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Diagnostik- Lektion 1.pdf

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IU International University of Applied Sciences

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psychological diagnostics mental health diagnostic methods

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LEKTION 1 EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSTIK LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – warum die Diagnostik in der Psychologie von so großer Relevanz ist. – wie Klassifikation definiert wird. – welche verschiedenen diagnostischen Klassifikatio...

LEKTION 1 EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSTIK LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – warum die Diagnostik in der Psychologie von so großer Relevanz ist. – wie Klassifikation definiert wird. – welche verschiedenen diagnostischen Klassifikationssysteme (DSM und ICD) es gibt. – wie der diagnostische Prozess abläuft. 1. EINFÜHRUNG IN DIE PSYCHOLOGISCHE DIAGNOSTIK Aus der Praxis Frau S., eine 49-jährige Geschäftsfrau in Führungsposition, hatte in ihrer Biografie mehrere Episoden mit veränderter Stimmung. Zeitlich waren diese meist nach einem Stresserleb- nis einzuordnen und verschwanden danach wieder von ganz allein; auch die derzeitige Phase begann in Zusammenhang mit einem möglichen geschäftlichen Misserfolg. Im Gegensatz zu den jüngsten Episoden besserte sich die Stimmung jedoch nicht, nachdem sich die berufliche Situation wieder verbessert hatte. Die Gemütslage von Frau S. war zunehmend depressiv ausgelenkt und zog sich wie eine dunkle Wolke über alle Lebensbe- reiche. Innerhalb von acht Wochen konnte Frau S. ihren Beruf nicht mehr ausüben und lag den ganzen Tag im Bett: Sie sei erschöpft und habe keine Kraft mehr aufzustehen. Sie äuß- ert, dass sie eigentlich keine Schlafprobleme habe, jetzt allerdings häufig schon früh auf- wache und dann im Zimmer auf und ab gehe, angetrieben von einem Gefühl extremer innerer Unruhe. Manchmal spiele sie sogar mit dem Gedanken, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Frau S. gibt an, zwischen sechs und neun Kilogramm abgenommen zu haben. (Kör- perliche Erkrankungen konnten bisher ausgeschlossen werden.) Ihre Mimik erscheint sehr teilnahms- und ausdruckslos. Frau S. schildert, dass sie zudem ihren Humor verloren habe. Auch beim Besuch ihrer Enkelkinder habe sie große Schwierigkeiten, sich zu freuen, vielmehr dominiere auch hier ein Gefühl innerer Leere. Des Weiteren berichtet sie von Schuldgefühlen: Sie fühle sich sowohl als Großmutter als auch beruflich als Versagerin. Sie ist überzeugt, dass sie ihre Familie im Stich lässt und die Firma ohne sie nicht mehr funkti- onieren würde (Wittchen/Hoyer 2011). Durch dieses Fallbeispiel soll veranschaulicht werden, welche Aspekte für die diagnosti- schen Prozesse in der Psychologie relevant sind. Was würde in dieser Situation ein ausge- bildeter Psychologe tun, der entscheiden soll, ob bei dieser Klientin eine psychische Stö- rung vorliegt oder nicht: Welche Schritte müssen durchlaufen werden? Wie muss man vorgehen? Welche Entscheidungsgrundlage kann hierzu herangezogen werden? Warum muss überhaupt eine Entscheidung getroffen werden? Ist es nicht bei erkennba- rem Leidensdruck eines Klienten ausreichend, sofort mit der Therapie zu beginnen: Wer einen Leidensdruck hat, „lässt sich von seinem Hausarzt Psychopharmaka verschreiben oder sucht einen Psychotherapeuten auf, der ihm helfen kann. Ist nicht jeder Mensch hinreichend kompetent, um festzustellen, ob er professionelle Hilfe benötigt oder nicht?“ (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 20). All diese Fragen sind in Zusammenhang mit der Einführung der psychologischen Diagnos- tik relevant. 14 1.1 Begriffsbestimmung Für die Begriffsbestimmung der psychologischen Diagnostik erscheint es sinnvoll, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Wissen überhaupt entsteht. Es erscheint zunächst relevant, den wissenschaftlichen Weg zur Erkenntnis vom „alltagspsychologischen“ Weg zur Erkenntnis abzugrenzen. In dieser Lektion soll besonders verdeutlicht werden, dass nur mithilfe wissenschaftlicher, psychologischer Methoden auch wirklich zuverlässige Ant- worten auf die oben formulierten Fragestellungen (z. B., ob bei Frau S. eine psychische Störung vorliegt) gefunden werden können. Psychologische Methoden sind also entscheidend für die psychologische Diagnostik und die Anwendung von diagnostischen Verfahren; deswegen erscheint es ratsam, eine Defini- tion genauer zu betrachten: „Unter psychologischen Methoden verstehen wir Vorgehens- weisen, mit deren Hilfe wir Antworten auf Fragen aus dem Gegenstandsbereich der Psy- chologie erhalten können“ (Hussy 2013, S. 3). Methodisches Vorgehen bildet also die Gegenstand der Psycho- Grundlage für die psychologische Diagnostik. logie das Erleben, Verhalten und Handeln des Men- Nach Walter Hussy (ebd., S. 28) besteht die psychologische Diagnostik aus Vorgehenswei- schen sen, die eine Feststellung von Eigenschaften einzelner Situationen sowie Personen zur Psychologische Diagnostik Folge haben. Diese erfolgt systematisch und zielgerichtet mit wissenschaftlich fundierten systematisches und ziel- psychologischen Methoden wie Anamnesen, Fragebögen, Testverfahren, Verhaltensbeo- gerichtetes Sammeln von bachtungen. Ziel der Diagnostik ist es, Erkenntnisse über Merkmalsträger (Patienten, Pro- Daten nach wissenschaft- lichen Methoden banden) zu erlangen, welche für eine Entscheidung über eine nachfolgende Intervention wie Training, Therapie, Beratung etc. genutzt werden können (ebd.). Auch in einer weiteren Definition der psychologischen Diagnostik wird die Verwendung von psychologischen Methoden betont, welche nach wissenschaftlichen Maßstäben kon- zipiert sind: „Psychologische Diagnostik […] dient der Beantwortung von Fragestellungen, die sich auf die Beschreibung, Klassifikation, Erklärung oder Vorhersage menschlichen Verhaltens und Erlebens beziehen. Sie schließt die gezielte Erhebung von Informationen über das Verhalten und Erleben eines oder mehrerer Menschen sowie deren relevanter Bedingungen ein. Die erhobenen Informationen werden für die Beantwortung der Frage- stellung interpretiert. Das diagnostische Handeln wird von psychologischem Wissen gelei- tet. Zur Erhebung von Informationen werden Methoden verwendet, die wissenschaftli- chen Standards genügen“ (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 4). Psychologische Diagnostik ist zudem als wissenschaftliche Disziplin definiert, deren Methodologie Verfahren und Strategien begründet, mit deren Hilfe Daten für Entschei- dungszwecke gewonnen werden (Wittchen/Hoyer 2011, S. 384). Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass die psychologische Diagnostik sich mit dem systematischen Sammeln und Aufbereiten von Informationen befasst. Sie untersucht dabei sowohl interindividuelle Unterschiede (also solche zwischen mehreren Personen) im Verhalten und Erleben als auch intraindividuelle Merkmale (also innerhalb nur einer Person) und Veränderungen. Häufig ist sie empirisch basiert und läuft standardisiert ab, es gibt jedoch auch halbstandardisierte und eher freiere Verfahren. 15 1.2 Geschichte der psychologischen Diagnostik Auch wenn der Beginn der wissenschaftlichen Psychologie erst Ende des 19. Jahrhunderts datiert ist(Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 22), wurden erste Vorläufer von Testverfahren jedoch bereits vor etwa 3000 Jahren in China zur Auswahl von Beamten eingesetzt (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 23). Zur Entwicklung psychologischer Tests in der Neuzeit liefert die folgende Tabelle einen kurzen Überblick: Tabelle 1: Wichtige Ereignisse in der Geschichte der psychologischen Diagnostik Jahr Ereignis Kommentar 1884 Sir Francis Galton stellt auf der internatio- Dies ist vermutlich der erste systematische Ver- nalen Gesundheitsausstellung in London such in der Neuzeit, interindividuelle Unter- ein psychometrisches Labor vor, das auch schiede in geistigen Fähigkeiten zu messen. kognitive Tests umfasst. Bereits ein Jahr zuvor hatte Galton in einer Publikation dargelegt, dass sich Menschen in ihren kognitiven Fähigkeiten unterscheiden. Mit klug ausgedachten Tests zur Reaktionszeit, Ton- höhenwahrnehmung etc. versuchte er, biologi- sche Grundlagen geistiger Fähigkeiten zu mes- sen. 1901 Clark Wissler führt die erste systematische Wissler führte mit über 300 Studenten kognitive Validierungsstudie zu kognitiven Tests Tests der Art, wie sie Galton propagiert hatte, durch. durch und korrelierte die Testleistungen mit Studiennoten. Die Korrelationen waren so nied- rig (die höchste betrug r =.16), dass der Ver- such, mit solchen Tests geistige Fähigkeiten zu messen, als gescheitert galt. 1905 Alfred Binet und Théodore Simon veröf- Der Test war völlig anders konzipiert als die fentlichen den ersten Intelligenztest. Tests Galtons; er entsprach eher heutigen Intel- ligenztests. Entwickelt wurde er im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums mit dem Ziel, geistig zurückgebliebene Kinder zu entde- cken, um sie angemessen zu beschulen. Der Test wurde bald in anderen Ländern adaptiert (1916 als US-amerikanische Version der Stan- ford-Binet-Test von Lewis M. Terman) und ver- breitete sich schnell. Die Aufgaben dienten zudem als Vorbild für andere Tests. Noch heute ist ein Nachfolgetest in Gebrauch. 1912 William Stern schlägt den Begriff „Intelli- Bei den ersten Intelligenztests wurde lediglich genzquotient“ vor und gibt eine Formel das „Intelligenzalter“ bestimmt, das angibt, dafür an. welchen Entwicklungsstand ein Kind erreicht hat. Stern schlug folgende Formel vor: Intelli‐ genzquotient = 100 · (Intelligenzalter/ Lebensalter). Ein Beispiel: Intelligenzalter = 6, Lebensalter = 8 Jahre; IQ = 100 · (6/8) = 75. Heute wird der IQ über die Abweichung vom Populationsmittelwert bestimmt. 16 Jahr Ereignis Kommentar 1917/18 Entwicklung und Einsatz des ersten Grup- 1917 waren die USA in den Ersten Weltkrieg ein- pentests (Army Alpha & Beta Examination) getreten. Die beiden Tests wurden von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Robert M. Yer- kes entwickelt, um Rekruten zu untersuchen (geistig inkompetente aussondern und bei anderen die Platzierung optimieren). Der Alpha-Test bestand aus acht Subtests (z. B. rechnerisches Denken, Synonyme-Antonyme, Analogien). Der Beta-Test bestand aus weitge- hend sprachfreien Aufgaben für den Einsatz bei wenig sprachkompetenten Rekruten. Mitarbei- ter, die an der Entwicklung der Army-Tests beteiligt waren, konstruierten später Intelli- genztests für den Bildungsbereich oder die Wirtschaft. Die Army-Tests dienten auch vielen anderen Testautoren als Vorbild. 1917/18 Entwicklung der ersten modernen Persön- Der harmlos als „Personal Data Sheet“ etiket- lichkeitstests (Personal Data Sheet) tierte Fragebogen diente ebenfalls zur Beurtei- lung von Rekruten, die von den USA in den Ers- ten Weltkrieg geschickt wurden. Er bestand aus 116 nach empirischen Kenntnissen ausgewähl- ten Fragen, die mit „Ja“ oder „Nein“ zu beant- worten waren. (Beispiel: „Gehen Ihnen Gedan- ken durch den Kopf, sodass Sie nicht schlafen können?“). Damit sollten neurotische Rekruten entdeckt werden, um sie dann gründlich psy- chiatrisch zu untersuchen. Der Fragebogen war Vorbild für andere Persönlichkeitsinventare. 1921 Der Rorschachtest wird publiziert. Der Schweizer Psychiater Hermann Rorschach veröffentlichte den ersten projektiven Test, der später nach ihm benannt wurde. Jede der zehn Tafeln zeigt Gebilde, die aus schwarzen oder farbigen Tintenklecksen bestehen. Die Testper- son soll angeben, was das sein könnte. Damit wurde ein völlig anderes Testkonzept verfolgt als mit den Persönlichkeitsfragebogen in den USA. Der Rorschachtest wird noch heute einge- setzt, und es liegen Tausende von Publikatio- nen dazu vor. 1939 Der erste Wechsler-Test erscheint. David Wechsler, ein Psychologe am Bellevue Hospital in New York, publiziert nach mehreren Jahren Vorarbeit die „Wechsler-Bellevue Intelli- gence Scales“. Er hatte nicht die Absicht, einen völlig neuen Test zu entwickeln. Die Items sind teilweise stark angelehnt an die Binet- und Army-Alpha- und -Beta-Tests. Neu war Wechs- lers Formel zur Berechnung des Intelligenzquo- tienten, in der er den Testwert des Probanden in Relation zum Mittelwert der Altersgruppe setzte. Der Test wurde 1955 zur bekannten Erwachsenenversion „Wechsler Adult Intelli- gence Scale“ (WAIS) weiterentwickelt. Für Kin- der und schließlich auch für Vorschulkinder kamen ähnlich aufgebaute Tests auf den Markt. Die Tests wurden von Wechslers Nachfolgern kontinuierlich weiterentwickelt und in viele Sprachen übersetzt. 