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This document discusses the concept of criminal law in Germany. It outlines the foundational principles and examines the structure of criminal offenses.

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§8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt Erster Abschnitt: Grundlagen der Tatbestandslehre § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands I. Begriff und Abgrenzung 1. Funktion und Herkunft Der Deliktstatbestand ist die Zusammenfassung der das strafbare Verhalten kennzeich­ nenden („typisierenden“) Mer...

§8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt Erster Abschnitt: Grundlagen der Tatbestandslehre § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands I. Begriff und Abgrenzung 1. Funktion und Herkunft Der Deliktstatbestand ist die Zusammenfassung der das strafbare Verhalten kennzeich­ nenden („typisierenden“) Merkmale, die innerhalb des Deliktsaufbaus zur Begründung des Unrechts der Tat notwendig sind.1 Die Tatbestandsebene ist daher die erste Stufe im Deliktsaufbau.2 Unter der Fragestellung, ob ein Verhalten „tatbestandsmäßig“ ist, wird geprüft, ob dieses Verhalten die im Strafgesetz genannten (positiven) Merkmale einer bestimmten Straftat erfüllt. Exemplarisch: Ob sich der Täter wegen dichten Auffahrens auf der Autobahn wegen Nötigung strafbar gemacht hat, hängt zunächst davon ab, dass dieses Verhalten überhaupt die im Deliktstatbestand des § 240 Abs. 1 genannten Merkmale aufweist. In Abgrenzung zum Begriff des Tatbestands wird mit dem Begriff des Sachverhalts das tatsächliche Geschehen – etwa: A schießt auf B – verstanden, das Gegenstand der rechtlichen Bewertung, also der Subsumtion unter einen Tatbestand, ist. 1 Die Tatbestandslehre ist eine Fortentwicklung der Lehre vom sog. corpus delicti. Hier­ unter wurden die äußeren Zeichen eines Verbrechens, die zu Verfolgungsmaßnahmen berechtigten, verstanden. Feuerbach definierte diesen Begriff wie folgt: „Der Inbegriff der Merkmale einer besondern Handlung oder Thatsache, welche in dem gesetzlichen Begriff von einer bestimmten Art rechtswidriger Handlungen enthalten sind, heißt der Thatbestand des Verbrechens (corpus delicti)“.3 2 Die neuere Konzeption des Tatbestands als Basis des Deliktsaufbaus wurde maßgeblich von Beling geprägt.4 Beling verstand den (nur objektive Merkmale enthaltenden) Tat­ bestand funktional als Leitbegriff, auf den sich das Rechtswidrigkeitsurteil und die (alle subjektiven Merkmale umfassende) Schuld beziehen. Hinsichtlich des Rechtswid­ rigkeitsurteils ist der Tatbestand die Beschreibung einer Verhaltensweise, die verboten, unter den besonderen Umständen einer Rechtfertigungssituation aber auch erlaubt sein kann. Schlägt A zB den B mit einem Knüppel nieder, so ist dieses Verhalten un­ ter der tatbestandlichen Beschreibung als Körperverletzung einerseits verboten, kann andererseits unter den Voraussetzungen einer Notwehrsituation aber auch erlaubt sein. Damit die abstrakt tatbestandliche Beschreibung einer Verhaltensweise sowohl Bezugspunkt eines Verbots also auch Bezugspunkt einer Erlaubnis sein kann, deutete 3 1 Umfassende Darstellung der Tatbestandslehre bei NK-Paeffgen/Zabel Vor § 32 Rn 7 ff; Überblick bei LK-Wal­ ter Vor § 13 Rn 40 f. 2 In dieser Funktion nennt man den Deliktstatbestand auch „Systemtatbestand“, vgl Roxin/Greco I § 10/4 ff. 3 Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 81; ebenda auch Mittermaier, Noten I-VIII zur Herkunft der Lehre vom corpus delicti. 4 Beling, Lehre vom Verbrechen, 1906; ders., Lehre vom Tatbestand, 1930; vgl hierzu und zur weiteren Entwick­ lung Jescheck/Weigend § 25 I. 73 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt Beling den Tatbestand als „wertfrei“, also als der strafrechtlichen Bewertung noch vor­ gelagert. Die Gesamtheit der Merkmale dagegen, die eine bestimmte Straftat – zB einen strafbaren Diebstahl – konstituieren, nannte Beling den Deliktstypus.5 Belings Interpretation des Tatbestands als wertfreier Leitbegriff des Deliktsaufbaus wird nicht mehr vertreten. Heute sieht man vielmehr im Tatbestand bereits die Verbotsmaterie, also das im Allgemeinen – dh ungeachtet spezifischer Rechtfertigungssituationen – als Unrecht bewertete Geschehen. 2. Gesamttatbewertende Merkmale 4 Einige Strafgesetze enthalten neben der Umschreibung des tatbestandsmäßigen Verhal­ tens noch eine gesonderte Regelung zur Feststellung des Unrechts dieses Verhaltens. So sagt etwa § 240 Abs. 2,6 dass die Nötigung im Allgemeinen – also auch beim Fehlen spezifischer Rechtfertigungssituationen – nur dann rechtswidrig ist, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Die Verwerflichkeit ist hierbei kein Merkmal des Tatbe­ stands selbst, sondern ein Hinweis darauf, dass die Tat, um rechtswidrig zu sein, insgesamt noch als verwerflich bewertet werden muss. Insoweit spricht man von einem gesamttatbewertenden Merkmal.7 Zum Tatbestand gehören jedoch die tatsächlichen Umstände, auf welche sich die Bewertung des Verhaltens als verwerflich und damit rechtswidrig stützt. Deshalb muss sich der Vorsatz auf die tatsächlichen Umstände, welche die Verwerflichkeit der Tat begründen, beziehen, während es für den Vorsatz unmaßgeblich ist, ob der Täter die Tat auch selbst als verwerflich einschätzt.8 3. Tatbestand und Rechtswidrigkeit 5 Nach einer gebräuchlichen Formel soll die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens dessen Rechtswidrigkeit „indizieren“.9 Doch ist diese Formel in zweierlei Hinsicht verfehlt. Zum einen ist der Umstand, dass ein Verhalten alle Merkmale eines Delikts­ tatbestands verwirklicht, nicht nur ein „Anzeichen“ für die Rechtswidrigkeit. Da der Deliktstatbestand der Inbegriff aller Voraussetzungen ist, durch die das Unrecht einer Straftat (positiv) festgestellt wird, ist die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens viel­ mehr der hinreichende Grund für seine Rechtswidrigkeit. Es muss für das abschließen­ de Rechtswidrigkeitsurteil nur noch negativ festgestellt werden, dass dieser allgemei­ nen Unrechtsbewertung im konkreten Fall nicht das Eingreifen einer Erlaubnisnorm (zB Notwehr nach § 32) entgegensteht. Zum anderen ist aber auch der Umstand, dass ein Verhalten die Voraussetzungen eines Deliktstatbestands verwirklicht, weder logisch noch empirisch ein Indiz dafür, dass im konkreten Fall kein Rechtfertigungsgrund ein­ greift. Trotz ihrer Gebräuchlichkeit sollte die Formel daher im Gutachten vermieden werden, zumal sie – bei korrektem Einhalten der einzelnen Prüfungsschritte – auch völlig überflüssig ist.10 5 Beling, Lehre vom Tatbestand, 1930, 3 und passim. 6 Vgl auch §§ 237 Abs. 1 S. 2, 253 Abs. 2. 7 HL, vgl nur S/S-Eisele Vor § 13 Rn 66 f; Roxin/Greco I § 10/45 ff; vgl auch NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 27 ff; abw. die sog. Lehre von den offenen Tatbeständen, vgl Welzel § 14 I 2b mwN. 8 Vgl Kindhäuser/Schramm BT I § 13/38 f mwN; hält der Täter sein Verhalten – trotz zutreffender Kenntnis der Sachlage – für nicht verwerflich, so befindet er sich in einem Verbotsirrtum nach § 17. 9 Vgl nur W-Beulke/Satzger Rn 181; Kühl § 6/2. 10 Vgl auch Freund/Rostalski § 3/2; NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 9. 