Stadt- Und Verkehrsplanung - IU Internationale Hochschule - PDF
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IU Internationale Hochschule
2023
Sandra Cramm
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This course book provides an overview of urban and traffic planning principles, covering the historical development of cities from ancient times to modern industrial cities. It also explores public regulations, traffic data collection methods, and future mobility trends. Learn about topics like public transport and sustainable mobility.
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STADT- UND VERKEHRSPLANUNG DLBBISUVP01 STADT- UND VERKEHRSPLANUNG IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675...
STADT- UND VERKEHRSPLANUNG DLBBISUVP01 STADT- UND VERKEHRSPLANUNG IMPRESSUM Herausgeber: IU Internationale Hochschule GmbH IU International University of Applied Sciences Juri-Gagarin-Ring 152 D-99084 Erfurt Postanschrift: Albert-Proeller-Straße 15-19 D-86675 Buchdorf [email protected] www.iu.de DLBBISUVP01 Versionsnr.: 001-2023-1116 Sandra Cramm © 2023 IU Internationale Hochschule GmbH Dieses Lernskript ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Lernskript darf in jeglicher Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung der IU Internationale Hochschule GmbH (im Folgenden „IU“) nicht reproduziert und/oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet wer- den. Die Autor:innen/Herausgeber:innen haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, die Urheber:innen und Quellen der verwendeten Abbildungen zu bestimmen. Sollte es dennoch zu irrtümlichen Angaben gekommen sein, bitten wir um eine dement- sprechende Nachricht. 2 INHALTSVERZEICHNIS STADT- UND VERKEHRSPLANUNG Einleitung Wegweiser durch das Studienskript................................................. 6 Literaturempfehlungen............................................................ 7 Übergeordnete Lernziele.......................................................... 9 Lektion 1 Geschichte der Stadtplanung 11 1.1 Städte in der Antike.......................................................... 12 1.2 Städte im Mittelalter......................................................... 24 1.3 Städte der Neuzeit........................................................... 34 Lektion 2 Grundlagen der Stadt- und Verkehrsplanung 45 2.1 Öffentliches Baurecht........................................................ 46 2.2 Methoden der Verkehrserhebung.............................................. 62 2.3 Modellbasierte Prognosen und Szenarien...................................... 68 2.4 Entscheidungsfindungsprozess und Berechnungsgrundlagen.................... 76 Lektion 3 Gestaltung, Entwurf und Bemessung von Verkehrsanlagen 83 3.1 Grundlagen der Planung von Verkehrssystemen................................ 84 3.2 Knotenpunkte............................................................... 96 3.3 Kreisverkehrsplätze......................................................... 104 3.4 Ruhender Verkehr.......................................................... 112 Lektion 4 Öffentlicher Rad- und Fußgängerverkehr 125 4.1 Öffentlicher Verkehr und ÖPNV............................................... 126 4.2 Radverkehr................................................................ 137 4.3 Fußgängerverkehr.......................................................... 142 3 Lektion 5 Nachhaltige Mobilität und Mobilität der Zukunft 147 5.1 Elektromobilität und Carsharing............................................. 148 5.2 Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung, Verkehrsverbesserung.............. 153 5.3 Intelligente Verkehrssteuerung............................................... 156 5.4 Ausblick in die Zukunft: autonomes Fahren und Smart City..................... 160 Verzeichnisse Literaturverzeichnis............................................................. 166 Abbildungsverzeichnis.......................................................... 173 4 EINLEITUNG HERZLICH WILLKOMMEN WEGWEISER DURCH DAS STUDIENSKRIPT Dieses Studienskript bildet die Grundlage Ihres Kurses. Ergänzend zum Studienskript ste- hen Ihnen weitere Medien aus unserer Online-Bibliothek sowie Videos zur Verfügung, mit deren Hilfe Sie sich Ihren individuellen Lern-Mix zusammenstellen können. Auf diese Weise können Sie sich den Stoff in Ihrem eigenen Tempo aneignen und dabei auf lerntyp- spezifische Anforderungen Rücksicht nehmen. Die Inhalte sind nach didaktischen Kriterien in Lektionen aufgeteilt, wobei jede Lektion aus mehreren Lernzyklen besteht. Jeder Lernzyklus enthält jeweils nur einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt. So können Sie neuen Lernstoff schnell und effektiv zu Ihrem bereits vorhandenen Wissen hinzufügen. In der IU Learn App befinden sich am Ende eines jeden Lernzyklus die Interactive Quizzes. Mithilfe dieser Fragen können Sie eigenständig und ohne jeden Druck überprüfen, ob Sie die neuen Inhalte schon verinnerlicht haben. Sobald Sie eine Lektion komplett bearbeitet haben, können Sie Ihr Wissen auf der Lern- plattform unter Beweis stellen. Über automatisch auswertbare Fragen erhalten Sie ein direktes Feedback zu Ihren Lernfortschritten. Die Wissenskontrolle gilt als bestanden, wenn Sie mindestens 80 % der Fragen richtig beantwortet haben. Sollte das einmal nicht auf Anhieb klappen, können Sie die Tests beliebig oft wiederholen. Wenn Sie die Wissenskontrolle für sämtliche Lektionen gemeistert haben, führen Sie bitte die abschließende Evaluierung des Kurses durch. Die IU Internationale Hochschule ist bestrebt, in ihren Skripten eine gendersensible und inklusive Sprache zu verwenden. Wir möchten jedoch hervorheben, dass auch in den Skripten, in denen das generische Maskulinum verwendet wird, immer Frauen und Män- ner, Inter- und Trans-Personen gemeint sind sowie auch jene, die sich keinem Geschlecht zuordnen wollen oder können. 6 LITERATUREMPFEHLUNGEN ALLGEMEIN Schröteler-von Brandt, H. (2014): Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte: Eine Einführung. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden. Steierwald, G./Künne, H.-D. V. (2005): Stadtverkehrsplanung: Grundlagen, Methoden, Ziele. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden. Vallée, D./Engel, B./Vogt, W. (2021): Stadtverkehrsplanung. Band 1–3, 3. Auflage, Springer Vieweg, Berlin/Heidelberg. Wirth, A./Schneeweiß, A. (2019): Öffentliches Baurecht praxisnah: Basiswissen mit Fallbei- spielen. 3. Auflage, Springer, Wiesbaden. Kirchhoff, P. (2013): Städtische Verkehrsplanung: Konzepte, Verfahren, Maßnahmen. Sprin- ger, Heidelberg. Zilch, K. et al. (2014): Raumordnung und Städtebau, Öffentliches Baurecht/Verkehrssysteme und Verkehrsanlagen. Springer, Berlin/Heidelberg. LEKTION 1 Schröteler-von Brandt, H. (2018): Stadtbau- und Stadtplanungsgeschichte. In: Handwörter- buch der Stadt- und Raumentwicklung. ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, Hannover. S. 805–821. LEKTION 2 Steierwald, G./Künne, H.-D. V. (2005): Stadtverkehrsplanung: Grundlagen, Methoden, Ziele. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden, Teil B (B2, B4-B5, B8). Vallée, D./Engel, B./Vogt, W. (2021): Stadtverkehrsplanung Band 2: Analyse, Prognose und Bewertung. 3. Auflage, Springer Vieweg, Berlin/Heidelberg, Kapitel 2, 8, 9, 12. Wirth, A./Schneeweiß, A. (2019): Öffentliches Baurecht praxisnah: Basiswissen mit Fallbei- spielen. 3. Auflage, Springer, Wiesbaden, Kapitel 2–9, 18. LEKTION 3 Steierwald, G./Künne, H.-D. V. (2005): Stadtverkehrsplanung: Grundlagen, Methoden, Ziele. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden, Teil C (C4, C5). 7 Vallée, D./Engel, B./Vogt, W. (2021): Stadtverkehrsplanung Band 3: Entwurf, Bemessung und Betrieb. 3. Auflage, Springer Vieweg, Berlin/Heidelberg, Kapitel 4, 11. LEKTION 4 Steierwald, G./Künne, H.-D. V. (2005): Stadtverkehrsplanung: Grundlagen, Methoden, Ziele. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden, Teil C (C6, C7). Vallée, D./ Engel, B./ Vogt, W. (2021): Stadtverkehrsplanung Band 3: Entwurf, Bemessung und Betrieb. 3. Auflage, Springer Vieweg, Berlin/Heidelberg, Kapitel 8, 9. LEKTION 5 Flügge, B. (Hrsg.) (2020): Smart Mobility: Trends, Konzepte, Best Practices für die intelligente Mobilität. 2. Auflage, Springer, Wiesbaden, Teil III. Ruhrort, L. (2019): Transformation im Verkehr: Erfolgsbedingungen für verkehrspolitische Schlüsselmaßnahmen. Springer Vieweg, Berlin, Kapitel 2. Kampker, A./Vallee D./Schnettler, A. (Hrsg.) (2018): Elektromobilität: Grundlagen einer Zukunftstechnologie. 2. Auflage, Springer Vieweg Verlag, Berlin, Kapitel 3. 