17 Jahr Ereignis Kommentar 1943 Das MMPI wird publiziert. Mit dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory bringen der Psychologe Starke R. Hathaway und der Psychiater J. Charnley McKinley einen neuartigen Persönlichkeitsfra- gebogen auf den Markt. Wie beim Personal Data Sheet wurden die Items durch Vergleich von psychiatrischen und normalen Personen gewonnen. Das MMPI hat jedoch viele Skalen und – das war neu – Validitätsskalen, die ver- schiedene Formen der Verfälschung erfassen. Das Verfahren ist nach einer Überarbeitung (MMPI-2) heute noch verbreitet und wurde in Tausenden von Untersuchungen intensiv beforscht. Quelle: Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 24f. Besonders interessant erscheint es, sich mit der historischen Entwicklung der Intelligenz- messung zu beschäftigen. Die Franzosen Alfred Binet und Théodor Simone erarbeiteten bereits 1905 den ersten Intelligenztest im eigentlichen Sinne (Asendorpf/Neyer 2012, S. 196). Sie testeten hierbei intellektuelle Fähigkeiten auf einem höheren Komplexitätsni- veau, welches über reine Sinnesprüfungen wie bei Galton (siehe Tabelle) hinausging – die- ser hatte sich lediglich für die Unterscheidung von visuellen und akustischen Reizen inte- ressiert. Binets Testkonzept, die tatsächliche Leistung eines Kindes mit der alterstypischen Leis- tung in Relation zu setzen, erscheint uns heute als einfach, war damals jedoch revolutio- när: Zur Bestimmung des sogenannten Intelligenzalters wurden Kindern einer Altersstufe, z. B. Sechsjährigen, so lange Aufgaben unterer Altersklassen, also beispielsweise Fünfjäh- rigen, gegeben, bis die Lösung der Aufgaben gerade noch möglich war (ebd., S. 197). Anschließend wurden so lange schwierigere Aufgaben aus höheren Altersklassen vorge- legt, bis überhaupt keine Aufgabe mehr richtig gelöst werden konnte. Auf diese Weise wurde das Intelligenzalter bestimmt (ebd.). Doch erst der Berliner Psychologe William Louis (gebürtig: Ludwig Wilhelm) Stern entwi- Intelligenzquotient ckelte diesen Ansatz weiter und prägte den Begriff des Intelligenzquotienten (IQ) (Asen- Quotient aus Intelligenz- dorpf/Neyer 2012, S. 196). Dessen Mittelwert beträgt definitionsgemäß 100, die Standard- alter (IA) geteilt durch Lebensalter (LA) multipli- abweichung liegt bei 15. Allerdings wird der IQ heute auf andere Weise bestimmt als Stern ziert mit 100; später Quo- es 1912 vorgeschlagen hatte. Hierbei spielte David Wechsler eine entscheidende Rolle, der tient aus Testwert des 1939 den ersten Wechsler-Intelligenztest publizierte. Er „normierte [Hervorhebung d. Probanden geteilt durch Mittelwert der Alters- Verf.] die Testergebnisse für seinen Test innerhalb jeder Altersstufe“ (ebd.). gruppe normierte Ähnlich der historischen Entwicklung der Intelligenzmessung gab es auch besondere Mei- Eine Normierung ermög- licht die relative Einord- lensteine in der Entwicklung von Persönlichkeitstests. Im Rorschachtest beispielsweise nung der Testergebnisse werden Tintenklecksbilder als mehrdeutige Reize verwendet. Der Proband wird gebeten, einer Person innerhalb die Frage: „Was könnte das sein?“ zu beantworten. So ging man davon aus, dass die Inter- einer Bezugsgruppe. pretation des Tintenkleckses etwas über die Persönlichkeit aussage. Dieser Test wird heute sehr kritisch betrachtet (Zimbardo/Gerrig 2004, S. 647). 18 Auch im Thematischen Apperzeptions-Test (TAT) werden den Probanden mehrdeutige Sti- muli gezeigt: Sie sollen hierbei eine Geschichte zu den Stimuli erzählen, um Persönlich- keitseigenschaften und Motive der befragten Personen aufzudecken. Weitere Meilensteine in der Entwicklung von Persönlichkeitstests (z. B. das Personal Data Sheet) können der oben aufgeführten Tabelle entnommen werden. 1.3 Klassifikationssysteme in der Diagnostik Denken wir an das zu Beginn geschilderte Fallbeispiel zurück: Liegt bei Frau S. eine psychi- sche Störung vor, so ist der nächste Schritt, diese qualitativ näher zu bestimmen. Für diese Vorgehensweise ist der Begriff der Klassifikation entscheidend (Wittchen 2011, S. 33). Klassifikation Einteilung oder Einord- nung von Phänomenen, Exkurs in die klinische Psychologie die durch bestimmte gemeinsame Merkmale charakterisiert sind, in ein Eine wichtige Grundlage der psychologischen Diagnostik ist also die Klassifikation, da es nach Klassen gegliedertes gilt, aufgrund der vorhandenen Symptome die dazu adäquate Störungsklasse oder Stö- System rungskategorie zuzuordnen (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 6). Grundidee von Klassifikation ist es, aus einer möglichst reliablen Zuordnung und Diagnose auf Basis der klassifikatorischen Diagnostik ein möglichst effektives therapeutisches Vor- gehen, eine andere geeignete Intervention oder Beratungsmöglichkeit ableiten zu kön- nen. Ein wichtiger Grundsatz, den Sie in diesem Zusammenhang verinnerlichen sollten, lautet: ohne Diagnose keine Intervention (Behandlung). Klassifikation bezieht sich zudem auf die Fragestellungen, wie man Symptome, Verhalten oder Ergebnisse in Fragebögen oder Tests interpretieren kann, was diese inhaltlich bedeu- ten und wie sie interpretiert werden können. Um hierbei ganz besonders methodisch und systematisch vorgehen zu können, wurden Klassifikationssysteme wie beispielsweise die ICD und DSM entwickelt: „Mit der Entwicklung des DSM und den operationalen Kriterien der ICD ist die diagnostische Beurteilung systematisiert worden“ (Wittchen/Hoyer 2011, S. 392). Im Folgenden soll sowohl auf die ICD als auch auf das DSM genauer eingegangen werden. Beide Klassifikationssysteme spielen nicht nur eine wichtige Rolle für die klinische Psy- Klassifikationssysteme chologie, sondern sind insbesondere auch für die Diagnostik in der Psychologie relevant. dienen der zuverlässigen Zuordnung von Merkma- len und Personen zu ver- Die ICD schiedenen Klassen, z. B. ICD und DSM Die von der Weltgesundheitsorganisation „(WHO)“herausgegebene Internationale statisti- sche Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) ist ein weltweit anerkannter Katalog zur Klassifikation von Erkrankungen. In Deutschland müs- sen alle Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten, die über das Krankenkassensys- tem (gesetzlich und privat) abrechnen möchten, aktuell eine Codierung gemäß der 10. Auflage der ICD-10 (ICD-10) verwenden (Kassenärztliche Bundesvereinigung 2022). 19 WHO Alle Kapitel der ICD sind mit einem bestimmten Buchstaben versehen. Hervorzuheben ist, Die Weltgesundheitsorga- dass psychische Störungen durch die sogenannten F-Codes gekennzeichnet sind. Diese nisation (englisch: World Health Organization) mit befinden sich im Kapitel V. Sitz in Genf ist eine Son- derorganisation der Ver- Im Folgenden sind auch die Hauptkategorien des Kapitels V der ICD 10 überblicksartig auf- einten Nationen und gibt u. a. die Internationale geführt: Klassifikation der Krank- heiten (International Classification of Diseases; Tabelle 2: Hauptkategorien des Kapitels V der ICD-10 ICD) heraus. F0 Organische, einschließlich symptomatischer, psychischer Störungen F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F3 Affektive Störungen F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F8 Entwicklungsstörungen F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Quelle: erstellt im Auftrag der IU, in Anlehnung an Dilling/Mombour/Schmidt 2014, S. 49ff. Die alleinige Klassifikation nach Hauptkategorien würde der Komplexität der klinischen Psychologie nicht gerecht werden. (Wenn Sie an das Fallbeispiel der Geschäftsfrau aus der Einführung