74 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §8 § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands 4. Weitere Begriffsverwendungen Der Begriff des Tatbestands wird nicht nur zur Umschreibung der Voraussetzungen eines verbotenen Verhaltens verwendet, sondern auch zur Bezeichnung der Merkmale herangezogen, unter denen ein Verhalten erlaubt oder entschuldigt ist. Man spricht dann von einem „Rechtfertigungs-“ oder „Erlaubnistatbestand“ (zB den Notwehrvor­ aussetzungen nach § 32) oder „Entschuldigungstatbestand“ (zB den Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands nach § 35). Teils werden die Voraussetzungen der Rechtfertigungstatbestände nur als negative Merkmale eines Deliktstatbestands gedeu­ tet; die Zusammenfassung der positiven und negativen Voraussetzungen der Rechts­ widrigkeit wird dann „Gesamtunrechtstatbestand“ genannt.11 6 II. Tatbestandsabwandlungen 1. Grundtatbestand, Qualifikation und Privilegierung Der BT des StGB enthält zunächst solche Tatbestände, in denen die Grundform eines bestimmten Deliktstyps umschrieben wird. Diese sog. Grundtatbestände weisen alle Merkmale auf, die einer Straftat ihr typisches Gepräge geben.12 Beispiele sind der Totschlag (§ 212), die Körperverletzung (§ 223), die Nötigung (§ 240) oder der Dieb­ stahl (§ 242). Neben diesen Delikten stehen häufig weitere Tatbestände, die höhere oder niedrigere Strafen für den Fall vorsehen, dass neben dem Grundtatbestand noch weitere, das Unrecht der Tat berührende Merkmale erfüllt sind. Im Falle einer höheren Strafandrohung spricht man von einer Qualifizierung (Qualifikation) des Grundtatbe­ stands (zB § 224), im Falle einer Senkung des Strafmaßes von einer Privilegierung (zB § 216).13 7 Qualifikationen und Privilegierungen sind zwar nur Abwandlungen des Grundtatbe­ stands, da sie dessen Unrecht (iSe Stufenverhältnisses) steigern oder reduzieren. Es handelt sich bei ihnen aber insoweit um abschließende gesetzliche Regelungen, als sich die Strafe zwingend nach dem vorgesehenen Strafmaß richten muss, wenn die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind. Zugleich verdrängen privilegierende und qua­ lifizierende Tatbestände im Wege der Gesetzeskonkurrenz den Grundtatbestand; der Täter wird also nur nach dem Spezialtatbestand bestraft, da dieser ohnehin alle Un­ rechtsmerkmale des Grundtatbestands enthält.14 8 2. Regelbeispiele Neben den Qualifikationen kennt das StGB noch Strafschärfungsgründe, die nicht abschließend sind, sondern nur im Regelfall eingreifen. Sie werden als „Regelbeispie­ le“ für besonders schwere Fälle bezeichnet. Im Gegensatz zu den Qualifikationen gewähren Regelbeispiele dem Richter bei ihrer Anwendung in zweierlei Hinsicht eine gewisse Freiheit: Zum einen kann der Richter beim Strafmaß des Grundtatbestands bleiben, wenn er bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände das Unrecht der Tat trotz der verwirklichten Merkmale des Regelbeispiels für nicht gesteigert hält. Zum anderen ist der Richter befugt, einen schweren Fall auch dann zu bejahen, wenn zwar kein Merkmal eines Regelbeispiels erfüllt ist, das Unrecht der Tat aber bei Gesamtwür­ 11 12 13 14 Näher § 6 Rn 8, 10; § 29 Rn 20 f; vgl ferner Otto § 5/24; NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 12 mwN. Vgl auch W-Beulke/Satzger Rn 168; Gropp/Sinn § 2/45; Kargl JZ 2003, 1141 (1144). Vgl auch Gropp/Sinn § 2/45; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 6/62, 64. Näher zu den Konkurrenzen § 46 Rn 5 ff. 75 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9 §8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt digung aller Umstände in einer den Regelbeispielen vergleichbaren Weise gesteigert er­ scheint.15 Regelbeispiele sind unschwer an der in ihnen enthaltenen Formel „in der Re­ gel“ zu erkennen (und von echten Qualifikationen abzugrenzen). Exemplarisch sind die Vorschriften der §§ 243 Abs. 1, 263 Abs. 3 und 283a. 10 Die hM hält die Regelbeispiele für (bloße) Strafzumessungsregeln, um so einen Kon­ flikt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG zu vermeiden.16 Doch sind auch „echte“ Qualifikationstatbestände Strafzumessungsregeln, da sie unrechtsoder schuldrelevante Umstände als Voraussetzungen eines bestimmten Strafrahmens formulieren. Der Unterschied zwischen beiden Formen der Strafschärfung liegt viel­ mehr darin, dass Regelbeispiele offene, Qualifikationen dagegen bindende Strafzumes­ sungsregeln sind. Es spricht daher nichts dagegen, auch Regelbeispiele als „Tatbestän­ de“ zu bezeichnen, für welche die Regeln des AT uneingeschränkt gelten.17 Auch der BGH sieht in der Wertungsoffenheit der Regelbeispiele gegenüber den selbstständigen Qualifikationstatbeständen keinen Wesensunterschied, sondern nur eine formale Diffe­ renz in der Gesetzestechnik.18 Gleichwohl spricht die hM den Regelbeispielen die Tat­ bestandsqualität ab und will auf sie die Regeln des AT allenfalls analog anwenden.19 3. Delictum sui generis 11 Von einem Delikt eigener Art (delictum sui generis) spricht man, wenn durch die Kom­ bination eines Delikts mit weiteren Merkmalen oder zweier Delikte ein neues Delikt gebildet wird, das hinsichtlich der Unrechtsvertypung selbstständig und nicht nur eine (privilegierende oder qualifizierende) Abwandlung des Ausgangstatbestands sein soll.20 Mit einer solchen Verselbstständigung wird eine Abkoppelung des neuen Delikts vom gesamten Regelungskomplex des Ausgangstatbestands bezweckt. Ein verselbstständig­ tes Delikt in diesem Sinne ist der Raub (§ 249), der zwar aus Nötigung (§ 240) und Diebstahl (§ 242) zusammengesetzt ist, für den aber, als delictum sui generis, die auf die Diebstahlstatbestände anzuwendende Regelung des § 247 nicht gilt; daher wird der Raub gegenüber einem Angehörigen stets und nicht nur auf Antrag verfolgt. Auch ist § 28 Abs. 2 auf Delikte, die im Verhältnis Ausgangstatbestand und delictum sui generis stehen, nicht anwendbar. Ob ein Tatbestand einen Ausgangstatbestand nur qualifiziert oder selbstständig iSe delictum sui generis abwandelt, ist bei den fraglichen Tatbestän­ den durch Auslegung zu ermitteln.21 Es gibt keine formalen Zuordnungskriterien. III. Deliktstypen 12 Die einzelnen Strafgesetze des BT lassen sich in bestimmte Deliktstypen mit jeweils spezifischen Eigenheiten unterteilen,22 wobei für jeden Tatbestand mehrere Zuordnun­ gen möglich sind. 15 16 17 18 19 20 21 22 Näher Kindhäuser/Böse BT II § 3/1 ff mwN. BGHSt 26, 104 (105); 33, 370 (373); Arzt JuS 1972, 385 ff, 515 ff; Dölling JuS 1986, 688 (689). Calliess NJW 1998, 929 (934); Eisele JA 2006, 309 ff; Jakobs 6/99; Kindhäuser Triffterer-FS 123 (124 ff). BGHSt 26, 167 (173 f); vgl auch BVerfGE 133, 168 (211); BayObLG OLGSt § 243 Nr. 3, 2; Küper JZ 1986, 518 (526). BGHSt 23, 254 (256 f); 26, 104 (105); 33, 370 (373); Maiwald NStZ 1984, 433 ff; Sternberg-Lieben Jura 1986, 183; Wessels Maurach-FS 295 (298 f); vgl auch Roxin/Greco I § 10/134. W-Beulke/Satzger Rn 171; Gropp/Sinn § 2/48; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 6/68; Roxin/Greco I § 10/135. Roxin/Greco I § 10/135; M-Zipf § 20/43; umstritten ist insoweit, ob § 211 im Verhältnis zu § 212 Qualifikati­ on oder delictum sui generis