Kapitel 3 Ethik PDF
Document Details
Tags
Related
- God, Creation and Climate Change PDF 2009 Studies
- God, Creation and Climate Change PDF 2009
- Invoking the Spirit amid Dangerous Environmental Change PDF
- Unit 4 Arc 4511 Environmental Science PDF
- The Law and Ethics of Environmental Protection in Australia PDF
- Christian Ethics and Environmental Stewardship
Summary
This chapter on ethics examines the balance between economics and ecology, focusing on the existence of economic and ecological issues within the context of environmental ethics in the 21st century. It explains the greenhouse effect and the role of carbon dioxide as a critical component in the climate system. The discussion also explores historical patterns of climate change.
Full Transcript
Ethik 3 Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie – die Existenzbedingung im 21. Jahrhundert Um die Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels zu verstehen, setzt es ein Verständnis über das natürliche Phänomen des Treibhauseffekts voraus. Erst wenn dieser verstanden wird, lässt sich nachvollzi...
Ethik 3 Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie – die Existenzbedingung im 21. Jahrhundert Um die Auswirkungen des menschgemachten Klimawandels zu verstehen, setzt es ein Verständnis über das natürliche Phänomen des Treibhauseffekts voraus. Erst wenn dieser verstanden wird, lässt sich nachvollziehen, wie menschliches Handeln dazu beiträgt, diese Wirkung massiv zu verstärken und damit eine natürliche Balance radikal sowie dauerhaft aus dem Gleich- gewicht bringt. Die schlichte Physik, die dem Treibhauseffekt zugrunde liegt, lässt sich ein- fach und unkompliziert erklären. Sonnenstrahlung passiert in der Form von Lichtwellen die Atmosphäre. Die Erde absorbiert diese Energie und strahlt sie in Form von Infrarot wieder zurück in die Atmosphäre. Ein Teil der Ener- gie wird jedoch durch die Atmosphäre gespeichert, damit wird die Erdat- mosphäre aufgeheizt. Ohne diesen Treibhauseffekt, ohne die Funktion der Atmosphäre würde die mittlere Temperatur auf unserem Planeten bei mi- nus 18 Grad liegen, anstatt bei der globalen und bodennahen Durchschnitts- temperatur von 15 Grad. 5 Beim natürlichen Treibhauseffekt handelt es sich also um eine Wirkung, die für die Entwicklung organischen Lebens auf der Erde unerlässlich zeichnet. Er erlaubt, dass Wasser in flüssiger Form in na- türlicher Umgebung vorkommt und auf diese Weise organisches Leben ent- stehen konnte. Der Treibhauseffekt schafft die Voraussetzungen für jene kli- matischen Bedingungen, die unsere Lebenswelt formen. Ein Gas, das auf natürliche Weise zum Treibhauseffekt beiträgt, ist Kohlen- dioxid (CO2). Es handelt sich bei diesem farb- und geruchlosen Molekül um eine chemische Verbindung aus den Elementen Kohlenstoff und Sauerstoff. Das Molekül besitzt als solches die Eigenschaft, Wärmestrahlungen zu ab- sorbieren. Genau diese Fähigkeit sorgt dafür, dass CO2 als Treibhausgas wirkt. Es speichert solare Wärmeenergie und strahlt sie ab. CO2 kommt schlicht in der Biosphäre vor. Es stabilisiert als solches nicht nur den Temperaturhaushalt der Erde, sondern gestaltet organisches Leben selbst. Beispielsweise wird es vom Menschen als Abfallprodukt des Stoff- wechsels ausgeatmet. Es stabilisiert aber auch den pH-Wert im Blut, hilft der menschlichen Physis und wird durch die pflanzliche Photosynthese wieder in Sauerstoff umgewandelt. Der Prozess der Evolution hat diesbezüglich ein austariertes und harmonisches System aufgebaut, einen biologischen Kreis- lauf geschaffen. 5 Vgl. Umweltbundesamt, 2014 22 Ethik In der Atmosphäre machen die Treibhausgase Kohlendioxid (CO2), Ozon (O3), Lachgas (N2O) und Methan (CH4) nur einen Bruchteil der vorhandenen Be- standteile aus. Sie repräsentierten insgesamt nur knapp 0,04 % aller Stoffe. Den weitaus größten Anteil der Bestandteile der Atmosphäre bilden zusam- mengenommen Stickstoff und Sauerstoff. Sie bündeln mehr als 99 % aller atmosphärischen Komponenten, haben aber auf das Klima keine weitere Auswirkung. Sie sind weder fähig, Wärme zu speichern noch diese zu absor- bieren. Ein äußerst fragiles Gleichgewicht und eine filigrane Zusammensetzung der Atmosphäre zeichnen also für die zyklische Stabilität des Klimas verantwort- lich und begründen die bodennahen Temperaturverhältnisse. Die massive Problematik setzt an, als dieses natürliche Gleichgewicht durch menschliche Aktivität rasant und wirkmächtig zum Kippen kommt, sie aus der Balance gebracht wurde. Dabei ist das Klima als solches weder dauerhaft stabil noch gleichbleibend, sondern es ändert sich zyklisch. Die Zyklen jedoch, die dabei beschritten werden, vollziehen sich in planeta- rischen Intervallen. Diese sind schlicht anders als zivilisatorische oder gar kulturelle Zeithorizonte. Natürliche Klimaveränderungen bilden sich im Laufe von Jahrtausenden. Das Muster von fallendem und steigendem CO2-Gehalt in der Atmosphäre, dass sich weit zurückliegend nachweisen lässt, vollzieht sich als natürliches Phä- nomen über den Spielraum von Jahrtausenden. Weil CO2 wesentlich bei der Speicherung und Verteilung von Hitze wirkt, kor- respondiert die Konzentration von CO2 unmittelbar mit der globalen Durch- schnittstemperatur. Die genaue Rückdatierung und Rückberechnung verän- derlicher Klimaszenarien lässt sich mittels Bestimmung der Auswertung von Sauerstoff-Isotopenstufen im Rahmen von Eiskernbohrungen errechnen, die im antarktischen Eis vorgenommen wurden. Analysen, die auf Grundlage der gehobenen Materie durchgeführt werden, lassen mittlerweile präzise Kalku- lationen über die klimatischen Entwicklungen der letzten 800.000 Jahre zu und die ermittelten Temperaturen zeigen den unmittelbaren Zusammen- hang mit der nachweisbaren Konzentration an CO2 an. Für den Zeithorizont der letzten 800.000 Jahre erweisen sich nachfolgende Trendkurven. Es darf bei der Betrachtung der Grafik auf der nächsten Seite mitbedacht werden, dass die ältesten Fossilien, die über die Ursprünge des Homo Sapiens informieren, knapp 300.000 Jahre alt wären. Die Dokumentation der klimatischen Bedingungen reicht also weit vor den Beginn unserer menschlichen Spezies zurück. Es ergibt sich eine recht simpel 23 Ethik verständliche Äquivalenz. Je mehr CO2 sich in der Atmosphäre konzentriert findet, umso höher die gemessene bzw. erforschte Durchschnittstempera- tur. Je kleiner die CO2 Menge in der Atmosphäre, desto geringer die Durch- schnittstemperatur. An diesen Abhängigkeiten und Entsprechungen gibt es keinen relevanten wissenschaftlichen Zweifel. Die Rückschlüsse selbst sind deshalb möglich, weil sich in der Antarktis Schneemengen befinden, die den gesamten Zeitraum rückeruieren und überbrücken lassen. Anhand dieser Bestände lassen sich die wechselhaften Zusammenhänge zwischen CO2 und Temperatur aufgrund von Sauerstoff- Isotopen und Schneeeigenschaften mittels ausgereifter wissenschaftlicher Verfahren bestimmen. Wie also wirken die Trends? Die Grafik gibt Antwort darauf. Abbildung 4: Entwicklung Durchschnittstemperatur, CO2, Meeresspiegel, Eigene Darstellung (2023) nach Nelles/Serrer (2018, S.33) Es zeigt sich nahezu eine Gleichförmigkeit der Verläufe zwischen CO2, der Durchschnittstemperatur und der Höhe des Meeresspiegels. Seit Beginn der industriellen Revolution wurde dieser Trend durch den Men- schen