Basiskonzepte Soziologie - Sozialer Wandel PDF
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Technische Universität Dortmund
2024
Prof. Dr. Cornelius Schubert
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This document is lecture notes for a sociology course. It covers the topic of Social Change and looks at different sociological perspectives on this topic. The document will cover the different perspectives and how these concepts were applied to understanding the world.
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Basiskonzepte Soziologie Woche 3: Sozialer Wandel Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 Rückblick: Wie ist soziale Ordnung möglich? Hintergrund: zunehmende soziale Differenzierung in „modernen“ Gesellschaften (Herausford...
Basiskonzepte Soziologie Woche 3: Sozialer Wandel Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 Rückblick: Wie ist soziale Ordnung möglich? Hintergrund: zunehmende soziale Differenzierung in „modernen“ Gesellschaften (Herausforderung: Integration & Ordnung). Gesellschaft als von Einzelnen unabhängiges Phänomen (Durkheim). Schrittweise Verfestigungen überindividueller sozialer Ordnung (Simmel). Soziale Ordnung muss interpretiert und legitimiert werden (Weber). Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 1 Wie entsteht sozialer Wandel? Inhärente gesellschaftliche Widersprüche Verkettung verschiedener Ursachen Technischer Fortschritt Steigende Komplexität Kulturelle Evolution Modernisierung Innovation … Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 2 Überblick: Wie entsteht sozialer Wandel? Karl Marx (Arbeit, Ungleichheit, Entfremdung) Revolution Max Weber (Weltbilder, Institutionalisierung, stahlhartes Gehäuse) Evolution Reform William Ogburn (sozialer Wandel, cultural lag, Anpassungsdruck) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 3 Karl Marx (1818 – 1883) 1884: Beteiligung an der Gründung der „Internationale Arbeiter-Assoziation“. Drei wichtige Werke: – Thesen über Feuerbach (1845) – Das Elend der Philosophie (1847, erschienen 1885) – Das Kapital (1867) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 4 Sozialer Wandel durch Klassenkampf „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. […] Die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“ (Marx & Engels 1848, S. 3-4) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 5 Differenzierung, Produktion, Ungleichheit Im Zentrum steht die historische Differenzierung von Gesellschaften in zwei Lager (Klassen): „Unterdrücker“ und „Unterdrückte“. Dieser Gegensatz führt zu einem „ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf“ der zwei Klassen. Der Kampf entzündet sich an den Produktionsverhältnissen: Besitzende verfügen über Produktionsmittel (Boden, Rohstoffe, Maschinen) und bestimmen dadurch, wie die Nichtbesitzenden zu arbeiten haben. Diese konstitutiven Widersprüche führen zu gesellschaftlichen Ungleichheiten, die wiederum Prozesse sozialen Wandels vorantreiben. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 6 Historische Evolution von Gesellschaftsformationen 1. Klassenlose Urgesellschaft (Gemeinschaftseigentum, Dorf, Stamm) 2. Antike Sklavenhaltergesellschaft (Sklavenhalter vs. Sklaven) 3. Mittelalterliche Feudalgesellschaft (Adel & Klerus vs. Leibeigne) 4. Kapitalistische Gesellschaft (Bourgeoisie vs. Proletariat) 5. Kommunistische Gesellschaft (Auflösung der Klassengegensätze) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 7 Sozialer Wandel im historischen Materialismus Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse erzeugen eine spezifische Gesellschaftsformation (z.B. Feudalherrschaft oder Kapitalherrschaft). Die Widersprüche dieser Formationen erzeugen eine dialektische Entwicklung, in der die Spannungen zwischen den widersprüchlichen Elementen zu den Triebkräften sozialen Wandels werden. Die Überwindung der Widersprüche wird als Ziel gesehen, um die Gesellschaft von den inhärenten Spannungen zu befreien und die Menschen von Unterdrückung zu befreien (klassenlose Gesellschaft). Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 8 Folgen der Widersprüche: Entfremdung Mit dem Begriff der Entfremdung werden gesellschaftliche Anpassungsprobleme bezeichnet, bei denen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gestört ist. Entfremdungsprozesse bedeuten in der Regel einen Qualitätsverlust der sozialen Beziehungen in modernen Gesellschaften, die beispielsweise die Selbstverwirklichung von Individuen verhindern. Entfremdung ist eine soziale Pathologie, eine negative, krankmachende Eigenschaft, meist von Industriegesellschaften (vgl. Anomie). Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 9 Entfremdung und Protest Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 10 Sozialer Wandel als (Arbeits-)Kampf und Revolution Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 11 Philosophie, Ökonomie und Gesellschaft „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ (Marx, elfte These über Feuerbach) Marx‘ Gesellschaftsdiagnose: Die historischen Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kulminieren in der kapitalistischen Gesellschaftsform, die schlussendlich an ihren eigenen Widersprüchen scheitern wird. Die extreme Verelendung und Entfremdung des Proletariats verändern das Bewusstsein der Betroffenen, die dann eine Veränderung der Verhältnisse anstreben. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 12 Zusammengefasst Basiskonzepte bei Marx: – Grundprinzip des Sozialen (→ Sozialtheorie): Gemeinschaftsbildung durch geteilte Praktiken und geteilte Objekte – Gesellschaft als Klassenkampf (→ Gesellschaftstheorie): Inhärente Widersprüche (moderner) Gesellschaften (Besitzende vs. Besitzlose) Zunahme der Spannungen und Ungleichheiten Ausbeutung und Entfremdung als Folge der Ungleichheit – Soziologie untersucht Gesellschaft als historische Entwicklung von Gesellschaftsformationen (Produktivkräfte und Produktionsbedingungen) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 13 Entfremdung, Ungleichheit und Bildung Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 14 Soziale Ungleichheit und Grundschule Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 15 5 Minuten Pause Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 16 Max Weber (1864 – 1920) Bezog sich in seinen Arbeiten auf Marx, suchte aber nach anderen Erklärungen für sozialen Wandel. Drei wichtige Werke: – Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus (1904/1905) – Wissenschaft als Beruf (1919) – Wirtschaft und Gesellschaft (1922, hg. Marianne Weber) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 17 Sozialer Wandel als Wandel von Weltbildern „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.“ (Weber 2016, S. 171) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 18 Von der Religion zum Kapitalismus „Nur wie »ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte«, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist ihr Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage ruht, dieser Stütze nicht mehr.“ (Weber 2016, S. 171) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 19 Rationalisierung als historischer Zufall Im Gegensatz zu Marx sieht Weber keine historische Gesetzmäßigkeit des Wandels, eher eine Zufälligkeit, die geltende Ordnung werden kann. Neben den ökonomischen Einzelinteressen sind es die (religiösen) Weltbilder (Kosmologien), die das Handeln orientieren. Die „protestantische Ethik“ beinhaltet eine starke Orientierung auf beruflichen Erfolg, speziell im Calvinismus und Puritanismus: Beruflicher Erfolg lässt hoffen, zu den von Gott Auserwählten zu gehören. Es entsteht die religiöse Pflicht zu asketischer Lebensführung und damit eine vernunftmäßige, rationale Gestaltung des eigenen Lebens. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 20 Technischer und gesellschaftlicher Wandel Im Gegensatz zu Marx sieht Weber nicht den Wandel der Produktivkräfte als Motor der kapitalistischen Entwicklung, sondern einen religiös motivierten Einstellungswandel (kultureller Wandel). Nicht die Dampfmaschine, sondern die asketische Ethik von Berufsmenschen ergibt eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. Genauer gesagt: gibt es keinen letzten Grund, sondern Verkettungen: „Wenn wir uns die Kausalkette vorlegen, so verläuft sie immer bald von technischen zu ökonomischen und politischen, bald von politischen zu religiösen und dann ökonomischen usw. Dingen. An keiner Stelle haben wir irgend einen Ruhepunkt.