunft gebracht werden muss Einführung in die Politische Wissenschaft 24 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Burke (1729-1797) Die Aufgabe der Regierung ist es, zwischen den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen zu vermitteln Die Menschen können nach Burke nur dann in einer freien und gerechten Gesellschaft ohne Chaos leben, wenn sie das Recht aufgeben, über zu viele Dinge bestimmen zu wollen (repräsentative Demokratie) Burke glaubt weniger an individuelle Rechte, als an Überlieferung, Gewohnheit und ererbtes Eigentum – somit kommt den Eliten eine besondere Rolle im politischen Prozess zu und Burke nimmt das Fortbestehen von Ungleichheiten in Kauf Einführung in die Politische Wissenschaft 25 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Burke (1729-1797) Exkurs: repräsentative Demokratie › Eine demokratische Herrschaftsform, bei der die politischen Entscheidungen und die Kontrolle der Exekutive nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgeübt werden › Das Gegenstück zur repräsentativen Demokratie ist die direkte Demokratie, die eine demokratische Herrschaftsform bezeichnet, bei der die politischen Entscheidungen unmittelbar vom Volk (z.B. in Volksversammlungen und durch Volksabstimmungen) getroffen werden und lediglich Ausführung und Umsetzung der Entscheidungen staatlichen Behörden überlassen werden Einführung in die Politische Wissenschaft 26 https://www.azquotes.com/quote/319715 Einführung in die Politische Wissenschaft 27 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Wollstonecraft (1759-1797) Ideenlehre: Feminismus (Ideologie, die auf der Gleichstellung der politischen, wirtschaftlichen, persönlichen und sozialen Rechte der Frauen abzielt) Schwerpunkt: die Emanzipation der Frau Adressiert eine Lücke in der politisch-philosophischen Auseinandersetzung im Zuge der Französischen Revolution: die Rechte der Frauen Noch nicht einmal Rousseau betrachtete Frauen als gleichberechtigt Einführung in die Politische Wissenschaft 28 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Wollstonecraft (1759-1797) Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die „ehrbare“ Frau, die darauf verzichtet, ihre Reize einzusetzen, um auf diese Weise durch eine Ehe finanzielle Sicherheit zu erwerben Nach Wollstonecraft sollten Frauen die Freiheit haben, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, wofür sie auch in den Genuss einer Ausbildung kommen sollten; sie fordert daher im Kern eine Bildungsreform Einführung in die Politische Wissenschaft 29 https://www.azquotes.com/author/19660-Simon_Bolivar Einführung in die Politische Wissenschaft 30 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Ideenlehre: Liberaler Republikanismus Schwerpunkt: die revolutionäre Kriegsführung Ausgangspunkt: Kleine Republiken vs. Große Reiche In Napoleons Einmarsch in Spanien (1808) sah Bolívar eine Chance, den Kolonialismus in seinem Land zu überwinden; in diesem Zusammenhang überlegte er, wie groß ein Staat sein sollte, um gut regierbar zu sein Nach Bolívar geht ein Staat, der zu groß geworden ist, unter bzw. kann seine Aufgaben nicht mehr wahrnehmen und es kommt zu Tyrannei Einführung in die Politische Wissenschaft 31 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Die Unabhängigkeitskriege führten zu Republiken in Lateinamerika, die der Größe entsprachen, die sich Bolívar vorgestellt hatte, aber sie waren elitär organisiert Gemäß Becker-Becker & Cedeño (2014) war Bolívar ein Unterstützer des Kapitalismus in Großbritannien bzw. er vertrat eine dezidiert liberale Ideologie Großbritannien hatte die Unabhängigkeit der spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika unterstützt Bolívar wollte die Etablierung einer liberalen und demokratischen Republik in Venezuela, mit einer deutlichen Neigung zu dem in Großbritannien vorherrschenden Kapitalismus Einführung in die Politische Wissenschaft 32 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Bolívar war weltanschaulich in der Aufklärung verortet und wurde von Rousseau (Gesellschaftsvertrag) und Montesquieu (Gewaltenteilung) inspiriert Seinen Vorstellungen waren pragmatisch und lebensnah (Timmermann 2005) Auf Montesquieu berief er sich auch, um die Emanzipationsbestrebungen der spanischen Kolonien zu begründen: „Soweit ein Land über jeweils spezifische (physische, geographische, kulturelle) Lebensbedingungen verfüg[t], [muss] es seine eigene staatliche Form finden“ (Timmermann 2005: 85). Trotzdem ist er zu einer Ikone des Sozialismus geworden – wie kam