nun mächtig verschoben. Dafür verantwortlich zeichnet die Verbren- nung von fossilen Energieträgern wie Erdöl, Erdgas und Kohle. Diese Vor- gangsweise veränderte die chemische Konstitution der Atmosphäre binnen kurzer Jahrhunderte. Denn Erdöl, Erdgas und Kohle enthalten überproporti- onal viel CO2, das durch Verbrennung freigesetzt wird. 24 Ethik Fast 80 % des globalen Primärenergieverbrauchs wird gegenwärtig durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern gedeckt. Das führt nicht nur zur Freisetzung von CO2, das vorher in den unterirdischen Lagerstätten der Res- sourcen gebunden war, sondern auch zur Ablagerung von CO2 in der Atmo- sphäre. Jeden Tag verursacht menschliches Handeln, dass 110.000 Millionen Tonnen an hitzeabsorbierender und treibhausaktiver Verschmutzung in die Atmo- sphäre gepustet werden und dort verbleiben. In Konsequenz führt das zu massiven Folgewirkungen. Heute bereits misst sich eine Dichte und Menge an CO2 in der Atmosphäre, wie sie im Verlauf der letzten 800.000 Jahre nicht festgestellt werden konnte. Die Grafik unten, publiziert von der NASA, die als Organisation eine eindrückliche Forschung zum Sachverhalt des Klima- wandels leistet, zeigt einen Zeithorizont von 400.000 Jahren auf: Abbildung 5: CO2 Konzentration in der Atmosphäre, Eigene Darstellung (2023) nach NASA (2019) Die gegenwärtige Konzentration von CO2 in der Atmosphäre zeigt eine Dichte, die für die letzten 400.000 Jahre nicht einmal nachgewiesen werden kann. Seit Beginn der menschlichen Spezies lässt sich kein ähnlicher hoher Merksatz Wert nachprüfen. Hauptursache dieser Tendenz: Die Verbrennung von koh- lenstoffhaltigen fossilen Energieträgern durch den Menschen. Bei diesem nachweisbaren Effekt handelt es sich weder um eine Laune der Natur noch um einen ungewöhnlichen Ausreißer, der chemische Gesetzmä- ßigkeiten in Frage stellt. Stattdessen lässt sich die Folge davon beobachten, wie die wachsende Verbrennung von fossilen Energieträgern seit Beginn der industriellen Revolution zur zunehmenden Ablagerung von CO2 in der Atmo- sphäre führte. Wie wird denn CO2 eigentlich gemessen? Die Konzentration wird in Referenz gesetzt: wenn eine Million durchschnittlicher Bestandteile aus der 25 Ethik Atmosphäre genommen werden, wie viele davon sind CO2 Moleküle? Daher der Ausdruck parts per million (ppm) – Bestandteile pro Million. Laut Auskunft der NASA bemisst sich der Stand mit Januar 2019 auf 410 ppm. Im Verlauf der Erdgeschichte der letzten 800.000 Jahre und innerhalb der entsprechenden natürlichen Zyklen, die für langfristige Klimaveränderungen verantwortlich zeichnen, wurde nach Erkenntnissen wissenschaftlicher For- schung nie der Wert von 300 ppm überstiegen. Eine natürliche Veränderung um 100 ppm benötigt normalerweise zwischen 5.000 und 20.000 Jahren. Der aktuelle Anstieg um 100 ppm hat hingegen nur 120 Jahre benötigt, der An- stieg von 408 auf 409 hat dann nur noch 26 Wochen gebraucht – auf natür- liche Weise würde eine solche Veränderung den Zeitrahmen zwischen 50 und 200 Jahren beanspruchen. Die Brisanz der Entwicklung besteht darin, in welch kurzem Zeitraum ein Teil der Menschheit es erwirkt hat, die zyklische Konstanz klimatischer Trends aus der langfristigen Balance zu stürzen. Seit Beginn der industriellen Revo- lution intensiviert sich der Energiebedarf, der weitreichend auf der Verbren- nung fossiler Energieträger beruht. Die Moderne gründet bisher auf einer direkten Proportionalität: Durch ansteigendes Wirtschaftswachstum wächst der Energiehunger von Volkswirtschaften. Die bedeutsame Aufgabe besteht jetzt darin, diese Tendenzen und Wirkmechanismen voneinander zu entkop- peln. Warum liegt darin ein gesellschaftlicher Auftrag? Der Anstieg der CO2 Konzentration in der Atmosphäre führt zwangsläufig zu einem Temperaturanstieg mit fatalen Konsequenzen. Steigende Temperatu- ren verursachen den Anstieg des Meeresspiegels, Küstenlagen drohen un- bewohnbar zu werden. Der Meeresspiegel steigt aufgrund unterschiedlicher Faktoren: Zum einen wirkt das thermodynamische Gesetz, dass sich wärmende Gegenstände schlicht ausdehnen. Wird also das Ozeanwasser wärmer, dehnt es sich aus. Merksatz Zum anderen führen das Abschmelzen von Gletschern und der Arktis durch die Erwärmung zur Verflüssigung von Wassermengen, die bisher als Eis ge- bunden waren. Je intensiver die Erderwärmung voranschreitet, umso vehe- menter wird sich diese Folgewirkung zeigen. Einige amerikanische Banken weigern sich bereits, Hypothekarkredite für Immobilien in Miami Beach zu gewähren. Das Risiko, dass sich die belehnten Grundstücke innerhalb der Laufzeit der Kredite einfach in Sumpfland ver- wandeln, wirkt zu wahrscheinlich und unvermeidlich. Wetterkapriolen wer- den extremer, Schäden durch Schlechtwetterfronten nehmen signifikant zu. Land, das sich zum landwirtschaftlichen Anbau eignet, nimmt ab. Wüsten dehnen sich aus. Klimatische Extremsituationen belasten die menschliche 26 Ethik Physis. Viren und Krankheitsträger können in Regionen ausgemacht werden, die bisher nicht davon berührt waren. Die beschleunigte Veränderung der klimatischen Umstände geschieht in ei- nem Tempo, sodass die Evolution darauf nicht angemessen reagieren kann. Für die Artenvielfalt zeitigt die Wirkung der globalen Erwärmung enorme Konsequenzen. Manche Tierarten verlieren ihr natürliches Habitat, das er- laubt, Futter zu finden und sich fortzupflanzen. Manche können sich retten, indem sie entlang der Verschiebung von Klimazonen weiterwandern. Für Pflanzen und auf dem Land lebende Tiere kann beispielsweise belegt wer- den, dass sie mittlerweile innerhalb eines Jahrzehnts elf Meter in die Höhe und etwa siebzehn Kilometer Richtung Pole wandern. Sie folgen also den kli- matischen Bedingungen und Klimaregionen. Nicht alle schaffen diese Wan- derung oder können sie antreten, vorhersehbare Folge wäre ein Artsterben, wie es in den letzten 540 Millionen Jahren der Evolutionsgeschichte schlicht fünf Mal geschehen ist. Nur wenige Organismen können sich an unterschied- liche klimatische Bedingungen adaptieren – unter anderem die Ratte, der Mensch, die Kellerassel und der Rabe.6 Über die nächsten acht Jahrzehnte könnte die Hälfte aller existierenden Spe- zies aussterben, die heute den Planeten bewohnen. Evolutionsgeschichtlich gilt es als erforscht, dass über den Verlauf der großen Erdzeitalter mittler- weile 99,5 % aller Spezies ausgestorben sind. Das Ende von Lebensarten ist also nicht nur vorstellbare, es ist evolutionsgeschichtliche Erfahrung. For- scherinnen sprechen mittlerweile vom sechsten großen Massenaussterben, das in diesem Jahrhundert erlebt wird. Das letzte Artensterben einer ver- gleichbaren Größenordnung fand vor 66 Millionen Jahren statt, als die Krei- dezeit zu Ende ging. Damals schlug ein zehn bis fünfzehn Kilometer großer Asteroid auf der Halbinsel Yukatan ein. Dieser Vorfall zerstörte eine ganze ökologische Welt, als unmittelbare Folge davon gilt beispielsweise das Aus- sterben der Saurier. Von einer ähnlichen Wirkung für die Ökologie sprechen aktuell Wissenschaftlerinnen, wenn das Ausmaß des durch den Menschen verursachten Klimawandels auf die Biosphäre begriffen werden soll. Besonders betroffen von den klimatischen Verheerungen zeigen sich dabei die Ozeane. Sie sind es, die den Großteil der zusätzlichen Energie, die durch den menschverursachten