🎧 New: AI-Generated Podcasts Turn your study notes into engaging audio conversations. Learn more

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

Full Transcript

§5 B. Allgemeine Straftatlehre § 5 Die Straftat als Normwiderspruch I. Wissenschaftliche Zwecksetzung 1 Die Frage, ob jemand eine Straftat begangen hat, wird in einer bestimmten Abfolge von Prüfungsschritten beantwortet. Es wäre zwar möglich, die Voraussetzungen der Strafbarkeit eines Verhaltens a...

§5 B. Allgemeine Straftatlehre § 5 Die Straftat als Normwiderspruch I. Wissenschaftliche Zwecksetzung 1 Die Frage, ob jemand eine Straftat begangen hat, wird in einer bestimmten Abfolge von Prüfungsschritten beantwortet. Es wäre zwar möglich, die Voraussetzungen der Strafbarkeit eines Verhaltens auch ungeordnet nacheinander zu erörtern, da alle Merk­ male eines Delikts, sofern sie die Strafbarkeit begründen, von gleichem logischen Gewicht sind; es gibt keine wichtigeren und unwichtigeren Deliktsmerkmale. Die Strafrechtsdogmatik verfolgt aber das Ziel einer wissenschaftlichen Systematisierung der Voraussetzungen deliktischen Verhaltens und erarbeitet zu diesem Zweck die Lehre vom Deliktsaufbau, die allen konstitutiven Merkmalen einer Straftat einen logischen Ort zuweist. Dieser Deliktsaufbau liefert zugleich den Rahmen für den Aufbau eines strafrechtlichen Gutachtens. 2 Ein solches Programm für die Feststellung der Strafbarkeit eines Verhaltens in geord­ neten Prüfungsschritten beruht zunächst auf der Einsicht, dass einige Merkmale einer Straftat voraussetzen, dass bestimmte andere Merkmale erfüllt sind. So hat zB der Schuldvorwurf die Verwirklichung von Unrecht zum Gegenstand, so dass es logisch ist, die Frage der Rechtswidrigkeit eines Verhaltens vor der Frage seiner Schuldhaftig­ keit zu beantworten.1 Ferner ist es wissenschaftstheoretisch sachgemäß, Fragen des Sollens (etwa: „was darf jemand tun?“) von Fragen des Seins (etwa: „was kann jemand tun?“) abzugrenzen. Ein geordnetes Begriffssystem erleichtert es zudem, Paral­ lelen, Zusammenhänge, Abweichungen und Besonderheiten bei der Anwendung der einzelnen Strafbarkeitsvoraussetzungen zu erkennen und zu berücksichtigen. Nicht zuletzt macht das Einhalten einer logischen Abfolge von Prüfungsschritten auch die Rechtsanwendung sicher und überprüfbar.2 II. Der Normwiderspruch u Fall 1: A schießt mit einem Gewehr auf B und trifft ihn tödlich. t 1. Begriff und Deliktsaufbau 3 Da die Strafe den Zweck hat, die Befolgung der strafrechtlichen Verhaltensnormen zu sichern,3 ist eine Straftat ein Verhalten, durch das der Täter zum Ausdruck bringt, dass eine Verhaltensnorm für ihn nicht gilt. Die Strafe wiederum ist als tadelnde Ant­ wort auf diesen Normwiderspruch zu verstehen.4 Sie macht deutlich, dass die Norm gleichwohl gilt und dass es richtig ist, auf ihre Befolgung weiterhin zu vertrauen. Das 1 2 3 4 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele § 8/1. Vgl auch NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 1 f; Salditt GA 2003, 85 (92). Vgl § 2 Rn 11 ff. Vgl auch Jakobs ZStW 107 (1995), 843 (844). 56 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §5 § 5 Die Straftat als Normwiderspruch Strafübel ist hierbei ein Symbol dafür, dass der Täter die Kosten des Konflikts zu tragen hat und sein Normwiderspruch unmaßgeblich ist.5 Im Deliktsaufbau müssen demnach die Voraussetzungen geprüft werden, unter denen ein Verhalten als vom Täter zu verantwortender Normwiderspruch anzusehen ist. Dies ist nach dem Schuldprinzip6 dann der Fall, wenn dem Täter vorgeworfen werden kann, dass er in der Lage gewesen wäre, die betreffende Norm zu befolgen, sofern er nur in hinreichendem Maße rechtstreu – also zur Befolgung der Norm willens – gewesen wäre. 4 In Fall 1 ist die relevante Norm das Tötungsverbot. Sie untersagt die Verwirklichung des Tatbestands von § 212, also das Setzen einer Ursache für den Tod eines Menschen. Das zum Tode des B führende Geschehen ist dem A als Normwiderspruch zurechen­ bar, wenn er es um der Befolgung des Tötungsverbotes willen hätte vermeiden können und müssen. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass A zur Befolgung des Verbots handlungsfähig war, also körperlich und intellektuell das Setzen der Todesursache hätte vermeiden können, falls er dies gewollt hätte. Hierzu musste A etwa erkannt haben, dass das Gewehr geladen und auf B gerichtet war. Ferner musste er in der Lage sein, die Bewegung seines Fingers am Abzug zu kontrollieren, und durfte daher zB keinen plötzlichen Krampf erlitten haben.7 5 Steht fest, dass A handlungsfähig war, stellt sich sodann die Frage, ob A die fragliche Handlung nicht ausnahmsweise vollziehen durfte. Das Tötungsverbot könnte in der konkreten Situation durch eine bestimmte Erlaubnis aufgehoben sein. A könnte sich zB in einer Notwehrsituation nach § 32 befunden haben. In diesem Fall bestünde rechtlich kein Grund, das Setzen der Todesursache zu unterlassen, so dass dem A auch nicht vorgeworfen werden kann, er habe eine für ihn verbindliche Norm nicht befolgt. 6 Greift in der konkreten Situation keine Erlaubnisnorm ein, so stellt sich die weitere Frage, warum A das Tötungsverbot nicht befolgt hat. Er könnte etwa verkannt haben, dass sein Verhalten rechtlich verboten war. Er kann zB irrig angenommen haben, dass er den B, der ihn bereits öfters geschlagen und gedemütigt hat, auch außerhalb einer Notwehrsituation erschießen dürfe. Möglich ist auch, dass A aufgrund einer Geistes­ krankheit nicht in der Lage war, sich normgemäß zu steuern. Solche und ähnliche Gründe, bei denen gefragt wird, ob der Täter überhaupt motivationsfähig war oder ob er sich in einer konkreten Situation befand – zB in einer Notstandslage nach § 35 –, in der von ihm eine normgemäße Motivation ausnahmsweise nicht erwartet wird, stehen ebenfalls dem Vorwurf mangelnder Rechtstreue entgegen. 7 2. Handlungs- und Antriebssteuerung An Fall 1 wird deutlich, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit für ein dem Straf­ gesetz zuwiderlaufendes Verhalten durch die Bezugnahme auf zwei Fähigkeiten be­ gründet wird: die Handlungs- und die Motivationsfähigkeit. Zunächst wird dem Täter die Verwirklichung eines Deliktstatbestands als rechtswidrige (normwidrige) Handlung 5 Neben ihrer symbolischen gesellschaftlichen Bedeutung ist die Strafe freilich auch ein dem Verurteilten zugefügtes Übel, dessen grundrechtseinschränkende Wirkung verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen muss. 6 Näher hierzu § 21. 