das? Einführung in die Politische Wissenschaft 33 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Einführung in die Politische Wissenschaft 34 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Hugo Chávez (1954-2013) verknüpfte den alten Bolivarismus des venezolanischen Heeres (Chavez hat beim Militär Karriere gemacht) mit dem Marxismus und dem Realsozialismus Hugo Chávez gewann 1998 erstmals die Präsidentschaftswahlen und war bis zu seinem Tod Präsident von Venezuela – sein Wunschnachfolger im Präsidentenamt war Nicolás Maduro Die politische Karriere von Chávez begann 1992 mit einem Putschversuch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Carlos Andrés Pérez – der gescheiterte Putsch gehört zum Gründungsmythos seiner Bewegung „Movimiento Quinta República“ Die Bewegung berief sich auf Simón Bolívar und strebte die „Neugründung“ der Republik mittels einer verfassungsgebenden Versammlung an; dementsprechend wurde sie auch als „bolivarische Revolution“ bezeichnet (Kernpunkt: nationale Unabhängigkeit) Einführung in die Politische Wissenschaft 35 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Nach dem Referendum über die neue Verfassung im Jahr 2000 wurde Venezuela umbenannt in „Bolivarische Republik Venezuela“ Anknüpfungspunkte für eine linke Ideologie bieten der Kampf Bolívars gegen die koloniale Fremdbestimmung sowie seine Betonung der politischen Dimension von Geographie: „Anlässlich der Überreichung der Reformvorschläge zur 1999 verabschiedeten neuen Verfassung verkündete Chávez der Nationalversammlung im August 2007, dass Geographie weit mehr als die Beschreibung physisch-materieller Gegebenheiten im Raum sei. Geographie sei gleichermaßen Produkt und Ausdruck gesellschaftlicher Dynamiken“ (Losada 2016: 329). Einführung in die Politische Wissenschaft 36 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Bolívar (1783-1830) Prä-sozialistische Phase (1999–2004) des chavistischen Reformprojekts und der Bolivarischen Revolution – in dieser Phase war das bolivarische Projekt und die Wirtschaftspolitik noch nicht sozialistisch Sozialistische Phase (2005–2013): Radikalisierung und Neuausrichtung der Bolivarischen Revolution im Namen des Sozialismus des 21. Jahrhunderts Phase der sozialistischen Erosion (2013-heute): Abstieg der Bolivarischen Revolution und des Sozialismus des 21. Jahrhunderts Einführung in die Politische Wissenschaft 37 https://www.azquotes.com/quotes/topics/hegel.html Einführung in die Politische Wissenschaft 38 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hegel (1770-1831) Ideenlehre: Idealismus Schwerpunkt: Menschliches Bewusstsein Ausgangspunkt: Wie sieht der denkende Mensch die Welt? Der Mensch kann sich nur entwickeln, wenn er die Reaktion eines anderen Bewusstseins erlebt; es geht Individuen um Bestätigung und Anerkennung Um eine Gesellschaft zu stabilisieren, muss es eine Beziehung zwischen „Herr“ und „Knecht“ geben, in der eine Person nachgibt: wer die Freiheit mehr schätzt, wird Herr und wer das Leben mehr schätzt wird Knecht Das ist ein wichtiger Punkt: Sklaven sind Sklaven, weil sie es vorziehen, sich zu unterwerfen anstatt zu sterben; nur wenn man sein Leben riskiert, kann man die Freiheit gewinnen Einführung in die Politische Wissenschaft 39 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hegel (1770-1831) Das Verhältnis zwischen Herr und Knecht ist nicht wörtlich zu nehmen und es geht eigentlich um den Kampf um die Vorherrschaft zwischen Geistwesen Zwischen beiden besteht eine dialektische Beziehung: These (die Geistwesen) und Antithese (das Ergebnis der Begegnung zwischen den Geistwesen) führen zur Synthese (Lösung) (siehe hierzu auch Platon – „Argument“ und „Gegenargument“) Mit der Synthese geht es nur noch um das Selbstbewusstsein des Herrn und es kommt zu einer neuen dialektischen Beziehung Der Herr ist dann in einer schwächeren Position, weil er darauf angewiesen ist, dass der Knecht seine Existenz bestätigt Einführung in die Politische Wissenschaft 40 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hegel (1770-1831) Durch die reale Arbeit, die der Knecht verrichtet, wird seine Existenz bestätigt und er entwickelt ein Selbstbewusstsein; die Rollen werden vertauscht: der Herr verschwindet als unabhängiges Geistwesen, während der Knecht ein solches wird Die menschliche Existenz ist ein endloser Kampf um Anerkennung bis in den Tod Es ist nur die Furcht, die Menschen zu Sklaven macht Doch was ist mit Machtverhältnissen? Verfehlt diese Vorstellung die Realität? Tatsächlich ist Hegel einer der