zurückdenken: Würde Ihnen die Klassifikation F3 – Affektive Störungen – aus- reichen oder würden Sie sich eine genauere Differenzierung beispielsweise in depressive Episode wünschen?) Daher erfolgt neben der Grobklassifikation in Hauptkategorien in der ICD eine weitere Untergliederung durch die dezimalnumerischen Untergruppen (Dilling/ Mombour/Schmidt 2014, S. 24). Beispielsweise wird die generalisierte Angststörung mit F41.1 codiert. So lässt sich die erwähnte Diagnose F41.1 nicht nur der Hauptkategorie F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zuordnen, sondern der Kategorie F41 andere Angststörungen zuweisen. Noch genauer differenziert dann die erste Nach- kommastelle: F41.1 steht also für die generalisierte Angststörung. Die ICD-11 ist eine Weiterentwicklung der ICD-10, an der bereits ab 2007 gearbeitet wurde. Obwohl die Revision am 1. Januar 2022 in Kraft trat, steht das Datum der Einführung in Deutschland noch nicht fest, da viele etablierte Prozesse im Gesundheitssystem auf der alten ICD-10-GM beruhen und somit ein Umstieg komplex ist (Bundesinstitut für Arznei- mittel und Medizinprodukte 2022). 20 Das DSM Beim DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) handelt es sich um das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen (Saß/Wittchen/Zaudig 1998). Es liegt mittlerweile in der fünften Version vor (DSM-5). Versuchen Sie sich bitte das Fallbeispiel aus der Einführung in Erinnerung zu rufen. Hier finden Sie die DSM-5-Diagnose für das Fallbeispiel aufgeführt: DSM-5-DIAGNOSE Fallbeispiel: Major Depression, rezidivierend, schwer ohne psychotische Merkmale, mit melancholischen Merkmalen, mit Vollremission zwischen den Episoden (Wittchen 2011, S. 408) Wären Sie zur gleichen Diagnose gekommen? Historischer Exkurs DSM-IV Kennzeichnend für das DSM-IV, der historisch sehr bedeutsamen Vorgängerversion des aktuelleren DSM-5, ist eine Untergliederung in verschiedene Achsen: In Achse 1 werden die klinischen Störungen (z. B. depressive Episode) diagnostiziert. Achse 2 bezieht sich u. a. auf die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen (z. B. antisoziale Persönlichkeitsstörung). In Achse 3 werden die medizinischen Krankheitsfaktoren erfasst. Achse 4 widmet sich psychosozialen Problemen (etwa im sozialen Umfeld, Wohnung, Arbeitsleben) und Achse 5 bezieht sich schließlich auf die Erfassung des globalen Funkti- onsniveaus (GAF) (Rief/Stenzel 2012, S. 12). Diese theoretische Grundlage des DSM-IV lohnt es sich zu kennen. Im Folgenden soll jedoch die neueste Version dieses Klassifikati- onssystems im Mittelpunkt stehen. DSM-5 In der neuesten Auflage des DSM wird leider vollends auf die polyaxiale Gestaltung (d. h. die verschiedenen Achsen) verzichtet. Dennoch ist es wichtig, die verschiedenen Achsen als Grundlage verschiedener für die Praxis sehr relevanter diagnostischer Verfahren (wie beispielsweise dem Strukturierten Klinischen Interview nach DSM (SKID)) zu kennen. Neben dem Verzicht auf die polyaxiale Gestaltung gibt es in der aktuellsten Version des DSM noch weitere Änderungen: So gibt es etwa tiefgreifende Veränderungen bezüglich der Diagnose Demenz. Das Diagnosekonglomerat „Demenzen, Delirien und amnestische Stö- rungen“ wird in der neuesten Auflage des DSM durch die Diagnosegruppe „neurokognitive 21 Störungen“ ersetzt (Maier/Barnikol, 2014, S. 564). Vorteil dieser Änderung ist, dass das Konzept Neurokognitive Störungen jetzt deutlich breiter gefasst ist als der Demenzbegriff im DSM-IV. Argumente, die generell für die Klassifikation sprechen und ihre Notwendigkeit für Wissen- schaft und klinische Praxis verdeutlichen, werden im Folgenden aufgezählt (Michael/ Margraf 2003, S. 238): „Erleichterung der Kommunikation durch eine klar definierte Nomenklatur[;] Informationsreduktion ist sinnvoll und notwendig, da eine erschöpfende Beschreibung von Einzelfällen weder möglich noch praktikabel ist[;] wirtschaftliche Informationsvermittlung, da von Diagnose auf Störungsmerkmale geschlossen werden kann[;] Feststellen von überzufälligen Syndromen, d. h., bestimmte klinische Merkmale treten beson- ders häufig zusammen auf[;] Klassifikation ist Basis für eine systematische Wissensakkumulation.“ Im Sinne einer kritischen Reflexion ist allerdings wichtig, zu verinnerlichen, dass Klassifi- kationssysteme nie ideal sind, sondern immer nur dem im Moment gültigen Konsensus entsprechen. Dies lässt sich am besten an dem Beispiel verdeutlichen, dass bis zum Jahr 1992 auch Homosexualität in der ICD als Diagnose zu finden war. Somit wird klar, wie drin- gend Klassifikationssysteme immer wieder von Neuem kritisch hinterfragt und überarbei- tet werden müssen. Weitere Nachteile von Klassifikationssystemen werden in der folgen- den Liste aufgeführt (Michael/Margraf 2003, S. 238): „dignostische Etiketten (Labels) fördern bzw. bewirken Stigmatisierung[;] Informationsverlust durch ungenügende Beschreibung des Einzelfalls[;] Risiko des Vertauschens von Deskription und Erklärung[;] künstliche Klassen erhalten einen unangemessenen Realitätsgehalt[;] Klassen verdecken zugrunde liegende Dimensionen[;] mangelnder praktischer Nutzen, da keine spezifische Therapie aus Diagnose folgt.“ 1.4 Arten psychologischer Diagnostik In Bezug auf die psychologische Diagnostik gibt es verschiedene Unterscheidungsmerk- male: Status- vs. Veränderungsdiagnostik: Bei der Statusdiagnostik steht die Erfassung des aktuellen Ist-Zustandes, etwa des aktuellen Leistungsgrades im Mittelpunkt (Kubinger 2003, S. 18). Es wird daher auch von Eingangsdiagnostik beispielsweise vor einer psy- chologischen Intervention gesprochen (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 18). Die Eig- nungsbeurteilung bei Leistungs- und Verhaltensdefiziten in der beruflichen Tätigkeit dafür wäre ein Beispiel (Althoff 1997, S. 181), ähnlich wie auch die Beantwortung der Fragestellung „Welche Ursache haben die schlechten Schulleistungen?