8 ÜBERGEORDNETE LERNZIELE Der Kurs Stadt- und Verkehrsplanung gibt einen Überblick über die wesentlichen Grund- sätze der Planung und Gestaltung von Verkehrssystemen in Städten und Metropolregio- nen. Um die Struktur heutiger Städte zu verstehen, die teilweise über Jahrhunderte hin- weg gewachsen sind, ist die Kenntnis der historischen Hintergründe notwendig. Wie haben die alten Römer unsere Städte geprägt? Wie haben sich Städte im Mittelalter entwi- ckelt und was macht die Städte der Neuzeit aus? In der ersten Lektion wird ein großer Bogen um fast 3.000 Jahre Stadtentwicklungsgeschichte gespannt, der von der griechi- schen Polis bis zur heutigen Industriestadt reicht. Grundlage für die Arbeit als Stadtplaner ist die Kenntnis der wichtigsten Rechtsgrundla- gen. Beginnend beim allgemeinen öffentlichen Baurecht wird der Fokus nicht zuletzt auf umweltrechtliche Belange wie das Immissionsschutzrecht oder das Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht gelegt. Dabei werden auch Richtlinien und Regelungen auf europäischer Ebene besprochen. Einer der ersten Schritte in der Bauleitplanung ist die Erhebung und Auswertung von Verkehrsdaten, um den Bedarf genau zu ermitteln. Neben entsprechen- den Methoden der Verkehrserhebung werden auch Modelle zur Berechnung von Progno- sen und Szenarien vorgestellt und Berechnungsgrundlagen für den Entscheidungsfin- dungsprozess aufgezeigt. Im Anschluss erfolgt die anwendungsorientierte Planung. Anhand von Richtlinien, Standards und Normen wird die Planung von Knotenpunkten und Kreisverkehren, aber auch der Flächen des ruhenden Verkehrs erläutert. Schließlich wid- met sich das Studienskript dem öffentlichen Personennahverkehr, den Radfahrern und Fußgängern. Letztere benötigen besonderen Schutz und eigene Straßen und Wege inner- halb des großen Straßenverkehrsnetzes. Am Ende steht ein Ausblick in die Zukunft: Wie werden wir uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten fortbewegen? Schlagworte wie Carsharing, Smart City oder autonomes Fah- ren werden in diesem Rahmen erklärt und runden die Einführung in die Stadt- und Ver- kehrsplanung ab. 9 LEKTION 1 GESCHICHTE DER STADTPLANUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – was man unter Gründungsstädten versteht. – welche unserer heutigen Städte die Römer nachhaltig geprägt haben (und welche nicht). – wie die Planstruktur der Städte in der Antike aussah. – welche sozioökonomischen Strukturen in den frühen Städten herrschten. – warum man eigentlich eine Stadtmauer brauchte. – welche grundlegenden Veränderungen die Privatisierung des Städtebaus im 19. Jahr- hundert mit sich brachte. – was eine Industriestadt ausmacht. 1. GESCHICHTE DER STADTPLANUNG Einführung Städte entwickelten sich in Mitteleuropa vornehmlich an wichtigen Handelsrouten oder Heerstraßen der Römer. Sie dienten der Sicherung von Handelsknoten, boten den Reisen- den ein Nachtlager und ermöglichten das Auffüllen ihrer Vorräte. Im Mittelalter kam es zu einem regelrechten Boom in der Entstehung und dem Ausbau von Städten, dessen Ursprung neben dem zunehmenden Fernhandel auch in der Entwicklung der Landwirt- schaft und dem Aufschwung handwerklicher Gewerbezweige zu finden ist. In der frühen Neuzeit kam es zu deutlich weniger Neugründungen von Städten, da Kriege, Seuchen und Hanse auch der Zerfall der Hanse zu wirtschaftlichen Rückschlägen führten. Eine Vereinigung nord- deutscher Kaufleute vom 12. bis 17. Jahrhundert, Der Begriff „Stadtentwicklung“ beschreibt die moderne Steuerung der Gesamtentwick- die nicht nur wirtschaft- lung einer Stadt in Hinblick auf gesellschaftliche, kulturelle, wirtschaftliche und ökologi- lich, sondern auch poli- sche Aspekte. Sowohl demografischer Wandel, Nachhaltigkeit, Bürgerbeteiligung und tisch und kulturell rele- vant war. Integration bestimmter Bevölkerungsgruppen spielen hierbei eine Rolle. Der klassische Städtebau beschäftigt sich hingegen hauptsächlich mit der Gestaltung von Gebäuden und öffentlichen Plätzen, er kann als Bezeichnung für die sichtbaren und gestalterischen Aspekte der Stadtplanung angesehen werden. Im römischen Reich wurden von ca. 100 v. Chr. bis ca. 400 n. Chr. zahlreiche neue Städte in Europa gegründet, die nach regelmäßigen Anordnungen geplant und errichtet wurden. Auch im Mittelalter kam es zur Gründung diverser Planstädte, deren Bau voraussetzte, dass die ausgesuchte Fläche völlig frei Urbanisierung bebaubar war. Zu einer planvollen Urbanisierung kam es im Hochmittelalter im Zuge der Der Begriff, von lateinisch deutschen Ostsiedlung durch Fürsten, Kaufleute und den deutschen Ritterorden. „urbs“ für Stadt, bezeich- net die Ausbreitung städt- ischer Lebensformen. Im Übergang zum 19. Jahrhundert veränderten sich die gesellschaftlichen und boden- Suburbanisierung nennt rechtlichen Verhältnisse, privatwirtschaftliche Interessen spielten nun eine große Rolle bei man die Ausbreitung städtischer Lebensformen der Stadtplanung. Die öffentliche Planung verlor in Zuge dessen zunehmend an Bedeu- in bisher ländliche tung. Seitdem sind Stadterweiterung und Stadtumbau die zwei wesentlichen Aspekte des Gebiete. Städtebaus. Heute sind die wichtigen Aufgaben der Stadtplanung das Bauen und Planen im Bestand, d. h., jede Planung findet im Kontext der bebauten Stadt statt. Die Stadtge- schichte ist somit die Basis für die zukünftige Stadtentwicklung und so prägen die frühere Bodeneinteilung und Parzellierung noch heute die Stadt und ihre Entwicklung (Schröteler- von Brandt 2014). 1.1 Städte in der Antike Als Antike bezeichnet man eine etwa 1.400 Jahre andauernde Epoche (800 v. Chr. bis 600 n. Chr.) im Mittelmeerraum. Sie umfasst die Kultur und Geschichte des antiken Griechen- lands, des Hellenismus und des Römischen Reichs, wobei die zeitlichen Abgrenzungen von Beginn und Ende nicht eindeutig gezogen werden können. Ein erweitertes Verständnis schließt auch Hochkulturen aus Ägypten, Mesopotamien, Assyrien, Persien oder das Byzantinische Reich (auch Oströmisches Reich) sowie die minoische (auf der Insel Kreta) 12 und mykenische Kultur (auf dem griechischen Festland) mit ein. Die Antike gilt als „Wiege Mesopotamien der europäischen Städte“, da in dieser Zeit Überlegungen zur räumlichen Struktur und des Das auch als „Zweistrom- land“ bezeichnete Meso- Allgemeinwesens angestellt wurden, die unsere heutigen Städte maßgeblich geprägt potamien war eine Kultur- haben. Die Aufteilung in einen privaten und einen öffentlichen Raum und der besondere landschaft in Vorderasien Stellenwert, der dem öffentlichen Raum beigemessen wurde, ist bis heute ein Wesens- zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris. merkmal der europäischen Stadt (Schröteler-von Brandt 2014). Im Gegensatz dazu stehen beispielsweise islamische Städte, in denen sich das öffentliche Leben auf zentrale Orte wie Moscheen, Basare oder Bäder beschränkte. Aber auch in der traditionellen chinesischen Stadt mit ihrem Hofhaussystem und zur Straße geschlossenen Häuserfronten gab es für öffentlichen Raum keinen Platz. Statt eines zentralen Markplat- zes standen Kaiserpaläste als Symbole der Macht im Zentrum der Stadt (Schröteler-von Brandt 2014). Griechische Antike Ab 700 v. Chr. entstanden griechische Städte nicht nur in Griechenland selbst, sondern auch außerhalb in Spanien, Russland, Ägypten und der heutigen Türkei. Im Mittelmeer- raum und am Schwarzen Meer gab es zur Zeit der griechischen Antike etwa 1.000 Städte, von denen nur wenige mehr als 5.000 Einwohner hatten. Einen griechischen Stadtstaat nannte man Polis, die größte Polis der damaligen Zeit war Athen. Die sich selbst verwal- tenden und regierenden Stadtbürger der Poleis bildeten eine völlig neue Gesellschaft. Diese neue gesellschaftliche Entwicklung basierte auf Seehandel, Herstellung von Eisen, Münzprägung, Einführung eines Alphabets und auch der Sklaverei. Auch in der hellenisti- schen Zeit blieben die Poleis mit ihren charakteristischen Strukturen bestehen, standen nun jedoch unter der Zentralmacht des Königs. Die Differenzierung von Stadt- und Land- bevölkerung war eine wesentliche Grundlage für die Entstehung der städtischen Struktu- ren. Durch verbesserte Anbaumethoden und eine landwirtschaftliche Überproduktion war es möglich, dass sich ein Teil der Bevölkerung anderen Tätigkeiten wie dem Handwerk, Gewerbe oder Handel widmen konnte. Die Städter konnten nun von der Landbevölkerung durch Nahrung mitversorgt werden. Anders als im Mittelalter hatte die Landbevölkerung dieselben Rechte und Pflichten wie die Stadtbevölkerung. Zu einer Polis gehörte nicht nur die von einer Stadtmauer umgebene Stadt selbst, sondern auch das Umland mit seiner Landwirtschaft: die Chora. Innerhalb der Stadtmauern war Chora die Agora der zentral gelegene wichtigste Platz, auf dem auch Versammlungen und Dies bezeichnet in Bezug auf die Antike das land- Abstimmungen abgehalten wurden. Auf einem Teilbereich der Agora fand oft auch der wirtschaftlich geprägte Markt statt. An der Agora waren meist auch überdachte Säulenhallen (Stoa) zu finden. Umland einer Stadt. Ebenfalls zentral gelegen an der Agora waren das Rathaus (Buleuterion) und der Regie- Heute ist es hingegen eine umgangssprachliche rungssitz (Prytaneion). Es wurden öffentliche Einrichtungen wie Gymnasien, Stadien oder Bezeichnung für einen Theater angelegt, teilweise wurden weitere Flächen für die zukünftige Bebauung reser- zentralen Ort, der häufig anstelle des Stadtnamens viert. Neben der Unterteilung von öffentlichen und privaten Bereichen gab es in den Poleis verwendet wird. auch einen sakralen Bereich, der die Akropolis umfasste. Als Akropolis bezeichnete man eine Erhebung, d. h. einen kleinen Stadtberg, auf der sich eine Festung oder auch häufig ein Kultplatz befand. Der räumliche Aufbau war in hohem Maße auf die Erfordernisse der Gesellschaft abgestimmt. 13 Abbildung 1: Das Buleuterion von Priene (im Westen der heutigen Türkei) Quelle: QuartierLatin1968 2006. Die Struktur der griechischen Stadt zeichnete sich besonders durch folgende Punkte aus (Schröteler-von Brandt 2014): einen geplanten rasterförmigen Aufbau mit Baublockeinteilung, die klare Funktionsteilung mit Schwerpunkt auf die öffentliche Fläche sowie die Umgrenzung mit einer Stadtmauer. Die Rasterstruktur der griechischen Stadt entspricht dem hippodamischen Schema, das Hippodamos von Milet von Hippodamos entwickelt wurde. Seine Heimatstadt Milet wurde entsprechend seines Er war ein griechischer Systems nach der Zerstörung durch die Perser im Jahr 479 v. Chr. wiederaufgebaut, wobei Stadtplaner und Staats- theoretiker, der im 5. in Blöcken von drei zu zwei Parzellen gearbeitet wurde. Diese Gitternetzform, also eine Jahrhundert v. Chr. lebte. regelmäßige rechtwinklige Aufteilung der Parzellen, kommt bis heute häufig im Städtebau Er wirkte auch an der Pla- zur Anwendung. Diese Rasteraufteilung bietet folgende Vorteile (Schröteler-von Brandt nung des Hafens von Piräus mit. 2014): Die Rasterform kann sehr einfach eingeteilt und vermessen werden. Sie ermöglicht eine gleichmäßige Bebaubarkeit. Ein rasterförmiger Grundriss verbessert die Orientierung und die Verkehrsverhältnisse. Sie sorgt für eine gute Be- und Entlüftung der Stadt. Eine Rasterform kann beliebig erweitert werden. Sie wird den Anforderungen an Verteidigung und Überwachung gerecht. 