Klimawandel auf der Erde gehalten wurde, aufge- nommen haben. Das sind nur einige Folgewirkungen, die im Rahmen der globalen Erwärmung bereits vorfallen. Das einflussreiche Think Tank World Economic Forum ana- lysiert vor der Jahrestagung in Davos sowohl im Jahr 2017 als auch im Jahr 6 Blom, 2017 27 Ethik 2018, dass das größte Risiko für die Weltwirtschaft und die Menschheit von Wetterkapriolen ausgehen würde, die der Klimawandel verantwortet. Die- ses Phänomen wirkt in seiner Gesamtheit bedrohlicher als zwischenstaatli- che Konflikte oder Cyberangriffe. Das sind nur einige Aspekte, die durch den Klimawandel hervorgerufen wur- den. Die voraussehbaren Verheerungen sind umfassender, komplexer, uni- verseller und gleichermaßen radikaler. Der Klimawandel bildet ein Univer- salphänomen, der vielfältige gesellschaftliche und biologische Bereiche be- rührt, verändert, herausfordert. Wie also handeln und weiterdenken im Angesicht dieses Szenarios? Ein un- gebremster CO2 Ausstoß, die schonungslose Verbrennung fossiler Energien, beschleunigt durch das rasante Wachstum der Weltwirtschaft, das vor allem durch den Aufstieg der Entwicklungsländer verstärkt wird, könnte bis zum Ende des 21. Jahrhunderts einen Temperaturanstieg um 5 Grad Celsius ver- antworten. Die Massivität des Temperaturunterschieds lässt ein bezeich- nender Vergleichswert begreifen. Der Unterschied zwischen dem heutigen Klima und der letzten natürlichen Eiszeit, die ungefähr vor 115.000 Jahren begann und vor 15.000 Jahren endete, bemisst sich durchschnittlich auf 6 Grad. Darin beweist sich mittlerweile der Extremismus der Normalität. Zur Pragmatik wird, was dem 1,5 Grad Ziel dient. Das oft zitierte 1,5 Grad Ziel wurde im Pariser Klimaabkommen festgelegt. Das 1,5 Grad Ziel im Pariser Klimaabkommen besagt, dass die durchschnitt- liche Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad Celsius ge- genüber dem vorindustriellen Zeitalter eingedämmt werden soll. Das wäre Merksatz Idealziel. Falls das nicht erreicht wird, dann müssen als letzte Obergrenze 2 Grad gelten. Der Weltklimarat, dessen nobelpreisgekrönte Arbeit darin besteht, für poli- tische Entscheidungsträger auf internationaler Ebene den Stand der wissen- schaftlichen Forschung zum Klimawandel zusammenzufassen, errechnet, dass noch ein Zeitfenster bis ins Jahr 2030 offen wäre, um die extremen Fol- geschäden präventiv zu verhindern und das 1,5 Grad Ziel zu erreichen. Dafür braucht es jedoch eine grundlegende Umkehr. Seit Beginn der industriellen Revolution wurde also der Anteil an CO2 in der Atmosphäre durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern markant ge- steigert, vor allem seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat der globale Ausstoß an von Menschen verursachten CO2 radikal zugenommen. Dabei sollte immer reflektiert werden, dass nur ein Bruchteil des freigesetz- ten CO2 vom Menschen verursacht wird. Den weitaus größten Teil setzt die Natur selbst frei. Die Menge, die aber durch natürliche Prozesse freigesetzt 28 Ethik wird, versteht die Natur wieder zu absorbieren und aufzubereiten. Es hat sich hier ein Gleichgewicht etabliert, das nun durch die menschliche Aktivität aus der Balance gebracht wird. Der zusätzliche CO2 Ausstoß, der vom Men- schen zu verantworten ist, lässt sich nicht durch den etablierten Kohlenstoff- kreislauf verarbeiten, ein Großteil davon verbleibt also in der Atmosphäre, da die Kapazitäten der natürlichen Absorption überfordert werden. Den na- türlichen CO2 Ausstoß kompensiert die Natur durch pflanzliche Photosyn- these und Absorption in den Ozeanen. Faktisch absorbiert sich auf natürliche Weise sogar mehr CO2 als auf natürliche Weise emittiert wird. Was aber vom natürlichen Kohlenstoffkreislauf nicht mehr vollkommen verarbeitet wer- den kann, ist die schlichte Menge an anthropogenen, also menschverursach- ten Treibhausgasen. Folglich: Die Atmosphäre wird vom Menschen zur Müll- halde für CO2 Ablagerungen degradiert, die sein eigenes Handeln verantwor- tet. Die unmittelbare Reaktion besteht darin, dass auf größere CO2 Konzentrati- onen ein Temperaturanstieg zwangsweise folgt. Das geschieht unvermeid- bar, doch für das menschliche Zeitverständnis mit Verzögerung, denn Un- mittelbarkeit bezeichnet in diesem Fall planetarische Zyklen. Wie die Abbil- dung 4 oben anzeigt, folgt der Trendentwicklung von CO2 die Tendenz der Durchschnittstemperatur. Das ökologische System agiert jedoch mit verlän- gerten Reaktionszeiten. Das bedeutet, die konsequenten und unausweichli- chen Folgewirkungen des bereits jetzt vorhandenen CO2 werden noch in Jahrhunderten und Jahrtausenden eine verschärfte Erderwärmung zu ver- antworten haben. Diese Reaktionszeit sorgt auch dafür, dass nicht die un- mittelbaren Verursacher von den massivsten Verheerungen betroffen sind, sondern die nachfolgenden Generationen den Schaden tragen werden. Diese Zeitverzögerung erhöht die Komplexität des Problems um ein weiteres ethisches Dilemma. Um die bedrohliche Entwicklung zu verlangsamen und ihr schließlich Einhalt zu gebieten, einigte sich die Weltgemeinschaft beim Klimagipfel in Paris im Jahr 2015 darauf, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad gegenüber dem Beginn des Industriezeitalters zu begrenzen. Wenn die 1,5 Grad nicht erreicht werden, dann wird als zweites Ziel eine Grenze von 2 Grad Erwär- mung alternativ angeführt. Eine Erwärmung um 2 Grad würde laut Einschät- zung zu Verheerungen und Umbrüchen im merklichen, doch überschauba- ren Ausmaß führen. Jede weitere Erwärmung wäre mit sich exponentielle Risiken für die Weltgemeinschaft, die internationale Entwicklung und die Na- tur behaftet. In diesem Wissen gründet der ratifizierte Versuch und die Ver- pflichtung, die Erderwärmung zu begrenzen. Dabei gilt es auch zu verstehen, dass eine globale Erwärmung um 1,5 Grad nicht statisch bedeutet, dass sie in allen Weltregionen gleichermaßen erwartet werden kann, dass es schlicht 29 Ethik 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter wärmer würde. Eine Er- wärmung um 1 Grad im Bereich des Äquators bedeutet faktisch eine Erwär- mung um 3 Grad in der Arktis, denn das globale Klima konstituiert sich durch unterschiedliche Zusammenhänge und komplexe Abhängigkeiten. Eine Schwierigkeit in der Berechnung und Vorhersage der weiteren Folgen zeigt sich genau darin, dass es eine wesentliche Herausforderung symbolisiert, wie die existierende klimatische Systematik durch Trendveränderungen sich wandeln wird. Gerade Big Data und die Anwendung Künstlicher Intelligenz tragen zum besseren Verständnis bei, liefern immer akkuratere Berechnun- gen und Prognosen. Wenn also der immanente Zusammenhang zwischen Digitalisierung und dem Klimawandel bedacht wird, zeigt sich hier bereits eine wesentliche Ver- knüpfung. Das beweist Wirksamkeit nicht nur für Vorhersagen über perspek- tivische Entwicklungen, sondern es hilft beispielsweise im Verständnis von drohenden Wetterkapriolen. Wie genau wird der Kurs eines Hurrikans sein? Welche Regenmengen sind in einer Region zu erwarten? Das alles lässt sich aufgrund der verfügbaren Datenverarbeitung mit viel exakterer Präzision vorherbestimmen als dies lange der Fall war. Diese computergestützten Analysemethoden retten Leben. Die materiellen Schäden durch Naturkata- strophen nehmen kontinuierlich zu. Der Verlust