7 Soweit A aufgrund mangelnder Sorgfalt die Sachlage verkannt hat, zB das Gewehr für ungeladen hielt, kommt eine fahrlässige Tötung nach § 222 in Betracht. Auf die Besonderheiten dieser Zurechnungsform sei hier der Einfachheit halber noch nicht eingegangen, näher § 33. 57 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 8 §5 B. Allgemeine Straftatlehre zugerechnet, weil er physisch und intellektuell in der Lage war, sie gezielt zu vermei­ den, wenn er dies nur gewollt hätte (= Handlungsfähigkeit). Sodann wird dem Täter vorgeworfen, dass er den Willen, die Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden, hätte bilden müssen, weil dies rechtlich gesollt war, und auch hätte bilden können, weil kei­ ne entgegenstehenden Gründe erkennbar sind (= Motivationsfähigkeit). Insoweit diffe­ renziert also das Straftatmodell zwischen der Handlungssteuerung einerseits und der Antriebssteuerung andererseits. 9 In der heutigen Strafrechtsdogmatik hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sich die Bewertung eines dem Strafgesetz zuwiderlaufenden Verhaltens als Unrecht auf den Teil des Geschehens bezieht, der die Zurechenbarkeit der (nicht gerechtfertigten) Verwirk­ lichung eines Deliktstatbestands als Handlung zum Gegenstand hat.8 Strafrechtlich relevantes Unrecht ist also die für einen Täter physisch und intellektuell vermeidba­ re rechtswidrige Tatbestandsverwirklichung.9 Dagegen wird der gesamte Bereich des Geschehens, der die Fähigkeit zum Erkennen des Gesollten und der normgemäßen Antriebssteuerung betrifft, der Schuld zugeordnet. Dies wirkt sich namentlich dann entscheidend aus, wenn eine strafrechtliche Rechtsfolge nur an das Vorhandensein einer rechtswidrigen – und nicht auch einer schuldhaften – Tat anknüpft. So können etwa Personen unter 14 Jahren zwar rechtswidrig, aber nicht schuldhaft (und damit strafbar) handeln (§ 19). III. Handlungstheorien 1. Kausale Lehre 10 Nach der maßgeblich durch Beling geprägten, später „kausal“ genannten Handlungs­ lehre ist eine „Handlung“ im strafrechtlichen Sinne der Inbegriff aller Merkmale, die eine Straftat konstituieren.10 Fundament der Straftat soll danach ein willensgetragenes Verhalten sein, um so Verhaltensweisen, die nicht der menschlichen Steuerung unterlie­ gen, von vornherein als strafrechtlich bedeutungslos auszuscheiden.11 Zu einer Hand­ lung mit einem bestimmten Sinn wird ein willentliches Verhalten dagegen erst dann, wenn es sich samt kausalen Folgen unter die Beschreibung eines Tatbestands subsumie­ ren und sich zu Vorsatz oder Fahrlässigkeit zurechnen lässt. Der Handlungsbegriff der „Kausalisten“ ist also dem Recht nicht empirisch oder ontologisch vorgegeben, sondern bezeichnet ein soziales Phänomen, das allein nach den Regeln des Strafrechts gebildet wird.12 2. Finale Lehre 11 Entscheidenden Einfluss auf die heutige Auffassung, dass strafrechtlich relevantes Un­ recht nur ein gezielt vermeidbares Geschehen sein kann, hatte die sog. finale Hand­ lungslehre. Sie begreift die Handlung als ein vom steuernden Willen beherrschtes, 8 Umstritten ist lediglich, ob das zuzurechnende Geschehen seinerseits noch einmal in die Stufen der Tat­ bestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit zu unterteilen ist oder einen Gesamtunrechtstatbestand bildet, näher hierzu § 6 Rn 8 ff. 9 Wobei man hier wiederum zwischen der objektiven und der subjektiven Seite des Unrechts, dem Erfolgsund dem Handlungsunrecht, unterscheidet, näher § 6 Rn 6. 10 Vgl Beling, Lehre vom Verbrechen, 1906, 7; ders., Lehre vom Tatbestand, 1930, 17 f. 11 Vgl auch v. Liszt § 28; Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, 1904, ferner NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor §§ 13 ff Rn 41; S/S-Eisele Vor §§ 13 ff Rn 26 f. 12 Radbruch Frank-FG I, 158 (161 f); vgl auch Beling, Die Vergeltungsidee und ihre Bedeutung für das Straf­ recht, 1908, 5: „In der realen Welt gibt es überhaupt keine ‚Strafe‘.“ – „Sie ist ein reines Noúmenon“. 58 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §5 § 5 Die Straftat als Normwiderspruch zielgerichtetes menschliches Verhalten.13 An dieser Auffassung ist zutreffend, dass ein Verhalten überhaupt nur dann als Handeln verstanden werden kann, wenn man es im Lichte einer Absicht (Intention) interpretiert. Mit der Intention wird der Grund für be­ stimmte Bewegungen oder auch eine bestimmte Passivität genannt. Exemplarisch: A bückt sich, weil er einen Geldschein aufheben will. Oder: B verharrt regungslos, weil er dem Gezwitscher eines Vogels lauschen will. Ohne die Angabe der Intention wären das Bücken oder regungslose Verharren unverständliche Bewegungen und damit eben keine Handlungen. Die finale Lehre wollte auch die Verwirklichung eines Deliktstatbestands als finales Verhalten deuten. Dies musste jedoch scheitern, weil bei den meisten Straftaten und vor allem bei den fahrlässigen Begehungsweisen gerade kein auf die Tatbestandsver­ wirklichung gerichtetes Verhalten vorliegt. Wenn X etwa zur Erlangung einer Versi­ cherungsleistung ein Haus anzündet und hierbei, womit er rechnete, den Tod des Bewohners Y verursacht, so ist dessen Tötung keine finale Handlung des X. Denn die Verursachung des Todes von Y war nicht der das Verhalten des X erklärende Grund, also der das kausale Geschehen lenkende Wille. Vielmehr zündete X das Haus nur wegen der Versicherungsleistung an; allein dies war seine Intention.14 12 3. Soziale und personale Lehre Um auch nicht intendierte kausale (tatbestandsverwirklichende) Folgen von Verhal­ tensweisen zu integrieren, definiert die sog. soziale Handlungslehre die strafrechtlich relevante Handlung als ein vom Willen beherrschtes oder beherrschbares sozialerheb­ liches Verhalten.15 Ähnlich deutet die personale Handlungslehre das Handeln als Per­ sönlichkeitsäußerung.16 Solche Interpretationen formulieren mehr oder weniger Selbst­ verständliches und sind daher nicht „falsch“.17 Sie bringen nur den entscheidenden Punkt nicht richtig zum Ausdruck: Der strafrechtliche Handlungsbegriff bezieht sich auf die Befolgung der strafrechtlichen Verhaltensnormen. Demnach kann nur ein sol­ ches Verhalten in strafrechtlich relevanter Weise sozial erheblich oder Äußerung von Personalität sein, das als Widerspruch zu einer strafrechtlichen Verhaltensnorm gedeu­ tet werden kann. 13 4. Intentionale Normbefolgungsfähigkeit Da die strafrechtlichen Normen die Vermeidung der Verwirklichung eines Deliktstat­ bestands verlangen, ist genau das Verhalten strafrechtlich relevant, das der Täter vor­ nehmen oder unterlassen müsste, um eine Tatbestandsverwirklichung zu vermeiden.18 Strafrechtlich relevantes Handeln ist maW auf die Tatbestandsverwirklichung bezoge­ nes vermeidbares Verhalten.19 Hierbei ist die Vermeidbarkeit auf die beiden Momente der Handlungsfähigkeit bezogen: Der Handelnde muss physisch und intellektuell in 13 Maßgeblich geprägt wurde diese Lehre von Welzel, vgl nur Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Aufl. 1940, § 8; ders. JuS 1966, 421 f. 14 Näher zu den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der intentionalen Deutung von Handlungen Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976; Kindhäuser, Intentionale Handlung, 1980, 91 ff und passim. 