14 Abbildung 2: Rekonstruktion der Stadtmitte von Milet Quelle: Schröteler-von Brandt 2014, S. 17. Die Größe der Baublöcke war von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Während in der Stadt Milet eine Einteilung von 30 x 52 m vorgenommen wurde, lagen die Abmaße in der Stadt Olynth bei 35 x 90 m. Ein Baublock bestand aus sechs oder acht Parzellen, deren Seiten- längen das Verhältnis 4:5 oder 5:6 hatten. In der Stadt Priene bildeten so jeweils acht Par- zellen einen Baublock von 35 x 47 m. Die Hauptstraßen waren 5 bis 10 m und die Neben- 15 Olynth straßen 3 bis 5 m breit. Durch die gleichmäßige Parzellierung und die relativ kleinen Dies war eine Stadt auf Grundstücke war eine Bebauung mit „Serien-Typenhäusern“ ähnlich unserer heutigen Rei- der griechischen Halbin- sel Chalkidiki. Durch den henhäuser vorteilhaft. Hier werden Parallelen zum stark funktionalisierten und normierten Zusammenschluss mit Städtebau von 1920 bis 1970 erkennbar. In der antiken Stadt Priene konnte eine solche weiteren Küstenstädten Bebauung rekonstruiert werden. Alle Wohneinheiten sind in das Wohnhaus und einen Hof entwickelte sie sich zur Vormacht des chalkidi- eingeteilt, eine Insula bestand aus ca. acht Wohnhäusern (Schröteler-von Brandt 2014). schen Städtebundes. 16 Abbildung 3: Rekonstruktion einer Insula mit acht Wohnhäusern in Priene Quelle: Schröteler-von Brandt 2014, S. 20. 17 Dieser Einteilung lag eine Vorstellung der idealen Größe einer Stadt zugrunde. Demnach sollte eine Polis 5.000 Bürger haben; mit Frauen, Kindern und Sklaven ergaben sich daraus 20.000 bis 40.000 Einwohner. Diese Zahl ergab sich zum einen daraus, dass die Versorgung von mehr Einwohnern nicht gewährleistet werden konnte, andererseits war eine bestimmte Mindestanzahl von Einwohnern für die politische Selbstverwaltung nötig. Wurde die Stadt zu groß, wurden Tochterstädte im Umland gegründet. Der Stadtstaat Milet soll bis zu 90 Tochterstädte als Kolonien gegründet haben (Schröteler-von Brandt 2014). Trotz dieses weit verbreiteten Schachbrett-Städtebaus waren Städte zum Teil auch von unregelmäßigen Grundrissen geprägt. Dies war besonders bei Städten der Fall, die über längere Zeiträume gewachsen waren, aber auch, wenn die Topografie (beispielsweise an Hängen) es nicht anders zuließ. Die Häuser und Grundstücke wurden bei einer Stadtneu- gründung durch ein Losverfahren vergeben, nur Bürgerfamilien durften Eigentum besit- Metöken zen, Fremde mussten Häuser mieten. Die Metöken (ortsansässige Fremde) machten teil- Diese hatten keine politi- weise 50 % der Einwohner einer Stadt aus (Schröteler-von Brandt 2014). schen Rechte, konnten aber zu Kriegsdiensten herangezogen werden. Ein Merkmal der antiken Stadt war die Stadtmauer oder eine andere Barriere, die die Stadt Meist handelte es sich um als Schutzraum verdeutlichte. Dies wurde auch zum Charakteristikum der europäischen Griechen aus anderen Poleis. In Athen mussten Städte bis ins 19. Jahrhundert. Diese Abgrenzung brachte aber auch Probleme wie eine sie eine Steuer entrichten, hohe Baudichte, Enge und Platzmangel mit sich. Die Planung und Erbauung von Stadt- um unter dem Schutz des mauern und Stadttoren war über Jahrhunderte hinweg eine zentrale Aufgabe des Städte- Staates zu stehen. baus. Das geordnete Leben in der Stadt auf engstem Raum brauchte Regeln. Unrat durfte nicht auf öffentlichem Grund gelagert werden, es durfte keine offenen Abwasserkanäle geben und auf die Instandhaltung von Straßen und Plätzen wurde großen Wert gelegt. Streit unter den Bürgern wurde durch ausgeprägte rechtliche Regelwerke beigelegt (Schröteler- von Brandt 2014). Römische Antike Etrusker Seit etwa 470 v. Chr. war Rom von den Etruskern losgelöst, die die Stadt einst im 8. Jahr- Die Etrusker waren ein hundert v. Chr. gegründet hatten. Bereits 200 Jahre später beherrschten die Römer das Volk aus Etrurien, das im heutigen Gebiet der Tos- Gebiet der italienischen Halbinsel und gewannen im Zuge der punischen Kriege auch kana, Umbrien und Gebiete in Spanien und Nordafrika hinzu. Im 1. Jahrhundert v. Chr. hatten die Römer die Latium im nördlichen Mit- Kontrolle über die gesamte hellenische Welt gewonnen, das Römische Reich sollte bis 426 telitalien lebte. n. Chr. Bestand haben (Schröteler-von Brandt 2014). Die Basis der römischen Kultur waren die Errungenschaften der Etrusker. Sie hatten ein System aus Stadtstaaten entwickelt, das es dank Erzgewinnung, Handel und Landwirt- schaft zu Reichtum gebracht hatte. Zwölf dieser Stadtstaaten schlossen sich um 600 v. Chr. zum Zwölfstädtebund zusammen und verständigten sich so auf eine gemeinsame Kultur, Sprache und Religion. Die bekannten Techniken der Römer im Bereich Straßen- und Kanalbau, die Anlage von Stadtmauern und -toren sowie die rational geplante Anlage der Stadt mit öffentlichen und sakralen Bereichen war etruskischen Ursprungs und wurde von den Römern übernommen (Schröteler-von Brandt 2014). 18 Im Zuge der Ausdehnung des römischen Reiches kam es zu einer Stadtgründungswelle, wobei diese zunächst als Kolonien bezeichnet wurden. Die Bürger der römischen Kolonien waren offiziell auch Römer. Die Entscheidung über eine Koloniegründung wurde direkt in Rom gefasst. Man zog mit einem Pflug entlang der Stadtgrenze eine Furche und ließ dort einen Zwischenraum, wo Stadttore geplant waren. Die Stadtmauer war eine politische Grenze, die den inneren Bereich der Stadt mit den dort geltenden Bürgerrechten vom äußeren Bereich der Mauer mit geltendem Militärrecht abgrenzte. In der Mitte der Stadt wurde das Hauptstraßenkreuz festgelegt, das aus der Cardo maximus (Nord-Süd-Achse) und der Decumanus maximus (West-Ost-Achse) bestand, die üblicherweise zu den vier Haupttoren führten. Dieses Hauptkreuz wurde exakt mit einer Groma bestimmt, einem Vermessungsinstrument zur Bestimmung rechter Winkel, weshalb der Kreuzungspunkt auch als Locus Gromae bezeichnet wurde. Daraus ergab sich ein schachbrettartiges Stadt- muster, das auch bei römischen Kastellen zu finden ist. Auch landwirtschaftliche Parzellen Kastell wurden rasterförmig eingeteilt und vergeben, so vergab man beispielsweise in Italien Par- Ein Kastell ist ein römi- sches Militärlager, das zellen von 700 x 700 m an ehemalige Soldaten. Diese Rasternetzstruktur ist auch heute Ausgangspunkt militär- noch in der Landschaftsstruktur zu erkennen (Schröteler-von Brandt 2014). ischer Operationen oder Stützpunkt bei Schlach- ten war. Abbildung 4: Cardo maximus der römischen Stadt Apameia im heutigen Syrien Quelle: Beatrizmills 2008. Das Forum entsprach im Stadtbild etwa der griechischen Agora und bildete das Zentrum der Stadt. Angrenzend daran befanden sich Tempel, Versammlungsstätten und Verkaufs- hallen sowie weitere öffentliche Einrichtungen wie Bäder und Schulen. Friedhöfe bzw. Gräberfelder (Nekropolen) wurden hingegen an den Ausfallstraßen angelegt. 19 Privatleute verfügten in den Städten über Grundbesitz, auf den der Staat allerdings relativ einfach zugreifen konnte. Grundsätzlich lassen sich zwei Grundtypen des Wohnungsbaus unterscheiden: Das private ein- bis zweigeschossige Familienhaus (Domus) sowie das mehrgeschossige Mietshaus (Insulae), das in der Regel von Unternehmern gebaut und dann vermietet wurde (Schröteler-von Brandt 2014). Das Atriumhaus ist eine Form des Domus, das auf etruskische Bauweise zurückgeht. Von einem großen zentralen Raum mit einem Regenwasserbecken gehen mehrere Räume ab. Später wurden die Häuser durch ein Peristyl erweitert, bis das Atrium schließlich ganz verschwand und die Häuser ab ca. dem 4. Jahrhundert n. Chr. nur noch mit Peristyl errichtet wurden. Darunter ist ein rechte- ckiger Hof zu verstehen, der komplett von Säulen (Kolonnaden) umgeben ist. In diesen spätantiken Häusern findet sich außerdem zunehmend auch ein Nymphäum, ein halb- kreisförmiges Gebäude mit Säulenarchitektur, das vermutlich als eine Art Wohnzimmer genutzt wurde (Barton 1996). 