ist, näher hierzu Kindhäuser/Schramm BT I § 1/2 ff, 2/52 ff. Vgl zu den verschiedenen Deliktstypen auch LK-Walter Vor § 13 Rn 58 ff. 76 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §8 § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands 1. Begehungs- und Unterlassungsdelikte Begehungsdelikte sind Straftaten, bei denen der Täter einen Tatbestand durch ein Tun (aktives Verhalten) zurechenbar verwirklicht.23 Dagegen sind Unterlassungsdelikte Straftaten, bei denen der Täter die ihm mögliche Verhinderung einer Tatbestandsver­ wirklichung zurechenbar unterlässt. Die Unterlassungsdelikte werden ihrerseits in ech­ te und unechte Unterlassungsdelikte unterteilt: 13 n E  chte Unterlassungsdelikte sind Straftaten, bei denen (bereits) das vom Deliktstat­ bestand umschriebene Verhalten ein bestimmtes Unterlassen ist.24 14 n Unechte Unterlassungsdelikte sind Straftaten, bei denen der Täter die Verwirk­ lichung eines Tatbestands nicht verhindert, obgleich er iSv § 13 Abs. 1 eine entspre­ chende Sonderpflicht („Garantenpflicht“) hat. Solche Unterlassungsdelikte werden „unecht“ genannt, weil der Tatbestand, auf dessen Verwirklichung sie sich bezie­ hen, ein Begehen umschreibt. Grds kann also jedes Begehungsdelikt unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 auch als unechtes Unterlassungsdelikt verwirklicht werden. 15 2. Allgemein- und Sonderdelikte Ein Allgemeindelikt ist eine Straftat, die jedermann verwirklichen kann (= „Jeder­ mann-Delikt“); das tatbestandliche Subjekt wird meist mit dem Ausdruck „wer“ bezeichnet.25 Demgegenüber sind Sonderdelikte Straftaten, die nur derjenige verwirk­ lichen kann, der die besonderen personenbezogenen Voraussetzungen erfüllt, unter denen die Verwirklichung des Tatbestands zu vermeiden ist.26 Das tatbestandliche Subjekt wird hierbei regelmäßig näher beschrieben, zB als Amtsträger in § 332.27 Die Sonderdelikte werden ihrerseits in echte und unechte Sonderdelikte unterteilt: 16 n E  chte Sonderdelikte sind Straftaten, die überhaupt nur ein Sonderpflichtiger ver­ wirklichen kann.28 Hier wirkt die Sonderpflicht strafbegründend.29 17 n U  nechte Sonderdelikte sind Allgemeindelikte, die für den Fall, dass sie durch einen Sonderpflichtigen verwirklicht werden, besondere Rechtsfolgen vorsehen.30 Zumeist wird der Strafrahmen erhöht. Hier wirkt die Sonderpflicht strafschär­ fend.31 18 3. Erfolgs- und Tätigkeitsdelikte Ein Erfolgsdelikt ist eine Straftat, deren Deliktstatbestand den Eintritt eines bestimm­ ten Ereignisses in der Außenwelt, den sog. Taterfolg (oder nur Erfolg), verlangt, zB den Tod des Opfers in § 212 Abs. 1.32 Eine Sonderform ist das erfolgskupierte Delikt, 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Zum Begriff des „Begehens“ Lampe GA 2009, 673 ff. So insbesondere §§ 123 Abs. 1 Alt. 2, 138, 323c. ZB §§ 212, 223, 323c. Eingehend zu den Sonderdelikten Langer, Die Sonderstraftat, 2007, 206 ff. Überblick zum Amtsträgerbegriff bei Rönnau/Wegner JuS 2015, 505 ff. ZB §§ 331, 339. Vgl auch § 28 Abs. 1. ZB §§ 258a, 340. Vgl auch § 28 Abs. 2. W-Beulke/Satzger Rn 37; Krey/Esser Rn 218 ff. 77 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 19 §8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt bei dem der Erfolg objektiv nicht eingetreten sein braucht, aber vom Täter subjektiv angestrebt werden muss;33 zB die Zueignung beim Diebstahl (§ 242) oder die Bevorzu­ gung im Wettbewerb bei der Wirtschaftskorruption (§ 299). Dagegen umschreibt der Deliktstatbestand beim (schlichten) Tätigkeitsdelikt nur einen Handlungsvollzug ohne Bezugnahme auf einen Erfolg.34 20 Erfolgsdelikte sind auch die sog. erfolgsqualifizierten Delikte. Hier wird das Unrecht der Tat durch den Eintritt eines zumindest fahrlässig (§ 18) herbeigeführten (weiteren) Erfolgs gesteigert, wie dies etwa bei der Körperverletzung mit Todesfolge in § 227 der Fall ist.35 4. Verletzungs- und Gefährdungsdelikte 21 Beim Verletzungsdelikt besteht der tatbestandliche Erfolg in der schädlichen Beein­ trächtigung des von der Norm geschützten Rechtsguts.36 So liegt zB der Taterfolg des Betrugs (§ 263), der dem Vermögensschutz dient, in der Herbeiführung eines Vermö­ gensschadens. Demgegenüber stellen die Gefährdungsdelikte bereits die Beeinträchti­ gung der Sicherheit des geschützten Rechtsguts unter Strafe; hier setzt die Tatbestands­ verwirklichung keine substantielle Beeinträchtigung des geschützten Gutes voraus.37 Die Gefährdungsdelikte werden in konkrete und abstrakte Gefährdungsdelikte unter­ teilt: 22 n Konkrete Gefährdungsdelikte sind Straftaten, bei denen der tatbestandliche Erfolg in der konkreten Gefährdung des Tatobjekts mit den Eigenschaften des geschützten Rechtsguts besteht. Ein solches Handlungsobjekt ist konkret gefährdet, wenn eine Situation eingetreten ist, in der aus der Perspektive eines mit den Umständen ver­ trauten Beobachters das Ausbleiben einer Verletzung nur vom Zufall abhängt.38 Exemplarisch: Ein Kraftfahrer verursacht alkoholbedingt einen Verkehrsunfall, bei dem ein Fußgänger nur durch Zufall unverletzt bleibt. Hier befindet sich der Fußgänger in einer konkreten Leibes- und Lebensgefahr, die als Erfolg iSv § 315c Abs. 1 Nr. 1 anzusehen ist. Konkrete Gefährdungsdelikte sind gewöhnlich daran zu erkennen, dass der Deliktstatbestand das Merkmal der Gefahr oder Gefährdung ausdrücklich erwähnt.39 Insoweit ist auch die Verursachung der Gefahr objektives Tatbestandsmerkmal und damit Gegenstand von Vorsatz bzw Fahrlässigkeit. 23 n A  bstrakte Gefährdungsdelikte (auch Gefährlichkeitsdelikte genannt) pönalisieren ein Verhalten, das zu einer Klasse von Verhaltensweisen gehört, die in den Augen des Gesetzgebers typischerweise zu einem Erfolg führen können. Zu ihrer Verwirk­ lichung braucht allerdings im Unterschied zum konkreten Gefährdungsdelikt kein Gefahrerfolg einzutreten.40 Es handelt sich entweder um Tätigkeitsdelikte41 oder 33 34 35 36 37 38 39 40 Vgl Frister § 8/27; Witzigmann JA 2009, 488 (489). ZB §§ 153 f, 316; zu Erfolgs- und Tätigkeitsdelikten ferner Rönnau JuS 2010, 961 ff; Bock ZIS 2021, 193 (198). Näher Kühl BGH-FS IV 237 ff; allg. Kudlich JA 2009, 246 ff. Vgl § 2 Rn 7. Eingehend Kindhäuser Krey-FS 249 ff. Zimmermann JR 2018, 23 (25) mwN. Vgl zB §§ 315 Abs. 1, 319, 330 Abs. 1 Nr. 2. MK-Radtke Vor §§ 306 ff Rn 6; NK-Zieschang § 316 Rn 2 f; Kindhäuser FS Krey 249 (261); Schünemann JA 1975, 787 (793). 41 ZB §§ 153 ff, 173. 78 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §8 § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands um Delikte, bei denen der Erfolg keine Rechtsgutsverletzung ist.42 Unter einer ab­ strakten Gefährdung ist die Beeinträchtigung der zur unbesorgten Verfügung über Güter notwendigen Sicherheitsbedingungen zu verstehen.43 Sicherheit ist selbst kein Rechtsgut, sondern ein Zustand, in dem das durch die Norm geschützte Rechtsgut keinen besonderen, sondern nur den allgemeinen sozialadäquaten Risiken des be­ treffenden Verkehrskreises ausgesetzt ist.44 Exemplarisch: Zur sicheren Teilnahme am Straßenverkehr gehört die objektiv begründete Gewissheit, dass andere Ver­ kehrsteilnehmer nicht alkoholbedingt fahruntüchtig sind. Diese Sicherheit wird durch die von § 316 erfasste abstrakt gefährliche Handlung beeinträchtigt. § 316 verlangt also nicht, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer konkret gefährdet oder gar verletzt wird, sondern stellt bereits den Vollzug der Handlung unter Strafe. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten muss der Sachverhalt nur unter den Tatbestand subsumiert werden. Es gibt kein Tatbestandsmerkmal der Gefahr, das zu prüfen wä­ re und subjektiv zurechenbar sein müsste.45 n Potenzielle Gefährdungsdelikte (auch als Eignungs- oder abstrakt-konkrete Gefähr­ dungsdelikte bezeichnet) bilden eine Untergruppe der abstrakten Gefährdungsde­ likte. Wie bei diesen braucht es weder zu einer Verletzung oder zumindest der konkreten Gefahr einer Schädigung zu kommen. Im Unterschied zum abstrakten Gefährdungsdelikt, das grds auch absolut ungefährliche Verhaltensweisen erfasst, muss die abstrakte Gefahr im konkreten Fall aber potenziell realisierungsfähig ge­ wesen sein, dh geeignet, einen Schaden herbeizuführen (zB muss die Nachstellungs­ handlung beim Stalking gem. § 238 Abs. 1 geeignet sein, die Lebensgestaltung des Opfers schwerwiegend zu beeinträchtigen). 24 5. Eigenhändige Delikte Eigenhändige Delikte sind Straftaten, die der Täter nur in Person begehen kann.46 So kann sich nur derjenige nach § 316 strafbar machen, der selbst im alkoholbedingt fahruntüchtigen Zustand das Fahrzeug führt. An einem eigenhändigen Delikt können Dritte zwar als Anstifter oder Gehilfen teilnehmen, sie können den Tatbestand aber nicht in mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2) verwirklichen. Die mittelbare Tat­ begehung wird deshalb in einigen Fällen durch eine besondere Vorschrift erfasst.47 25 6. Dauerdelikte Dauerdelikte sind Straftaten, bei denen der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg her­ beiführt und sodann über einen mehr oder weniger langen Zeitraum aufrechterhält. Sie sind bereits mit der Tatbestandsverwirklichung vollendet, die Verjährungsfrist be­ ginnt aber erst mit deren Beendigung (§ 78a). Exemplarisch: Das Dauerdelikt der Frei­ heitsberaubung (§ 239) ist vollendet, sobald das Opfer eingesperrt ist. Die Verjährung 42 ZB § 306a Abs. 1, der zwar tatbestandlich die Zerstörung von Bauwerken durch Feuer voraussetzt, aber (nur) den Schutz der menschlichen Gesundheit bezweckt. 43 Die abstrakten Gefährdungsdelikte sind kriminalpolitisch wie auch dogmatisch in vielerlei Hinsicht um­ stritten; näher hierzu Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht, 1991; Je­ scheck/Weigend § 26 II 2; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, 225 ff; Kuhlen GA 1994, 347 ff. 44 Vgl auch Kindhäuser GA 1994, 197 (199 f). 45 Einzelheiten werden im BT behandelt, vgl zB zu § 306a Kindhäuser/Schramm BT I § 62/16. 46 Näher Satzger Jura 2011, 103 ff; krit. zu dieser Figur Kindhäuser Tröndle-GS, 295 (296 m. Fn 8). 47 ZB § 160; näher hierzu Kindhäuser/Schramm BT I § 46/2. 79 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 26 §8 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt setzt jedoch erst mit der Beendigung des Freiheitsentzugs ein.48 Eine Unterkategorie bilden die Organisationsdelikte, die die Beteiligung an einer verbotenen Gruppe unter Strafe stellen (zB §§ 84, 127 ff).49 7. Zustandsdelikte 27 Zustandsdelikte sind Straftaten, die mit der Herbeiführung eines Zustands (in der Regel einer mehr oder weniger langen, ggf auch dauerhaften Beeinträchtigung des Rechtsguts) vollständig abgeschlossen und daher keiner Aufrechterhaltung durch den Täter fähig und bedürftig sind.50 Zustandsdelikte sind mit dem Eintritt des tatbe­ standsmäßigen Erfolgs zugleich vollendet und beendet. Beispielhaft sind die Körperver­ letzung (§ 223) und die Sachbeschädigung (§ 303), nicht aber der Diebstahl (§ 242), da hier die Eigentumsbeeinträchtigung ggf noch intensiviert werden kann.51 8. Unternehmensdelikte 28 Unternehmensdelikte sind Straftaten, bei denen der Deliktstatbestand den Versuch der Vollendung gleichstellt (§ 11 Abs. 1 Nr. 6).52 Hier ist die Tat mit ihrem Versuch gewissermaßen schon vollendet. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, dass ein strafbe­ freiender Rücktritt vom Versuch (§ 24) beim Unternehmensdelikt nicht möglich ist. Die Unternehmensdelikte werden in echte und unechte Unternehmensdelikte unterteilt: 29 n E  chte Unternehmensdelikte sind Straftaten, deren Deliktstatbestand ausdrücklich vom „Unternehmen“ einer Tat spricht.53 30 n U  nechte Unternehmensdelikte sind dagegen Straftaten, bei denen das Gesetz den Ausdruck „Unternehmen“ zwar nicht erwähnt, nach der Formulierung des Delikts­ tatbestands die Vollendung aber schon mit der Ausführung der Tathandlung eintre­ ten kann.54 So ist die in § 292 Abs. 1 Nr. 1 als „dem Wilde nachstellen“ umschrie­ bene Tat schon mit dem Versuch des Fangens vollendet. IV. Verbrechen und Vergehen 31 In der Strafrechtsdogmatik wird der Ausdruck „Verbrechen“ – gleichbedeutend mit den Ausdrücken „Delikt“ und „Straftat“ – als ein Synonym für jede Art von strafba­ rem Verhalten gebraucht. Daneben gibt es aber noch eine technische Verwendung des Ausdrucks „Verbrechen“: Das „Verbrechen im technischen Sinne“ ist die Kategorie der schwersten rechtswidrigen (Straf-)Taten. Die gesetzlich vorgesehene Mindestfrei­ heitsstrafe des Verbrechens beträgt ein Jahr (§ 12 Abs. 1). Rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind, werden dagegen „Vergehen“ genannt (§ 12 Abs. 2). An die Stelle der bis 1975 existenten weiteren Kategorie der Übertretungen (vgl § 1 Abs. 3 RStGB) sind die Ordnungswidrigkeiten (dazu § 1 Rn 1) getreten. 48 49 50 51 52 53 54 Vgl auch BGHSt 42, 215 (216). Näher Drenkhahn/Momsen/Diederichs NJW 2020, 2582 ff. Roxin/Greco I 10/106. Hierzu § 9 Rn 16. Näher hierzu Mitsch Jura 2012, 526 ff. ZB §§ 81 f. Krit. zum Nutzen dieser Begrifflichkeit Mitsch JuS 2015, 97 (104). 80 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 8 Begriff und Formen des Deliktstatbestands §8 Die Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen im technischen Sinne ist in mehrfa­ cher Hinsicht von großer praktischer Bedeutung, und zwar u. a. für 32 n n n n n die Strafbarkeit des Versuchs (§ 23); die versuchte Anstiftung (§ 30); die Gerichtszuständigkeit (§§ 24, 25, 74 GVG); das Opportunitätsprinzip (§ 153 StPO); das Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff StPO). 