an Menschenleben kann je- doch aufgrund präziser, datenbasierter Berechnungen, die zum besseren und antizipativen Verständnis von Wetterereignissen entscheidend beitra- gen, minimiert werden und durch das Handeln staatlicher Organe effektiv eingeschränkt werden. Ein anderer Zusammenhang, der sich zwischen moderner Technologie und dem Klimawandel ausmachen lässt, besteht in einer sehr grundlegenden Re- flexion über das Thema: Der Klimawandel repräsentiert eine nicht inten- dierte, doch unmittelbare und konsequente Folgewirkung der Industriege- sellschaft. Der massenhafte Ausstoß von CO2 reflektiert die Art und Weise, wie die Industriegesellschaft produziert, sich fortbewegt, Energie konsu- miert, Waren verbraucht, Produktionsprozesse organisiert, sich ernährt, so- zial interagiert. All diese Faktoren begründen das Phänomen. Wenn also die Industriegesellschaft die Ursache für den ungebremsten Klimawandel bildet, dann könnte ein progressiver Weg vorwärts in der Überholung der Indust- riegesellschaft selbst liegen. Der Ausweg mag in einer radikalen Verände- rung hin zu einer innovationsgetriebenen Wissensgesellschaft liegen. Tech- nologischer Fortschritt geht im Regelfall mit weniger Energieverschwen- dung, besserer Nutzung von vorhandenen Wertschöpfungspotenzialen und intelligenteren Technologien zusammen. Im Rahmen der digitalen Transfor- mation ökonomischer Prozesse und sozialer Interaktion stellt sich genau diese Frage, wie die Neuerungen zur ökologischen Trendumkehr effektiv 30 Ethik beitragen können. Alles würde selbstverständlich auf der Voraussetzung ba- sieren, dass Gesellschaften den willentlichen und demokratischen Ent- schluss fassen, Veränderung zu gestalten, um Nachhaltigkeit zu erwirken. Die technologischen Entwicklungen und die freigesetzten Innovationspoten- ziale gerade bei der alternativen Energiegewinnung verantworten verstärkt, dass auf fossile Energieträger kontinuierlich verzichtet werden kann. Die Produktionskosten von alternativen Energien sinken rapide, die Kosten- struktur von fossilen Energieträgern erscheint dabei nicht mehr kompetitiv. Im Jahr 2018 analysiert das deutsche Finanzunternehmen Wermuth Asset Management, dass eine Kilowattstunde Solarenergie mittlerweile in Dubai 2 Cent kostet, in der Bundesrepublik kostet sie 6 Cent. Bei diesem Preisniveau wäre Erdöl faktisch nur bei einer Kostenstruktur von 4 Dollar/Barrel kompe- titiv. 7 Auf für den Energiemarkt gilt, was bereits für den Bereich der Produk- tion und des Handels festgestellt werden durfte: Der intelligente Einsatz mo- derner Technologien führt zu tiefgreifenden Umbrüchen. Tradierte Verfah- rensmuster und Produktionsmechanismen, die ein Marktsegment bisher strukturierten, werden erneuert. Die technischen und wissensbasierten Grundlagen, um folglich von den fossilen Energien abzukehren, sind vorhan- den. Diese grundlegende Transformation des Energiesektors wirkt weder simpel noch geradlinig, aber sie erscheint möglich und vor allem geboten. Der Wandel lässt sich auch nicht isoliert betrachten. Er repräsentiert einen Bestandteil der umfassenderen Transformation, die sich gesamtgesell- schaftlich vollzieht. Nur wenn der Umbau in den größeren Zusammenhang selbstdenkender Systeme, interagierender Netze und automatisierter Kom- munikation eingebettet wird, erschließt sich die Relevanz und eigentliche Größenordnung der absehbaren Veränderung. Es sind mittlerweile entscheidende Kräfte im Markt, die den Prozess zur nachhaltigen Trendumkehr voranbringen und auf die wahrnehmbaren Ent- wicklungen reagieren. Dieser Zugang eröffnet auch eine legitime Interpreta- tion, um Signifikanz und Funktion des Klimaabkommens von Paris zu erklä- ren. Denn zweifellos lässt sich die gegenwärtige Epoche als kybernetisches Zeitalter begreifen. Durch die Verarbeitung und Übermittlung von Informa- tion werden Soll-Zustände herbeigeführt. Bewusste Kommunikation veran- lasst gewünschtes soziales Handeln. Der Markt agiert dabei als Instanz, der Information verarbeitet und Reaktionen gemäß eigener Erkenntnis initiiert. Er veranlasst Reaktionen und Handlungsweisen entsprechend vorhandener Kenntnisse. Wie Friedrich August von Hayek analysiert hat, agieren Märkte als Aggregate, um Information prozessual zu verarbeiten. Aus holistischer Perspektive werden isolierte Entscheidungen Einzelner durch strukturelle 7 Erdöl wird in der Mengenangabe „Barrel“ gehandelt. Barrel steht für Fass und entspricht einer Quantität von 159 Litern Rohöl. 31 Ethik und komplexe Verflechtungen zu einem konsequenten Gesamtprozess zu- sammengeführt, der als Ganzes den Markt konstituiert. Auf diese Weise, mittels Verbindung von Einzelakten, erzeugt die Gesellschaft Wissen über vorhandene Bedürfnisse und entsprechende Reaktionen werden diesbezüg- lich veranlasst. Angesichts dieser Verständnisperspektive lässt sich das Klimaabkommen von Paris auf Grundlage des folgenden Interpretationsansatzes verstehen: Es handelt sich um eine bewusst gesetzte Botschaft, formuliert von der in- ternationalen Staatengemeinschaft, adressiert an die Finanzmärkte, dass die Erdöl- und Erdgasindustrie sukzessive abgewickelt werde. Die kodifizierten Ziele, die in diesem internationalen Vertrag klar definiert werden, lassen sich quantifizieren und rückrechnen. Wenn folglich der Verpflichtung entspro- chen werden soll, dass bis zum Ende des Jahrhunderts die maximale Erder- wärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter begrenzt wird, dann wird die Menge an Treibhausgasen, die der Mensch noch aussto- ßen darf, signifikant limitiert. Auch eine Begrenzung der Erwärmung um 2 Grad würde dem möglichen Treibhausgasausstoß enge Grenzen setzen. Der potenzielle Treibhausgasausstoß lässt sich direkt in Verbindung setzen zur Menge an fossilen Energieträgern, die verbrannt und anschließend in der Atmosphäre abgelagert werden können. Ein Großteil der heute bekannten Merksatz Reserven an fossilen Energieträgern muss deshalb ungenutzt bleiben. Wird also die Vorgabe von 1,5 Grad eingehalten, dann dürfen beispielsweise nur noch 2 % der vorhandenen Reserven faktisch verbrannt werden. Sollen die weit kritischeren 2 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts erreicht werden, dann dürfen insgesamt nur rund 20 % der gegenwärtig vorhandenen fossilen Energieträger zur treibhausgasemittierenden Energiegewinnung herangezo- gen werden. Beim 1,5 Grad Ziel erscheinen also 98 % aller fossilen Energiereserven als gegenstandslos. Beim 2 Grad Ziel kalkulieren sich 80 % aller fossilen Energiereserven als wert- los. Der Sachverhalt, auf den seitens unterschiedlicher Analysten und öffentli- cher Institutionen aufmerksam gemacht wird, besteht darin, dass die mo- mentane Kapitalisierung in diesen Märkten auf Annahmen und Berechnun- gen baut, die sich nicht als realisierbare erweisen lassen. Warum? Die Marktkapitalisierung von Erdöl- und Erdgaskonzernen hängt im Wesentli- chen mit der Menge an Ressourcen und Reserven zusammen, die durch 32 Ethik vertragliche Ansprüche als Eigentum der jeweiligen Unternehmen gelten. 