20 Abbildung 5: Römisches Atriumhaus Quelle: Langhammer 2010. Die größte Stadt der damaligen Zeit war Rom mit bis zu einer Million Einwohnern. Als erste Großstadt unterlag sie einem großen Zustrom an Menschen, die Wohnraum benötigten. Mietshäuser mit fünf bis sechs Stockwerken waren oft schnell und dadurch qualitativ min- derwertig gebaut und wurden teilweise zusätzlich aufgestockt, ohne die Statik zu beach- ten. Kochen und Heizen mussten die Bewohner mit tragbaren Kohlepfannen. Die Brandge- fahr war wegen der engen Bauweise und der Holzdecken sehr groß, in bestimmten Gebieten bestand für die Bewohner zusätzlich die Gefahr möglicher Überschwemmungen durch den Fluss Tiber. Sanitäre Anlagen waren kaum vorhanden, sodass das Entsorgen menschlicher Exkremente aus dem Fenster auf die Straßen verboten werden musste. Wei- tere strenge Regeln sorgten für einen geordneten Ablauf in der überfüllten Stadt. Um dem Verkehr Herr zu werden, wurde eine Art Schichtbetrieb eingeführt. Tagsüber waren nur 21 Baustellenfahrzeuge zugelassen, Warenlieferungen mussten nachts erfolgen, was zu einer dauerhaft hohen Lärmbelästigung führte. Reiche Bürger zogen schließlich in ihre Villen außerhalb der Stadt, um Lärm und Dreck zu entkommen (Schröteler-von Brandt 2014). Das Römische Reich erreichte im Zuge seiner Ausdehnung schließlich auch Germanien, Limes wobei die Grenze des Reiches entlang von Rhein und Donau verlief. Der Grenzwall Limes Limites bezeichnen im wurde mit Palisaden, Mauern und Wachtürmen versehen. Während die meisten Städte Allgemeinen militärische Grenzsicherungsanlagen südwestlich des Limes auf römische Gründungen zurückgehen und eine typische Struktur der Römer in Europa, aufweisen, verfügen Städte nordöstlich des Limes über keine festen städtischen Struktu- Asien und Afrika. Ab 50 v. ren, wie sie in der römischen Stadtplanung üblich waren. Typische „Römerstädte“ sind Chr. wurden zunehmend Heerwege mit befestigten beispielsweise Augsburg, Köln, London, Mainz, Paris, Regensburg, Trier oder Wien. Der Wachposten als Limes Bereich außerhalb des Limes wurde im antiken Sprachgebrauch auch als Barbaricum bezeichnet. bezeichnet. Es gab jedoch zahlreiche kulturelle und wirtschaftliche Kontakte zwischen ger- manischen Großverbänden aus diesem Gebiet und den Römern, sodass es durchaus auch eine Beeinflussung der Städte in diesem Bereich gab. Abbildung 6: Verlauf des niedergermanischen Limes Quelle: Bödecker/Pütz 2020. Die meisten römischen Städte entstanden aus Militärlagern (Castra) in eroberten Gebieten, aber es wurden teilweise auch bestehende Siedlungen übernommen. Ein herausragender Aspekt der römischen Stadt war der technisch anspruchsvolle Straßenbau mit seiner aus- geklügelten Be- und Entwässerung. Das umfassende römische Straßennetz förderte das Wachstum der Städte. Die Straßen waren in der Regel 4 bis 6 m breit, als Fundament diente behauener Stein mit darüber aufgebrachten Schichten aus Sand und Kies. Als Abschluss wurde eine flache Steinplatte aufgelegt. 22 Sehr aufwendig errichtete man auch große Aquädukte, die bis heute als große bautechni- sche Leistung der Römer gelten. Sie dienten der Wasserversorgung der Städte, wobei in erster Linie öffentliche Gebäude und Brunnen versorgt wurden. Darüber hinaus gab es ein großes System aus unterirdischen Abwasserkanälen wie die Cloaca Maxima in Rom (Schröteler-von Brandt 2014). Abbildung 7: Wasser- und Abwasserleitung unterhalb einer Straße in einer römischen Stadt Quelle: Schröteler-von Brandt 2014, S. 25. Griechischer und insbesondere der römische Städtebau verbreiteten in Europa nicht nur den rasterförmigen Aufbau der Städte und die Betonung des öffentlichen Lebens in eigens dafür angelegten Räumen. Diese Form des Städtebaus steht insgesamt für die Idee der rationalen Planung, der Ordnung und Strukturierung nach einem menschlichen „Ideal“, wie eine Stadt sinnvoll aufgebaut, aber auch schön sein kann. Es bestand ein gesellschaft- licher Konsens darüber, welche die „beste Struktur“ für eine Stadt darstellt. Aufgrund des- sen entwickeln sich europäische Städte bis heute weiter und unterliegen damit ganz ande- ren Gesichtspunkten als beispielsweise die islamische Stadt. Dieser sehr religiös geprägte Stadttypus besteht vornehmlich aus in sich geschlossenen Bezirken, öffentliche Bereiche spielen eine untergeordnete Rolle (Schröteler-von Brandt 2014). 23 1.2 Städte im Mittelalter Das Mittelalter prägt bis heute viele europäische Städte in baulicher Hinsicht. In der Zeit zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert n. Chr. wurden verschiedene Kulturen der antiken, germanischen, keltischen und auch slawischen Welt zusammengeführt. Diese Übergangs- zeit von der Antike zur Neuzeit war durch politische, ökonomische, soziale und rechtliche Umbrüche geprägt. Das Erbe der Römer Nachdem das Weströmische Reich 476 n. Chr. zerfallen war, begann eine Neuordnung Europas. Die alten Siedlungen der Römer – besonders solche an Flüssen und Furten – nutzte man häufig weiter. Römische Gebäude und auch Stadtmauern wurden allerdings häufig als Steinbruch und Baustofflager zweckentfremdet. Man wurde erfinderisch und verwendete die alten Bauten für eigene Zwecke. So ließ Karl der Große beim Bau des Aachener Doms im Jahr 787 antike römische Säulen im Zentralbau einbauen. Im italieni- schen Lucca und auch im französischen Arles entstanden neue bürgerliche Wohnbauten in Amphitheater den alten Amphitheatern. Noch heute sind Fassadenbestandteile gut erhalten (Schröt- Dies ist ein Rundtheater eler-von Brandt 2014). der Antike mit stufigen Sitzreihen, die um den Ort der Vorführung herum Abbildung 8: Das Amphitheater von Arles mit hineingebauter Stadt angeordnet waren. Die frühen Bauten der Antike waren aus Holz errichtet, schließlich ging man zu stabilen Steinbauten über, die teils heute noch erhalten sind. Quelle: Guibert um 1800. 24 Neben den sichtbaren Bauwerken blieben aber auch die Stadtgrundrisse der Römer beste- hen. In Städten wie Bologna, Florenz oder Verona sind die rasterförmigen Grundrisse besonders im Stadtkern bis heute erhalten. Aufgrund der Besitzverhältnisse waren diese Grundrisse häufig Stadtelemente, die sogar große Umwälzungen überstanden. Die Stadt Aachen wurde nach dem großen Brand 1656 auf dem bereits 500 Jahre bestehenden Grundriss wiederaufgebaut und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland die bestehende Einteilung der Grundstücke sowie Straßen und Infrastruktur wie Kanäle weiter genutzt (Schröteler-von Brandt 2014). Im Verlauf des Frühmittelalters erfolgte ein starker Niedergang des städtischen Lebens, die städtische Selbstverwaltung verschwand fast völlig und immer mehr Bürger wanderten ab. Dies ließ die Städte veröden, sodass teil- weise sogar auf ehemals bewohntem Gebiet Ackerbau betrieben wurde. Stadtentwicklung östlich des Limes Im Germanien östlich des Rheins bzw. des Limes gab es hingegen keine römische Städte- bautradition: Die Mehrheit der Bürger lebte auf dem Land, während der Adel auf Burgen oder größeren Liegenschaften residierte. Burgen waren die Zentren der weltlichen Macht, während mit zunehmender Christianisierung Klöster und Kirchen als Ausdruck der geistli- chen Macht entstanden. Diese Zentren dienten als Kristallisationspunkte für Ansiedlun- gen, die zunehmend den Charakter von Städten bekamen. Auf diese Art entstanden Pfal- zen, Bischofsstädte und Ordensstädte. Da in den Ansiedlungen häufig mehrere Zentren sowohl weltlichen als auch geistlichen Ursprungs zu finden waren, kam es zur „vielkerni- gen“ Stadtbildung, wie in Braunschweig, Hildesheim oder Magdeburg (Schröteler-von Brandt 2014). Bischofssiedlungen und Burgsiedlungen waren meist Städte mit zwei Stadt- kernen, die eigene Befestigungsanlagen hatten. Beispiele hierfür sind Frankfurt oder Erfurt. 25 Abbildung 9: Vielkernige Stadtentwicklung von Hildesheim Quelle: Köhler 1926. Gründungsstädte Bis ca. 1100 blieb die Anzahl der Städte in Mitteleuropa auf niedrigem Niveau, Stadtmau- ern gab es kaum, meist wurde lediglich ein Graben mit Wall errichtet. Erst in den darauffol- genden 250 Jahren entstanden durch einen wirtschaftlichen Aufschwung zunehmend Städte mit aus Stein gebauten Häusern und einer stabilen Stadtmauer. In dieser Zeit ent- standen sogenannte Gründungsstädte wie Freiburg im Breisgau, Leipzig oder Lübeck, die 26 nach einem Entwurfsplan erbaut wurden. Sie entstanden nicht aus kleineren Siedlungen heraus, sondern gehen auf einen Gründungsakt zurück. Die Stadt Lübeck wurde beispiels- weise nach einem Herrschaftswechsel geplant flussaufwärts des slawischen Handelsplat- zes Liubice errichtet. Diese auch als Alt-Lübeck bezeichnete Siedlung lag ca. 6 km von der heutigen Altstadt Lübecks flussabwärts an der Trave. In der Regel gab es wirtschaftliche Gründe für eine solche geplante Stadtgründung. Ein Landesherr stellte die Infrastruktur zur Verfügung, sorgte für Schutz durch eine Stadtmauer und lockte mit Privilegien wie Freiheit und Selbstverwaltung neue Stadtbürger an. Im Gegenzug erhob er Steuern von den Städtern. Im Laufe der Zeit kamen die Bürger jedoch durch Handel und Handwerk selbst zu erheblichem Reichtum, sodass sich das Blatt sogar wenden und der Adel in finanzielle Abhängigkeit geraten konnte. Eigenschaften solcher planmäßig errichteten Gründungsstädte waren (Schröteler-von Brandt 2014; Humpert/Schenk 2001): Parzellierung des Grundbesitzes, planmäßiges Wegenetz mit geraden und breiten Straßen oder zentraler Marktplatz (oft quadratisch oder rechteckig). Als allgemeine Eigenschaften mittelalterlicher Städte sind darüber hinaus zu nennen (Schröteler-von Brandt 2014; Humpert/Schenk 2001): Stadtrecht sowie Markt- und Stapelrecht (von durchziehenden Händlern konnte ver- langt werden, ihre Waren anzubieten), feste Stadtmauer, öffentliche Gebäude wie Rathaus, Kirche aber auch andere Bauten wie Brunnen oder Mühlen, Ort der autonomen ökonomischen Entwicklung mit Gewerbemonopol, Zünften und spezialisiertem Handwerk, Ort der politischen Autonomie, der Gerichtsbarkeit und dem Recht auf Münzprägung und Erhebung von Steuern sowie Orte von Bildung, Kunst und Wissenschaft. Auch in natürlich gewachsenen Städten wurden Häuser in Parzellen angeordnet, wenn auch nicht grundsätzlich in einer schachbrettartigen Struktur. Alle Städte waren auf Zuzug aus dem Umland angewiesen, da in der Regel mehr Menschen an Krankheiten starben, als durch Geburten neu hinzukamen. 