kontroversesten Philosophen und sein Werk können wir im Rahmen dieser Veranstaltung nicht einmal ansatzweise (kritisch) würdigen! Hegels Staatsverständnis ist etwas einfacher zu verstehen… Einführung in die Politische Wissenschaft 41 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hegel (1770-1831) Sittlichkeit als Schlüsselkonzept: „Reihe von Pflichten, die wir haben, und die besagt, daß eine auf der Idee gegründete Gesellschaft gefördert und erhalten werden muß“ (Taylor 1983: 492) Der Staat als die Wirklichkeit der sittlichen Idee, wobei seine Idee der Sittlichkeit drei Formen annimmt: Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat In der Familie findet eine gleichberechtigte Vereinigung von zwei Partnern statt, die auf freiem Entschluss basiert In der bürgerlichen Gesellschaft treten Individuen aus der Privatsphäre der Familie heraus und verfolgen eigene Interessen und realisieren ihre Bedürfnisse Hegel akzeptiert den Markt zwar als Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft, verweist aber gleichzeitig auf deren Defizite Einführung in die Politische Wissenschaft 42 II. Vertreter der Politischen Ideengeschichte – Hegel (1770-1831) „Der Staat zeichnet sich durch eine wunderbare Architektonik aus, mit der jede Seite und jeder Raum behandelt, in dem Fleiße, der jedem Winkel des Gebäudes zugewandt ist, in dem einen und ebenmäßigen und doch wieder verschiedenen Stil, der von der Spitze bis zur Grundlage sich bemerken lässt“ (Halmer 2020). Einführung in die Politische Wissenschaft 43 III. Aktuelle Relevanz Hobbes: Staaten trauen anderen Staaten nicht und verweigern die Kooperation (Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran) Rousseau: Erstarken (rechts-)populistischer Parteien, die typischerweise mehr direkte Beteiligungsrechte für die Bürgerschaft fordern Burke: Welche Rechte stehen Menschen zu? Wollstonecraft: Die Frage nach „gerechter“ Bildung und gleiche Rechte für Frauen Bolívar: Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien und anderswo in Europa Hegel: Kritik an der globalen Wirtschaft- und Finanzordnung Einführung in die Politische Wissenschaft 44 IV. Fazit Die Ideengeschichte hilft uns, politische Forderungen (z.B. nach Bildung) zu verstehen Sie hilft uns auch dabei, Ideologien (z.B. Konservatismus) zu verstehen Wir können auf der Grundlage der Ideengeschichte theoretische Modelle und Argumente entwickeln (z.B. in der Konfliktforschung) Die Ideengeschichte kann auch Werkzeuge für ein methodisches Arbeiten offerieren (These – Antithese – Synthese) Es lohnt sich also, auch bei einem ausgeprägten Interesse an aktuellen politischen Geschehen, ideengeschichtliche Ansätze zu konsultieren Einführung in die Politische Wissenschaft 45 V. Literatur Becker-Becker, E., & Cedeño, H. (2014). Simón Bolívar (1783–1830). Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 36(36). Druwe, Ulrich 1993. Politische Theorie, München: ars una. Halmer, Nikolaus (2020). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Stardenker oder falscher Prophet? https://www.wienerzeitung.at/h/georg-wilhelm-friedrich-hegel-stardenker-oder-falscher-prophet. Kestler, T., & Latouche, M. (2021). Populismus und das dritte Gesicht der Macht: Die Institutionalisierung eines personalen Mythos in Venezuela. In Populismus an der Macht (pp. 157-187). Springer VS, Wiesbaden. Losada, A. M. I. (2016). Geographie der Macht. Die Relevanz von Raum-Macht-Fragen im bolivarischen Venezuela. PERIPHERIE–Politik Ökonomie Kultur, 33(130-131). Münkler, Herfried 2003. Politische Ideengeschichte. In Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Hrsg. Herfried Münkler, Hamburg: Rowohlt, S. 103-123. Peresson, R. M., & Peresson, R. M. (2021). Venezuela unter dem Chavismus, der Bolivarischen Revolution und dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Entwicklungsagenden in Lateinamerika: Wirtschaftspolitische Strategien in Venezuela und Brasilien, 97-253. Schlitzer, Monika (Hrsg) 2014. Das Politikbuch: Wichtige Theorien einfach erklärt, München: Dorling Kindersley, S. 116-165. Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7., aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Taylor, C. (1983). Hegel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Timmermann, A. (2005). Simón Bolívar (1783-1830) und die Verfassung der „Bolivarischen Republik Venezuela “von 1999: eine verfassungsgeschichtliche Bestandsaufnahme. Verfassung und Recht in Übersee/Law and Politics in Africa, Asia and Latin America, 78-104. Einführung in die Politische Wissenschaft 46