8 Nur ein Bruchteil dieser Reserven lässt sich jedoch in Zukunft tatsächlich för- dern und verbrennen, wenn der internationalen Klimavereinbarung von Pa- ris entsprochen werden soll. Die faktischen Kosten, wenn sich die heutigen Investitionen im Erdöl- und Erdgasmarkt als Gewinne realisieren sollen, wä- ren die ökologische Verheerung der Erde für die nächsten Generationen. Im Zuge der letzten Finanzkrise, die ihren Ausgang damit nahm, dass unhalt- bare Immobilienpreise im US-Häusermarkt abgeschrieben werden mussten, kam es zu einer Wertberichtigung von 4 Billionen US-Dollar. Die Krise be- stand essenziell in der Vernichtung dieser Vermögenswerte und den Folge- wirkungen, die sich in fataler Zwangsläufigkeit daraufhin einstellten. Die Überbewertung des Erdöl- und Erdgasmarktes, basierend auf den Kalku- lationen rund um das Pariser Klimaabkommen, werden beispielsweise von der Nachrichtenseite ThinkProgress im Jahr 2012 auf 22 Billionen Dollar be- ziffert.9 Das wäre die zu erwartende Größenordnung der anstehenden Wert- berichtigung. Die Summe berechnet sich anhand der verfügbaren Menge ei- nes Carbonbudgets, dass in die Atmosphäre geblasen werden kann, um die definierten Klimaziele zu erreichen. Dieser Wert lässt sich dezidiert auf die Größenordnung umrechnen, wieviel Erdöl und Erdgas folglich noch ver- brannt werden dürfen. Im Jahr 2012 zeigt sich folgendes Bild: Geschätzte Abschreibungen auf Rohstoffreserven: 22 Billionen $ 2795 GigaT CO2 davon eigentlich nur 1812 GigaT CO2 565 GigaT CO2 rechtlich erlaubt 1850-2010 insgesamt verbrannt Reserven aktuell Abbildung 6: Größenordnung des Carbonbudgets, Eigene Darstellung (2023) 8 Der Unterschied zwischen Reserven und Ressourcen besteht darin, dass Reserven alle Mengen an fossilen Energieträgern sind, die sich gegenwärtig kostendeckend fördern las- sen. Ressourcen hingegen bemessen die Größe aller vorhandenen und bekannten Vor- kommen, die ein Erdöl- und Erdgaskonzern in den natürlichen Lagerstätten vermutet. Es werden also auch jene Mengen in diese Kennzahlen miteingeschlossen, die sich nicht kos- tendeckend fördern lassen. 9 Vgl. Johnson, 2012 33 Ethik Der Großteil dieser vorhandenen Ressourcen zeigt sich nun substanzlos. Auf- grund eng begrenzter Nutzmöglichkeiten sind sie faktisch wertlos und damit erheblich überbewertet. Eine massive Wertberichtigung darf erwartet und existierende Vermögenswerte müssen entsprechend vernichtet werden. Der damalige Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, erklärte bereits im Jahr 2014 im Rahmen eines Seminars bei der Weltbank, dass „die große Mehrheit der fossilen Energieträger nicht verbrannt werden kann.“ 10 Er for- muliert eine ausdrückliche Botschaft, die von relevanten Marktteilnehmern leicht angemessen interpretiert werden kann. Die Stadt New York City, ein entscheidendes globales Finanzzentrum, hat mittlerweile den Entschluss ge- fasst, öffentliche Pensionsgelder nicht mehr in fossilen Energiewerten zu binden und die Investments sukzessive zu reduzieren. Die Stadtregierung von London hat einen ähnlichen Beschluss gefasst. Beide Städte fordern auch offen alle anderen Städte auf, die gleiche Entscheidung zu treffen. 11 Die beiden maßgeblichen Bankenzentren der Welt verständigen sich also da- rauf, ihre öffentlichen Investments in fossile Energieträger abzuziehen und neu zu veranlagen. Das geschieht nicht nur aus moralischen Motiven und ethischen Impulsen, sondern auch aus nachvollziehbarem, finanziellem Kal- kül und einem sorgsamen Umgang mit öffentlichen Geldern. Das Finanzun- ternehmen Citigroup kalkuliert, dass Werte in der Höhe von 100 Billionen Dollar als Stranded Assets zu qualifizieren wären, wenn die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden. In diese Berechnung flie- ßen nicht nur die überhöhten Wertannahmen für die unbrauchbaren Res- sourcen ein, sondern auch die überflüssige Infrastruktur, die damit verbun- den ist, wertlose Patente und nutzlose Förderanlagen werden miteinkalku- liert. 12 Die Wirtschaftswissenschaft spricht mittlerweile von Stranded Assets, wenn die Überbewertungen im fossilen Energiemarkt schlagend werden. Stranded Assets sind Vermögenswerte, die unerwartete oder vorzeitige Abschreibun- Merksatz gen, Abwertungen oder Umwandlungen in Verbindlichkeiten erfahren, weil umweltbezogene Risiken zur Wertberichtigung führen. Die Citibank rechnet folglich mit der umfangreichsten Wertberichtigung der modernen Geschichte, die erwartet werden muss. Es handelt sich eben um Stranded Assets, also um Vermögenswerte, die sich durch unvorhergese- hene oder vorzeitige Abschreibungen, Abwertungen oder Umwandlungen in Verbindlichkeiten nicht amortisieren und einen beschleunigten Wertverlust aufgrund von Umweltrisiken erleiden. Ursache dieser Entwicklung kann 10 Zitiert nach Shankleman, 2014 11 Vgl. de Blasio/Khan, 2018 12 Vgl. Parkinson, 2015 34 Ethik maßgeblich die Wirkweise der schöpferischen Zerstörung sein, wie sie Jo- seph Schumpeter beschrieben hat. Das würde nun für den Energiemarkt an- sehnlich zutreffen. Durch innovative Lösungen werden bestehende Verfah- ren obsolet. Innovation erwirkt Erneuerung und Bestehendes wird wirkungs- los, die damit verbundenen vorhandenen Werte werden gegenstandslos. Bei der Abwicklung der Erdölindustrie stellt sich also die Frage, wie effektiv und rapide die Kräfte des Markts als Verfahren nachhaltiger Veränderung wirk- sam werden. Weil es sich hier um eine Auseinandersetzung handelt, an de- ren Ende entweder die Abwicklung der mächtigen Petrochemie steht oder die Fortsetzung einer industriellen Produktionsweise, die zum unvermeidba- ren ökologischen Kollaps führt, wird die Auseinandersetzung so intensiv zwi- schen den involvierten Parteien geführt. Die Menschheit hat eine massive Menge an CO2, Methan und anderen Treib- hausgasen durch Verbrennung in die Atmosphäre abgelagert, um die Le- bensweise auf Grundlage industrieller Produktion zu schaffen. Mittlerweile Merksatz findet sich ein solches Ausmaß an zusätzlichen Treibhausgasen in der Atmo- sphäre abgelagert, dass stetig mehr Sonnenenergie dort verbleibt. Das führt zum menschverursachten Klimawandel, der sich rapider verwirklicht, als wenn natürliche Klimazyklen wirksam wären. Der Zusammenhang aus moderner Technologie und der ökologischen De- batte liegt in einem anderen Zusammenhang darin, dass der technologische Fortschritt dafür benötigt wird, ausgediente Formen der Energiegewinnung radikal zu überholen. Nur technologisch ausgefeilte Verfahren, die neben der Energiegewinnung auch neue Formen der Mobilität und innovative Pro- duktionsverfahren einschließen, die in hochindustriellen Ländern gleicher- maßen angewandt werden, wie sie sich in Entwicklungsländern flächende- ckend durchsetzen, werden die Menschheit instand setzen, die schlimmsten und düstersten Auswirkungen dieses bedrohlichen Phänomens zu schmä- lern, teils sogar zu verhindern. Die Transformation wirkt maßgeblich und hat laut aktueller Berechnung rasant zu geschehen. Ein anderes Zusammenspiel zwischen Ökologie und digitaler Transformation zeigt sich in der faktischen Bedeutung neuer Technologie als Investitions- möglichkeit. Je schneller investiertes Kapital aus den fossilen Energiemärk- ten abzieht, weil sich die Gewinnaussichten schmälern, desto dringlicher verlangt es andere Veranlagungsformen, die ein Versprechen auf die Zu- kunft bilden. Exakt dieses Versprechen bündelt sich in moderner Technolo- gie. Sie repräsentiert ein Investitionsversprechen, das vernünftige Veranla- gungen rechtfertigt. Durch diese Bewegung wiederum werden die For- schungsbudgets neuer Technologien konstant erhöht, was die Entwicklung fortschrittlicher Innovationen wahrscheinlicher macht. 