15 Vgl nur W-Beulke/Satzger Rn 141; 17; Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem, 1953, 4 ff; M-Zipf § 16/50 ff. 16 Roxin/Greco I § 8 Rn 44 ff. 17 Vgl auch Otto § 5/36; ausf. zu weiteren Handlungslehren NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 41 ff. 18 Eingehend zum strafrechtlichen Handlungsbegriff Kindhäuser Puppe-FS 39 ff. 19 Näher hierzu Jakobs Welzel-FS 307 ff; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1989, 41 ff. 59 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 14 §5 B. Allgemeine Straftatlehre der Lage sein, die Tatbestandsverwirklichung durch sein Verhalten gezielt (intentional) zu vermeiden (vgl Rn 5). Dieser Handlungsbegriff umfasst gleichermaßen aktives Tun und Unterlassen: Der Täter handelt, wenn er die Tatbestandsverwirklichung durch das Ergreifen einer Verhaltensalternative vermeiden kann. Etwa: A hat B aktiv durch einen Gewehrschuss getötet, wenn er es unterlassen konnte, den Abzug des Gewehres zu be­ tätigen, um so den Tod des B zu verhindern. Oder: C hat den D durch Unterlassen ge­ tötet, wenn er ihn zur Verhinderung seines Todes aus dem Wasser ziehen konnte. 15 Entgegen der finalen Lehre ist das Ziel, das der Täter mit seinem Verhalten tatsächlich erreichen will, für die strafrechtliche Zurechnung grds ohne Bedeutung: Dieses Ziel ist, was immer es ist, jedenfalls nicht das normgemäße, nämlich die Vermeidung der Tatbestandsverwirklichung. Entscheidend ist vielmehr, dass der Täter das Verhalten, durch das er sein konkretes Ziel verfolgt, vermeiden könnte und müsste, damit der Tatbestand nicht verwirklicht wird. Wenn X ein Haus in Brand setzt, um eine Versi­ cherungsleistung zu erhalten, und hierbei damit rechnet, dass der Bewohner Y zu Tode kommt, dann hat er auch hinsichtlich der Verursachung des Todes von Y in strafrechtlich relevanter Weise gehandelt: Denn X war physisch und intellektuell in der Lage, den Tod des Y – durch Unterlassen der Inbrandsetzung des Hauses – intentional zu vermeiden. IV. Gutachten 16 Der – insbesondere in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts – heftig geführte Streit um den strafrechtlichen Handlungsbegriff hatte die Einordnung der Handlungssteue­ rung in den Deliktsaufbau, namentlich den Ort des Vorsatzes, zum Gegenstand. Dieser Streit hat mit der 1975 in Kraft getretenen Regelung der Irrtümer in §§ 16 f, der sich indirekt die Stellung des Vorsatzes als subjektives Unrechtselement entnehmen lässt, ein Ende gefunden. Auf diesen Streit ist bei der Fallprüfung daher nicht mehr einzugehen. 17 Überhaupt kann nur dringend davon abgeraten werden, die Frage, ob der Täter gehan­ delt hat, im Gutachten gesondert am Anfang der Deliktsprüfung zu erörtern. Diese Frage bezieht sich vielmehr immer auf ein bestimmtes Geschehen und lässt sich daher nicht unabhängig vom konkreten Kontext beantworten. Exemplarisch: Wer umgesto­ ßen wird, handelt zwar nicht hinsichtlich seines Fallens, kann aber vielleicht noch seinen Arm zur Seite ziehen und so das Umwerfen einer Vase vermeiden. 18 Die Handlung ist keine selbstständige Stufe im Deliktsaufbau, sondern Teil des tat­ bestandsmäßigen Geschehens.20 Die Elemente der Handlung sind im Rahmen der objektiven bzw subjektiven Seite der Tatbestandsverwirklichung mitzuprüfen. Zum subjektiven Tatbestand gehört, jedenfalls beim Vorsatzdelikt, das zur Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung erforderliche Wissen. Die physische Vermeidbarkeit ist ein Element des objektiven Tatbestands, jedoch wird regelmäßig nur beim Unterlas­ sungsdelikt geprüft, ob der Täter körperlich in der Lage war, eine rettende Handlung vorzunehmen. Beim Begehungsdelikt versteht es sich zumeist von selbst, dass der Täter sein tatbestandsverwirklichendes Verhalten auch physisch vermeiden konnte, also etwa in der Lage war, den tödlichen Messerstich zu unterlassen. 20 Vgl auch Otto § 5/40 f mwN. 60 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 5 Die Straftat als Normwiderspruch §5 Nur wenn ersichtlich kein willensgesteuertes Verhalten vorliegt, ist regelmäßig auch die physische Vermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung zu verneinen,21 so bei 19 n n n n Reflexbewegungen, die auf körperlich-physiologische Reize zurückgehen, krampfbedingtem Verhalten, Bewegungen im Schlaf, Bewegungen, die durch absolute Gewalt erzwungen sind. 20 Physisch vermeidbar und damit Handlungen sind dagegen regelmäßig22 n V  erhaltensweisen im Zustand bloßer Bewusstseinsstörung (zB Trunkenheit), n A  ffekttaten23 (bei Bewusstsein des Agierens), n a utomatisierte Verhaltensweisen (zB beim Steuern eines Pkw).24 21 Wiederholungs- und Vertiefungsfragen > Welchen wissenschaftlichen Zweck verfolgt die Lehre vom Deliktsaufbau? (Rn 1 f) > Auf welche Fähigkeiten bezieht sich die Zurechnung eines Verhaltens als Normwider­ spruch? (Rn 8 f) > Welche Verhaltensweisen sind nicht als strafrechtlich relevante Handlungen anzusehen? (Rn 19) 21 Vgl auch OLG Frankfurt/M VRS 28, 364 (365 f); OLG Hamm NJW 1975, 657 f; W-Beulke/Satzger Rn 151; Krey/Esser Rn 295 ff; Kühl § 2/2, 5 ff; LK-Walter Vor § 13 Rn 38. 22 Jakobs 6/41; Krey/Esser Rn 299; Roxin/Greco I § 8/69. 23 Zum Begriff des „Affekts“ Sander Eisenberg-FS 359 ff. 24 Näher Merkel ZStW 119 (2007), 214 ff; LK-Walter Vor § 13 Rn 37. 