“ im Bereich der Schulpsychologie (Schmitt/Gschwendner 2006, S. 383). Der Vergleich zweier Zustände im Zeitverlauf ist bei der Veränderungsdiagnostik zentral. Beispielsweise wird evaluiert, 22 ob bei der Geschäftsfrau aus dem Fallbeispiel die kognitive Verhaltenstherapie im Zeit- verlauf der durchgeführten Therapie wirklich einen Rückgang der depressiven Sympto- matik bewirkt hat. norm- vs. kriteriumsorientierte Diagnostik: Individuelle Merkmalswerte werden bei der normorientierten Diagnostik mit einer Bezugsgruppe (Normgruppe) verglichen. Ein Beispiel hierfür sind Intelligenztests. Bei diesen ist die Bezugsgruppe in der Regel eine Altersgruppe. Bei der kriteriumsorientierten Diagnostik dagegen wird das Ergebnis einer Person nicht mit einer Bezugsgruppe, sondern mit einem Kriterium verglichen. Ein Beispiel sind Klausurbenotungen. Hier richtet sich die Note einer Person nach dem Kri- terium der Anzahl richtig gelöster Aufgaben (Kubinger 2003, S. 19). dimensionale vs. klassifikatorische bzw. kategoriale Diagnostik: Bei der dimensio- nalen Diagnostik werden Merkmalsausprägungen auf (mehr oder weniger) kontinuierli- chen Dimensionen abgebildet, z. B. psychische Leistungstests, welche es ermöglichen, die Leistung einer Person auf verschiedenen Leistungsdimensionen festzustellen. Die klassifikatorische bzw. kategoriale Diagnostik beruht dagegen auf der Tendenz, Sach- verhalte aufgrund gemeinsamer charakteristischer Merkmale in diskrete Gruppen ein- zuteilen. Klassifikatorische bzw. kategoriale Diagnostik erfolgt mithilfe von Klassifikati- onssystemen (z. B. ICD, DSM): Es bestehen qualitative Unterschiede zwischen Personen und diese Personen werden verschiedenen Klassen zugeordnet (Ortner 2003, S. 21). Verschieden Arten von diagnostischen Informationsquellen Im obigen Fallbeispiel wurde die Frage aufgeworfen, ob bei dieser Klientin eine psychische Störung vorliegt oder nicht. Um diese diagnostische Fragestellung beantworten zu kön- nen, lassen sich verschiedene Arten von Informationsquellen heranziehen. So können verschiedene Erhebungsmethoden wie Beobachten, Selbstberichtsverfahren, biopsychologische und neurowissenschaftliche Messungen, Testen oder Datenerhebung im Internet unterschieden werden. Wissenschaftliches Beobachten grenzt sich durch seine systematische und regelgeleitete Ausführung von der alltäglichen Beobachtung ab. Ein für die psychologische Diagnostik wichtiger Bereich sind Selbstberichtsverfahren: Befragung und Rating. Sie ermöglichen einen Zugang zu nicht direkt beobachtbaren oder nur schwer zugänglichen innerpsychi- schen Prozessen. Bei der Befragung handelt es sich um eine allgemeine Form der Datenerhebung, das Rating ist eine spezielle Form der Befragung (Echterhoff 2013, S. 74). Wichtige Kriterien von Befragungsverfahren, die verinnerlicht werden sollten, sind: schriftlich vs. mündlich, standardisiert vs. nichtstandardisiert, strukturiert vs. unstrukturiert, Einzel- vs. Gruppen- befragung (ebd., S. 74f.). Eine schriftliche Befragung sollte möglichst unter standardisier- ten und kontrollierten Bedingungen erfolgen. Bei einem Rating dagegen geben Befragte Urteile auf einer numerisch interpretierbaren Skala ab (ebd., S. 77). Der sehr wichtige Bereich der Tests wird später in dieser Lektion skizziert. 23 1.5 Anwendungsbereiche psychologischer Diagnostik In der folgenden Tabelle sind verschiedene Anwendungsgebiete der psychologischen Diagnostik aufgeführt: Tabelle 3: Nutzen Psychologischer Diagnostik anhand von Beispielen Bereich Zweck Psychologischer Diagnostik gesellschaftlicher Nutzen pädagogische Psycho- Schullaufbahnberatung (Schule, höhere Lebenszufriedenheit der rich- logie Schulform oder Klasse finden, in tig platzierten Schüler, eventuell spä- denen ein Schüler mit seinen Fähig- ter bessere Berufschancen, effizienter keiten, Interessen und Persönlich- Einsatz der Ressource Schule keitsmerkmalen einen guten Abschluss erreichen wird) klinische Psychologie Erkennen und genaue Bestimmung Patienten werden dadurch einer The- von psychischen Störungen rapie zugeführt, die ihre Lebenszuf- riedenheit und eventuell ihre berufli- che Leistungsfähigkeit verbessert und eventuell ihre Suizidgefährdung reduziert. forensische Psycholo- Straftäter erkennen, die ein hohes Gesellschaft wird vor schweren Straf- gie Risiko aufweisen, nach ihrer Entlas- taten geschützt; Straftäter erfährt sung wieder schwere Straftaten zu eventuell weitere Behandlung, die begehen ihm später ein straffreies Leben ermöglicht. Personalpsychologie Potenzialanalyse (Stärken und gezielte Förderung der Mitarbeiter Schwächen von Mitarbeitern erken- durch Einsatz, der ihren Fähigkeiten nen) gerecht wird; Personalentwicklungs- maßnahmen zur Behebung von „Schwächen“ Verkehrspsychologie Verkehrseignung von Personen über- Gesellschaft wird vor gefährlichen prüfen, die wegen Trunkenheit am Verkehrsteilnehmern geschützt; Steuer oder anderer Delikte ihren Betroffenen wird eventuell ein Weg Führerschein verloren haben aufgezeigt, wie sie an sich arbeiten können, um wieder eine Fahrerlaub- nis zu erhalten. Quelle: Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 23. Beispiele für diagnostische Fragestellungen in verschiedenen Anwendungsfeldern lauten folgendermaßen (Schmitt/Gschwendner 2006, S. 383): Ist die Zeugenaussage glaubhaft (Rechtspsychologe)? Wird die Klientin die Konfrontationstherapie abbrechen (Klinische Psychologin)? Ist der Körperbehinderte fähig, ein Kraftfahrzeug sicher zu führen (Verkehrspsychologin)? Wird der Straftäter rückfällig werden (Psychologe im Strafvollzug)? Ist die Bewerberin für die ausgeschriebene Stelle geeignet (Personalpsychologin)? 24 1.6 Der diagnostische Prozess Die psychologische Diagnostik erstreckt sich also über die verschiedenen Anwendungsbe- reiche der Psychologie und bildet eine zentrale Basis für psychologisches Handeln und psychologische Interventionen. Enorm wichtig ist dabei die Frage, wie psychologische Fra- gestellungen erarbeitet und schließlich beantwortet werden und welche Arbeitsschritte dabei von Bedeutung sind. Am besten lassen sich die verschiedenen Aspekte des diagnos- tischen Handelns als Prozess darstellen. Der Diagnostische Prozess wird definiert als „personale, zeitliche, strategische und organi- satorische Erstreckung zwischen vorgegebenen Fragestellungen sowie die Beantwortung dieser zuerst eher allgemeinen und später immer spezifischeren Fragestellungen. Die Beantwortung findet in Form einer Pro- oder Diagnose statt. Diese ist auch Ausgangslage bzw. Hilfestellung für eine Entscheidung durch den Auftraggeber“ (Jäger 2006, S. 89). Die psychologische Diagnostik hat sich in ihrer Geschichte immer mehr von der Beantwor- tung eher allgemeiner und abstrakterer Fragestellungen (z. B. der Erstellung von Persön- lichkeitsprofilen von Menschen) hin zu konkreteren, „kleineren“ Fragestellungen (z. B. im Rahmen von forensischen Gutachten o. ä.) entwickelt. Dabei sollten auch nur die Daten erhoben werden, die für die Beantwortung der Fragestellung relevant sind. Die Frage, welche Schritte im diagnostischen Handeln und zur Beantwortung von psycho- logischen Fragestellungen relevant sind, ist nicht nur empirisch interessant, sondern bekommt in puncto Qualitätssicherung sowie im Rahmen der Ausbildung junger Diagnos- tiker eine enorm große Bedeutung. Am Anfang des diagnostischen Handelns steht der Kontakt mit dem Auftraggeber. Psycho- logische Diagnostik stellt so immer auch einen Interaktionsprozess dar (v. a. mit dem Auf- traggeber und Proband) (Schmidt-Atzert/Amelang 2012). In der Folge wird versucht, zunächst unspezifische Fragestellungen