35 Ethik Ein letzter Aspekt findet sich im gesellschaftlichen Überbau verankert, der sich in der anstehenden Transformation abzeichnet. Die Möglichkeiten der IV. Industriellen Revolution kündigen die Wahrscheinlichkeit eines Wandels an, der seine eigentliche und substanzielle Ausgestaltung in Form der Wis- sensgesellschaft finden wird. Wertschöpfung basiert größtenteils auf wis- sensbasierter Arbeit. Selbst die Mehrheit der Tätigkeiten im industriellen Umfeld wandeln sich von klassischer, körperbetonter Industriearbeit hin zu Bürotätigkeiten. Produktionsverfahren wandeln sich radikal, die Arbeitswelt verändert sich, eine graduelle Entkopplung zwischen Erwerbstätigkeit und Einkommen lässt sich denken. Die Prinzipien, auf denen die Industriegesell- schaft gründet, überholen sich also und werden durch andere Grundlagen ersetzt. Das Versprechen wirkt gerade für Staaten, die bisher vom Import fossiler Energieträger abhängig waren, verlockend. Sie möchten die Trendumkehr schaffen. Speziell bei mächtigen Volkswirtschaften, wie jene des europäischen Binnenmarkts oder Japans, trägt der Energieimport merk- lich zum negativen Ergebnis der Leistungsbilanz bei. Es besteht also ein poli- tisches Interesse, diese Verhältnisse umzukehren. 13 Sowohl die Realität des Klimawandels als auch die Fortschritte in der Tech- nologie manifestieren radikale Agenten des Wandels, sie erneuern die Grundstruktur der Gesellschaft fundamental. Aufgrund des technologischen Fortschritts steht die menschliche Zivilisation vor dem historischen Bruch, dass Gegenstände, die im Alltag genutzt werden, in konkreter und funktio- naler Hinsicht schlauer agieren, als es Menschen können. Das Verhältnis zwi- schen Mensch und Gegenstand ändert sich radikal. Durch den Klimawandel wird nun die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt neu ausverhandelt. Die Idee des Anthropozän wird stetig plausibler. Das Anthropozän meint die erdgeschichtliche Epoche, die sich gegenwärtig im Anbruch befindet, in der das menschliche Handeln einen entscheidenden Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Pro- Merksatz zesse manifestiert. Aus ethischer Perspektive erwächst den Menschen die Verantwortung, sich dieser Konsequenz des eigenen Handelns bewusst zu werden. Ethik wächst innerhalb des ökologischen Bedeutungsrahmens zu einem Verständnis, der einen erweiterten Verständniszusammenhang referieren wird. Diese Erwei- terung gilt es, im menschlichen Bewusstsein zu erwirken, um die Folgewir- kungen des eigenen Tuns zu begreifen. Eine weitere expansive Tendenz der Ethik liegt exakt darin, dass nun Maschi- nen Handlungen verantworten, die eine moralische Auswahl verantworten 13 Die Leistungsbilanz ist jene Kennziffer, die besagt, wie viele Exporte den Importen einer Volkswirtschaft gegenüberstehen. 36 Ethik können. Ethik braucht sowohl Eigenständigkeit für Entscheidungen als auch autonomes Handeln in kritischen Situationen auf Grundlage kritischer Refle- xion. Bei einem autonom fahrenden Auto treffen diese Voraussetzung zu, weil auf Basis sensorisch erfasster Daten und Rückschlüssen, durch einen wirksamen Algorithmus eine bewusste Auswahl an unterschiedlichen Mög- lichkeiten getroffen werden kann. Diese Entscheidung verlangt nun nach ei- nem moralischen Fundament und bewirkt die Fragestellung, wer für die Festlegung dieser moralischen Standards verantwortlich zeichnen soll. Mit dieser Transformation, die durch moderne technologische Entwicklung verantwortet wird, verbindet sich auch ein sozialer Umbruch, der sich ge- genwärtig gesellschaftlich statistisch ausmachen lässt. Was das nun genau besagt und wie möglicherweise darauf reagiert werden kann, soll ein nächs- tes Kapitel versuchen, komprimiert zu analysieren. Abschließend zu diesem Kapitel: Seit Beginn der industriellen Revolution bis zum Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft eine solches Ausmaß an fossilen Brennstoffen verbrannt, das vom ökologischen System nicht abgebaut wer- den konnte, sodass sich 365 Milliarden Tonnen an zusätzlichen Kohlenstof- fen in der Atmosphäre abgelagert haben. Hinzu kommen noch 180 Milliar- den Tonnen, die durch die Entwaldung verursacht werden. Für das Bezugs- jahr 2015 gilt, dass allein in diesem Jahr 9 Milliarden Tonnen an menschver- ursachten Kohlenstoffen in der Atmosphäre abgelagert werden, die jährliche Steigerungsrate liegt bei bis zu 6 Prozent. Wird der Trend ungebremst fortgesetzt, dann darf bis zur Mitte des Jahrhun- derts kalkuliert werden, dass der Anteil von CO2 in der Atmosphäre auf 500 ppm anwachsen wird. Dieser Wert ergäbe eine Verdoppelung gegenüber der vorindustriellen Epoche. Die Folgewirkungen lassen sich konsequent und logisch antizipieren: Ein rasanter Anstieg der Temperaturen führt zu Ver- schärfung natürlicher Kippeffekte, Gletscher und das arktische Eisschild schmelzen, der Meeresspiegel steigt, Wetterextreme nehmen zu. Was in dieser Aufzählung nur zu leichtfertig vergessen wird, wäre der Kausaleffekt dieser Tendenzen auf die Ozeane. Das Meer nimmt Gase aus der Atmosphäre auf und gibt dann im Wasser ge- löste Gase auch wieder ab. Sofern das in Balance geschieht, wird die gleiche Menge aufgenommen wie ausgestoßen. Wenn sich nun die chemische Zu- sammensetzung der Atmosphäre verändert, weil der Bestand an Kohlendi- oxid in der Atmosphäre steigt, dann gerät dieses Gleichgewicht in Schieflage. Die Ozeane nehmen in Folge mehr Kohlenstoffe auf, als sie abstoßen kön- nen. Damit verändert sich die Konsistenz des ozeanischen Wassers, der Säure-Basen-Haushalt gerät in Schieflage. 37 Ethik Durch diese zusätzliche Kohlendioxidzufuhr ist der durch- schnittliche pH-Wert des Oberflächenwassers der Meere bereits von 8,2 auf 8,1 gefallen. Da die pH-Skala logarith- misch ist, steht selbst eine so geringe Differenz des Zahlen- wertes für eine erhebliche Veränderung in der realen Welt. Eine Abnahme um 0,1 bedeutet, dass die Meere nun drei- ßig Prozent saurer sind als im Jahr 1800. Nach einem „Wei- ter-wie-bisher“ -Emissionsszenario […] werden die Meere [bis zur Jahrhundertmitte, Anm.] um hundertfünfzig Pro- zent saurer sein als zu Beginn der industriellen Revolu- tion. 14 Dieser Bruch hätte zur Folge, dass die Ozeane sich als Habitat des organi- schen Lebens massiv verändern und die neuen Bedingungen ein Umfeld bil- den, an das sich wenige Arten in der Rasanz werden anpassen können. Das hat natürlich auch kritische Folgewirkungen für Volkswirtschaften, deren Einkommen essenziell von den Ozeanen abhängt. Diesen düsteren Konse- quenzen ließe sich mittels grundlegender Transformation der Energiegewin- nung und einer anders operierenden Ökonomie entgegenwirken. Wie tiefgreifend sich der Wandel des Energiesektors realisieren muss, zeigt die Grafik unten, die den globalen Energieverbrauch auf die Energiequellen zurückführt. Die Angaben auf den Skalen entsprechen Terawatt-Stunden. Abbildung 7: Globaler Energieverbrauch und Energieträger, Ritchie/Roser (2019) 14 Kolbert, 2015, S. 119 f. 38 Ethik Dieser Energiemix, der die enorme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern anzeigt, übersetzt sich nun in den Ausstoß von CO2-Emissio-nen, die verursacht werden. Abbildung 8: CO2 Emissionen anhand von Energieträgern, Ritchie/Roser (2017) Es