27 Abbildung 10: Freiburg im Breisgau: Gründungsstadt mit planmäßigem Wegenetz im Jahr 1644 Quelle: Merian 1644. Boom des Städtebaus Bis 1300 verdoppelte sich sowohl die Bevölkerung als auch die Wirtschaftsleistung. Dreifelderwirtschaft Gründe für den Aufschwung waren die Dreifelderwirtschaft, Pferde als Zugtiere, neue Im dreijährigen Wechsel Geräte für Ackerbau und Viehzucht und damit einhergehende höhere Nachfrage nach werden bestimmte Getreide bzw. Feldfrüchte handwerklich hergestellten Produkten sowie der zunehmende Fernhandel. Da Städte angepflanzt, in einem auch Bildungseinrichtungen boten, waren sie auch kulturell von größter Bedeutung in Jahr liegt der Acker brach. Bezug auf technologische Neuentwicklungen. Dies führt zu einer Ertragssteigerung durch den Erhalt der Bodenqua- Größere Städte lagen in fast gleichbleibenden Abständen an den ehemaligen Römerstra- lität und der Schädlings- ßen, der Abstand betrug jeweils eine Tagesreise. Dörfer und Marktflecken verteilten sich befall wird reduziert. nach ebendiesem Prinzip relativ gleichmäßig. So konnten die Städte ihre Funktion als Handelsknotenpunkte und Marktorte gut erfüllen. Die dichtere Besiedlung verringerte auch die Transportkosten für Lebensmittel und andere Waren. Die Stadt Nördlingen in Bayern lag beispielsweise günstig an der Kreuzung von zwei Handelsstraßen und war bis in die Neuzeit ein wichtiger Handelsplatz. Nachdem die Handelsrouten verlegt worden waren, wurde die Stadt nahezu bedeutungslos und fiel in eine Art Dornröschenschlaf, sodass sie bis heute ihre mittelalterliche Anmutung erhalten konnte und beliebtes Ziel von Touristen geworden ist. 28 Tabelle 1: Anzahl der Städte und der Stadtbevölkerung im Mittelalter 800 n. Chr. 1000 n. Chr. 1300 n. Chr. 1500 n. Chr. Stadtgröße (Ein- Anzahl der Städte wohnerzahl) 10.000–20.000 50 72 150 146 20.000–50.000 25 35 80 74 50.000–100.000 1 3 7 17 100.000–200.000 – – 4 31 mehr als 200.000 1 1 1 1 total 77 111 242 241 Bevölkerung Stadt 2.220 3.765 7.855 8.160 total 32.000 39.000 75.000 76.000 Verstädterungs- 6,9 % 9,7 % 10,4 % 10,7 % grad Quelle: Kermer 2007, S. 21. Während auf dem Land der Boden weiter in Besitz eines Feudalherren blieb und die Bau- ern Abgaben und Steuern zahlten oder Arbeitsdienste leisteten, galt in den Städten das Stadtrecht. Es gab keine Leibeigenen, die Handwerker waren frei und die Produktionsmit- tel waren Eigentum von Privatleuten oder Zünften (Kermer 2007). Zunft Darunter versteht man einen Zusammenschluss Ein jähes Ende fand die Zeit der Stadtneugründungen in der zweiten Hälfte des 14. Jahr- von Handwerkern zur hunderts aufgrund des Bevölkerungsrückgangs durch die Pest. Erst im 16. Jahrhundert Wahrung gemeinsamer war der Zuzug durch kontinuierliches Wachstum wieder so groß geworden, dass teilweise Interessen. Es wurden Rohstoffpreise und sogar Wohnungsnot in den Städten herrschte. Löhne, aber auch die Qualität der Produkte und sogar die Witwenversor- gung geregelt. 29 Abbildung 11: Die Stadt Nördlingen mit Stadtmauer und Kirche im Zentrum Quelle: Augsburger Allgemeine Zeitung 2013. Die Stadtmauer Eine Stadtmauer als Befestigungsanlage war ein typisches Merkmal der mittelalterlichen Stadt. Sie grenzte die Stadt als eigenen Wirtschafts- und Sozialraum ab und verdeutlichte die unterschiedlichen rechtlichen und herrschaftlichen Bereiche „Stadt“ und „Land“. Nicht zuletzt war die Stadtmauer auch eine Wehranlage zum Schutz vor Plünderungen und Übergriffen, sie konnte nur durch die Stadttore passiert werden. Um eine Mauer errichten zu können, bedurfte es des Befestigungsrechts, welches nicht automatisch zusammen mit Stadt- oder Marktrecht verliehen wurde. Ab dem 12. Jahrhundert begann man intensiv damit, steinerne Befestigungsanlagen zu errichten. Als älteste Stadtmauer östlich der Rheingrenze gilt die Befestigung von Würz- burg, auch „Bischofsmütze“ genannt. Zunächst versuchte man in Anlehnung an das römi- Castrum sche Castrum rechteckige Mauerformen anzulegen, was jedoch aufgrund topografischer Dies bezeichnet ein römi- Verhältnisse oft nicht gelang. Innerhalb der Mauer mussten Reserveflächen für weiteren sches Militärlager, etwas größer als ein Kastell. Die Zuzug von Menschen vorgehalten werden. Reichten diese nicht mehr aus, wurde eine wei- Lager waren oft recht- tere größere Mauer errichtet. Auf diese Art und Weise entstanden mehrere Mauerringe um eckig mit abgerundeten einen Stadtkern, die auch heute oft noch die Stadtstruktur prägen. Die Bürger mussten Ecken, an denen Wacht- ürme errichtet waren. Arbeitsdienste zur Errichtung der Mauer ableisten und sich auch finanziell an deren Bau und Erhaltung beteiligen. Von den Toren der Stadt gelangte man über breite Hauptstraßen direkt zum Markplatz, kleine Gassen und Straßen mit Wohnbebauung zweigten von diesen Hauptzufahrtstraßen ab (Schröteler-von Brandt 2014). 30 Abbildung 12: Stadtplan von Aachen mit zwei Mauerringen im Jahr 1576 Quelle: van Steenwijk der Ältere 1576. Es bildeten sich teilweise Sonderformen der Stadtmauern aus, wie beispielsweise im Nor- den Deutschlands das „Wiekhaus-System“. Hier ragten die Mauertürme über die Stadt- Wiekhaus mauer hinaus und verfügten über Schlitzscharten an der Vorderseite sowie an den Flan- Beobachtungs- und Ver- teidigungsbauten, die ken. Die Stadttore bestanden fast immer aus folgenden Elementen: Flügeltüren am besonders in Mecklen- Eingang, ein Riegelbalken zum Verschluss der Tür, ein „Überzimmer“ über dem Tor, ein burg Vorpommern und Fallgitter im Torbogen sowie vor dem Tor eine Zugbrücke, die es ermöglichte, den Stadt- Brandenburg zu finden waren. Teilweise wurde graben zu überqueren. Die Mauerkrone war in der Regel begehbar und wurde als Wehr- der Begriff auch für aus- gang bezeichnet, welcher häufig auch überdacht war. Die Ausgestaltung der Wehrtürme gebaute Dachschrägen verwendet. war oft vielfältig: Wer es sich leisten konnte, baute sehr hohe Türme oder Doppeltürme, da auch hier künstlerische und repräsentative Gründe eine Rolle spielten. In der Mitte des 15. Jahrhunderts änderten sich die Anforderungen an Stadtmauern durch das Aufkommen von Feuerwaffen. Um Kanonenschlägen widerstehen zu können, wurden mit Erde gefüllte Bastionen vor die Mauern gesetzt, die die Durchschlagskraft der Geschosse abmildern soll- ten. Für die Verteidigung mit Handfeuerwaffen wurden Scharten in die Mauern gehauen und die Türme zu Kanonentürmen umgebaut. Damit einher ging auch ein Wandel zu spitz- winkligen Stadtmauern, um den toten Winkel direkt vor der Stadtmauer ebenfalls verteidi- gen zu können (Behne 2014). 31 Abbildung 13: Stadtmauer im Wiekhaus-System in Neubrandenburg Quelle: Tilman2007 2009. Baublöcke und Gebäude Merkmal einer Stadt war neben der Stadtmauer auch die Einteilung in Baublöcke und die Parzellierung, insbesondere bei Gründungsstädten. Es wurden lange schmale Parzellen angelegt, deren Größe nicht zuletzt von den zum Bau vorhandenen Holzbalken abhing. Durch die schmalen Parzellen konnten möglichst viele Kaufleute einen Platz an der Stra- ßenfront zum Feilbieten ihrer Waren erhalten, außerdem wurden die Kosten für den Unterhalt der Straßen durch möglichst viele Anleger klein gehalten. Unter einem Dach wurde hier gelebt und gearbeitet; während die Verkaufsräume zur Straße hin lagen, befan- den sich im hinteren Bereich oft Lager und Werkstatt. Während im Zentrum der Stadt wichtige Gebäude wie die Kirche oder das Rathaus stan- den, kam es zu einem sozialen Gefälle und einer Veränderung der Nutzungsbereiche, je weiter man sich an den Stadtrand begab. Im Inneren der Stadt waren zunächst die reichen 32 Patrizierfamilien, dann die Handwerker angesiedelt, schließlich kamen feuergefährliche Gewerke wie Schmieden und Gießereien, aber auch „Anrüchiges“ wie Gerbereien und Fär- bereien, die am Rande der Stadt lagen (Schröteler-von Brandt 2014). Die städtischen Immobilien befanden sich gegen Ende des Mittelalters zum überwiegen- den Teil im Besitz der Oberschicht oder der Kirche. Der Anteil an Mietwohnungen war hoch und Miete sowie Nebenkosten machten einen Großteil der Lebenshaltungskosten aus. Stadterweiterungen wurden durch Ratsvertreter beschlossen, die eine Stadtplanung im Sinne einer rationalen Überlegung vollführten, jedoch keinen festen Plan im eigentlichen Sinne hatten. Lediglich bei Gründungsstädten kann von einem rational geplanten „Gesicht“ der Stadt ausgegangen werden. Die Machtelite der Stadt verfügte über diverse rechtliche Mittel, um Bautätigkeiten zu lenken: Baufluchtanweisung, Bauordnung, Bau- Bauflucht gebote, Bauverbote und Bereitstellung von Baumaterial. Die Bauordnung regelte streng Diese wird heute als Bau- linie bezeichnet. Ziel ist und detailliert die Gebäudehöhen, Vorsprünge, die Art von Giebeln und Erkern, das zu ver- es, eine durchgehende wendende Baumaterial sowie die Standsicherheit und legte hygienische Maßstäbe fest. Häuserfront an der Stra- Oft wurden die Arbeiten von Bauarbeitern durchgeführt, die vom Rat bestimmt wurden. ßenseite zu erzielen. Zur Beschaffung von Baumaterial entstanden stadteigene Bauhöfe, Ziegeleien und Kalk- brennereien (Schröteler-von Brandt 2014). Abbildung 14: Häuserfront in der Altstadt von Goslar Quelle: Goslar Marketing GmbH o. J. Der Brandschutz war ein besonderes Thema, denn wenn ein Haus erst einmal in Brand stand, war schnell die ganze Parzelle oder gar das komplette Stadtviertel betroffen. Ab dem 15. Jahrhundert wurden in Nürnberg und Augsburg Ziegeldächer anstelle von Stroh- eindeckungen zur Auflage gemacht. Die Zweckentfremdung des öffentlichen Raumes zur Lagerung von Holz, Weinfässern oder Unrat wurde stark reglementiert. Es musste außer- 33 dem innerhalb von fünf Jahren nach Erwerb eines Grundstückes gebaut werden, sonst fiel das Land an den vorherigen Eigentümer zurück. Insbesondere im Stadtkern waren unbe- baute Grundstücke nicht gern gesehen. Es bestand die Verpflichtung der Instandhaltung, wurde dieser nicht nachgekommen, drohte der Entzug der Verfügungsbefugnis über ein Haus. Die baufälligen Häuser wurden dann neu versteigert, sodass sie durch zahlungskräf- tige Bürger renoviert werden konnten. Bauverbote herrschten häufig an den Ufern von Bächen oder direkt an den Stadt- oder Klostermauern (Schröteler-von Brandt 2014). 