Neuere deutsche Literatur: Gedichtanalyse

Neuere deutsche Literatur

• Literaturwissenschaft hat die Aufgabe, systematisch mit Fachbegriffen zu beschreiben, zu verorten sowie Vergleiche auf Basis von Dramen-, Lyrik- und Erzähltheorie sowie Literaturgeschichte anzustellen.
• Durch systematisch und theoriegeleitetes Arbeiten wird Diskurs über Literatur nachvollziehbar.
• Kenntnis zahlreicher relevanter Texte ist erforderlich; selbstständige Analyse ist wichtig.
• Ein subjektiver Zugang ist unter systematischen Bedingungen erlaubt.

Analysebeispiel: Ingeborg Bachmanns „Früher Mittag“ (1952)

• Das Gedicht ist ein kurzes, bewusst strukturiertes Werk. Verse sind das sprachliche Grundelement der gebundenen Rede, nicht nur in Gedichten, sondern auch in Dramen und Epen.

• Strophen sind gleichförmig gebaute Sequenzen von Verszeilen oder Abschnitte, wenn sie nicht gleichförmig sind.

• Foregrounding bezeichnet die Abweichung von der Alltagssprache; Literarizität und Poetizität.

• Die Form der Äußerung (das „wie") ist wichtiger als der Inhalt: Struktur, Stil

• Überstrukturierung zielt auf Dichte statt auf rasches Verstehen ab.

• Komplexe Bildlichkeit mit Natur wird laut Hans Böller als Geschichtslandschaft bezeichnet.

• Reimschemata: Die Verszeilen sind bis auf zwei Strophen ohne Reime.

• Die Strophen sind symmetrisch – die erste Verszeile ist identisch, die letzte gleich beginnend, und Verszeile 2 sowie 4 reimen sich; drei Hebungen pro Verszeile

• Wiederholungsstrukturen beinhalten Anaphern wie „schon", die Dringlichkeit ausdrücken.

• Refrainartige Wiederholungen finden sich in Vers 3, 23 und Vers 37, aber auch in „Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt" und der Inversion „Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt".

• Alliterationen wie „Halde herab" oder „Wolke nach Worten" sind vorhanden.

• Isotopie: Mehrfaches Auftauchen bestimmter Bedeutungselemente erzeugt ein Bildfeld.

• Drei Isotopien: Krieg/Gewalt/Schmerz, Dringlichkeit, Schweigen/Sprechen.

• Es gibt Intertextualität: Bezugnahme eines Textes auf einen anderen

• „Am Brunnen vor dem Tore" ist die erste Zeile des Kunstlieds „Der Lindenbaum" von Wilhelm Müller (1794-1827), 1823 im Taschenbuch „Urania“ mit Titel „Die Winterreise".

• Endreim: Verszeile 2 und 4 reimen sich jeweils genauso wie in Bachmanns Strophen ab letzter betonter Silbe.

• In jeder Verszeile drei betonte Silben (Hebungen).

• „Die Augen täten ihm sinken" und „goldner Becher" sind ein Zitat aus der Ballade „Der König in Thule" von Wolfgang von Goethe (1749-1832).

• „Totenhaus" stammt aus einem autobiographischen Bericht „Aus einem Totenhaus" von Dostojewski (1821-1881).

• „der Adler" stammt aus dem griechischen Prometheus-Mythos.

Historische Verortung

• Das Gedicht wurde erstmals 1952 in den Frankfurter Heften veröffentlicht.
• 1953 veränderte Version in Bachmanns Gedichtband „Die gestundete Zeit“.
• Erfahrung und Zerstörung des Zweiten Weltkriegs waren noch sehr präsent.
• „geschundene Flügel", „entstellte Hand", „enthaupteter Engel". „Sieben Jahre später" veröffentlicht in 1952, daher 1945.
• Kontinuität der Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher, „Henker von gestern". Frage der Erinnerung an die Gräuel des Krieges, „schau nicht zu tief hinein".
• Bezug insbesondere auf Literatur der Romantik
• Die Intertextualität macht deutlich, dass deutsche Dichter und Denker ebenso mitverantwortlich sind.