33 Wiederholungs- und Vertiefungsfragen > Was ist unter einem (Delikts-)Tatbestand, was unter einem Sachverhalt zu verstehen? (Rn 1) > Welche Formen der Tatbestandsabwandlungen kennt das StGB? (Rn 6 ff) > Wie sind Verbrechen und Vergehen voneinander abzugrenzen? (Rn 31) 81 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §9 § 9 Der Inhalt des Deliktstatbestands I. Objektiver und subjektiver Deliktstatbestand 1. Begriff und Funktion 1 Die gesetzliche Umschreibung der Merkmale eines strafbaren Verhaltens wird Delikts­ tatbestand (oder verkürzt: Tatbestand) genannt. Der Deliktstatbestand enthält alle Merkmale, die das strafbare Unrecht eines Verhaltens positiv begründen. Indem der Deliktstatbestand das strafbare Verhalten möglichst genau umschreibt („vertypt“), soll er zugleich dem einzelnen Bürger das jeweilige Unrecht plastisch und verständlich vor Augen führen und ihn so zu rechtstreuem Verhalten auffordern. Insoweit hat der Deliktstatbestand auch eine Appellfunktion zu erfüllen. Der Deliktstatbestand wird in einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand unterteilt: 2 a) Objektive Tatbestandsmerkmale: Die objektiven Tatbestandsmerkmale umschreiben das äußere Erscheinungsbild der Tat. Je nach Delikt enthalten die objektiven Tatbe­ stände mehr oder weniger viele Details,1 zu denen – in der üblichen Prüfungsreihenfol­ ge – gehören können: 3 n Tätermerkmale: beim Allgemeindelikt „wer“, ansonsten die Bezeichnung des Son­ derpflichtigen, zB „Amtsträger“ (§ 340), „Arzt“ (§ 278) oder „Schuldner“ (§ 283); n Tatobjekt mit näherer Charakterisierung (zB „fremde bewegliche Sache“, § 242); n Tathandlung (zB „wegnehmen“, § 242), ggf durch Verursachung eines Taterfolgs definiert (zB „töten“, § 212); n Tatsituation (zB „aus einer Kirche“, § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 4); n Tatmodalitäten (zB „Beisichführen einer Waffe“, § 244 Abs. 1 Nr. 1a). 4 Der Ausdruck „rechtswidrig“ (gleichbedeutend: „widerrechtlich“, „unbefugt“ usw) ist bei einigen Delikten objektives Tatbestandsmerkmal, bei anderen nur ein überflüssi­ ger Hinweis auf die Rechtswidrigkeit als allgemeines Verbrechensmerkmal. Um eine Voraussetzung des objektiven Tatbestands handelt es sich, wenn das tatbestandliche Geschehen ohne das Merkmal kein Unrecht ist; so ist es zB beim Führen eines Titels in § 132a. Ein überflüssiger Hinweis auf die Rechtswidrigkeit als allgemeines Verbre­ chensmerkmal ist dagegen das Wort „unbefugt“ in § 324, da eine Gewässerverunrei­ nigung bereits als solche rechtswidrig ist, wenn sie nicht aufgrund einer besonderen Erlaubnis gerechtfertigt ist. 5 b) Subjektive Tatbestandsmerkmale: Die Merkmale des subjektiven Deliktstatbestands beziehen sich auf solche Umstände aus dem psychisch-seelischen Bereich und der Vor­ stellungswelt des Täters, welche die subjektive Tatseite des jeweiligen Delikts charak­ terisieren. Je nach Ausgestaltung des betreffenden Delikts gehören zum subjektiven Tatbestand: 6 n V  orsatz oder subjektive Fahrlässigkeit;2 n b  esondere Absichten (zB Zueignungsabsicht, § 242); n b  esondere Motive (zB „Habgier“, § 211 Abs. 2); 1 Zu den nicht zum objektiven Deliktstatbestand zählenden objektiven Strafbarkeitsbedingungen vgl § 6 Rn 15. 2 Teils wird die subjektive Fahrlässigkeit auch als Schuldmerkmal angesehen; näher § 33 Rn 53 ff, 57 ff. 82 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §9 § 9 Der Inhalt des Deliktstatbestands n G  esinnungsmerkmale („roh“ und „böswillig“, § 225 Abs. 1; „rücksichtslos“, § 315c Abs. 1 Nr. 2).3 2. Handlungs- und Erfolgsunrecht Die Untergliederung des Deliktstatbestands in einen objektiven und einen subjektiven Teil ist nicht identisch mit der Differenzierung des Unrechts in Handlungs- und Er­ folgsunrecht. Handlungsunrecht ist das Verhalten, das der Täter (objektiv und subjek­ tiv) vornehmen oder unterlassen könnte und müsste, um die Verwirklichung eines Deliktstatbestands zu vermeiden. Erfolgsunrecht ist demgegenüber das durch das be­ treffende Verhalten realisierte tatbestandsmäßige Geschehen.4 Exemplarisch: Wenn A den B mit einem Pistolenschuss gezielt tötet, so liegt das Handlungsunrecht dieser Tat in der vorsätzlichen Abgabe des Schusses; denn dieses Verhalten müsste A unterlas­ sen, um die Verwirklichung des Totschlagstatbestands (§ 212) zu vermeiden. Dass B dagegen durch den Schuss kausal zu Tode kommt, ist das Erfolgsunrecht der Tat. Die Abgrenzung des Handlungs- vom Erfolgsunrecht hat nur Bedeutung für die allgemeine Straftatlehre,5 spielt aber für die Prüfungsschritte im Gutachten keine Rolle und bedarf hier auch keiner Erwähnung. 7 II. Typen von Tatbestandsmerkmalen Die Tatbestände umschreiben das deliktische Geschehen mit unterschiedlichen Typen von Merkmalen. So nimmt etwa der Diebstahlstatbestand (§ 242) teils auf eine natürli­ che Eigenschaft Bezug, indem er das Tatobjekt als „beweglich“ bezeichnet. Zugleich wird das Tatobjekt aber auch durch die Eigenschaft „fremd“ charakterisiert und damit auf die an der Sache bestehende Eigentumslage, also auf ein Rechtsverhältnis, verwie­ sen. Diese Bezugnahme auf unterschiedliche Eigenschaften eines Geschehens ist insbe­ sondere hinsichtlich der Frage von Bedeutung, welche der zum Tatbestand gehörenden Umstände der Täter kennen muss, um iSv § 16 Abs. 1 S. 1 vorsätzlich zu handeln. An diese Kenntnis werden – je nach Eigenschaft – unterschiedliche Anforderungen gestellt,6 so dass es einer näheren Bestimmung der Typen von Tatbestandsmerkmalen bedarf. 8 1. Deskriptive und normative Tatbestandsmerkmale Grundlegend ist dabei die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tat­ bestandsmerkmalen: 9 n D  eskriptive Tatbestandsmerkmale beziehen sich auf natürliche Eigenschaften von Personen und Objekten, deren Vorhandensein empirisch oder durch Berechnung festgestellt werden kann;7 exemplarisch: „Person unter vierzehn Jahren“ (§ 176), „Gehör“ (§ 226 Abs. 1 Nr. 1) oder „elektrisch“ (§ 248c). 10 3 Hierzu eingehend Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht, 2007; Timm, Gesinnung und Straftat, 2012. 4 Zum Begriff des Erfolgsunrechts eingehend Lüderssen Herzberg-FS 109 ff. 5 ZB bei der Einteilung von Deliktstypen (Tätigkeits- und Erfolgsdelikte). 6 Näher zur Irrtumsproblematik § 27 Rn 23 ff. 7 Vgl W-Beulke/Satzger Rn 195; Roxin/Greco I § 10/58 mwN. 83 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §9 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt 11 n N  ormative Tatbestandsmerkmale beziehen sich auf Eigenschaften, die auf einer so­ zialen bzw rechtlichen Regel beruhen;8 exemplarisch: „Kredit“ (§ 187), „Fürsorge“ (§ 225 Abs. 1 Nr. 1) oder „geringwertig“ (§ 248a). Das Vorhandensein normativer Merkmale kann nur unter Bezugnahme auf die sie konstituierende Regel (Norm) festgestellt werden. 12 Der Unterschied 9 zwischen den beiden Merkmalstypen lässt sich anhand eines Schach­ spiels verdeutlichen. Bei der Farbe der einzelnen Figuren und der Form des Brettes handelt es sich um die Eigenschaften deskriptiver Merkmale. Dass eine Figur schwarz ist oder dass das Brett eine quadratische Form hat, sind Eigenschaften, die den betref­ fenden Dingen unmittelbar zukommen; man kann diese Eigenschaften daher durch Betrachten, Messen usw verifizieren. Anders verhält es sich dagegen mit dem Umstand, dass der schwarze König „matt gesetzt“ ist. „Matt“ ist ein normatives Merkmal, da es sich auf eine bestimmte Anordnung der Figuren bezieht, die erst aufgrund der einschlägigen Spielregeln ihre Bedeutung erlangt. Die durch das Merkmal „matt“ be­ zeichnete Eigenschaft existiert überhaupt nur im Kontext der Regeln des Schachspiels. Ähnlich verhält es sich mit dem Merkmal „fremd“ iSv § 242. Die Bezeichnung einer Sache als fremd setzt voraus, dass es rechtliche Regeln gibt, denen zufolge Sachen der umfassenden Verfügungsgewalt (Eigentum)10 einer Person zugeordnet werden, und dass der Täter kein Alleineigentum in diesem Sinne an der Sache hat. 13 Dass Personen und Sachen durch normative Merkmale bestimmte Eigenschaften zuge­ schrieben werden, die durch Regeln konstituiert werden, ist in der sozialen Realität nicht weniger eine Tatsache als die Existenz natürlicher Eigenschaften. Der Torschuss in einem Fußballspiel oder der Erwerb von Eigentum an einem Ring sind ebenso Fakten wie der Bau einer Straße oder das Fällen eines Baumes. Nur sind die Eigen­ schaften, die diese Tatsachen konstituieren, unterschiedlich. Um diese Differenz zu verdeutlichen, kann man die durch normative Eigenschaften gebildeten Tatsachen institutionelle Tatsachen nennen und sie den natürlichen Tatsachen, die durch natür­ liche Eigenschaften gebildet werden, gegenüberstellen. Das Strafrecht, das seinerseits regelnd in die soziale Realität eingreift, muss gleichermaßen an institutionellen wie na­ türlichen Tatsachen anknüpfen, wobei rein natürliche Tatsachen eher eine Ausnahme bilden. 