61 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §6 § 6 Der Deliktsaufbau I. Die rechtswidrige und schuldhafte Tat 1. Unrecht und Schuld 1 Unrecht und Schuld sind die beiden fundamentalen Elemente der Straftat: n Unrecht ist der Inbegriff aller Voraussetzungen, die das Urteil begründen, der Täter habe sich in strafrechtlich erheblicher Weise rechtswidrig (= „widerrechtlich“, „ver­ boten“, „pflichtwidrig“, „unbefugt“ oder „normwidrig“) verhalten.1 n Schuld ist der Inbegriff aller Voraussetzungen, die das Urteil begründen, der Täter habe für das von ihm begangene Unrecht in strafbarer Weise einzustehen, so dass ihm das Unrecht mit der Folge seiner Strafbarkeit zum Vorwurf gemacht werden kann. 2 Hierbei ist das Unrecht der Gegenstand des Schuldvorwurfs. Die Unterscheidung von Unrecht und Schuld beruht nicht nur auf theoretischen Überlegungen,2 sondern hat auch erhebliche praktische Auswirkungen.3 Für mehrere Rechtsfolgen setzt das Straf­ recht nur Unrecht, aber keine Schuld voraus;4 in diesem Fall spricht das Gesetz von einer rechtswidrigen Tat.5 Spricht das Gesetz dagegen von einer Straftat, so muss diese stets schuldhaft ausgeführt worden sein.6 3 Alle Elemente einer Straftat müssen wenigstens einmal zu einem bestimmten Zeitpunkt zugleich verwirklicht sein (Koinzidenzprinzip).7 Exemplarisch: Es ist kein strafbarer Totschlag nach § 212, wenn A den B zwar vorsätzlich, aber in einem die Schuldfähig­ keit beseitigenden Blutrausch tötet, mag er auch rückblickend und wieder bei Sinnen seine Tat für „richtig“ halten. 2. Feststellung des Unrechts 4 a) Prüfung: Das Unrecht – dh die Rechtswidrigkeit einer Tatbestandsverwirklichung durch Handlung – wird in zwei Hauptschritten festgestellt: n Tatbestandsmäßigkeit: Zunächst ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen eines be­ stimmten Deliktstatbestands erfüllt sind. Der Deliktstatbestand enthält diejenigen Merkmale, die das Unrecht einer Tat positiv begründen.8 n Rechtswidrigkeit: Sodann ist zu prüfen, ob (ggf) die Voraussetzungen eines be­ stimmten Rechtfertigungstatbestands (zB Notwehr nach § 32) erfüllt sind. Recht­ fertigungsgründe sind Erlaubnisnormen, die der Bewertung einer Tat als Unrecht entgegenstehen. Demnach ist ein tatbestandsmäßiges Verhalten nur rechtswidrig, wenn Rechtfertigungsgründe fehlen. 1 Eingehend zum Unrechtsbegriff Loos Maiwald-FS 469 ff. Zum Begriff der Rechtswidrigkeit NK-Puppe/GrosseWilde Vor § 13 Rn 6. 2 Zur Differenzierung von Handlungs- und Antriebssteuerung vgl § 5 Rn 8 f. 3 Näher zur Logik des Deliktsaufbaus Kindhäuser in Koch (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht: Alte Antworten auf neue Fragen?, 1997, 77 ff; Puppe Otto-FS 389 ff. 4 Vgl zB §§ 11 Abs. 1 Nr. 5, 63 ff, 73, 74b. 5 So zB in §§ 26 f. 6 Vgl zB §§ 44 Abs. 1 S. 1, 66, 211 Abs. 2. 7 Freund/Rostalski § 4/37; Krey/Esser Rn 405 f; vgl auch die Aufspaltung bei Hruschka 4 ff in Simultaneität und Referenz. 8 Kühl § 3/1 f. 62 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. § 6 Der Deliktsaufbau §6 b) Aufbau der Deliktstatbestände: Die Deliktstatbestände wie auch die Rechtferti­ gungsgründe haben jeweils einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand: 5 n Z  um objektiven Tatbestand gehören jeweils die äußeren Tatumstände, die von den Delikts- oder Erlaubnistatbeständen formuliert werden. Exemplarisch: das den Tod eines Menschen verursachende Täterverhalten beim Totschlag (§ 212 Abs. 1) oder die objektiv gebotene und erforderliche Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs bei der Notwehr (§ 32). n Zum subjektiven Tatbestand gehören jeweils die tatspezifischen intellektuellen und voluntativen Tatelemente, zB der Vorsatz beim Vorsatzdelikt, Habgier bei § 211 Abs. 2, die Kenntnis der Notwehrlage bei § 32. c) Handlungs- und Erfolgsunrecht: Das Unrecht wird häufig auch in Handlungs- und Erfolgsunrecht unterteilt.9 Zum Handlungsunrecht werden das Verhalten des Täters und die Elemente des subjektiven Deliktstatbestands bei fehlender subjektiver Recht­ fertigung gezählt.10 Dagegen gehören der Erfolg – zB der Tod oder die Verletzung eines Menschen – sowie alle sonstigen Tatumstände zum Erfolgsunrecht.11 Die Differenzie­ rung zwischen Handlungs- und Erfolgsunrecht hat vor allem methodische Gründe, um so etwa zwischen dem, was der Täter (nicht) tun soll, und den Folgen seines Handelns unterscheiden zu können. Für den Deliktsaufbau ist die Differenzierung ohne Belang und bedarf im Gutachten keiner Erwähnung. 6 3. Feststellung der Schuld Die Schuld ist bei der Prüfung der Strafbarkeit eines Verhaltens nicht positiv zu begründen. Das Strafgesetz geht vielmehr davon aus, dass grds jeder Bürger in hinrei­ chendem Maße motivationsfähig ist, um die strafrechtlichen Verhaltensnormen befol­ gen zu können.12 Deshalb werden im StGB nur diejenigen Bedingungen genannt, unter denen die Verwirklichung von Unrecht ausnahmsweise nicht als schuldhaft anzusehen ist. Zu den Voraussetzungen, unter denen ein rechtswidriges Verhalten nicht zur Schuld zugerechnet wird, gehört zunächst der unvermeidbare Verbotsirrtum (§ 17 S. 1). Ferner steht die Unfähigkeit, Unrecht einzusehen oder nach einer solchen Einsicht zu handeln, dem Schuldvorwurf entgegen (§ 20). Bei Kindern unter 14 Jahren wird die Schuldunfä­ higkeit unwiderleglich vermutet (§ 19). Neben solchen Schuldausschließungsgründen gibt es noch sog. Entschuldigungsgründe. Hierunter sind (psychische) Ausnahmesitua­ tionen zu verstehen, in denen – wie zB beim entschuldigenden Notstand (§ 35) – eine normgemäße Motivation vom Täter nicht erwartet und daher sein rechtswidriges Handeln nicht als Ausdruck mangelnder Rechtstreue angesehen wird. Auch bei den Entschuldigungsgründen wird zwischen einem objektiven und einem subjektiven Ent­ schuldigungstatbestand unterschieden, zB zwischen den objektiven Voraussetzungen einer entschuldigenden Notstandslage nach § 35 und der Kenntnis des Täters hiervon. 9 Näher hierzu W-Beulke/Satzger Rn 29; Gallas Bockelmann-FS 155 ff; Jescheck/Weigend § 24 III; Stratenwerth Schaffstein-FS 177 ff. Teilweise wird auch von Handlungs- bzw. Erfolgsunwert gesprochen. 10 Roxin/Greco I § 10/101; Stratenwerth/Kuhlen § 8/60. 11 Freund/Rostalski § 2/4; Stratenwerth/Kuhlen § 8/60; zum Erfolgsunrecht eingehend auch Jakobs Samson-FS 43 ff. 12 Zur Legitimation dieser Annahme vgl Kindhäuser GA 1989, 493 (499 ff) mwN. 63 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 7 §6 B. Allgemeine Straftatlehre 4. Zwei- oder dreistufiger Deliktsaufbau 8 a) Entwicklung der Strafrechtsdogmatik: Während die heutige Strafrechtsdogmatik (nahezu) einhellig von einer Trennung zwischen Unrecht und Schuld ausgeht,13 besteht Streit darüber, ob es sich bei den zwei Schritten, mit denen das Unrecht festgestellt wird – nämlich Tatbestandsmäßigkeit (= Verwirklichung eines Deliktstatbestands) und Rechtswidrigkeit (= Nichtverwirklichung eines Erlaubnistatbestands) –, nur um eine logische Prüfungsreihenfolge auf derselben Deliktsebene oder um zwei sachlich ver­ schiedene Wertungsstufen der Straftat handelt.14 Der zweistufige Deliktsaufbau unterscheidet nur zwischen Unrecht und Schuld und deutet die Voraussetzungen des Deliktstatbestands als positive und die Voraussetzun­ gen des Rechtfertigungstatbestands als negative Merkmale eines einheitlichen Unrecht­ statbestands; die Voraussetzungen des Rechtfertigungstatbestands sind dann gewisser­ maßen negative Tatbestandsmerkmale (Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand).15 Dagegen unterscheidet der dreistufige Deliktsaufbau zwischen Deliktstatbestands­ mäßigkeit, Rechtswidrigkeit (= fehlende Rechtfertigung) und Schuld. Hierbei wird der Deliktstatbestand als „Verbotsmaterie“ begriffen, der lediglich die das Unrecht einer Tat (positiv) begründenden Merkmale enthält (Rn 4 f). 