Literaturhistorische Kontexte

• Lyrik der frühen Nachkriegszeit: Naturgedichte, christlich-abstrakte Symbolik, traditionelle Formen
• Nichts zu lesen von Kriegsschäden oder Zivilisationsbruch
• Bachmann hebt sich davon ab; gewann 1953 Preis der Gruppe 47 und wird zur „ersten lyrischen Stimme in westdeutscher Lyrik der 50er".
• Moderne Lyrik bezeichnet Lyrik nach 1945; weitgehend reimlos, selten regelmäßige Metrik und traditionelle Strophenformen
• Kahlschlagsliteratur: Kontinuitäten und Neuanfänge
• Schlichte realistische Sprache
• Bachmann hebt sich auch hiervon ab; Werke sind komplexer, symbolischer, subjektiver, existenzieller

Vergleich

• Andere Texten der gleichen Autorin, frühere Varianten des gleichen Textes
• Andere zeitgenössische literarische oder nicht-literarische Texte
• Andere thematisch oder formal verwandte Texte in zeitlicher Längsachse
• Geschichte der Naturlyrik vom Barock bis in die Gegenwart
• Veränderung metrischer Formen vom Barock bis Ende des 18. Jahrhunderts
• Formaler Vergleich mit „Der Lindenbaum"
• Unterschiedliche Anordnung der Verszeilen
• Strukturierte Strophen zu je vier Verszeilen, während Bachmanns Gedicht 37 unterschiedlich lange Verszeilen hat.
• Müllers Reim: Halber/unterbrochener Kreuzreim (abcb)
• Reime jeder zweiten und vierten Verszeile
• Metrik: Regelmäßige Abfolge von betonten (klingende Kadenz) und unbetonten (stumpfe Kadenz) Silben; alternierend
• Dreihebige Jamben
• Goethes Gedicht hat ebenfalls regelmäßige Metrik, aber keine regelmäßige Anzahl der unbetonten Silben.
• Bei Müllers Gedicht handelt es sich um eine Volksliedstrophe
• Vierzeilige Strophen, Kreuzreime oder Paarreime, drei oder vier Hebungen pro Verszeile, grundsätzlich alternierend

Zum Lyrikbegriff der Goethezeit: Georg Wilhelm Hegel

• Epische Poesie: Wertlegung auf äußere Handlungen und abgeschlossene Geschichte
• Lyrik: Wertlegung auf Erleben und Ausdrücken der Gefühle des lyrischen Ichs Das Subjekt selbst ist zentraler Inhalt und drückt sich aus.

Was fällt unter „neuere“ deutsche Literatur?

• Die Grenze zwischen „älterer" und „neuerer" deutscher Literatur ist unklar.
• Zeitliche Abgrenzungsversuche: -Beginn des Frühneuhochdeutschen: Mitte/Ende des 14. Jahrhunderts -Erfindung des Buchdrucks: 1452-1455

Was fällt unter neuere „deutsche“ Literatur?

• Umfasst deutschsprachige Literatur, stammt daher nicht nur aus Deutschland.
• Unter anderem auch österreichische Autoren wie Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke, Peter Handke, Ingeborg Bachmann.
• Wesentliche Unterschiede zwischen deutschsprachigen Ländern 1938: Für Deutsche keine besondere Veränderung, für Österreich jedoch drastische Veränderungen
• Flucht der Autoren aus an Hitlerdeutschland angeschlossenes Österreich ins Exil
• Die Literatur der Gegenwart kam damals nicht in Frage, erst seit Kurzem. Ernst Jandl: „schtzgrmm“ – Sprechgedicht
• 1957 in Neue Wege veröffentlicht; der Konkreten Poesie in der Epoche der Avantgarde zugeordnet
• Skandal: Sprengt sämtliche traditionelle Formen und damalige Vorstellung eines Gedichts Weder Reime noch Sätze oder klar erkennbare Wörter; Vokale fehlen
• Zerstörungskraft des Krieges hat auch Sprache beschädigt
• Lautmalerische Nachbildung des Ratterns von Maschinengewehren
• Verhärtung des Wortes durch Entzug der Vokale
• Damals als Unsinn und Witz empfunden, mittlerweile emsig erforscht
• Ende 1960er Jahre auch Ansätze zur literaturwissenschaftlichen Analyse von Unterhaltungsliteratur, Trivialliteratur, Populärliteratur
• „Atemlos durch die Nacht" von Kristina Bach trotz fehlender Komplexität und Verdichtung; weist dennoch Endreime, Strophen, Refrain, Metaphern, Vergleiche auf

Präzise Bestimmung von „Literatur"

• Schrift ist die Ausgangsvoraussetzung
• Drei Definitionen:
  • Literatur als Gesamtheit des Geschriebenen
  • Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft, aber was ist Gegenstand der Literaturwissenschaft? Begriff zirkelhaft beschrieben Abhängigkeit von spezifischer Perspektive oder Theorie; daher unterschiedliche Kriterien wie Fiktionalität, Faktualität oder Poetizität Grenzen demnach unterschiedlich gesetzt
• Literatur als Gesamtheit aller Texte von bestimmtem Wert
  • Wie und von wem wird aber die Grenze gezogen?