2. Blankettmerkmale 14 Einige Tatbestände des StGB enthalten sog. Blankettmerkmale. Dies sind Tatbestands­ merkmale, deren Inhalt von einer anderen rechtlichen Regelung (Gesetz, Rechtsverord­ nung oder Verwaltungsakt), auf die sie verweisen, bestimmt wird.11 Hierbei gehören auch die Merkmale der gesetzlichen Regelung, auf die das Blankettmerkmal Bezug nimmt, zum Deliktstatbestand. So ist etwa der Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 eine Kombination aus den dort genannten Verhaltensweisen und den einschlägigen Merk­ malen der StVO, auf die das Merkmal „verkehrswidrig“ verweist.12 Weitere Beispiele 8 Kühl § 5/92; Roxin/Greco I § 10/60. 9 Zu den umstrittenen Einzelheiten der Abgrenzung und Definition vgl BGHSt 31, 348; Engländer BeulkeSymposion 85 ff; Kindhäuser Jura 1984, 465 ff, 672; Roxin/Greco I § 10/57 ff; LK-Walter Vor § 13 Rn 42. 10 Vgl § 903 BGB. 11 Bülte JuS 2015, 769 ff; Krey/Esser Rn 128. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen vgl BVerfG NJW 2016, 3648. 12 Vgl auch BGHSt 6, 30 (40); 20, 177 (181); 42, 79; Jescheck/Weigend § 12 III 2; NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 26. 84 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §9 § 9 Der Inhalt des Deliktstatbestands sind § 184f, der auf eine die Ausübung der Prostitution untersagende Rechtsverord­ nung Bezug nimmt, oder § 292, der eine Verletzung fremden Jagdrechts verlangt. III. Vollendung, Versuch, Beendigung 1. Definitionen Eine Straftat ist vollendet, wenn alle Merkmale des objektiven und subjektiven De­ liktstatbestands verwirklicht sind.13 Dagegen ist eine Straftat (nur) versucht, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat unmittelbar zur Verwirklichung des objekti­ ven Deliktstatbestands ansetzt (§ 22), ohne dass es zur Vollendung kommt. An der Vollendung kann es fehlen, weil der Deliktstatbestand nicht erfüllt oder nicht objektiv zurechenbar ist oder weil die Tat objektiv gerechtfertigt ist. Der Versuch ist beim Vorsatzdelikt strafbar, wenn die Tat ein Verbrechen oder die Strafbarkeit ausdrücklich angeordnet ist (§ 23 Abs. 1). Das Fahrlässigkeitsdelikt kennt keinen Versuch; die Straf­ barkeit setzt hier stets Vollendung voraus (dazu § 30 Rn 20). 15 Eine Straftat ist beendet, wenn das strafbare Unrecht seinen Abschluss gefunden hat.14 Dieser Zeitpunkt fällt häufig mit demjenigen der Vollendung zusammen (zB bei § 212); er kann bei manchen Delikten aber auch nach dem Vollendungszeitpunkt liegen. Ex­ emplarisch: A fährt mit dem Fahrrad des B weg, um es sich zuzueignen. Nach 200 m gelingt es dem A, den ihn verfolgenden B im Verkehrsgewühl abzuschütteln. Hier hat A in dem Augenblick, in dem er wegfährt, eigenen Gewahrsam an dem Fahrrad erlangt und damit eine vollendete Wegnahme iSv § 242 begangen. Beendet ist der Diebstahl jedoch erst, wenn der neue Gewahrsam gesichert ist und B keine Möglich­ keit mehr hat, sich das Fahrrad unmittelbar nach der Tat wieder zu verschaffen. 16 2. Gutachten Auf den Zeitpunkt der Beendigung ist im Gutachten regelmäßig nicht einzugehen. Al­ lerdings sind vor allem zwei Ausnahmen zu beachten: Zum einen ist die Beendigung zu erörtern, wenn die Tat verjährt sein kann, da die Verjährungsfrist mit der Beendigung beginnt (§ 78a); dies ist namentlich bei Dauerdelikten von Belang.15 Zum anderen befürwortet die Rspr – entgegen der hL – die Möglichkeit einer Tatbeteiligung im Sta­ dium zwischen Vollendung und Beendigung.16 Soweit der Fall hierzu Anlass bietet, ist diese Frage zu beantworten und damit auch der Beendigungszeitpunkt festzustellen.17 17 Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 18 > In welcher Weise wird der Deliktstatbestand unterteilt? (Rn 1 ff) > Was ist unter deskriptiven, was unter normativen Tatbestandsmerkmalen zu verstehen? (Rn 9 ff) > Wann ist eine Straftat versucht, wann vollendet, wann beendet? (Rn 15 f) 13 Und (nach hL) auch keine objektive Rechtfertigungslage gegeben ist; hierzu § 15 Rn 1 ff. 14 BGHSt 3, 40 (43 f); BayObLG NJW 1980, 412; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 24/7; näher Kühl Roxin-FS I 665 (672 ff); Rönnau/Wegner JuS 2019, 970 ff. 15 Vgl § 8 Rn 24. 16 Vgl nur BGHSt 4, 132 (133); 28, 224 (229); BGH NJW 1985, 814; abl. Rudolphi Jescheck-FS 559 mwN. 17 Zum Hauptfall der möglichen Tatbeteiligung nach vollendetem Diebstahl oder Raub vgl Kindhäuser/Böse BT II § 2/126; § 13/32. 85 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 10 Zweiter Abschnitt: Der objektive Deliktstatbestand § 10 Erfolg, Handlung und Kausalität I. Die strafrechtliche Funktion der Kausalität 1. Funktionaler Kausalbegriff 1 Alle Tatbestände, deren Verwirklichung den Eintritt eines Verletzungs- oder konkreten Gefährdungserfolgs voraussetzt, verlangen, dass dieser Erfolg ursächlich (kausal) auf ein Verhalten des Täters zurückzuführen ist. Der Ursachenzusammenhang ist damit ein tatbestandsmäßiges Bindeglied zwischen Erfolg und Handlung. Das Kausalitäts­ merkmal ist hierbei entweder im Tatbestand ausdrücklich erwähnt – wie zB in § 222 („durch Fahrlässigkeit“) – oder in ein erfolgsbezogenes Verb eingebunden; so bedeutet zB „töten“ iSv § 212 Abs. 1 den Tod eines Menschen durch ein Verhalten verursachen. Der hier relevante Begriff der Kausalität ist, wie jeder strafrechtliche Begriff, von seiner spezifischen strafrechtlichen Funktion her zu bestimmen. Das Strafrecht kann nicht blind einen in der Philosophie, der Wissenschaftstheorie oder den Naturwissen­ schaften entwickelten Kausalbegriff übernehmen, sondern muss ihn nach Maßgabe der eigenen Zwecke bestimmen. Allerdings darf dieser funktionale Kausalbegriff dem Stand der heutigen Wissenschaftstheorie nicht widersprechen, sondern muss mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu vereinbaren sein. Exemplarisch: Es kann im Strafrecht nicht behauptet werden, der Tod eines Menschen sei durch die Einnahme eines bestimmten Medikaments verursacht worden, wenn der fragliche Todeseintritt durch die Einnahme dieses Medikaments medizinisch nicht erklärt werden kann. 2. Rechtsgüterschutz 2 Für das strafrechtliche Kausalitätsverständnis ist der Gedanke des Rechtsgüterschutzes maßgeblich: Durch die Befolgung von Normen sollen bestimmte Schäden, die als Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu bewerten sind, vermieden oder verhindert werden. Unter dieser Zwecksetzung sind Kausalzusammenhänge gewissermaßen „Handlungs­ rezepte“.1 Wenn man weiß, dass unter den gegebenen Umständen das Ereignis u das weitere Ereignis w nach sich zieht, dann muss man, wenn man w herbeiführen will, u realisieren, oder man muss, wenn man w vermeiden will, auch u vermeiden. Die Kenntnis von Kausalzusammenhängen liefert also das Wissen, das erforderlich ist, um Schäden gezielt vermeiden oder verhindern zu können, und das heißt auch: um Normen befolgen zu können. Insoweit ist das strafrechtliche Kausalitätsverständnis auf „manipulative Techniken“ bezogen. Kausalität interessiert (nur) unter dem Aspekt der Wirkungen tatsächlicher oder möglicher Eingriffe in einen realen Geschehensver­ lauf. Demnach ist die erste Frage, die sich im Falle des Eintritts eines Schadens stellt, diejenige, ob dieser Schaden hätte vermieden oder verhindert werden können, wenn man eine bestimmte Handlung vorgenommen oder eine vorgenommene Handlung unterlassen hätte. Die Antwort auf diese Frage liefert die Kausalitätsprüfung. 