immer weiter zu konkretisieren und zu operatio- nalisieren, um einen möglichst klaren, eindeutigen Auftrag zu bekommen. Häufig spricht man an dieser Stelle von einem hypothesengeleiteten Vorgehen, in dem der Diagnostiker psychologische Fragen entwickelt und im Rahmen des diagnostischen Prozesses stellt. Der professionelle Diagnostiker orientiert sich dabei an aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, bezieht aber auch mitunter relevante Vorinformationen mit ein, z. B. bereits bestehende Gutachten oder Fremdanamnesen. Hierauf stellt sich die Frage, welche Daten und Quellen zur Beantwortung der Fragestel- lung herangezogen werden sollten: Welche Personen sollen z. B. befragt (Eltern, Lehrer o. ä.), welche psychologischen Methoden verwandt werden? Oft kommt eine Kombination aus Verfahren wie Interviews, Verhaltensbeobachtungen und psychologischen Testverfah- ren zum Einsatz (Schmidt-Atzert/Amelang 2012). Hierfür ist ein fundiertes methodisches Wissen des Diagnostikers vonnöten, etwa um Gütekritierien von Verfahren adäquat beur- teilen und in die Auswahlentscheidung mit einfließen lassen zu können. Im Rahmen der diagnostischen Untersuchung werden die relevanten Daten dann erho- ben. Hier ist wichtig zu betonen, dass es immer auch zu Nacherhebungen oder Wiederho- lungen kommen kann, da sich beispielsweise im Rahmen der Verhaltensbeobachtung 25 während der Erhebung neue Informationen oder Hypothesen ergeben haben. Genauso können jedoch z. B. Fragebögen fehlerhaft oder unvollständig ausgefüllt sein und so eine wiederholte Testung notwendig machen. Der diagnostische Prozess ist also keine „Ein- bahnstraße“ (Schmidt-Atzert/Amelang 2012, S. 390). Genügen die erhobenen Informatio- nen zur Beantwortung der Fragestellung, erfolgt die sogenannte diagnostische Urteilsbil- dung, in der die Ergebnisse integriert und interpretiert werden. Abschließend erfolgt die Rückmeldung der Ergebnisse an den Auftraggeber (und meist auch den Probanden). Oft geschieht dies im Rahmen eines psychologischen Gutachtens. Jedoch endet nicht jeder diagnostische Prozess mit einem Gutachten. Bei der Personalauswahl ist es beispielsweise unüblich, ein Gutachten zu erstellen. Vielmehr wird hier oft nur ein kurzes Ergebnisfeed- back angefertigt. Auch im klinischen Kontext fließen viele diagnostische Erhebungen direkt in die Therapieplanung oder deren Evaluation ein, ohne dass ein Gutachten darüber erstellt wird. 1.7 Testarten Der Begriff „Test“ wird in der heutigen Gesellschaft inflationär verwendet. Vielen Studier- enden sind daher wahrscheinlich verschiedene Intelligenz- oder Persönlichkeitstests aus den Medien bekannt. Doch gibt es durchaus noch weitere Arten von Testverfahren. Ziel des Testens als diagnostischem Verfahren ist eine relativ präzise Erfassung von Merkmal- sausprägungen von Individuen (Echterhoff 2013, S. 81). Echterhoff (2013, S. 81) definiert einen Test als ein wissenschaftlich begründetes methodi- sches Verfahren zur Erfassung eines oder mehrerer Merkmale, um eine möglichst genaue quantitative Aussage über den relativen Grad einer individuellen Merkmalsausprägung treffen zu können. Bestandteile eines Tests sind in der Regel mehrere Fragen oder Aufga- ben (Items). Es wird davon ausgegangen, dass diese von verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten nicht gleich, sondern verschieden beantwortet werden: „In einem abstrakteren methodischen Sinn wird ein Test auch als eine standardisierte Verhaltensstichprobe definiert, die aus Antworten auf eine Mehrzahl von Items besteht. Aus den Antworten wird der Testwert der untersuchten Person aggre- giert“ (ebd.). Es gibt verschiedene Arten von Testverfahren: Die häufigste Unterscheidung erfolgt zwi- Leistungstest schen Leistungs- und Persönlichkeitstests. „Tests, die (vor allem kog- nitive) Merkmale zu einem objektiven Güte- Leistungstests standard in Beziehung setzen, heißen Leistungs- tests“ (Echterhoff 2013, Intelligenztests dominieren zwar die psychologische Leistungsdiagnostik, jedoch wäre es S. 81). fatal, diese nur auf Intelligenztests zu reduzieren. Nichtsdestoweniger lohnt es sich, sich mit ihnen zuerst zu befassen. Der Intelligenztest HAWIE (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest) zählt zu den bekanntesten Intelligenztestverfahren. Benannt wurde er nach dem US-amerikanischen Psychologen David Wechsler. Der HAWIE ist eher von historischem Interesse, v. a. da heutzutage neuere Entwicklungen wie die Wechsler Adult Intelligence Scales – Revision IV (Deutsche Adap- 26 tion, WAIS-IV) existieren. Als dennoch in der Praxis immer noch häufig eingesetzter Test ist er es wert, dass man sich kurz mit ihm auseinandersetzt. Zudem bauen die Aufgaben des neueren WAIS-IV auf den Aufgaben des HAWIE auf. Dieser besteht aus einem Verbal- und einem Handlungsteil (Echterhoff 2013, S. 82f.), die einzelnen Unteraufgaben sind im Fol- genden mit Beispielitems kurz dargestellt: Tabelle 4: Aufgaben aus dem Wechsler-Test für Erwachsene (HAWIE-R) Skala Beispiel einer mittelschweren Aufgabe Allgemeines Wissen Was ist der Koran? Zahlen nachsprechen die Zahlen 6-1-9-4-7-3 vorwärts und rückwärts nachsprechen Wortschatztest die Bedeutung des Wortes „Parlament“ erklären Rechnerisches Denken 2 Bananen kosten 31 Pfennige. Wie viel müssen Sie für ein Dutzend Bananen bezahlen? Allgemeines Verständnis 2 Begründungen für das gesetzliche Arbeitsverbot für Kinder geben Gemeinsamkeiten finden Was haben Auge und Ohr gemeinsam? Bilder ergänzen herausfinden, dass bei einer Brillen-Zeichnung der Nasenflügel fehlt Bilder ordnen Bilder so ordnen, dass sich daraus eine sinnvolle Geschichte ergibt Mosaiktest die Teile eines Mosaiks nach einem Vorbild richtig anordnen Figuren legen ein Puzzle aus 7 Teilen innerhalb von 35 Sekunden zusammenset- zen Zahlen-Symbol-Test innerhalb von 90 Sekunden möglichst viele Symbole zu Zahlen nach einer Zahl-Symbole-Liste zuordnen Quelle: erstellt im Auftrag der IU, in Anlehnung an Echterhoff 2013, S. 83f. Die ersten sechs Subtests zählen zum Verbalteil, die letzten fünf zum Handlungsteil (Ech- terhoff 2013, S. 82f.). Ein weiterer etablierter Leistungstest ist der Test d2 – Revision (d2-R): Aufmerksamkeits- und Konzentrationstest von Brickenkamp, Schmidt-Atzert und Liepmann (2010). Hierbei handelt es sich nicht um einen Intelligenz-, sondern um einen allgemeinen Leistungstest zur Erfassung von Aufmerksamkeitsleistung und Konzentrationsfähigkeit. Bei diesem Durchstreichtest müssen unter Zeitdruck einfache visuelle Reize diskriminiert werden. Die Leistung kann in diesem Verfahren durch Schnelligkeit und Fehlerrate beschrieben wer- den. Es ist keine Erfassung von Belastbarkeit im eigentlichen Sinne möglich, doch erzeugt im Test der Zeitdruck die nötige Belastung. Der Test ist folgendermaßen aufgebaut: Ein Testblatt besteht aus Zeichen. Hierbei sind d oder p und zusätzlich ein bis vier Striche möglich. Es gibt drei Zielobjekte (d mit zwei Stri- chen) und zehn verschiedene Distraktoren. Aufgabe ist es nun, alle Zielobjekte (d mit zwei 27 Distraktoren Strichen) durchzustreichen. Relevant ist hierbei auch die Bearbeitungsdauer: Pro Zeile nicht richtige Alternativen gibt es eine Zeitvorgabe von 20 Sekunden. Dies klingt sehr abstrakt, wird aber deutlicher, in einer Mehrfachwahl im Sinne von Ablenkreizen wenn Sie sich die folgende Instruktion und Abbildung betrachten. STANDARDISIERTE INSTRUKTION UND AUSSCHNITT AUS DEM TESTBOGEN Auf dem Testbogen befinden sich 14 Zeilen mit den gleichen Zeichen wie in den Übungen. […] Streichen Sie – wie in den Übungen – jedes d mit zwei Stri- chen durch. Nach 20 Sekunden sage ich „Halt! Nächste Zeile!