Umgang mit psychisch auffälligen Gefährdern

Umgang mit psychisch auffälligen Gefährdern in Deutschland

• Vortrag von Dr. Katharina Seewald, Dipl.-Psych., Bundeskriminalamt, zum Thema operative Fallanalyse und Risikoanalyse.

Inhalt der Präsentation

• Gesetzliche Grundlagen und Definitionen sowie Zahlen.
• Risk Assessment vs. Threat Assessment
• „Psychische Auffälligkeiten“ und Einbindung psychologischer Expertise.

Gefahrenabwehr

• Ziel ist die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
• Präventive Abwehr von Straftaten vor deren Begehung steht im Vordergrund.
• Die Gefahrenabwehr obliegt den Ländern und wird durch Polizei- und Ordnungsrecht durchgesetzt.
• Die Mittel der Gefahrenabwehr reichen vom Verwaltungsakt bis zum Präventivgewahrsam, wobei die mögliche Dauer zwischen den Ländern variiert.

Gefährder und Relevante Personen

• Der Begriff „Gefährder" hat keine legale Definition, sondern ist ein polizeilicher „Arbeitsbegriff“.
• Die Einstufung als Gefährder führt zur Prüfung von polizeilichen Standardmaßnahmen.
• Ein/e "Gefährder/in" ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird.
• Eine "Relevante Person" nimmt innerhalb des extremistischen/terroristischen Spektrums eine Rolle als Führungsperson, Unterstützer, Logistiker oder Akteur ein und ermöglicht/unterstützt somit Straftaten.

Politisch motivierte Kriminalität (PMK)

• Straftaten, die den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen oder die Erreichung/Verhinderung politischer Ziele zum Ziel haben.
• Sie richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zielen auf die Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane.
• Die Straftaten können durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden.
• PMK richtet sich gegen eine Person wegen ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung oder Engagements bzw. aufgrund von Vorurteilen bezüglich Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialem Status, physischer oder psychischer Behinderung, Geschlecht, sexueller Identität, sexueller Orientierung oder äußerem Erscheinungsbild.
• Die Straftaten können sich gegen Einzelpersonen, Personengruppen, Institutionen, Objekte oder Sachen richten, die vom Täter einer der genannten gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet werden, oder im Zusammenhang mit den Vorurteilen des Täters gegen beliebige Ziele.
• Zu den Bereichen der PMK gehören Rechts-, Links-, religiöse und ausländische Ideologie sowie sonstige Zuordnungen.
• Es wird unterschieden zwischen Straftaten allgemein (Gesamtstraftaten), politisch motivierten Gewaltstraftaten und Personenpotential.

Hauptdeliktsfelder 2023

• Propagandadelikte: 33,16%
• Sachbeschädigung: 15,05%

Entwicklung der politisch motivierten Gewaltstraftaten (Vergleich 2023 zu 2022)

• PMK rechts: +8,55%
• PMK links: +8,79%
• PMK ausländische Ideologie: +31,99%
• PMK religiöse Ideologie: +76,47%
• PMK sonstige Zuordnung: -50,62%
• Gesamtstraftaten: -11,92%

Entwicklung der Gesamtzahl von Gefährdern im Phänomenbereich islamistischer Terrorismus/Extremismus

• Von 2014 bis 2024

Straftatbestände

• § 129a StGB: Bildung terroristischer Vereinigungen
• § 89a StGB: Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat
• § 89b StGB: Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat
• § 89c StGB: Terrorismusfinanzierung
• § 91 StGB: Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat

Gemeinsame Zentren zur Terrorismusbekämpfung

• Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ)
• Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ)
• Nationales Cyber-Abwehrzentrum
• Gemeinsames Internetzentrum (GIZ)
• Koordinierte Internetauswertung
• Europol / Interpol
• Grundstoffüberwachung

Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ)

• Gegründet nach den Anschlägen in Madrid 2004.
• Ziel ist die frühzeitige Zusammenführung, Analyse und Bewertung relevanter Informationen aller Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Länderebene.
• Kommunikationsplattform für den Austausch von Informationen zur behördenübergreifenden Abstimmung unter Beachtung des Trennungsgebotes.
• Beteiligte Behörden: Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, Bundespolizei, Zollkriminalamt, Militärischer Abschirmdienst, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Vertreter des Generalbundesanwalts, 16 Landeskriminalämter, 16 Landesämter für Verfassungsschutz.

AG Risikomanagement im GTAZ

• Arbeitsgruppe (AG) „Risikomanagement" des GTAZ.
• Ziel ist die personenbezogene Risikomanagement zur Sicherstellung von länderübergreifenden Standards in der Gefährdersachbearbeitung und -bewertung.
• Bewertung der Person hinsichtlich ihres Risikopotenzials für die Begehung einer politisch motivierten Gewalttat in Deutschland.
• Abstimmung der jeweils erforderlichen, individuellen Maßnahmen durch die Sicherheitsbehörden.

Zweistufige Risikobewertung

• Schritt 1: Priorisierung (RADAR-ITE)
• Schritt 2: Einzelfallorientierte Risikoanalyse

1. Schritt: Priorisierung: RADAR-ITE

• RADAR (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos).
• Entwickelt vom BKA in Zusammenarbeit mit der Universität Konstanz.
• Versionen: iTE (*2016), rechts (*2022), Haft (*2024).
• Priorisierungsinstrument für die Begehung einer politisch motivierten schweren Gewaltstraftat in D.
• Beinhaltet Risiko- und Schutzfaktoren (statische/dynamische).
• RADAR-ITE wird von polizeilichen Kollegen angewendet.