9 Die Befürworter eines dreistufigen Aufbaus halten es für erheblich, ob der Täter „nur“ gerechtfertigt sei oder schon gar nicht strafrechtlich relevant handele.16 Die Tötung einer Mücke sei nicht mit der Tötung eines Menschen in Notwehr zu vergleichen.17 Diesem Argument wird von den Vertretern eines zweigliedrigen Aufbaus entgegenge­ halten, dass sich Verbote und Erlaubnisse auf derselben normlogischen Ebene beweg­ ten und daher ein gerechtfertigtes Verhalten für den strafrechtlichen Schuldvorwurf ebenso wenig Unrecht sei wie tatbestandsloses Verhalten. Das Strafrecht knüpfe an die Tötung eines Menschen in Notwehr ebenso wenig einen Schuldvorwurf wie an die Tötung einer Mücke. Daher liege zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswid­ rigkeit kein strafrechtlich bedeutsamer Unterschied; vielmehr handele es sich nur um zwei Prüfungsschritte einer einheitlichen Wertungsstufe auf derselben Deliktsebene.18 Im Übrigen werde die Rechtswidrigkeit einer Tat durch das Fehlen von Rechtferti­ gungsgründen festgestellt. Das Rechtswidrigkeitsurteil füge also dem bereits durch die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens begründeten Unrecht sachlich nichts hinzu. 10 b) Zweistufiger Deliktsaufbau: Unter Zugrundelegung des zweistufigen Deliktsaufbaus ist das Unrecht (= tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung) beim Vorsatzde­ likt19 in folgenden Schritten zu prüfen: (1) objektiver Deliktstatbestand; (2) objektiver Rechtfertigungstatbestand; 13 Zu einem schuldabhängigen Unrechtsbegriff vgl indessen Pawlik Otto-FS 133 ff; Walter, Kern des Straf­ rechts, 2006, 80, 83 ff; dagegen Greco GA 2009, 636 ff; Kindhäuser Merkel-FS, 351 ff. 14 Grundlegende Aufarbeitung des Diskussionsstands bei NK-Paeffgen/Zabel Vor § 32 Rn 16 ff; vgl ferner Otto § 5/23 ff; Rönnau JuS 2021, 499 ff; zur historischen Entwicklung Ambos JA 2007, 1 ff; Becker JuS 2019, 513 (514 ff). 15 Näher hierzu Link, Der zweistufige Deliktsaufbau, 2000, 309 ff; NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 12 ff. 16 W-Beulke/Satzger Rn 191 ff mwN. 17 Welzel ZStW 67 (1955), 196 (211); vgl auch Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff, 1903, 64; Kindhäuser Dannecker-FS 41 (45). 18 Näher NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor § 13 Rn 8 ff; HdB StrafR-Zimmermann Bd. 2, § 37/14. 19 Zum Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts, bei dem die Einordnung der subjektiven Tatseite umstritten ist, vgl § 33 Rn 18 ff, 53 ff, 57 ff. 64 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §6 § 6 Der Deliktsaufbau (3) (4) (5) (6) Zwischenergebnis: objektiver Unrechtstatbestand ja/nein; subjektiver Deliktstatbestand; subjektiver Rechtfertigungstatbestand; Zwischenergebnis: subjektiver Unrechtstatbestand ja/nein. c) Dreistufiger Deliktsaufbau: Unter Zugrundelegung des dreistufigen Deliktsaufbaus ist das Unrecht (= tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung) beim Vorsatzdelikt in folgenden Schritten zu prüfen: (1) (2) (3) (4) 11 objektiver Deliktstatbestand; subjektiver Deliktstatbestand; objektiver Rechtfertigungstatbestand; subjektiver Rechtfertigungstatbestand. d) Vergleich: Vergleicht man die Prüfungsschritte beider Aufbaumodelle, so zeigt sich, dass in beiden Fällen jeweils im objektiven und im subjektiven Bereich die Vor­ aussetzungen der Unrechtsbegründung (Deliktstatbestand) vor den Voraussetzungen des Unrechtsausschlusses (Rechtfertigungstatbestand) geprüft werden. Lediglich in der Reihenfolge der objektiven und subjektiven Unrechtsmerkmale unterscheiden sich bei­ de Modelle: Beim zweigliedrigen Aufbau werden alle Voraussetzungen des objektiven Unrechts vor allen Voraussetzungen des subjektiven Unrechts geprüft, während im dreigliedrigen Aufbau der subjektive Deliktstatbestand vor dem objektiven Rechtferti­ gungstatbestand geprüft wird. 12 Nach dem heutigen Stand der Strafrechtsdogmatik spielt der Unterschied zwischen beiden Modellen nur in einem Punkt eine Rolle, nämlich hinsichtlich der Frage, ob der Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestands den Vorsatz entfallen lässt (so der zweigliedrige Aufbau) oder nicht (so der dreigliedrige Aufbau).20 Doch auch diese Frage ist nur von geringer Bedeutung, da die Rspr zwar von einem dreigliedrigen Aufbau ausgeht, beim Irrtum über die tatsächlichen Voraus­ setzungen aber analog § 16 die Vorsatzschuld bzw. den Vorsatz entfallen lässt und damit im Ergebnis mit dem zweistufigen Aufbau übereinstimmt. e) Praktischer Kompromiss: Neben den beiden Grundmodellen wird zunehmend einem „unechten“ zweistufigen Verbrechensaufbau das Wort geredet.21 Dieser Ansatz zeich­ net sich – bei Unterschieden im Detail – zunächst durch eine Akzeptanz der Grundpo­ sition der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand aus; namentlich wird anerkannt, dass zwischen einem bereits nicht-tatbestandsmäßigen und einem gerechtfertigten Verhal­ ten unter strafrechtlichen Gesichtspunkten kein wertungsmäßiger Unterschied besteht. Im Gegensatz zum „echten“ zweistufigen Verbrechensaufbau betonen die Vertreter dieser Ansicht allerdings die zwar ggf. gesetzestechnisch-zufällige, aber gleichwohl logische Trennung von Deliktstatbestand und Rechtfertigung als separate, nacheinan­ der vorzunehmende Prüfungsschritte bei der Feststellung der Rechtswidrigkeit. Her­ vorgehoben wird zudem die Praktikabilität eines dreistufigen Prüfungsprogramms auf der Basis eines Systems mit den zwei Wertkategorien Rechtswidrigkeit und Schuld: 20 Näher zu diesem Problembereich § 29 Rn 11 ff. 21 Begriff nach LK-Rönnau Vor § 32 Rn 105. Zu dieser Ansicht können gezählt werden S/S-Eisele Vor §§ 13 Rn 16; MK-Freund Vor § 13 Rn 215 f; Otto § 5/23; NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor §§ 13 ff Rn 10–16; M/R-Renzi­ kowski Vor § 13 Rn 35; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, 25 Fn 56; MK-Schlehofer Vor § 32 Rn 37–49; Schünemann/Greco GA 2006, 777 (792); LK-Walter Vor § 13 Rn 26, 158; HdB StrafR-Zim­ mermann Bd. 2, § 37/27. 