“ Dann hören Sie sofort auf und fangen ohne zu warten mit der nächsten Zeile an. Nach weiteren 20 Sekunden erfolgt wieder der Zuruf „Halt! Nächste Zeile!“ […] „Arbeiten Sie so schnell wie möglich – aber möglichst ohne Fehler.“ (Bricken- kamp/Schmidt-Atzert/Liepmann 2010) Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Testbogen des d2-R Quelle: Brickenkamp/Schmidt-Atzert/Liepmann 2010. Persönlichkeitstests „Denken Sie an alle Arten und Weisen, in denen Sie sich von Ihrem besten Freund oder Ihrer besten Freundin unterscheiden“ (Zimbardo/Gerrig 2004, S. 643). Mit diesen Fragestel- lungen beschäftigt sich, vereinfacht ausgedrückt, die Persönlichkeitspsychologie. So erfassen Persönlichkeitstests, wie der Name schon sagt, nun mehr oder weniger stabile Persönlichkeitseigenschaften. Nach Wittchen wird beispielsweise als Persönlichkeit die Gesamtheit aller zum Wesen eines Menschen gehörenden Erlebens und Verhaltensdispo- sitionen bezeichnet (Wittchen 2011, S. 404). 28 Als Beispiel für einen sehr bekannten Persönlichkeitstest wird im Folgenden das NEO Fünf- Faktoren-Inventar (NEO-FFI) von Borkenau und Ostendorf (1993) zur Erfassung der „Big- Five“-Persönlichkeitseigenschaften (Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Gewis- senhaftigkeit, Neurotizismus, Verträglichkeit) genauer erläutert. Es erfasst fünf Eigenschaftsdimensionen anhand von jeweils zwölf Items. Eine wesentlich differenziertere Erfassung der Persönlichkeit erlaubt die Langform, das NEO-PI-R (NEO-Persönlichkeitsin- ventar nach Costa und McCrae, zitiert nach Ostendorf/Angleitner 2004). Zu jedem der fünf Big-Five-Superfaktoren bietet es sechs Subskalen (Facetten). Beispielitems aus dem NEO-FFI „(1) Ich bin nicht leicht beunruhigt. (2) Ich habe gerne viele Leute um mich herum. (3) Ich mag meine Zeit nicht mit Tagträumereien verschwenden. (4) Ich versuche, zu jedem, dem ich begegne, freundlich zu sein. (5) Ich halte meine Sachen ordentlich und sauber. (6) Ich fühle mich anderen oft unterlegen. (7) Ich bin leicht zum Lachen zu bringen. (8) Ich finde philosophische Diskussionen langweilig. (9) Ich bekomme häufiger Streit mit meiner Familie und meinen Kollegen. (10) Ich kann mir meine Zeit recht gut einteilen, so dass ich meine Angelegenheiten rechtzeitig beende. (11) (…)“ 1.8 Anwendungsbeispiel Ein weiterer wichtiger, sowohl in Forschung als auch Praxis häufig eingesetzter Persönlich- keitstest zur Selbstbeurteilung ist das Freiburger Persönlichkeitsinventar (FPI-R). Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig, es eignet sich z. B. für die Bereiche Psychothe- rapie, Rehabilitation, Psychosomatik, chronische Erkrankungen und Gesundheitspsycho- logie. Insgesamt besteht das FPI-R aus folgenden zwölf Skalen: Gehemmtheit, Soziale Ori- Skala entierung, Leistungsorientierung, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, Körperliche „Jede Skala besteht aus mehreren Items (zu Beschwerden, Lebenszufriedenheit, Gesundheitssorgen und Offenheit sowie den zwei beobachtenden Verhal- Zusatzskalen Extraversion und Emotionalität. In der folgenden Übersicht sind einige Bei- tensweisen), die idealer- spielitems aufgeführt: weise den Fragebogeni- tems inhaltlich ähnlich sind“ (Schmidt-Atzert/ Amelang 2012, S. 156). Beispielitems aus dem FPI-R (1) „Ich habe die Anleitung gelesen und bin bereit, jeden Satz offen zu beantworten. (2) Ich gehe abends gerne aus. 29 Beispielitems aus dem FPI-R (3) Ich habe (hatte) einen Beruf, der mich voll befriedigt. (4) Ich habe fast immer eine schlagfertige Antwort bereit. (5) Ich scheue mich, allein in einen Raum zu gehen, in dem andere Leute bereits zusammensitzen und sich unterhalten. (6) Manchmal bin ich zu spät zu einer Verabredung oder zur Schule gekommen.“ Beispiel FPI-R-Befund vom 09.05.2013 Stellen Sie sich vor, Sie sind ein ausgebildeter Psychologe und erhalten den Auftrag, die- sen Test mit einem Probanden durchzuführen, ihn anschließend auszuwerten, die Ergeb- nisse zu interpretieren und einen Befund darüber zu verfassen. Wie würden Sie vorgehen? Um Ihnen einen ersten Eindruck zu verschaffen, ist im Folgenden ein Beispielbefund abge- druckt: Testsituation Der FPI-R wurde am Donnerstag, den 9. Mai 2013, zu Übungszwecken durchgeführt. Die Testdurchführung fand um 12:10 Uhr im Büro der Testleiterin statt und dauerte etwa 20 Minuten. Der Proband war 26 Jahre alt, männlich und arbeitete als Disponent bei einem größeren Konzern. Er war etwa 1,80 m groß und schlank. Er machte insgesamt einen ordentlichen und freundlichen Eindruck. Testbeschreibung Bei dem durchgeführten Persönlichkeitstest handelt es sich um das Freiburger Persönlich- keitsinventar in revidierter Fassung (Fahrenberg/Hampel/Selg 2010), einem objektiven, mehrdimensionalen Fragebogen, der Personen hinsichtlich zwölf stabiler, individueller Persönlichkeitsmerkmale beschreibt. Die Beschreibung basiert auf der Stellungnahme des Probanden zu vorgegebenen Aussagen (Selbstbeschreibung) und liefert somit Hinweise auf den relativen Grad seiner Merkmalsausprägung. Um die Ergebnisse diagnostisch ein- ordnen zu können, stehen nach Alter und Geschlecht differenzierte Normangaben zur Ver- fügung. Das Anwendungsalter liegt bei mindestens 16 Jahren. Verhaltensbeobachtung Der Proband lächelte viel und machte einen eher entspannten Eindruck. Er erkundigte sich sehr interessiert nach dem Ablauf und, da er schon sehr gespannt sei, dem Zeitpunkt, da er die Ergebnisse erfahren könne. Anschließend klärte ihn die Testleiterin darüber auf, wie der Test abläuft und dass seine Daten vertraulich behandelt würden. Zu Beginn des Tests legte der Proband beide Unterarme auf den Tisch, beugte sich über den Testbogen und las die genauen Instruktionen durch. Seine Beine waren übereinander geschlagen. In dieser Position verblieb er den gesamten Test über. Während des Tests spielte er häufig mit seinem Bart, wenn er nach einer Frage innehielt, um vermutlich