1 Vgl auch Douglas Gasking, Causation and Recipes, Mind LXIV (1955), 479 ff; näher hierzu Kindhäuser, Inten­ tionale Handlung, 1980, 74 ff mwN. 86 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 10 § 10 Erfolg, Handlung und Kausalität 3. Begriff des Erfolgs Der zu vermeidende Schaden wird in der strafrechtlichen Terminologie als Erfolg bezeichnet. Der Begriff des Erfolgs bezieht sich auf eine nachteilige Veränderung des durch die Norm geschützten Rechtsguts(objekts). Der Schutz der Rechtsgüter des Le­ bens und der Gesundheit bedeutet somit, dass die Eigenschaften einer Person, lebendig oder gesund zu sein, nicht negativ verändert werden dürfen, dass eine Person also nicht sterben oder krank werden soll. Bei dieser Bestimmung des Erfolgs spielt es grds keine Rolle, ob sich das Gut schon in einem nachteiligen Zustand befindet. Vielmehr bezieht sich der Erfolg nur darauf, dass der Status quo, wie er auch immer beschaffen sein mag, nachteilig verändert wird.2 Eine solche Veränderung kann auch minimal ausfallen und braucht nicht dauerhaft zu sein. Auch die Gesundheit einer kranken Person kann geschädigt werden, nämlich dann, wenn der bereits schlechte Gesundheitszustand noch weiter beeinträchtigt wird. 3 Dem Schutzzweck der Verhaltensnormen entsprechend gehört zum strafrechtlichen Erfolg auch der Zeitpunkt der Veränderung. Der geschützte Zustand soll so lange wie möglich vor nachteiligen Veränderungen bewahrt werden. Damit ist auch jeder vorzei­ tige Eintritt einer nachteiligen Veränderung ein Erfolg. Exemplarisch: Hängt jemand in einer Felsschlucht nur noch an einem dünnen Seil, das langsam reißt, so darf dieses Seil auch dann nicht durchschnitten werden, wenn dadurch der Todeszeitpunkt nur um wenige Sekunden vorverlegt wird. Denn auch hinsichtlich dieser wenigen Sekunden verdient das Leben Schutz. 4 Die Begrenzung des Erfolgs auf nachteilige Veränderungen zu einem bestimmten Zeit­ punkt, der sog. Erfolg in seiner konkreten Gestalt, besagt zugleich, dass alle sonstigen Umstände des schädigenden Ereignisses unbeachtlich sind. So ist insbesondere der Zustand des Objekts der Veränderung selbst nicht erklärungsbedürftig. Exemplarisch: Stößt A eine von dem Bildhauer B geschaffene Tonplastik um, so ist es für das Zerbre­ chen der Plastik ohne Bedeutung, dass sie von B gestaltet wurde. A und B haben zwar beide daran mitgewirkt, dass die Scherben einer bestimmten Tonplastik nunmehr auf dem Boden liegen. Bei dem strafrechtlich zu erklärenden Erfolg geht es aber allein um die Veränderung der Plastik zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem Zustand, in dem sie unbeschädigt war, in einen Zustand, in dem sie zerbrochen ist. Für die Erklärung dieser Veränderung ist der Umstand, dass die Plastik von B geschaffen wurde, ohne Relevanz. 4. Zeitliche Perspektive An den Kausalitätsnachweis stellen sich unterschiedliche Anforderungen, je nachdem, ob man auf den Zeitpunkt der Vornahme bzw des Unterlassens einer Handlung (ex ante-Betrachtung) oder auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts (ex post-Betrachtung) abstellt. Eine ex ante-Sicht ist notwendig mit mehr oder weniger großen Unsicherhei­ ten belastet. Es können Umstände gegeben sein, die zum Zeitpunkt des (vorzunehmen­ den) Handelns aus der Perspektive des Täters oder sogar aus der Perspektive eines sachkundigen Beobachters nicht erkennbar waren. Exemplarisch: Ein Verunglückter leidet an einer höchst seltenen und nur schwer identifizierbaren Allergie. Injiziert nun der Unfallarzt – der ärztlichen lex artis entsprechend – ein bestimmtes Medikament, 2 Näher zur Bestimmung des Erfolgs als tatbestandlich erfasste nachteilige Veränderung Kindhäuser, Gefähr­ dung als Straftat, 1989, 88 ff; Puppe ZStW 92 (1980), 863 (878 ff). 87 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5 § 10 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt das die Allergie auslöst und zum Tode führt, so könnte man bei einer ex ante-Betrach­ tung die Kausalität mit dem Argument verneinen, der Geschehensverlauf sei nicht vorhersehbar und damit nicht vermeidbar gewesen. Und umgekehrt: Stirbt der Verun­ glückte, weil ihn der Unfallarzt überhaupt nicht behandelt, so könnte man die Ursäch­ lichkeit des Unterlassens für den Todeseintritt mit dem Argument bejahen, dass der Arzt – bei ex ante-Betrachtung – im Falle einer Behandlung die Überlebenschance des Patienten erheblich erhöht hätte. Dass sich bei einer Obduktion ex post herausstellen mag, dass die Verabreichung des fraglichen Medikaments den Tod nicht verhindert hätte, sondern wegen der allergischen Reaktion ebenfalls zum Tode geführt hätte, spielt bei dieser Sicht keine Rolle. 6 Im Strafrecht gab und gibt es mehrere Versuche, den Kausalitätsnachweis mit einer ex ante-Betrachtung zu verbinden. So will die Adäquanztheorie nur solche Kausalverläufe berücksichtigen, die nach einem (optimalen) Erfahrungswissen ex ante zu erwarten sind.3 Ferner wird die Auffassung vertreten, dass es jedenfalls für die Kausalität des Unterlassens ausreicht, wenn bei Vornahme des gebotenen Verhaltens eine reale Chan­ ce der Erfolgsvermeidung bestanden hätte.4 7 Die hM verlangt demgegenüber einen Kausalitätsnachweis ex post, also einen Kausali­ tätsnachweis, bei dem alle Umstände, die im Nachhinein bekannt und für den Gesche­ hensverlauf von kausaler Relevanz sind, berücksichtigt werden. Für diese Auffassung spricht, dass es keinen Sinn macht, einem Täter vorzuwerfen, er sei für einen Erfolg verantwortlich, weil er ein bestimmtes Verhalten nicht unterlassen habe, wenn nicht feststeht, dass dieser konkrete Erfolg im Falle des Unterlassens auch ausgeblieben wä­ re. Und umgekehrt kann jemandem nicht vorgeworfen werden, er sei für einen Erfolgs­ eintritt verantwortlich, weil er ihn nicht durch ein bestimmtes Verhalten verhindert hat, wenn nicht feststeht, dass der Erfolg bei Vornahme der betreffenden Handlung auch hätte verhindert werden können. 