1.3 Städte der Neuzeit In der frühen Neuzeit des 16. und 17. Jahrhunderts wurden kaum neue Städte gegründet, sondern fast ausschließlich bereits vorhandene Städte erweitert. Gab es im Mittelalter vor- ranging Handels- und Gewerbestädte sowie Bischofs- und Pfalzstädte, so kamen jetzt neue Funktionen hinzu (Schröteler-von Brandt 2014): Idealstadt: Solche Städte wurden unter bestimmten sozialen und ästhetischen Gesichtspunkten in geometrischen Formen wie Ringen, Sternen oder Schachbrettmus- tern geplant. Diese Pläne wurden fast nie realisiert, trotzdem hatten die zugrunde lie- genden Vorstellungen Einfluss auf die Stadtplanung von Neugründungen. Kolonialstadt: Kolonialmächte wie Spanien, Portugal oder auch Holland nahmen die Ideen für Siedlungsstrukturen aus ihren Heimatländern mit und etablierten sie in ero- berten Gebieten wie Südamerika oder Asien. Festungsstadt: Hatte man zum Ende des Mittelalters nur auf Verstärkung der Wehranla- gen gesetzt, so wurden jetzt Bastionen und Mauern mit sägezahnartigem Grundriss gebaut, um den neuen Anforderungen der Abwehr von Kanonenkugeln und ähnlichen Geschossen gerecht zu werden. Manufaktur- oder Bergbaustadt: Abhängig von den Bodenschätzen des umgebenden Landes wurden Handarbeitsgewerbe gefördert und ausgebaut. So entstanden Städte, die sich auf die Herstellung von Spiegeln, Glas, Porzellan, Salz und anderen Luxusgütern spezialisiert hatten. Residenzstadt: Diese Stadt war Sitz eines Monarchen oder Fürsten und diente dem Zweck, die Macht durch repräsentative Architektur widerzuspiegeln. Während in früheren Zeiten die ständische Struktur der sozialen und wirtschaftlichen Ord- nung ihren Ausdruck in den Städten fand, standen insbesondere beim Bau der neuzeitli- chen Planstädte die gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Vordergrund. Mit Renais- sance und Humanismus hatte das Zunft- und Ständewesen im 15./16. Jahrhundert ausgedient, Verstand und Wissenschaft rückten ins Zentrum und man knüpfte an antike Lehren an. Neben bahnbrechenden Entdeckungen wie der Buchdruckkunst oder des Kom- passes gab es auch gesellschaftlich große Veränderungen durch Kolonisation und Refor- mation (Schröteler-von Brandt 2014). Die Idealstadt wurde als Utopie, als Vorgriff auf die Zukunft verstanden. Die zahlreichen Entwürfe waren Abbild des neuen Gesellschaftsbildes, das sich in der Stadt widerspie- gelte. Bei einer der ersten Idealstadtplanungen handelte es sich um einen Entwurf der Stadt Sforzinda von Filarete aus dem Jahr 1465, bei dem die Stadt noch in Nutzungszonen 34 eingeteilt wurde. Dies lässt neben anderen Eigenarten noch einen deutlichen Bezug zum Reformation mittelalterlichen Denken erkennen. Albrecht Dürers Entwurf „Stadt des Königs“ lies ein Darunter versteht man die kirchliche Erneue- strenges rational-funktionales Schema in Form eines Quadrats erkennen. In der Mitte rungsbewegung, die in stand das Königsschloss, das von den Wohnungen der höheren Gesellschaft umgeben war. Deutschland vornehmlich Solche Entwürfe mit der weltlichen Macht im Zentrum waren zahlreich und bildeten spä- von Martin Luther ange- stoßen wurde. Am Ende ter die Grundlage des Städtebaus der Landesfürsten (Schröteler-von Brandt 2014). Zu den stand die Teilung des wenigen tatsächlich gebauten Idealstädten zählt die Stadt Palmanova im nordöstlichen Christentums in zwei Kon- fessionen: katholisch und Italien. Sie verfügt über ein radiales Straßennetz und bildet einen neunzackigen Stern. evangelisch. Albrecht Dürer Abbildung 15: Stadtplan von Palmanova um 1600 Er war ein bekannter deutscher Maler, Mathe- matiker und Kunsthistori- ker (1471–1528). Quelle: o. V. 1572–1680. Nachdem Christoph Kolumbus das heutige Amerika entdeckt hatte, begann im 16. Jahr- hundert eine Kolonisationswelle und es folgte die Gründung von Kolonialstädten. Vorrei- Kolonialstadt ter waren die Spanier und Portugiesen, denen von Papst Alexander VI. bestimmte Gebiete Europäer gründeten Kolo- nien auf anderen Konti- zugewiesen wurden. Während die Spanier sich nach Westen orientierten, bewegten sich nenten und errichteten die Portugiesen Richtung Osten. Die Stadt Goa in Indien war dem Stadtgrundriss von Lis- dort neue Städte nach sabon nachempfunden. Im Reich der Inkas und Azteken zerstörten die Spanier ganze Kul- einem idealisierten Stadt- plan. turstätten und errichteten neue Städte, ebenfalls nach idealisierten Rasterstrukturen. Nach wenigen Jahrzehnten hatten sie bereits hunderte Städte gegründet, was mit der auf- gezwungenen Urbanisierung der Indios einherging. Bekannte Stadtgründungen dieser Zeit waren San Miguel, Quito und Lima. Die alten Ideale der Antike wurden wiederentdeckt und die Kolonialländer boten sich für städtebauliche Experimente an. Der spanische König 35 Philipp II. erlies 1573 bereits gesetzliche Vorschriften zur Planung von Städten, die den Namen „Gesetze für die Reiche Indiens“ trugen. Die Stadt sollte strengen geometrischen Regeln folgen und „mit Schnur und Lineal“ angelegt werden (Schröteler-von Brandt 2014). Abbildung 16: Stadtplan von Lima aus dem Jahr 1750 Quelle: Bellin 1750. In Nordamerika übernahmen die englischen, französischen und holländischen Einwande- rer diese Rasterstruktur ihrer neugegründeten Städte. Da die Ureinwohner nomadisch leb- ten, gab es auch keine bereits bestehenden Stadtstrukturen, an denen man sich hätte ori- entieren können. Man ging sogar noch weiter und übernahm das Schachbrettmuster ebenfalls für die Ackerflächen, sodass dieses „territoriale Raster“ 1785 von Thomas Jeffer- son als gesetzliche Grundlage festgelegt wurde. Man orientierte sich an Längen- und Brei- tengraden und bestimmte so eine Einteilung bis hin zu den Staatsgrenzen. Die bekann- teste Rasterstadt ist Philadelphia, die 1682 gegründet wurde, aber auch Washington oder New York sind für ihren Rasterplan bekannt (Schröteler-von Brandt 2014). Im alten Europa führte derweil die Entwicklung von „heißen Waffen“ wie z. B. Kanonen zur Entwicklung der Festungsstädte. Zunächst legte man noch Geschützplattformen vor den Stadtmauern an, die allerdings auch Nachteile im Nahkampf mit sich brachten. Man kon- zentrierte sich zunehmend auf die Weiterentwicklung des pfeilförmigen Bastionärsystems, das tote Winkel bei der Verteidigung ausschließen sollte. Durch die systematische Anord- Bastion nung der Bastionen in Form eines Vielecks konnte eine effektive gegenseitige Flankierung Auch Bastei oder Bollwerk während der Verteidigung erreicht werden. Da die Reichweite der Geschütze immer grö- genannt, ragt diese aus einer Festungsanlage her- ßer wurde, konzentrierte man sich zunehmend auf das Vorfeld und es erfolgte eine Tiefen- vor, um den Bereich staffelung der Festungsbauwerke. Beim Grundriss der Stadt Neubreisach handelt es sich davor gut einsehen und beispielsweise um ein Oktagon, das durch die Festungsfront ausgebildet wird. Hierbei verteidigen zu können. waren nur noch die Bastionstürme mit dem Hauptwall verbunden, die Vorstadt wurde zusätzlich durch ein Kronwerk am Kanal geschützt (Schröteler-von Brandt 2014). 36 Abbildung 17: Stadtplan der Garnisonsstadt Neubreisach (1699) Quelle: de Vauban 1699. 37 Abbildung 18: Luftbild der Stadt Neubreisach Quelle: Kiefer 2009. Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren die Einwohnerzahl Europas deutlich zurückgegan- gen und kleinere Siedlungen zum Teil vollständig verschwunden. Als Regierungsform etablierte sich der Absolutismus, der eine neue Wirtschaftspolitik mit sich brachte. Die Macht eines Staates war sowohl in politischer als auch ökonomischer Hinsicht von der Anzahl seiner Einwohner abhängig, die Steuern und Abgaben zahlten. Zuwanderung musste attraktiv sein, sodass eine neue barocke Stadtästhetik entstand. Man brauchte eine „Bühne“ für den absolutistischen Staat, sodass die Städte durch bombastische Außenräume, effektvolle Anordnung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden sowie groß- artiger perspektivischer Wirkung geprägt waren. Beispielsweise lies der Landgraf in Kassel auf der Wilhelmshöhe eine Anlage mit Statuen und Wasserfallkaskade errichten, deren Sichtachse von 7,5 km eine fantastische perspektivische Inszenierung darstellte. Diese Entwicklung führte zur Residenzstadt mit der Idee der „Stadt als Gesamtkunstwerk“ im Hintergrund. Als Leitlinien galten auch hier wieder die Ideen der Idealstadt, also die regel- mäßige Anordnung der Plätze und Wohnblocks und besondere Inszenierung von öffentli- chen Plätzen und Hauptstraßen. Dazu kamen Schlossanlagen wie beispielsweise in Ver- sailles. Um solch pompöse Vorhaben in die Tat umzusetzen, war es auch hier wieder von Vorteil, eine Neugründung auf unbebautem Boden vorzunehmen, auf dem der Plan am einfachsten umzusetzen war. Residenzstädte in Deutschland sind beispielsweise Ludwigs- burg, Karlsruhe und Rastatt. Karlsruhe war einst als Jagdschloss konzipiert worden, das 38 Karl Wilhelm von Baden 1715 in Anlehnung an Versailles planen ließ. Die Stadt entstand sternförmig am Reißbrett mit 32 strahlenförmig abgehenden Alleen. Die räumliche Aus- richtung sollte vollständig auf das Schloss erfolgen (Schröteler-von Brandt 2014). Abbildung 19: Schlossplatz der Residenzstadt Karlsruhe Quelle: Naber 2016. In dieser Zeit entstanden auch die von Landesfürsten geförderten Manufakturstädte. Durch Abbau von Bodenschätzen und Rohstoffen konnten Luxusartikel wie Spiegel, Glas, Porzellan, Seide, Salz oder Tabak hergestellt werden. Da die alten, in Zünften organisierten Handwerker in den Städten angesiedelt waren, entstanden Manufakturen meist außerhalb der Stadtmauern. Oft wurden Verfolgte und Flüchtlinge angeworben, wie protestantische Flüchtlinge in Freudenstadt im Schwarzwald oder verfolgte Mennoniten in Krefeld. Durch Mennoniten