zeigt sich auf der Zeitachse, wie sehr die I. Industrielle Revolution noch nahezu ausschließlich auf der Nutzung von Kohle basierte, während im wei- teren Verlauf der II. Industriellen Revolution die Nutzung von Erdöl kontinu- ierlich ausgeweitet wurde. Worin liegt also die zentrale Verantwortung im Rahmen der digitalen Trans- formation im Hinblick auf eine mittelfristige Perspektive? Der Weltklimarat, kurz IPCC, hat diesbezüglich konkrete Berechnungen erwirkt, die Orientie- rung liefern. IPCC steht als Akronym für die Bezeichnung Intergovernmental Panel on Climate Change. Wie bereits oben erwähnt, aber hier nochmals zur Erinnerung: Der Weltklimarat bildet eine zwischenstaatliche Organisation, die unter dem Dach der Vereinten Nationen agiert. Der Auftrag, dem die Organisation nachzukommen hat, besteht darin, für politische Entscheidungsträgerinnen Merksatz den wissenschaftlichen Stand der Forschung bezüglich der Erkenntnisse des Klimawandels konzis zusammenzufassen. Im Jahr 2007 wurde dem Welt- klimarat in Anerkennung seiner Bemühungen der Friedensnobelpreis verlie- hen. In regelmäßigen Abständen veröffentlicht der Weltklimarat Studien, die prägnant den aktuellen Erkenntnisstand der Wissenschaft zusammenfassen, um damit auch eine breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, was über das Phänomen gewusst wird und wie ihm beizukommen wäre. 39 Ethik Die Berichte unterscheiden zwei Strategien, die jeweils andere Ansätze dar- stellen, aber erst in der Kombination eine angemessene Reaktion erlauben. Die zwei strategischen Ansätze, die helfen sollen, mit dem Klimawandel um- zugehen, werden mit den Schlagworten Vermeidung und Anpassung be- zeichnet. Merksatz Vermeidung (englisch: mitigation) meint in diesem Zusammenhang alle ef- fektiven Maßnahmen, die getroffen werden, um die Situation nicht weiter zu verschlimmern. Es handelt sich also um die notwendige Wende in unter- schiedlichen gesellschaftlichen Feldern, um die Klimaänderung zu begren- zen. Anpassung (englisch: adaption) bezeichnet alle konstruktiven Maßnahmen, die gesetzt werden, um auf unvermeidbare und eintretende Folgen des Kli- mawandels möglichst angemessen zu reagieren. Die Kosten für diese Maßnahmen lassen sich den Kosten gegenüberstellen, die ein ungebremster Klimawandel verursachen würde. Eine Studie, die ur- sprünglich von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen wurde und im Jahr 2006 unter Federführung des ehemaligen Chefökonomen der Welt- bank, Nicholas Stern, veröffentlicht wurde, beziffert den Gesamtaufwand, den der ungebremste Klimawandel verursachen würde im Extremfall auf 20 % des globalen Bruttoinlandsprodukts. Die Kosten der notwendigen Maß- nahmen, um die CO2 Emissionen zu begrenzen, werden mit rund 2 % des globalen Bruttoinlandsprodukts veranschlagt. Hinter den ökonomischen Kennziffern verbergen sich auch harte Fakten, die menschliche Lebensrealitäten formen und globale Umbrüche meinen. Die Ausdehnung von Wüsten, die Unbewohnbarkeit mancher Landstriche, die Zunahme von Dürreperioden, die Veränderung von Jahreszyklen und die un- bekannten Auswirkungen auf die Landwirtschaft, Ernteausfälle, die Zunah- men von schlagartigen Regenfällen und Überschwemmungen, die Überflu- tung von Küstengebieten, Gesundheitsrisiken durch Hitzeperioden, die Zu- nahmen von Wetterextremen, ökonomische Unsicherheiten, die Zunahme von Versicherungsschäden und ihre Auswirkungen auf volatile Finanz- märkte, das sind nur einige der tatsächlichen Konsequenzen, die sich hinter den Kennzahlen verbergen, die dem Klimawandel eigen sind. Was sich im Zuge der Begrenzung der Erwärmung erreichen lässt, wäre die Größenord- nung und Intensität dieser fatalen Phänomene. Das ist entscheidend. In Anbetracht der fortgeschrittenen Situation bedarf es beider Maßnahmen- pakete, also Mitigation und Adaption, um mit den fatalsten Folgen der Kli- makrise umzugehen. Die digitale Transformation, sofern intelligent ange- wandt, könnte für beide Weichenstellungen entscheidende Beiträge liefern. 40 Ethik Die Schritte, die in der Anpassung gesetzt werden, bedürfen belastbarer Mo- delle, die klimatische Entwicklungen prognostizieren. Bessere Rechenleis- tungen, umfassendere Rechenmodelle, Datenaustausch zwischen privaten und öffentlichen Organisationen liefern in diesem Zusammenhang sehr kon- krete Beiträge. Im Hinblick auf die Vermeidung verlangt es eine durchdachte Perspektive, die objektive Notwendigkeiten mit den vorhandenen Möglichkeiten in Ab- gleich zu bringen versteht. Der zeitlichen Rahmen, der dabei zur Verfügung steht, wird durch den IPCC Report klar abgegrenzt, der im Jahr 2018 veröf- fentlicht wurde. Wird der vertraglichen Verpflichtung des Pariser Abkom- mens Folge geleistet und das Ziel anerkannt, dass die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad beschränkt wird, dann müsste spä- testens im Jahr 2050 der menschverursachte CO2 Ausstoß nahezu auf Null reduziert sein. Das ist der Zeithorizont, den es anzuerkennen gilt, um die Prinzipien der Vermeidung effektvoll zu verfolgen. Das 1,5 Grad Ziel würde auch die Schritte hinsichtlich Anpassung innerhalb eines bewältigbaren, weil planbaren Rahmens halten. Wie lässt sich aber nun der Zielvorgabe entsprechen? Die akute Schwierig- keit besteht erfahrungsgemäß darin, Wirtschaftswachstum vom Treibhaus- gasausstoß zu entkoppeln. Der Weltgemeinschaft ist es in den letzten Jahr- zehnten nur im Zuge der letzten globalen Rezession gelungen, den globalen Treibhausgasausstoß gegenüber den Vorjahren zu reduzieren. Die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, absichtlich die Weltwirtschaft in die Re- zession schlittern zu lassen, um die Ansprüche von Ökonomie und Ökologie miteinander zu harmonisieren. Stattdessen bedarf es einer effektiven Kooperation zwischen staatlichen Akteuren, agilen Märkten, veränderungswilligen Gesellschaften, einer kriti- schen Öffentlichkeit und demokratischen Machtverschiebungen. Es bedarf neuer Investitionen, die sich auch dadurch finanzieren lassen, dass Kapital aus den überbewerteten fossilen Energiemärkten abzieht. Gerade auch weil die ökologische Wende nach zielgerichteten Investments verlangt, muss die Tatsache zur Kenntnis genommen werden, dass 71 % aller menschverursachten Emissionen seit dem Jahr 1988 sich faktisch auf die Ge- Merksatz schäftspraktiken und Geschäftsmodelle von 100 Unternehmen zurückverfol- gen lässt. Die Geschäftspraktiken von 100 Unternehmen wären also für 71 % der menschverursachten CO2 Emissionen sei 1988 bis zum Jahr 2017 ver- antwortlich. Es zeigt, wie sehr ein grundlegender Umbruch stattfinden muss. Die nachfol- gende Grafik zeigt dabei die 15 größten Verschmutzer und dokumentiert 41 Ethik den relativen Wert, wieviel die jeweilige Geschäftspraxis zu den anthropo- genen CO2 Emissionen beigetragen hat. Als Bezugswert gilt der Zeitraum zwi- schen 1988 und 2017. Würde sich das in den Unternehmen gebundene Ka- pital weiterhin als Profit ungebremst realisieren und das Geschäftsmodell dieser Unternehmen fortbestehen, dann wären die wahren Kosten die ab- sehbare Zerstörung des natürlichen Lebensraums. Abbildung 9: Unternehmen, deren Produkte verantwortlich sind für die Mehrheit des vom Menschen verursachten CO2 Ausstoßes, Riley (2017) Um also den notwendigen Wandel zu realisieren, setzt es perspektivisches Denken