8 Das Anliegen der Adäquanztheorie, die strafrechtliche Haftung auf vorhersehbare Ge­ schehensverläufe zu beschränken, ist durchaus berechtigt. Nur wird dieses Anliegen im Strafrecht – teils anders als im Zivilrecht5 – nicht im Bereich der Kausalität, son­ dern bei der Fahrlässigkeit im Rahmen des der Kausalität nachfolgenden gesonderten Prüfungsschritts der sorgfaltsgemäßen Vorhersehbarkeit6 verfolgt, also bei der Frage, unter welchen (normativen) Bedingungen jemand in der Situation des Täters die Ge­ fahr einer Erfolgsverursachung als Folge seines Handelns hätte erkennen können. Auf diese Weise werden auch – wissenschaftstheoretisch vorzugswürdig – die empirischen Fragen der Kausalität von den normativen Fragen der Verantwortlichkeit sachgemäß getrennt. II. Der Kausalitätsnachweis u Fall 1a: A schüttet ein Pulver in den Kaffee des B; nach dem Genuss des Kaffees aus einer Porzellantasse stirbt B. t 3 Grundlegend Kries ZStW 9 (1889), 525 ff; ferner Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1955, 79; Traeger, Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904; maßgebliche Kritik bei Honig v. Frank-FG I, 179 ff; vgl auch Jakobs 7/30 ff, 35. 4 M-Gössel/Zipf § 46/24; Otto § 9/98 ff, jew. mwN; näher zur Kausalität des Unterlassens § 36 Rn 15 ff. 5 Vgl hierzu Rönnau/Faust/Fehling JuS 2004, 113 (114, 116); Roxin/Greco I § 11/39 ff; SK-Jäger Vor § 1 Rn 93 f. 6 Näher § 33 Rn 29 f. 88 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 10 § 10 Erfolg, Handlung und Kausalität 1. Äquivalenz- oder Bedingungstheorie Die Rspr und Teile der Literatur bedienen sich zum Nachweis der Kausalität der Äquivalenz- oder Bedingungstheorie:7 9 Nach dieser Lehre ist ein Verhalten Ursache eines Erfolgs, wenn es nicht hinwegge­ dacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (condi­ cio-sine-qua-non-Formel).8 Als Ursache ist demnach jede notwendige Bedingung eines Erfolgs anzusehen, wobei alle notwendigen als gleichgewichtig (äquivalent) zu bewer­ ten sind.9 10 Wenn in Fall 1a das Schütten des Pulvers in den Kaffee nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Tod des B entfiele, ist es nach der Äquivalenztheorie eine Ursache des Todeserfolgs. 11 Gegen die condicio-sine-qua-non-Formel in dieser Form ist einzuwenden, dass sich mit ihrer Hilfe nur ein bereits nachgewiesener Kausalzusammenhang aufzeigen lässt, dass sie also das Ergebnis ihrer Anwendung als schon bekannt voraussetzt. So hat es in Fall 1a nur Sinn, das Pulver als Bedingung des Todeseintritts anzusehen, wenn seine kausale Wirkung bereits bekannt ist. Kennt man dagegen die chemische Zusam­ mensetzung des Pulvers oder seine Wirkung auf den menschlichen Organismus nicht, so kann man auch nicht durch Wegdenken seiner Einnahme dessen Ursächlichkeit für den Tod feststellen. Es könnte ja ohne Weiteres sein, dass das Pulver keinerlei Schadensrelevanz hat und der Tod auf andere Weise herbeigeführt wurde. Der Kausa­ litätsnachweis mithilfe der condicio-sine-qua-non-Formel ist demnach erst erbracht, wenn der irreale Konditionalsatz, dass der Erfolg (Tod des B) nicht eingetreten wäre, wenn das fragliche Verhalten (Schütten des Pulvers in den Kaffee) nicht gewesen wäre, in objektiv nachprüfbarer Weise bestätigt und damit für wahr gehalten werden kann.10 12 2. Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung Daher verlangt die im Schrifttum vorherrschende Lehre von der gesetzmäßigen Bedin­ gung eine Bestätigung durch naturwissenschaftliche Gesetze und sieht ein Verhalten dann als Ursache eines Erfolgs an, wenn der Erfolg mit der Handlung nach den bekannten Naturgesetzen notwendig verbunden war.11 Demnach ist in Fall 1a das 7 Nach v. Buri, Über Causalität und deren Verantwortung, 1873; vgl ferner RGSt 1, 373 ff; BGHSt 1, 332 ff; 2, 20 (24); 7, 112 (114); 39, 195 (197); Frister § 9/5 ff; Schlüchter JuS 1976, 312; Toepel, Kausalität und Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1992; Welzel § 9 II. 8 Als Alternative zur Äquivalenztheorie wird vorgeschlagen, die Kausalität nicht über notwendige, sondern über hinreichende Bedingungen zu bestimmen. Ein Handeln ist dementsprechend ursächlich, wenn sein Vollzug unter den gegebenen Umständen dazu ausreicht, einen Erfolg stattfinden zu lassen (hinreichende Letztbedingung oder condicio per quam). Um herauszufinden, ob ein Verhalten als condicio per quam anzusehen ist, muss man nur die condicio sine qua non-Formel umdrehen und fragen, welches Verhalten nicht stattgefunden haben könnte, wenn der Erfolg nicht eingetreten wäre. Das heißt: Für einen Erfolg ist jedes Verhalten ursächlich, das unter den gegebenen Umständen entfallen müsste, wenn man den Erfolg wegdenkt. Hierzu Hart/Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl. 1985, 112 und passim; Honoré ZStW 69 (1957), 463 ff; Richard W. Wright Iowa Law Review 73 (1988), 1001 (1020); näher Kindhäuser Kargl-FS 248 f, 260 ff; krit. dazu Puppe ZIS 2015, 426 ff. 9 Diese beiden Kernpunkte der Äquivalenztheorie waren von Anfang an heftiger Kritik ausgesetzt, vgl aus neuerer Zeit Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, 144 ff; Hruschka ZStW 110 (1998), 581 ff; Kindhäuser Kargl-FS 245 ff; Puppe § 2; Renzikowski GA 2007, 561 (574); zur älteren Literatur Frank § 1 Anm. III. 10 Vgl für die maßgeblichen Fälle der „strafrechtlichen Produkthaftung“ Jähnke Jura 2010, 582 (585 ff). 11 Heute hL, vgl nur S/S-Eisele Vor § 13 Rn 75 f; Jescheck/Weigend § 28 II 4; Roxin/Greco I § 11/15; SK-Jäger Vor § 1 Rn 63; Schulz Lackner-FS 39; krit. zu dieser Lehre Frister § 9/6 ff. 89 https://doi.org/10.5771/9783748935575-73 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:16:59. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 13 § 10 C. Das vorsätzliche Begehungsdelikt Pulver für den Tod des B ursächlich, wenn seine Einnahme unter den gegebenen Rah­ menbedingungen12 – zB der körperlichen Konstitution des Opfers – zu den Umständen gehört, die den Todeseintritt nach den einschlägigen naturwissenschaftlichen Gesetzen hinreichend erklären. Dies ist der Fall, wenn sich der Todeseintritt nicht mehr erklären ließe, sofern man das Pulver nicht berücksichtigte. 14 Dieser Ansatz ist jedenfalls insoweit überzeugend, als der Rückgriff auf bekannte und gesicherte empirische Gesetze die condicio-sine-qua-non-Formel in hohem Maße zu bestätigen vermag. Jedoch kann gerade der zu entscheidende Fall den Anlass dazu bie­ ten, überhaupt nach einem allgemeinen Kausalgesetz zu suchen. Exemplarisch: Viele Benutzer eines bestimmten Lederpflegemittels erkranken an Lungenödemen.13 Wenn ein naturgesetzlicher Zusammenhang zwischen der Inhalation der fraglichen Substanz und der Erkrankung bislang nicht nachgewiesen war, kann die condicio-sine-qua-nonFormel auch nicht unter Rückgriff auf gesicherte medizinische Erkenntnisse bestätigt werden. Die Rspr behilft sich hier mit der Methode, den Kausalzusammenhang durch das Ausscheiden von Alternativursachen zu begründen. Das Lederpflegemittel wäre demnach dann als Ursache der Lungenödeme anzusehen, wenn sich für deren Auftre­ ten keine andere plausible Erklärung finden lässt.14 15 Diese durchaus sachgerechte Methode ist zudem dort anzuwenden, wo – wie im psy­ chischen und sozialen Bereich – allgemeine deterministische Gesetze kaum zur Verfü­ gung stehen.15 So wird man zB kein allgemeines empirisches Gesetz zur Begründung der Annahme finden, dass A den Einbruch in der Villa des B nicht begangen hätte, wenn C ihn hierzu nicht angestiftet hätte. Freilich kann auch in solchen Fällen nicht die bloße Ü

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