diese neue Handwerkskultur verloren einige vormals wichtige Städte wie Worms und Dies ist eine evangelische Freikirche, die historisch Speyer, aber auch Handelsstädte wie Nürnberg und Lübeck, an Bedeutung (Schröteler- gesehen mit den Ami- von Brandt 2014). schen verbunden ist. Beide gehen auf die Täuf- erbewegung zurück. Städtebau im 18. und 19. Jahrhundert Nach der Französischen Revolution im Jahr 1789 begann ein neues modernes Zeitalter des Städtebaus. Mit dem Zusammenbruch des alten Gesellschaftssystems erfolgte eine Enteig- nung der Feudalherren und des Klerus. Die Gewerbe- und Handelsfreiheit wurde einge- führt, Privateigentum wurde abgesichert und war nach preußischem Landrecht „unan- tastbar“. Die Befreiung vom Zunftzwang und die Industrielle Revolution führten zu einer kapitalistisch orientierten Produktionsweise und einer hochdynamischen Entwicklung bezüglich Gewerbe und Handel. Die städtebauliche Planungshoheit des Staates gab es nicht mehr, es herrschte freier Bodenverkehr und fast uneingeschränkte Baufreiheit auf privaten Grundstücken. Infolge wurden die Bodenpreise, die sich auf dem freien Markt ergaben, zum maßgeblichen Faktor der städtischen Entwicklung. Dadurch ergaben sich bestimmende Aspekte der Bodenspekulationen (Schröteler-von Brandt 2014): 39 Umwandlung landwirtschaftlicher Flächen in Bauland, Art der Nutzung (Wohnbauland oder Bauland für Gewerbe), Intensität und Dichte der Bebauung sowie notwendige Investitionen (Kanalbau, Straßenausbau etc.). Bis heute sind dies die wichtigsten Faktoren in Bezug auf den Städtebau. Der Bodenpreis liegt in der Regel höher als die Kosten der Erschließung, man spricht dann von einer „Grundrente“. Die Grundrentenbildung auf Basis verschiedener Nutzungsformen wirkt sich zwangsläufig auf die städtebauliche Planung aus. Finanziell weniger lukrative Nut- zung wird aus dem zentralen Stadtbereich an die Randbereiche verdrängt, dies betrifft vor allem Wohnnutzung und Kleingewerbe. Oft werden alteingesessene Bewohner durch bes- serverdienende Mieter oder Käufer aus den Innenstädten verdrängt. Während früher oft hygienische Probleme solche Entwicklungen beeinflussten, sind es heute ökologische Aspekte wie die Luftqualität (Schröteler-von Brandt 2014). Die „öffentliche Hand“ übernahm die Planung und legte den baulichen Rahmen fest, die Umsetzung erfolgte nun jedoch fast ausschließlich durch private Bauherren, was zu gegenseitigen Abhängigkeiten führte. Bis heute liegt vor allem die Gestaltung öffentlicher Plätze und Gebäude sowie der Bau von Straßen und anderer Verkehrsinfrastruktur in öffentlicher Hand. Bei der Stadtplanung kam es nun darauf an, die Positionen verschiede- ner Geldgeber wie Gemeinde, Staat und private Investoren in Einklang zu bringen. Bis ins 19. Jahrhundert mussten sich alle Beteiligten zunächst an die neuen Umstände gewöhnen und so lagen zwischen einer Planungsidee und der anschließenden Umsetzung häufig große Zeitspannen. Teilweise kam es auch dazu, dass die Privatwirtschaft die Stadtpla- nung übernahm, so beispielsweise geschehen beim Rehmviertel in Aachen. Der Spekulant Gerhard Rehm errichtete hier Mitte der 1860er-Jahre eine Arbeitersiedlung für die Ange- stellten der umliegenden großen Firmen. Insgesamt verlief die Bautätigkeit im Rheinland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher ungeplant. Nach einem alten Gesetz durfte im Grunde überall gebaut werden, solange die Feuerwehr das Gebäude erreichen konnte (Schröteler-von Brandt 2014). 40 Abbildung 20: Siedlungsbau im Rehmviertel (Aachen) Quelle: ArthurMcGill 2018. Landesfürstlicher Städtebau Im beginnenden 19. Jahrhundert kam es entwicklungsbedingt zur Ausbildung eines Span- nungsfeldes aufgrund der Privatisierung des Grund und Bodens. War Städtebau früher eine Kunst gewesen, so war es nun zum Geschäft geworden. Stadtplaner, die weiter nach alten Mustern und ästhetischen Gesetzmäßigkeiten planten, mussten feststellen, dass dies nicht mehr ohne Weiteres realisierbar war. Besonders Landesfürsten mussten die neue Realität erkennen und Einschränkungen ihrer Macht akzeptieren. In Karlsruhe versuchte der Landesfürst 1812 die Radialstruktur der Stadt weiter zu entwickeln und vergab einen entsprechenden Auftrag an den Stadtbaumeister. Es war jedoch nur noch in Teilen mög- lich, die Planung umzusetzen, da man sich im Großen und Ganzen auf öffentliche Stadtbe- reiche beschränken musste. Auch in München stand man vor einem ähnlichen Problem: Die Durchführung des Stadtausbaus nach einem Generalplan erwies sich als finanziell nicht durchführbar, die Ausgleichszahlungen für die privaten Grundstückseigentümer wären zu hoch gewesen. Kronprinz Ludwig kaufte daraufhin Grundstücke und veräußerte sie mit umfassenden Bedingungen bezüglich der Baugestaltung wieder. Zum Teil waren die Auflagen jedoch so schwer zu verwirklichen, dass Bauherren sich wieder zurückzogen. Bis heute werden auf diese Art und Weise sowohl von privater bzw. öffentlicher Seite ver- bindliche Vorgaben zur Bebauung geschaffen (Schröteler-von Brandt 2014). Die Industriestadt Die Stadtentwicklung in der Nähe von Rohstoffvorkommen hatte bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zum Aufkommen der Manufakturstädte geführt. Die weitere gewerbliche und industrielle Entwicklung führte nun zur Bildung von Industriestädten und ländlichen Gewerbekonglomeraten. Da die Städte teils zu klein wurden, kam es zunehmend außer- 41 halb zu Ansiedlungen und zur Entstehung von Ortschaften. Die höheren Lebenshaltungs- kosten, das sehr traditionelle Zunftwesen und auch religiöse Intoleranz innerhalb der Stadtmauern machten die Arbeit auf dem Land für viele Menschen attraktiv. Bis heute beobachtet man das Phänomen, dass Innovation und neue Technologien weniger in bereits „besetzten“ Gebieten voranschreiten, in denen lokale Lobbygruppen, fest verteil- ter Grundbesitz und politische Netzwerke dem Wandel entgegenstehen (Schröteler-von Brandt 2014). Nachdem die Kohle das Wasser als Antriebskraft verdrängt hatte, lagen die attraktiven Standorte nunmehr in der Nähe entsprechender Kohlevorkommen, z. B. im Ruhrgebiet. Auch ein guter Verkehrsanschluss war wichtig und so boomten die Städte an den neu gebauten Eisenbahnstrecken. Hinzu kamen einige Verbesserungen in der Landwirtschaft hinsichtlich Bearbeitungsgeräte, Düngung, Kultivierung von bisher nicht nutzbaren Flä- chen und Anbau der nahrhaften Kartoffel. Die Gesundheitsversorgung verbesserte sich zunehmend, sodass die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung von 35 auf 50 Jahre stieg. Dies führte zu einem starken Bevölkerungswachstum von 18 Millionen (1750) auf 24 Millionen im Jahr 1800. Durch den, mit dem Bevölkerungszuwachs verbun- den, stärkeren Zuzug in die Ballungszentren und Städte kam es zur räumlichen Zonierung derselbigen. Die Industrie, Banken und Verwaltung sowie die Menschen brauchten Platz und stellten große Anforderungen an die Infrastruktur. Es herrschten teils unzumutbare hygienische Umstände, da die Wasserversorgung ebenso wie die Entsorgung von Müll und Abwasser völlig unzureichend waren. Die Städte verloren ihre geschlossene Struktur, da zunehmend in den Außengebieten gebaut wurde, sie erstreckten sich ohne klar erkenn- bare Grenze in die Landschaft. Die Verstädterung nahm rasant zu, so wohnten um 1910 etwa zwei Drittel der Bevölkerung Deutschlands in der Stadt (Schröteler-von Brandt 2014). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen mehrten sich die Rufe nach Reformen, die die- ser ungezügelten Verdichtung etwas entgegensetzen sollten. Zum einen mussten offen- kundige Missstände wie die hygienischen Bedingungen verbessert werden, zum anderen suchte man nach neuen Wohnkonzepten für die Industriegesellschaft. Folgende Lösungs- ansätze wurden diskutiert (Schröteler-von Brandt 2014): Errichtung preiswerten Wohnraums durch Reduzierung der Herstellungskosten, staatliche Finanzhilfen zur Finanzierung sozialen Wohnungsbaus, Entdichtung und Dezentralisierung in der Stadt sowie gemeinschaftliche bzw. genossenschaftliche Organisationsformen. Nur wenige dieser Ansätze wurden tatsächlich umgesetzt, sie prägen aber bis heute die Stadtplanung und gingen teilweise in spätere Baureformen ein. Ein bedeutender „Utopist“ dieser Zeit war Robert Owen. Er errichtete 1820 in Schottland eine Textilfabrik und grün- dete eine angeschlossene Siedlung für die Arbeiter. Diese war kooperativ organisiert, zudem wurden von Owen Bildung, Ausbildung und Erziehung in den Mittelpunkt der Über- legungen gestellt. Seine führsorgliche Art seinen Arbeitern gegenüber sah er als Fortfüh- rung der Tradition des absoluten Landesherren. Viele Reformer beriefen sich später auf Owen. Auch in Deutschland gab es einige Unternehmer, die durch Werkswohnungsbau und soziale Absicherungen auf paternalistische Art und Weise Verantwortung für die Belegschaft übernahmen. Man wollte dadurch zum einen durch bessere hygienische Bedingungen die Arbeitskraft der Arbeiter erhalten und andererseits gut ausgebildete 42 Arbeiter anlocken und an sich binden. Im Ruhrgebiet ist der groß angelegte Wohnungsbau von Alfred Krupp ein bekanntes Beispiel für eine solche Ansiedlung. 