voraus. Die nachhaltige Kurskorrektur kann dann gelingen, wenn ei- nerseits die Möglichkeiten technologischen Fortschritts ausgeschöpft wer- den und andererseits der Zeithorizont bis zur Mitte des Jahrhunderts durch Etappenziele gruppiert wird. Die vereinbarten Meilensteine lassen sich ent- sprechend den einzelnen Jahrzehnten setzen, um die Epoche bis zur Mitte des Jahrhunderts in konkrete Zeitabschnitte mit entsprechenden Arbeits- programmen zu teilen. Mit jedem Jahrzehnt, beginnend mit dem Jahr 2021, müsste die globalen Treibhausgasemission um die Hälfte reduziert werden. Einen solchen Plan hat eine Gruppe international hoch anerkannter Wissen- schaftler bereits im Jahr 2017 im renommierten Magazin Science 42 Ethik veröffentlicht.15 Die Grundannahme ist dabei, dass die Vereinbarungen des Pariser Klimaabkommens in Emissionsbudgets von 600 Milliarden Tonnen CO2 (600 Gigatonnen) übertragen werden. Bei dieser Kalkulation gilt es zu bedenken, dass jenes CO2, das durch menschliches Handeln bereits in der Atmosphäre abgelagert wurde, dort weiterhin verweilt. Es stellt sich also die kritische Frage, welches vorhandene Budget ausgeschöpft werden kann, das die Atmosphäre noch zur Verfügung stellen würde, wenn dem 1,5 Grad Ziel bis zum Ende des Jahrhunderts entsprochen werden soll. Hans Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenfor- schung, und Stefan Rahmstorf, Abteilungsleiter für Erdsystemanalyse am selben Institut, haben diese Ansätze in einem anderen Buch weiter zusam- mengefasst. 16 Das Jahrzehnt zwischen 2021 und 2030 würde demgemäß als Zeitraum der „heroischen Anstrengung“ gelten müssen. Es ist die entscheidende Dekade. Von einem Höhepunkt im Jahr 2020 ausgehend, wenn 40 Gigatonnen menschverursachtes CO2 jährlich ausgestoßen werden, wird bis zum Jahr 2030 dieses Ausmaß auf 20 Gigatonnen halbiert. Dazu braucht es neben der Wiederaufforstung von Regionen, auch die Transformation der industriellen Landwirtschaft und den wirksamen Stopp massiver Abholzungen, um gravie- rende Einschnitte zu schaffen. „Rodung von Wäldern und Umwandlung von Grünland in Ackerland, der Ausstoß der Klimakiller Lachgas (N2O, 300-facher CO2- Effekt) aus Mineraldüngung sowie Methan (CH4, 20-facher CO2-Effekt) durch Wiederkäuer und Nassreisanbau“ 17 – denn durch all diese Effekte trägt die konventionelle Landwirtschaft verantwortlich zum Klimawandel bei. Bis 2030 müssen […] auf alle Fälle die Kohleverstromung weltweit beendet und der Verbrennungsmotor auf allen Straßen ausgemustert sein. Gleichzeitig müssen aber auch die Grundlagen für strategische Innovationen im darauffol- genden Jahrzehnt geschaffen werden, etwa Materialien und Techniken für das klimaneutrale Bauen von Städten und Infrastruktur. Das heißt, dass in dieser Phase endgültig alle F&E Investitionen von fossilnuklearen Unternehmun- gen abzuziehen und in nachhaltige Wertschöpfungen um- zulenken sind. 18 15 Vgl. Rockström (u. a.), 2017, S. 1269 ff. 16 Vgl. Rahmstorf/Schellnhuber, 2018, S. 129 ff. 17 Vgl. Weltagrarbericht, 2018 18 Rahmstorf/Schellnhuber, 2018, S. 120 43 Ethik Auf Grundlage dieses Ansatzes müsste dann in der Dekade zwischen 2031 und 2040 fortgesetzt werden, die anthropogenen Treibhausgasemissionen müssen sich bis zum Jahr 2040 auf 10 Gigatonnen reduzieren. Die Ära wird als „Durchbruchphase“ tituliert. Nicht nur das andere Materialien wie Lehm und Holz den Hoch- und Tiefbau dominieren werden, auch haben sich Pri- vathaushalte zu energetischen Selbstversorgern gewandelt. Additive Ferti- gungsverfahren (also der 3D-Druck) lassen klimaneutral produzieren. Das IoT liefert die neuartige Infrastruktur, auf der sowohl Mobilität geschieht, was aber auch die Herstellung von Gütern betrifft. Es werden also nicht nur die Fertigungsverfahren verändert, sondern auch die genutzten Materialien erneuern sich. Die Zusammenarbeit zwischen Menschen wird sich weiter au- tomatisieren bzw. durch virtuelle Meetings und verteiltes Arbeiten be- stimmt sein. Die Landwirtschaft wird zunehmend ökologischer, die produ- zierten Lebensmittel hochwertiger. Was also stattfinden wird, wäre ein nachhaltiger Umbruch der industriellen Gesellschaft, die anderen Leitprinzi- pien folgen würde. Ab dem Jahr 2040 wird dann entscheidend nachgebessert. Es folgt die Peri- ode der „Vertiefungsdekade“. Unerwünschte Entwicklungen werden adap- tiert, aber vor allem entsteht im Umfeld der markanten Transformation ein neuer Innovationsgeist, getrieben von neuen technologischen Möglichkei- ten, günstigen Energiekosten und anderen Verfahren. Es entwickeln sich Chancen, Möglichkeiten und Gestaltungsperspektiven als Konsequenz die- ses industriellen Aufbruchs, der auch die digitale Transformation von Gesell- schaften und Märkten permanent voranbringt. Wenn also auf die konventionelle Epochenfolge der industriellen Revolution gezählt wird, dann besteht das Wesen der digitalen Transformation darin, der IV. Industriellen Revolution Gestalt zu geben. Neue Funktionslogiken greifen in Produktion und Handel, Märkte operieren mit neuen Strukturen, ausgediente Technologien und Organisationsformen werden durch agilere und adaptivere Systeme ersetzt. Doch diese IV. Industrielle Revolution findet ihre zweckvolle Bestimmung darin, wenn sie es vermag, die schädlichen Fol- gewirkungen der industriellen Revolution einzudämmen und diesbezüglich eine Kurskorrektur vornehmen. Die IV. Industrielle Revolution wirkt deshalb exzeptionell, weil sie die ökologische Kursrichtung der anderen industriellen Revolutionen ändern mag. Sie bildet in diesem Sinne nicht nur eine Erweite- rung und Erneuerung, sondern repräsentiert eine radikalen Neuansatz, sie verändert die immanente Konsequenz. Die digitale Transformation bildet nun die Erwartungshaltung, die existieren- den Systematiken auch in diesem Zusammenhang zu verändern. Der Wan- del, der benötigt wird, besteht nur in einem progressiven und fortschrittli- chen Neuansatz, wie sich die Ansprüche von Ökologie und Ökonomie im 21. 44 Ethik Jahrhundert anders denken und innovativ aufsetzen lassen. Die genutzten Technologien erhalten diesbezüglich eine Zweckvorgabe, deren volles Po- tenzial sich erst durch unternehmerische Fantasie entfalten ließe. Neben dem unternehmerischen Wirken braucht es aber auch klare rechtliche Rah- menbedingungen, die Orientierung darüber geben, wohin die Entwicklung steuern soll. Die Vorstellung, dass sich die Welt schlicht zurückdrehen ließe, um den dringlichen Problemen zu begegnen, bildet aller Wahrscheinlichkeit nach eine fatale Illusion. Vielmehr besteht die zentrale Verantwortung darin, von Kreativität, Erfindungsreichtum, bewährten Mitteln, Gerechtigkeitssinn und Neuansätzen mutig Gebrauch zu machen, um die Trendwende aktiv zu ge- stalten. Der Klimawandel repräsentiert die zentrale Herausforderung des 21. Jahr- hunderts. Nichts Vergleichbares wird dieses Jahrhundert so sehr bestimmen und die eigentliche Verantwortung für den Menschen begründen. Die digi- Merksatz tale Transformation erfasst entsprechend den wesentlichen Umbruch dieses 21. Jahrhunderts. Insofern verlangt es nach einem Mittel-Zweck Verhältnis. Die digitale Transformation wäre jenes Mittel, das zum Zweck der Eindäm- mung des Klimawandels effektiv genutzt werden muss. Wie das vergleichbar auch in anderen Zusammenhängen wirksam wird, er- klärt das folgende Kapitel. 45