“ (Weber 1911, S. 101) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 21 Sozialer Wandel als Institutionalisierung Schrittweise Durchsetzung einer bestimmten Weltsicht, ohne dass diese explizit werden muss und ohne dass ein Endpunkt mitgedacht ist. Die Entwicklung folgt historisch mehr oder weniger zufälligen Verschiebungen und Verkettungen, die sich wechselseitig verstärken. Der ursprüngliche Impuls kann dabei langsam verblassen, bis nur noch die Folgen sichtbar sind, d.h. ohne den ursprünglichen „Geist“. Der Wandel vollzieht sich weitgehend „hinter dem Rücken der Akteure“. Es ist ein schleichender, lautloser Wandel, keine spektakuläre Revolution. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 22 Sozialer Wandel ohne Fortschrittsoptimismus Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 23 Soziologie und Gesellschaft „Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem wird.“ (Weber 1988, S. 502) Webers Gesellschaftsdiagnose: Der Kapitalismus setzt nicht plötzlich mit der Industrialisierung und der Erfindung der Dampfmaschine ein, sondern baut auf der spezifischen religiös/ökonomischen Konstellation des puritanischen Protestantismus auf. Die Rationalisierung der Wirtschaftsordnung folgt der Rationalisierung der Lebensführung und wird zu einer gesellschaftlichen Institution. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 24 Zusammengefasst Basiskonzepte bei Weber: – Grundprinzip des Sozialen (→ Sozialtheorie): Wandel entsteht unscheinbar im Kleinen und breitet sich langsam aus – Die Kosmologie des Kapitalismus (→ Gesellschaftstheorie): Veränderte Weltbilder formen die geltende Ordnung über die Zeit Innere Zwänge werden zu äußeren Zwängen (Protestantismus → Kapitalismus) Religiöse, ökonomische und technische Aspekte verstärken sich gegenseitig – Soziologie untersucht Gesellschaft als historische Entwicklung (Institutionalisierung) spezifisch moderner Formen und aus den Interessenlagen der Akteur*innen heraus. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 25 Kapitalismus, Kritik und Soziologie Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 26 5 Minuten Pause Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 27 William F. Ogburn (1886 – 1959) 1930-1933: Direktor des “Committee on Social Trends” für US President Herbert Hoover. Drei wichtige Werke: – Social Change (1922) – Recent Social Trends (1933) – On culture and social change (1964) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 28 Die These des „cultural lag“ „The thesis is […] that the source of most modern social changes today is the material culture. The material culture changes force changes in other parts of culture such as social organization and customs, but these latter parts of culture do not change as quickly. They lag behind the material-culture changes, hence we are living in a period of maladjustment.“ (Ogburn 1922, S. 195-196) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 29 Wandel durch unterschiedliche Geschwindigkeiten 1. Heutige Gesellschaften sind durch zunehmenden Wandel geprägt. 2. Der Wandel findet hauptsächlich auf kulturellem Gebiet statt. 3. Wenn sich die Wandlungsgeschwindigkeiten zwischen zwei voneinander abhängigen Kulturbereichen unterschieden, kommt es zu einer Fehlanpassung („maladjustment“). 4. Durch diese Missverhältnisse hinkt der eine kulturelle Bereich dem anderen hinterher („lag“). 5. In modernen Gesellschaften geht der Wandel in der Regel von der materiellen Kultur aus (s. Produktionskräfte / Wirtschaft). Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 30 Industrialisierung als Anpassungsdruck „For instance, industry and education are correlated, hence a change in industry makes adjustments necessary through changes in the educational system. Industry and education are two variables, and if the change in industry occurs first and the adjustment through education follows, industry may be referred to as the independent variable and education as the dependent variable.“ (Ogburn 1922, S. 201) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 31 Zum Beispiel: Wirtschaft, Gesellschaft und Bildung Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 32 Klausurfragenbeispiel Inwiefern übt die Industrialisierung nach Ogburn einen Anpassungsdruck auf das Bildungssystem aus? (3P) Musterantwort: Die Industrie wandelt sich zuerst. Weil Bildung und Industrie zusammenhängen, muss sich das Bildungssystem dem Wandel anpassen. Zum Beispiel Gesamtschulen als Begabungsreserven. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 33 Wandel und Beharrung Kultureller Wandel moderner Gesellschaften beruht, laut Ogburn, (in der Regel) auf Veränderungen durch technische Innovationen. Andere Bereiche der Kultur, insbesondere die traditionellen Werte und Normen, stehen diesem Wandel mit einer gewissen Menge an sozialer Trägheit gegenüber. Aus diesen unterschiedlichen Wandlungsgeschwindigkeiten ergeben sich zeitliche Verzögerungen in der gesellschaftlichen Anpassung. Je enger die einzelnen Bereiche verzahnt (interdependent) sind, desto häufiger kommt es zu diesen Verzögerungen. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 34 Soziologie und Gesellschaft „The understanding of cultural inertia lies largely in appreciating the various difficulties of change. Some difficulties are predominantly cultural; and others are psychological.“ (Ogburn 1922, S. 193) Ogburns Gesellschaftsdiagnose: Sozialer Wandel ist meist durch Veränderungen der materiellen Kultur getrieben. In der Moderne nimmt das Tempo des Wandels zu, die Gesellschaft als Ganzes muss mit diesen Veränderungen mithalten, um nicht auseinanderzufallen. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 35 Auf Wandel reagieren Aus Sicht Ogburns geraten moderne Gesellschaften immer wieder aus dem Takt und müssen sich kontinuierlich an die von ihnen selbst geschaffenen Ungleichzeitigkeiten anpassen (vgl. Integration). Ogburn sieht hierfür zwei Lösungen: 1. Immerwährendes Aufholen der „hinterherhinkenden“ Gesellschafsbereiche durch weiteren sozialen Wandel, speziell durch politische Reformen. 2. Frühzeitige Abschätzung zukünftiger Folgen neuer Technologien (später bekannt als Technikfolgenabschätzung). Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 36 Schulreformen und Technikfolgen Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 37 Zusammengefasst Basiskonzepte bei Ogburn: – Grundprinzip des Sozialen (→ Sozialtheorie): (Moderne) Gesellschaften befinden sich immer in Prozessen des Wandels – Ungleiche Entwicklungsgeschwindigkeiten (→ Gesellschaftstheorie): Rapider Wandel durch moderne Wissenschaft und Technik Anhaltende Trägheit anderer Gesellschaftsbereiche Ausbildung von cultural lags in vielen Bereichen – Soziologie untersucht die sozio-technischen Entwicklungsdynamiken der Gesellschaft, um diese besser zu verstehen. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 38 Gesellschaft und sozialer Wandel Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 39 Schluss: Ähnlichkeiten und Unterschiede im Denken Sozialer Wandel materialistisch gedacht: Revolution (Marx) Sozialer Wandel kulturell gedacht: Institutionalisierung (Weber) Sozialer Wandel sozio-technisch gedacht: Reform (Ogburn) Sozialer Wandel ist ein grundlegendes Konzept der Soziologie. Alle Ansätze gehen von einem beschleunigten sozialen Wandel in modernen Gesellschaften aus. Er ist ein Markenzeichen der Moderne. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 40 Nächste Sitzung: Theorien des Sozialen (Sozialtheorien) – Strukturtheorien (Wiedersehen mit Durkheim) – Handlungstheorien (Wiedersehen mit Weber) – Interaktions- und Praxistheorien (Wiedersehen mit Simmel) Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 41 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 42 Literatur Primär: Marx, Karl (1968 ): MEW Band 23. Das Kapital. Berlin: Dietz Verlag. Marx, Karl (1972 ): MEW Band 4. Das Elend der Philosophie. Berlin: Dietz Verlag. Weber, Max (1911): Debatte zur Technik und Kultur. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.): Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19. bis 22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 95-101. Weber, Max (1988): „Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“, in: Max Weber (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 488–539. Weber, Max (2016): Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus. Wiesbaden: Springer VS. Ogburn, William F. (1922): Social change. With respect to culture and original nature. New York: Viking Press. Ogburn, William F. (Hg.) (1933): Recent social trends in the United States. Report of the President's Research Committee on social trends. Vol. 1. New York: McGraw-Hill. Ogburn, William F. (1964): On culture and social change. Chicago: University of Chicago Press. Sekundär: Endreß, Martin (2012): Soziologische Theorien kompakt. München: Oldenbourg. Prof. Dr. Cornelius Schubert | VL Basiskonzepte Soziologie | Wintersemester 2024, Woche 3 43