65 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 13 §6 B. Allgemeine Straftatlehre Da ein bereits nicht tatbestandsmäßiges Verhalten trotz seiner etwaigen Rechtswidrig­ keit strafrechtlich irrelevant ist, wäre es unökonomisch, jenes Verhalten vor einer ab­ schließenden Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit auf seine Rechtfertigungsgrund-be­ dingte Vereinbarkeit mit der Gesamtrechtsordnung hin zu überprüfen.22 Entsprechend wird die einheitliche Wertungsstufe der Rechtswidrigkeit (dh der Gesamtunrechtstat­ bestand) in die zwei getrennt zu prüfenden Unterglieder der Tatbestandsmäßigkeit ieS und – anschließend – der Rechtswidrigkeit aufgespalten, bevor als dritte Ebene die Schuld angesprochen wird. Im Übrigen lässt sich auf diese Weise besser als mit dem reinen zweigliedrigen Aufbau der vom Gesetz stellenweise (terminologisch) nahegeleg­ ten Dreigliedrigkeit23 Rechnung tragen. Für die (einzige) praktisch relevante Frage – das ist die Behandlung des Erlaubnistatumstandsirrtums – kommt es hinsichtlich der direkten Anwendbarkeit des § 16 StGB freilich darauf an, ob die aus funktionalen Gründen vom Deliktstatbestand ieS abgesonderte Prüfungsebene der Rechtswidrigkeit gemäß dem Ausgangsgedanken der Lehre vom Gesamtunrechtstatbestand noch unter den Begriff „gesetzliche[r] Tatbestand“ fällt.24 14 Da sich einerseits der Streit um den Deliktsaufbau praktisch kaum auswirkt und es andererseits einfacher ist, die Tatbestandsmäßigkeit insgesamt vor der Rechtswidrig­ keit zu prüfen, ist dieses Lehrbuch an dem in der akademischen Lehre vorherrschen­ den dreigliedrigen Modell ausgerichtet. Diese Ausrichtung ist jedoch nur formal auf die Reihenfolge der Prüfungsschritte bezogen; ein sachlicher Unterschied zwischen Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit wird damit in Übereinstimmung mit dem unecht-zweigliedrigen Modell nicht behauptet. Im Übrigen sollte man beim strafrecht­ lichen Gutachten einen Aufbau wählen, ohne ihn zu begründen. II. Objektive Strafbarkeitsbedingungen 15 Objektive Strafbarkeitsbedingungen werden solche Merkmale eines Strafgesetzes ge­ nannt, deren Verwirklichung zwar Voraussetzung der Strafbarkeit eines Verhaltens ist,25 die aber nicht Gegenstand der subjektiven Zurechnung sind. Auf diese Merkmale müssen sich also weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit noch Schuld beziehen.26 Objekti­ ve Strafbarkeitsbedingungen sind damit Voraussetzungen eines schuldunabhängigen Strafbedürfnisses. In der Regel werden sie aus rein kriminalpolitischen Erwägungen aus dem Unrechts- und Schuldzusammenhang ausgegliedert. Es gibt kein allgemeines Kriterium für die Einordnung eines Gesetzesmerkmals als objektive Strafbarkeitsbedingung. Die Entscheidung ist vielmehr bei jedem Delikt ge­ sondert im Wege der Gesetzesauslegung zu treffen. Häufig werden jedoch objektive Strafbarkeitsbedingungen durch Formulierungen wie „ist nur dann strafbar, wenn“27 oder „wird bestraft, wenn“28 indiziert. Als objektive Strafbarkeitsbedingungen werden u. a. eingestuft: n die Nichterweislichkeit der ehrenrührigen Tatsache in § 186;29 22 23 24 25 26 27 28 29 NK-Puppe/Grosse-Wilde Vor §§ 13 ff Rn 8, 10; vgl auch NK-Paeffgen/Zabel Vor §§ 32 ff Rn 8. Dazu W-Beulke/Satzger Rn 192; AnwK-Hauck Vor § 32 Rn 1; abw. LK-Walter Vor § 13 Rn 3. Problematisiert von S/S-Eisele Vor §§ 13 Rn 19; HdB StrafR-Zimmermann Bd. 2, § 37/28. Auch der Versuch eines solchen Delikts setzt das Vorliegen der objektiven Strafbarkeitsbedingung voraus. Vgl auch Matt 5 § 1/1; Otto § 7/78; Rönnau JuS 2011, 697 ff; Roxin/Greco I § 23/2. Vgl § 283 Abs. 6. Vgl § 323a Abs. 1. Vgl BGHSt 11, 273 (274); Kindhäuser/Schramm BT I § 23/17 ff mwN auch zur Gegenansicht. 66 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §6 § 6 Der Deliktsaufbau n die schwere Folge bei der Beteiligung an einer Schlägerei in § 231;30 n die Zahlungseinstellung, Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder Abweisung des Eröffnungsantrages mangels Masse in § 283 Abs. 6;31 n die Begehung einer rechtswidrigen Tat im Vollrausch in § 323a.32 Objektive Strafbarkeitsbedingungen sind hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip umstritten, sofern sie nicht lediglich strafbegrenzend wirken, sondern in Wirklichkeit das Unrecht einer Tat, wie dies bei der Nichterweislichkeit der ehrenrüh­ rigen Tatsache in § 186 oder der Rauschtat in § 323a der Fall ist, (mit-)begründen.33 Teils wird sogar ihre Existenzberechtigung generell bezweifelt.34 Sie lassen sich jeden­ falls nur dann legitimieren, wenn der der Schuldzurechnung unterliegende Teil des Unrechts noch schwerwiegend genug ist, um die Strafwürdigkeit der Tat hinreichend zu begründen; die Strafwürdigkeit der Tat darf maW nicht maßgeblich von der objek­ tiven Strafbarkeitsbedingung abhängen. III. Persönliche Strafausschließungs-, Strafaufhebungs- und Strafeinschränkungsgründe 1. Persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe Persönliche Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründe sind Umstände, deren Vorliegen – insbesondere aus kriminalpolitischen Erwägungen – die Verfolgung eines an sich rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens hindern. Sind die Voraussetzungen eines Strafausschließungsgrunds gegeben, so ist die Tat von vornherein nicht strafbar.35 Im Falle des Eingreifens eines Strafaufhebungsgrunds entfällt dagegen die bereits be­ gründete Strafbarkeit ex post wegen des betreffenden Umstands. Die Gründe sind jeweils persönlich, da sie bei mehreren Beteiligten gem. § 28 Abs. 2 nur für denjenigen gelten, der die jeweiligen Voraussetzungen in seiner Person erfüllt. 16 a) Persönliche Strafausschließungsgründe: 17 n n n n n Indemnität von Abgeordneten (Art. 46 Abs. 1 GG; § 36 StGB); Altersprivileg (zB § 173 Abs. 3); Straffreiheit für Schwangere (§ 218 Abs. 4 S. 2); Beteiligung an der Vortat bei Begünstigung (§ 257 Abs. 3); Angehörigenprivileg (zB § 258 Abs. 6); 18 b) Persönliche Strafaufhebungsgründe: n Rücktritt (§§ 24, 31); n bestimmte Fälle der tätigen Reue (zB §§ 98 Abs. 2 S. 2, 306e Abs. 2, 320 Abs. 3) sowie die Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung (§ 371 AO); n Begnadigung und Amnestie. 