zu 30 überlegen. Seltener kratzte er sich mal am Kopf oder spielte mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. Mit 20 Minuten war das Bearbeitungstempo durchschnittlich. Fragen gab es keine. Ergebnisbericht Die Rohwerte der einzelnen Skalen wurden in FPI-Standardwerte (Stanine) umgewandelt, um den Geschlechts- und Altersabhängigkeiten gerecht zu werden. Der Normbereich liegt bei Stanine-Werten von 4 bis 6 und deckt 54 % der Population ab. Hohe Werte stehen für eine starke, niedrige Werte für eine schwache Ausprägung der jeweiligen Skala. Für die Beanspruchungs-Skala ergab sich die extremste Ausprägung mit einem Stanine- Wert von 9 (4 % der Normstichprobe). Soziale Orientierung, Offenheit und Emotionalität erzielten ebenfalls hohe Werte mit jeweils 8 (7 %). Eine Tendenz zu Leistungsorientierung und körperlichen Beschwerden zeigte sich mit Werten von 7 (12 %). Dagegen war die Lebenszufriedenheit mit einem Wert von lediglich 2 (7 %) sehr gering. Die übrigen Skalen – Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggression und Extraversion – blieben mit Werten von jeweils 6 (17 %), sowie Gesundheitssorgen mit einem Wert von 5 (20 %), im Normbereich für Män- ner dieser Altersklasse (20–29 Jahre). Interpretation Der Proband räumte selbstkritisch vielerlei kleine Schwächen bzw. Fehler ein, die vermut- lich jeder hat. Er gab entweder ungeniert diese Unzulänglichkeiten zu oder nahm diese nicht als solche wahr, da er keinen Wert auf diesbezügliche Konventionen lege. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass der Proband die Fragen nicht mit dem Gedanken an sozi- ale Erwünschtheit beantwortet hat oder zur Selbstidealisierung neigt. Bei Menschen mit ähnlich hohen Werten der Offenheits-Skala – wie es z. B. eher bei Männern der Fall ist – korreliert diese häufig mit den Skalen „Erregbarkeit“ und „Aggressivität“. Im Fall des Pro- banden sind beide Skalen-Werte seiner Altersgruppe entsprechend und somit unauffällig, allerdings eher mit Tendenz zu erhöhten Werten. Dies gilt auch für die Skalen „Gehemmtheit“, „Extraversion“ und „Gesundheitssorgen“, wobei Letztere genau dem Erwartungswert entspricht und somit überhaupt keine Ten- denz hat. Der Proband beschreibt sich als leistungsorientierter Tatmensch, der wesentli- che Aufgaben energisch anpackt und effizient bewältigt. Außerdem gibt er an, gerne mit anderen zu wetteifern und zu konkurrieren, weshalb ihm berufliches Engagement oft wichtiger ist als das Verfolgen von Freizeitbeschäftigungen. Bei Menschen mit ähnlicher Ausprägung der Leistungsorientierung – eher bei Männern zu finden – korreliert diese mit höherer Lebenszufriedenheit und geringerer Gehemmtheit. Während sich die Gehemmtheit beim Probanden im Normbereich befand, schilderte die- ser seine Lebenseinstellung allerdings als sehr negativ. Er betonte seine Unzufriedenheit hinsichtlich gegenwärtiger und früherer Lebensbedingungen, Partnerschaft und Beruf. Auch gab er an, kaum sein Potenzial verwirklichen zu können sowie oft über sein Leben nachzugrübeln, was auf eine bedrückte, unglückliche Stimmung hinweist. Die allgemeine Tendenz von Männern und Berufstätigen zu einer hohen Lebenszufriedenheit ist hier nicht zutreffend. 31 Die geringe Lebenszufriedenheit des Probanden lässt sich mit der extrem hohen Bean- spruchung in Verbindung bringen. Er zeichnete ein Bild von sich als einem Mann, der sehr viele Aufgaben hat, starke Anforderungen und Zeitdruck auf der Arbeit erlebt und eigent- lich gern mehr Zeit für sich hätte. Er betonte seine starke Beanspruchung und die damit zusammenhängende Überforderung, die oft ein Gefühl von Stress, Nervosität und Erschöpfung zur Folge haben können. Dies schlägt sich auch in der Angabe körperlicher Beschwerden nieder: Der Proband äußerte ein eher gestörtes körperliches Allgemeinbe- finden mit Wetterfühligkeit, Hitzewallungen, zittrigen Händen und nervösem Zucken. In Hinblick auf den subjektiven Beanspruchungsgrad des Probanden kann man auf eine psy- chosomatische Störung schließen. Die Emotionalität steht u. a. in Verbindung zu geringer Lebenszufriedenheit, höherer Beanspruchung und mehr körperlichen Beschwerden, was mit den Skalenwerten übereinstimmend ist. Der Proband stellte sich als jemand mit äußerst vielen Problemen und inneren Konflikten dar, der sehr häufig über seine Lebensbedingungen nachdenkt. Er beschrieb sich außer- dem als sehr abgespannt, teilnahmslos und kaum von seinen Verwandten/Bekannten ver- standen. Ebenso stark ausgeprägt ist die soziale Orientierung des Probanden. Er betonte seine soziale Verantwortung gegenüber anderen Menschen sowie seine Hilfsbereitschaft, die sich u. a. darin äußert, dass er sich um andere sorgt und sie gerne tröstet. Außerdem äußerte er ein schlechtes Gewissen hinsichtlich des eigenen Lebensstandards und Kon- sums im Vergleich zu anderen, weshalb er auch zu Geldspenden bereit sei. Resümee Der Proband betont eine starke Beanspruchung und Überforderung, was vermutlich mit seinem leistungsorientierten, ehrgeizig-konkurrierenden Charakter einhergeht und so zu den angegebenen psychosomatischen Störungen führt. Er beschreibt sich als sehr labilen, emotionalen Mann, der viele Probleme und eine äußerst negative Lebenseinstellung hat. Das Zugeben kleinerer Schwächen bereitet ihm keine Schwierigkeiten. Generell zeigt er sich recht ungeniert und unkonventionell. Seine soziale Orientierung gibt er als stark aus- geprägt an und stellt sich somit als sehr hilfsbereit und mitmenschlich dar. ZUSAMMENFASSUNG Die psychologische Diagnostik befasst sich mit dem systematischen und zielgerichteten Sammeln von Daten und ist stark methodisch geprägt. Sie stellt ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der Psychologie im Ver- gleich zu anderen Disziplinen dar. Klassifikationssysteme (z. B. ICD und DSM) dienen der zuverlässigen Zuordnung von Personen zu verschiedenen Klassen. Diese sind beson- ders im Kontext der klinischen Psychologie wichtig. Das Arbeitsfeld der psychologischen Diagnostik umfasst jedoch eine große Vielfalt von wei- teren Anwendungsbereichen in der pädagogischen Psychologie, forensi- schen Psychologie, Personalpsychologie, Verkehrspsychologie, Neuro- psychologie und vielen mehr. 32 Auch bei allem Leidensdruck von Patienten oder der Dringlichkeit einer Personalentscheidung ist es notwendig, einen ausführlichen diagnosti- schen Prozess zu durchlaufen, bevor mit einer Maßnahme bzw. Therapie begonnen werden kann. Es gibt verschiedene Arten von Tests: Die wichtigste Unterscheidung erfolgt in Persönlichkeits- und Leistungstests. Ein sehr wichtiger Persön- lichkeitstest ist beispielsweise der NEO-FFI. Beim HAWIE dagegen han- delt es sich um einen sehr bekannten Leistungstest. 33

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