Gewaltvorhersage

• Primärprävention: Verhinderung einer Erstmanifestation von gewalttätigem Verhalten.
• Bedrohungsassessment: Beurteilung der Ausführungsgefahr.
• Sekundärprävention: Vorhersage und Verhinderung des Rückfalls.
• Violence Risk Assessment: Beurteilung der Rückfallgefahr.
• Forensische Risk Assessment Instrumente: am statistischen Rückfall validiert.

Strukturierungsniveau von forensischen Risikobeurteilungen

• Experte*innenurteil
• Kriterienliste
• strukturiertes klinisches Urteil
• mechanische Prognose-instrumente
• aktuarische Prognose-instrumente

Threat Assessment vs. Violent Risk Assessment

• Threat Assessment dient der Guiding Frontline Action, während Violent Risk Assessment der Assisting Legal Decision Making dient.
• Der Prozess ist beim Threat Assessment hot/rapid und Cold/slow beim Violent Risk Assessment.
• Ersteres schützt die Opfer und letzteres managt die Täter.
• Threat Assessment ist flexible, diskretionär, idiographisch/individuell-fokussiert/induktiv.
• Violent Risk Assessment ist fixed, nondiscretionary, nomothetisch/group-focused/deduktiv.

2. Schritt: Einzelfallorientierte Risikoanalyse: Interdisziplinäre Fallbetrachtung

• Interdisziplinäres Team (Polizeiliche SachbearbeiterInnen, IslamwissenschaftlerInnen, SozialwissenschaftlerInnen, forensische) PsychologInnen (insbesondere bei psychisch auffälligen Personen))
• Gesamtverantwortung für das Ergebnis
• Strukturiertes klinisches Urteil (structured professional judgement, SPJ):
  • Risiko- und Schutzmerkmale sind identifiziert und leitfadengestützt definiert.
  • Kombination derer und Urteilsfindung obliegt dem Analyseteam.
  • Hinzunahme von etablierten Instrumenten nach Bedarf
• Ergebnis: Wahrscheinlichkeit zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, ggf. risikosteigernde Szenarien

Risikoanalysen zu extremistischer Gewalt

• (Primär-)Prävention von Gewalt (vs. Prävention von Radikalisierung)
• Bewertung des Risikos für die Begehung einer extremistischen Gewalttat
• Analyse der Radikalisierungsbedingungen (Wo und wie kam es zur Radikalisierung, Bedeutung der extremistischen Ideologie, Rolle des potentiellen Anschlusses an die Szene)
• Überprüfung von Risiko- und Schutzfaktoren aus den Bereichen: Gewalt/Delinquenz, Familie/Soziales Umfeld, Religion/Ideologie, Persönlichkeit/psychische Auffälligkeiten

Relevante psychische Auffälligkeiten

• Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis
• Persönlichkeitsstörungen (-akzentuierungen), insbes. antisozial, narzisstisch, emotional-instabil
• Komorbid: Suchterkrankungen
• Autismusspektrum

Religiöser Wahn vs. Ideologischer Fanatismus

• Wahnvorstellungen: unangemessene, nicht objektivierbare, falsche Interpretation der Umwelt + unkorrigierbare Überzeugung --> komplexe Denkstörung
• soziokulturellen Hintergrund von religiösen Wahninhalten betrachten
• Religiöser Fanatismus: Stabile, mit der Persönlichkeit verbundene Einstellung und Überzeugung + kohärente Inhalte
• Religiöser Fanatismus ist veränderbar

Interdisziplinäre Fallbetrachtung: Herausforderungen bei psychisch auffälligen Personen

• Psychische Auffälligkeiten bzw. Störungen können sich individuell unterschiedlich manifestieren.
• Symptome können sich in anderen Expertisebereichen zeigen, besonders häufig im Bereich religiöser Wahnvorstellungen.
• Bei (mehr oder weniger) eindeutigen psychischen Störungsbildern müssen insbesondere Verhaltensbeobachtungen analysiert werden.
• Psychische Auffälligkeiten stellen Vulnerabilitäten für Radikalisierung dar, können mit dem Gewaltrisiko in Zussammenhang stehen, sind aber nicht immer eindeutige Risikofaktoren bzw. bilden nur einen Teil des Risikoprofils ab

Implikationen für das (polizeiliche) Risikomanagement

• Entscheidung über Maßnahmen fällt in der AG Risikomanagement (RIMA) des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums des Bundes und der Länder (GTAZ)

Fallbeispiel A

• Junger Mann, Mitte 20, nach jahrelangem Cannabiskonsum ab dem 21. LJ Verhaltens- und Wesensveränderungen, radikal-islamistische und verschwörungstheoretische Äußerungen, aggressive und angespannte Stimmungslage, akustische Halluzinationen
• mehr Zwangseinweisungen, Aggressives, körperlich bedrohliches Verhalten in der Klinik
• Divergierende gutachterliche Einschätzungen --> Religiöser Wahn oder religiöser Fanatismus?

Psychisch kranke Gefährder*innen

• Recht auf Krankheit vs. Schutz der Öffentlichkeit
• Eng verzahnte Zusammenarbeit der beteiligten Landes- und Bundesbehörden, von Polizei und Klinik(en) notwendig

Standards der psychologischen Fallbetrachtung im polizeilichen Bedrohungsmanagement

• Keine Ferndiagnosen
• Indikation zur diagnostischen Abklärung, Hinweise auf psychotherapeutische Anbindung und Identifikation von protektiven Faktoren

Psycholog*innen im polizeilichen Staatsschutz

• In jedem Landeskriminalamt (mglw. nicht ausschließlich für Staatsschutz zuständig)
• Im Bundeskriminalamt: Abteilung Operative Einsatz- und Ermittlungsunterstützung