30 31 32 33 34 35 Vgl BGHSt 14, 132 (134); 16, 130 (132); Kindhäuser/Schramm BT I § 11/15 ff mwN auch zur Gegenansicht. Vgl BGHSt 28, 231 (234); Kindhäuser/Böse BT II § 39/26 ff. Vgl BGHSt 16, 124 (127); 20, 284 (285); Kindhäuser/Schramm BT I § 69/20 ff mwN auch zur Gegenansicht. Näher Geisler GA 2000, 166 ff; Jakobs 10/2 ff; Jescheck/Weigend § 53 I 2; Krause Jura 1980, 449, jew. mwN. Bemmann, Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, 1957, 52 ff. W-Beulke/Satzger Rn 779; Otto § 20/1; Stratenwerth/Kuhlen § 7/30. 67 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §6 B. Allgemeine Straftatlehre 2. Persönliche Strafeinschränkungsgründe 19 Von persönlichen Strafeinschränkungsgründen spricht man, wenn eine Vorschrift die Strafe nicht obligatorisch ausschließt, sondern es in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts stellt, ob dieses unter bestimmten Voraussetzungen von Strafe absehen oder die Strafe mildern will. Hierzu gehören u. a.: n der Täter-Opfer-Ausgleich (§ 46a); n Hilfe bei der Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten (§ 46b, sog. Kronzeugenregel); n bestimmte Fälle der tätigen Reue (zB §§ 83a; 142 Abs. 4; 158); n bestimmte Fälle geringer Schuld (§§ 86 Abs. 4; 218a Abs. 4 S. 2); n der Aussagenotstand (§ 157). Ferner kann das Gericht – bei einer verwirkten (dh im konkreten Fall eigentlich an­ gebrachten) Freiheitsstrafe unter einem Jahr – von Strafe absehen, wenn die Folgen der Tat für den Täter so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre (§ 60 – sog. poena naturalis).36 IV. Prozessvoraussetzungen, insbesondere Strafantrag 1. Prozessvoraussetzungen 20 Die gesetzlichen Bedingungen der Zulässigkeit eines Strafverfahrens werden Prozess­ voraussetzungen bzw, soweit es sich um negative Voraussetzungen handelt, auch Ver­ fahrenshindernisse genannt.37 Sie sind in jedem Verfahrensstadium von Amts wegen zu prüfen. Falls sie nicht erfüllt sind, ist das Verfahren nach §§ 170 Abs. 2 S. 1, 206a bzw 260 Abs. 3 StPO einzustellen. Zu den Prozessvoraussetzungen, die im strafrechtlichen Gutachten zu berücksichtigen sind, gehören: n n n n Strafantrag bei Antragsdelikten (zB §§ 123 Abs. 2, 194, 230, 247, 248a, 303c); keine Verjährung (§§ 78 ff); kein Strafklageverbrauch („ne bis in idem“); keine politische (Art. 46 Abs. 2, Abs. 4 GG), konsularische oder diplomatische (§§ 18–20 GVG) Immunität.38 2. Antragsdelikte 21 Antragsdelikte sind Straftaten, deren strafrechtliche Verfolgung als Prozessvorausset­ zung einen Strafantrag verlangt. Das Erfordernis eines Strafantrags ist im BT jeweils ausdrücklich angeordnet. Unter den Antragsdelikten gibt es zunächst solche, bei denen die Strafverfolgung aus­ schließlich dann möglich ist, wenn ein Antrag gestellt wurde (absolute Antragsdelik­ te).39 Ferner gibt es Delikte, die zwar grds ohne Antrag, in bestimmten Fällen aber, vor allem bei besonderen persönlichen Beziehungen, nur mit Strafantrag verfolgbar 36 37 38 39 Vgl BGHSt 27, 298 ff; BGH NStZ 1997, 121 f; 2022, 282 (283); OLG Karlsruhe JZ 1974, 772 f. Näher Kindhäuser/Schumann StPR § 14/1 ff mwN. Dazu BGH NJW 2021, 1326; NStZ 2013, 600; näher Brocker GA 2002, 44 ff. ZB § 205 Abs. 1; allg. Überblick hierzu bei Mitsch JA 2014, 1 ff. 68 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §6 § 6 Der Deliktsaufbau sind (relative Antragsdelikte).40 Schließlich gibt es Antragsdelikte, bei welchen der Strafantrag durch die Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses seitens der Staatsanwaltschaft ersetzt werden kann (eingeschränkte Antragsdelikte).41 Zur Stellung eines Strafantrags ist, soweit das Gesetz42 nichts anderes bestimmt, der Verletzte berechtigt (§ 77 Abs. 1). Dies ist der Träger des in dem vom Täter verwirk­ lichten Tatbestand geschützten Rechtsguts.43 Bei Geschäftsunfähigkeit oder beschränk­ ter Geschäftsfähigkeit können der gesetzliche Vertreter oder derjenige, dem die Sorge für die Person des Antragsberechtigten zusteht, den Antrag stellen (§ 77 Abs. 3). Stirbt der Verletzte, so geht sein Antragsrecht nur in den gesetzlich bestimmten Fällen44 auf bestimmte Angehörige über (§ 77 Abs. 2). Der Strafantrag ist innerhalb einer Frist von drei Monaten zu stellen (§ 77b Abs. 1). Die Frist beginnt mit Ablauf des Tages, an dem der Antragsberechtigte Kenntnis von Tat und Täter erhält (§ 77b Abs. 2); bei mehreren Antragsberechtigten läuft die Frist für und gegen jeden gesondert (§ 77b Abs. 3). Der Strafantrag muss bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer anderen Behörde schriftlich45 angebracht werden (§ 158 Abs. 2 StPO). V. Gutachten Im Gutachten sind alle Deliktsmerkmale, welche die Strafbarkeit positiv begründen, stets ausdrücklich zu prüfen. Liegen sie nicht vor, ist das Gutachten zu beenden. Ggf ist aber unter anderen Voraussetzungen neu zu beginnen; so kann zB bei fehlender Vollendung Versuch, bei fehlendem Vorsatz Fahrlässigkeit zu untersuchen sein. Objek­ tive Strafbarkeitsbedingungen sind entweder als „Tatbestandsannex“ im Anschluss an den (objektiven und subjektiven) Deliktstatbestand unter Hinweis auf die Nichterfor­ derlichkeit subjektiver Zurechnung46 oder nach der Schuld47 zu prüfen. Vorzugswür­ dig ist die erste Variante, da sie ggf nutzlose Ausführungen zu Rechtswidrigkeit und Schuld erspart. Merkmale, welche die Strafbarkeit entfallen lassen (Rechtfertigung, Entschuldigung), müssen nur erörtert werden, wenn der Sachverhalt entsprechende Anhaltspunkte ent­ hält. Bejahendenfalls ist das Gutachten zu beenden, ansonsten ist nur das Fehlen solcher Merkmale kurz festzustellen48 und die Prüfung fortzusetzen. Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen sind überhaupt nur bei entsprechenden Anhalts­ punkten im Sachverhalt zu erwähnen,49 sonst zu übergehen. 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 ZB § 247. ZB § 303c. ZB in §§ 194 Abs. 3, 230 Abs. 2, 355 Abs. 3. BGHSt 31, 207 (210); zum Verletztenbegriff s. auch § 373b StPO. ZB §§ 165 Abs. 1 S. 2, 194 Abs. 1 S. 5 und Abs. 2, 205 Abs. 2, 230 Abs. 1 S. 2; nicht hingegen bei § 247, BGH NStZ-RR 2017, 211. Vgl § 126 BGB. Umstr. ist, ob ein per E-Mail (dazu BGH NJW 2022, 2768) oder bei einer „Internet-Wache“ gestellter Strafantrag (dazu AG Auerbach JuS 2021, 564 m. abl. Anm. Jahn) wirksam ist. So Heinrich Rn 133; W-Beulke/Satzger Rn 212. So Arzt, Die Strafrechtsklausur, 7. Aufl. 2006, 195; Fuchs/Zerbes 420. Lagodny/Mansdörfer/Putzke ZJS 2014, 157 (159) halten es in diesen Fällen für vertretbar, Rechtswidrigkeit und Schuld vollständig zu übergehen. Speziell zum Strafantrag Ruppert JA 2018, 107 ff. 69 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 22 §6 23 B. Allgemeine Straftatlehre Wiederholungs- und Vertiefungsfragen > In welchen Schritten wird das Unrecht einer Tat festgestellt? (Rn 4 ff) > Wie wird im Gutachten die Schuld festgestellt? (Rn 7) > Was ist unter objektiven Bedingungen der Strafbarkeit zu verstehen? (Rn 15) > Was ist unter persönlichen Strafausschließungs- und Strafaufhebungsgründen zu verste­ hen? (Rn 16 ff) 70 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. §7 § 7 Handeln für einen anderen u Fall 1: A ist alleiniger Geschäftsführer der Musikalienhandlung „D-GmbH“. Als die GmbH aufgrund der schlechten Geschäftslage zahlungsunfähig wird, schenkt A die letzte der verbliebenen wertvollen Geigen dem mit ihm befreundeten Konzertmeister K, um sie so dem Zugriff der Gläubiger im Insolvenzverfahren zu entziehen. t Während das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht die Verhängung einer Geldbuße auch gegen juristische Personen und Personenvereinigungen vorsieht (§ 30 OWiG),1 können nach deutschem Strafrecht, anders als in mehreren europäischen Staaten,2 nur natürliche Personen mit einer Kriminalstrafe belegt werden.3 Inwiefern eine solche Bestrafung von Verbänden sachgerecht wäre, wird kontrovers beurteilt.4 Bestrebungen zur Einführung einer Verbandsstrafbarkeit sind hierzulande jedenfalls bislang geschei­ tert.5 1 Jedoch ist es im Bereich der Sonderdelikte ohne Weiteres möglich, dass die Strafbarkeit die Innehabung oder Verletzung einer Pflicht voraussetzt, die von einer juristischen Person zu erfüllen ist. So ist der in Fall 1 relevante Bankrott (§ 283) ein Sonderdelikt, das nur „Schuldner“ begehen können.6 Da die D-GmbH als juristische Person selbst Schuldnerin ist, ist auch nur sie gem. § 283 Abs. 1 Nr. 1 verpflichtet, bei Zahlungsun­ fähigkeit keine Bestandteile ihres Vermögens beiseite zu schaffen. Jedoch kann sich die D-GmbH mangels Tätereigenschaft nicht selbst strafbar machen. Die Strafbarkeitslücke, die sich daraus ergibt, dass einerseits eine juristische Person zwar Adressat einer strafrechtlichen Norm, aber nicht strafbar sein kann, und anderer­ seits die handelnde natürliche Person mangels Sonderpflicht nicht als Täter in Betracht kommt, wird von § 14 geschlossen. Diese Vorschrift sieht eine Überwälzung der straf­ rechtlichen Haftung von der juristischen Person auf eine natürliche Person vor, die Or­ gan oder gesetzlicher bzw betrieblicher Vertreter der juristischen Person ist.7 In Fall 1 wird A als Geschäftsführer der D-GmbH bestraft, wenn er für diese handelnd Ver­ mögensbestandteile beiseite schafft (§§ 283 Abs. 1 Nr. 1, 14 Abs. 1 Nr. 1). Allerdings sieht § 14 eine Organ- und Vertreterhaftung nicht nur für juristische Personen vor, sondern dehnt allgemein den Anwendungsbereich von Tatbeständen, die für bestimmte Personen Sonderpflichten begründen, auf deren Vertreter aus.8 Ist der Normadressat 1 Im europäischen Kartellrecht können Geldbußen teilweise nur gegen Unternehmen (Art. 101 AEUV, Art. 23 VO 1/2003, sog. Kartellverordnung), teilweise gegen Unternehmen und natürliche Personen verhängt wer­ den (Art. 14 FusionskontrollVO). 2 Eine strafrechtliche Haftung von Unternehmen gibt es u. a. in Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz (Art. 102 schweizStGB) und in Österreich sowie im Völkerstrafrecht. 3 Eine Ausnahme bildet § 74e, der eine Strafeinziehung (dazu § 1 Rn 23) zulasten von Verbänden vorsieht. Ferner können politische Parteien für die Annahme illegaler Parteispenden nach § 31c ParteiG mit Strafzah­ lungen sanktioniert werden. 4 Zur Diskussion um die Einführung einer umfassenden „Verbandsstrafbarkeit“ vgl Böse ZStW 126 (2014), 132 ff; Dannecker GA 2001, 101 ff; Greco GA 2015, 503 ff; Renzikowski GA 2019, 149 ff; Volk JZ 1993, 429 ff; Zimmermann Merkel-FS, 295 (306 ff). 5 Zu verschiedenen Gesetzentwürfen s. die Anm. zum Gesetzesentwurf der nordrhein-westfälischen Landes­ regierung für ein Verbandsstrafgesetzbuch von Schünemann ZIS 2014, 1 ff; Zieschang GA 2014, 91 ff; zum Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes der Bundesregierung Baur/Holle ZRP 2019, 186 ff; Knauer NStZ 2020, 441 ff; sowie den Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes von Henssler u. a. NZWiSt 2018, 1 ff. 6 Vgl Kindhäuser/Böse BT II § 39/4; Weber StV 1988, 16. 7 Näher zu den einzelnen Vertretungsmöglichkeiten und ihren Voraussetzungen Kindhäuser/Hilgendorf LPK § 14 Rn 19 ff. 8 § 9 OWiG trifft eine entsprechende Regelung für das Ordnungswidrigkeitenrecht. 71 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2 §7 B. Allgemeine Straftatlehre jedoch keine juristische, sondern eine natürliche Person, wird deren Haftung nicht aufgehoben; vielmehr kann dann neben dem Vertreter auch die vertretene natürliche Person haften, soweit die sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sind.9 3 § 14 setzt stets voraus, dass der betreffende Tatbestand auf den Vertreter nicht unmit­ telbar anwendbar ist, dass es sich also um ein für den Vertreter selbst nicht gelten­ des Sonderdelikt handelt. Ein Tatbestand greift dann nicht unmittelbar ein, wenn bestimmte persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (sog. persönliche Merkmale),10 welche die Strafbarkeit begründen,11 auf den Vertreter nicht zutreffen.12 Diese Merkmale müssen allerdings übertragbar sein, so dass höchstpersönliche Eigen­ schaften – wie Alter oder Geschlecht – ausscheiden. Übertragbare Verhältnisse und Umstände sind zB bestimmte soziale Rollen, wie die des Schuldners (§§ 283 ff, 288), Pfandleihers (§ 290), Bauleiters (§ 319) oder Arbeitgebers (§ 266a). § 14 gilt im Übri­ gen für Begehungs- und (unechte) Unterlassungsdelikte13 gleichermaßen. 4 Wiederholungs- und Vertiefungsfrage > Welche Funktion erfüllt § 14? (Rn 2) 9 Vgl § 14 Abs. 1 und 2: „auch“; vgl ferner KG JR 1972, 121 m. Anm. Göhler; NK-Böse/Bülte § 14 Rn 2, 51. 10 Der Begriff der persönlichen Merkmale hat in § 14 eine andere Bedeutung als in § 28 Abs. 1. Dies ergibt sich aus der Funktion der Merkmale, die den Außenstehenden bei § 28 Abs. 1 entlasten, bei § 14 dagegen belasten. Näher hierzu Gallas ZStW 80 (1968), 1 (21 f); Herzberg ZStW 88 (1976), 68 (110 ff); NK-Böse/Bülte § 14 Rn 12. 11 Bloße Strafschärfungen (wie zB die Eigenschaft als Geldwäscheverpflichteter iSv § 261 Abs. 4) fallen dage­ gen nicht in den Anwendungsbereich von § 14. 12 Näher zu den Kriterien NK-Böse/Bülte § 14 Rn 10 ff; LK-Schünemann § 14 Rn 21 ff. 13 Näher hierzu NK-Böse/Bülte § 14 Rn 15; LK-Schünemann § 14 Rn 27 ff. 72 https://doi.org/10.5771/9783748935575-56 Generiert durch Universität Mannheim, am 20.01.2024, 12:15:57. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Use Quizgecko on...
Browser
Browser