1871 besaß er 6.772 Wohnungen und konnte dadurch ca. 10 % seiner Belegschaft unterbringen (Schröteler-von Brandt 2014). Abbildung 21: Die Krupp-Siedlung Margarethenhöhe in Essen, erbaut 1906 Quelle: Funke Foto Services 2018. ZUSAMMENFASSUNG Städte entwickelten sich an wichtigen Handelsstraßen und sicherten die Versorgung von Mensch und Tier an relevanten Handelsknoten. In der Antike ab ca. 800 v. Chr. waren es zunächst die Griechen, die für die ers- ten Stadtgründungen und Stadtstrukturen in Form von Poleis sorgten. Die Rasterstruktur der griechischen Stadt wurde später von den Römern übernommen und weitergeführt. Sie hat mehrere Vorteile: so kann sie einfach eingeteilt und vermessen, gleichmäßig bebaut und beliebig erweitert werden. Ein wesentliches Merkmal der Stadt war bereits in der Antike die Stadtmauer, die vor Angriffen schützte und die Stadt als Schutzraum abgrenzte. Sie engte aber auch ein und der Platzmangel konnte das Wachstum der Städte behindern. Seit etwa 470 v. Chr. war Rom von den Etruskern losgelöst und es kam im Zuge der Ausdehnung des Römischen Reiches zu einer Stadtgründungs- welle. Im Zentrum römischer Städte wurde ein Hauptstraßenkreuz aus 43 Nord-Süd-Achse und West-Ost-Achse festgelegt, in dessen Folge sich ein schachbrettartiges Stadtmuster ergab. Das Römische Reich erreichte schließlich auch Germanien, der Limes als Grenze zum Barbaricum ver- lief entlang der Rhein-Donau-Linie. Typische Römerstädte sind Köln, Mainz, Trier oder Wien. Nach dem Zerfall des Römischen Reiches wurden die alten Bauten der Römer oft zweckentfremdet. Stadtgrundrisse blie- ben teilweise erhalten, teils wurden neue Siedlungen errichtet. Östlich des Limes waren Burgen, Klöster und Kirchen Kristallisationspunkte für neue Ansiedlungen. Bis 1100 gab es wenig Städte in Mitteleuropa, erst in der Zeit ab 1300 kam es durch einen wirtschaftlichen Aufschwung zu Stadtgründungen und vermehrter Urbanisierung. Durch das Aufkommen von Feuerwaffen mussten die Stadtmauern zunehmend aufgerüstet wer- den, es entstanden Bastionen und spitzwinklige Mauergeometrien. Die städtischen Immobilien waren überwiegend Eigentum der Ober- schicht oder der Kirche, die meisten Stadtbewohner wohnten zur Miete. Die Stadt lenkte Bautätigkeiten durch strenge Bauordnungen. Ab dem 16. Jahrhundert wurden fast keine Städte mehr neu gegründet, sondern man erweiterte bereits bestehende Städte. In Form von Ideal- oder Resi- denzstädten lebten Stadtplaner oder Landesfürsten ihren ästhetischen Anspruch aus. Nach der Französischen Revolution kam es jedoch zur Enteignung der Feudalherren und des Klerus, es folgte eine zuneh- mende Privatisierung von Grund und Boden. Nachdem sich durch die Industrielle Revolution mehr und mehr Industriestädte bildeten, kam es auch zur Errichtung von Arbeitersiedlungen durch Großindustrielle wie z. B. Alfred Krupp. Man wollte den Bürgern bessere hygienische Bedin- gungen bieten und die allgemeinen Lebensumstände verbessern. 44 LEKTION 2 GRUNDLAGEN DER STADT- UND VERKEHRSPLANUNG LERNZIELE Nach der Bearbeitung dieser Lektion werden Sie wissen, … – worin der Unterschied zwischen einem Flächennutzungsplan und einem Bebauungs- plan besteht. – worin sich das private vom öffentlichen Baurecht unterscheidet. – wer zu den Beteiligten im öffentlichen Baurecht zählt. – welche Methoden der verkehrstechnischen Erhebung von Daten es gibt. – was verkehrsverhaltensbezogene Erhebungsmethoden sind. – wie sich die streckenorientierte Netzbeschreibung von der knotenorientierten Netzbe- schreibung unterscheidet. – welche Verkehrsnachfragemodelle es gibt. – welche Aspekte im Entscheidungsfindungsprozess im Vorfeld einer Maßnahme wichtig sind. 2. GRUNDLAGEN DER STADT- UND VERKEHRSPLANUNG Einführung Es mag zunächst ungewöhnlich klingen, aber in Deutschland herrscht ein generelles Bau- verbot mit Erlaubnisvorbehalt. Wer bauen will, aber auch wer einfach nur ein bestehendes Gebäude andersartig nutzen möchte, muss eine Baugenehmigung beantragen. Das deut- sche Baurecht ist sehr viel umfassender, als der Name es zunächst vermuten lässt. Dabei wird zwischen öffentlichem und privatem Baurecht unterschieden (Wirth/Schneeweiß 2019): Das private Baurecht regelt die Beziehungen zwischen den Parteien, die am Bau gleichbe- rechtigt beteiligt sind. Dies umfasst die Konzeption, die Finanzierung, die Planung und Durchführung des Bauvorhabens. Es können also Architekten, Handwerker, der Bauherr selbst etc. davon betroffen sein. Es umfasst u. a. das Bauvertragsrecht, das Maklerrecht, das Wohnungseigentumsrecht sowie das Architekten- und Ingenieursrecht. Im Rahmen des öffentlichen Baurechts stehen sich der Staat (in Form der Bauaufsichtsbe- hörden) und die Beteiligten des Bauvorhabens in einem Über-/Unterordnungsverhältnis gegenüber. Man spricht dann von einem Subordinationsverhältnis. Bereits 1926 wurde die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) geschaf- fen, die in der aktuellen Ausgabe von 2019 auch heute Gültigkeit hat. Es handelt sich dabei nicht um Gesetze, sondern um allgemeine Bestimmungen. In Teil A der VOB geht es (in Zusammenhang mit der Vergabeverordnung) um Vergaberecht, das regelt, wie öffentliche Auftraggeber ihre Aufträge zu vergeben haben. In Teil B sind Regelungen zum Bauvertrag in Form von allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) und eines Musterbauvertrags ent- halten. Die Zugrundelegung dieser AGB ist den Beteiligten eines Bauvorhabens freigestellt und kein Zwang. Teil C der VOB legt fest, welche technischen Vertragsbedingungen für ATV Bauleistungen zu erfüllen sind (z. B. ATV oder DIN-Normen). Werden die AGB aus Teil B bei Abkürzung für „allge- einem Bauvorhaben zugrunde gelegt, wird Teil C automatisch ebenfalls Teil des Vertrages meine technische Ver- tragsbedingungen für (Wirth/Schneeweiß 2019). Bauleistungen“, die gleichzeitig auch als DIN- Normen herausgegeben 2.1 Öffentliches Baurecht werden. Das öffentliche Baurecht hat das Gemeinwohl im Blick, worunter auch das Sicherheits- recht fällt. Es umfasst das Bauplanungsrecht (enthält Vorschriften zur Erstellung von Bau- leitplänen wie Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen) und das Bauordnungs- recht sowie das Raumordnungsrecht. Als Basis des Bauplanungsrechts dient das Baugesetzbuch (BauGB), in dem sich außerdem Regelungen zum Städtebaurecht befin- den. Darüber hinaus gibt es noch die Baunutzungsverordnung (BauNVO), die die Bebau- ung von Grundstücken regelt. Das Bauordnungsrecht liegt bei den Ländern und regelt im 46 Rahmen der Landesbauordnung u. a. die Erteilung einer Baugenehmigung. Das Raumord- nungsrecht ist durch das Raumordnungsgesetz (ROG) geregelt, dessen Ziel es ist, den Raum der Bundesrepublik Deutschland zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. Zu die- sem Zweck stellen die Länder Raumordnungspläne sowohl für das Landesgebiet (landes- weite Raumordnungspläne) als auch für Teilräume der Länder (Regionalpläne) auf. Neben dem bundesgesetzlichen ROG gibt es auch landesrechtliche ROG, die Länder sind für die Ausführung aller ROG (sowohl auf Bundes- als auch Landesebene) zuständig. Es herrscht das Gegenstromprinzip, das sicherstellen soll, dass übergeordnete Träger der Raumord- nung Rücksicht auf die Bauleitpläne der Kommunen nehmen. Die jeweils untergeordnete Planungsebene hat Mitspracherecht bei der Erstellung von übergeordneten Plänen und einen Rechtsanspruch auf die Berücksichtigung der eigenen Belange (Wirth/Schneeweiß 2019). Zu den Beteiligten im öffentlichen Baurecht zählen (Wirth/Schneeweiß 2019): Die Bauherrschaft: Gemäß § 55 der hessischen Bauordnung (HBO) wird der Bauherrin oder dem Bauherren „die umfassende Verantwortlichkeit, dass bei baulichen Maßnah- men die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die Anordnungen der Bauaufsichtsbe- hörden eingehalten werden“ übertragen. Die Bauherrschaft ist verpflichtet, gesetzlich vorgeschriebene Anträge (z. B. Baugenehmigung) und Anzeigen (z. B. Bauanzeige) zu stellen sowie erforderliche Nachweise (z. B. bezüglich der Bauprodukte und Bauarten) zu erbringen. Der Bauantragsteller muss nicht Eigentümer des betreffenden Grundstü- ckes sein, sowohl natürliche als auch juristische Personen können einen solchen Antrag stellen. Die Gemeinde: Die Gemeinde hat die Planungshoheit und somit die Herrschaft über Bauleitpläne wie Flächennutzungs- und Bebauungsplan. Die Bauaufsichtsbehörde: Die Bauaufsicht ist Aufgabe des Staates, der diese wahr- nimmt, indem er die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften überprüft. Dazu gehört z. B. das Überprüfen von Grenzabständen oder die Einhaltung von Anordnungen. Die Behörde teilt sich in untere (zuständig für die Erteilung von Baugenehmigungen), obere und oberste Bauaufsichtsbehörde. Die Bauaufsicht kann unter Umständen Durch- setzungsmaßnahmen ergreifen, die bis zu einem Zwangsgeld reichen können. In Aus- übung des Amtes sind Mitarbeiter der Behörde dazu berechtigt, Grundstücke oder Gebäude zu betreten. Den Handlungen liegt eine Eingriffsbefugnisnorm (z. B. in der HBO in den „Regelungen über bauaufsichtliche Maßnahmen“) zugrunde, die die Behörde u. a. dazu berechtigt, ein Nutzungsverbot oder Anordnungen auszusprechen. Weitere Behörden: Weitere involvierte Behörden können z. B. die Denkmalschutzbe- hörde oder die Naturschutzbehörde sein. Dies ist dann der Fall, wenn ein denkmalge- Denkmalschutzbehörde schütztes Wohnhaus anders genutzt werden soll als zuvor (z. B. Umwandlung in ein Kulturdenkmäler (dies können auch Häuser und Café) oder wenn der Lebensraum geschützter Tierarten gefährdet sein könnte. Gebäude sein) sollen vor Der Nachbar: Im öffentlichen Baurecht gibt es keine exakte Definition, wer ein Nachbar Verfälschung, Beschädi- ist. Im Einzelfall ist zu prüfen, wer als Nachbar gilt und sich somit gegen etwaige Bauvor- gung oder Zerstörung bewahrt werden. haben zur Wehr setzen kann, indem er seine drittschützenden oder auch nachbar- schützenden Rechte geltend macht. Einzuhaltende Abstandsflächen schützen aller- dings nur denjenigen, dessen Grundstück direkt an das Bauvorhaben angrenzt. Aber auch andere Anwohner am anderen Ende des Bebauungsplangebietes werden durch Festsetzungen im Bebauungsplan geschützt. Lärmschutzregelungen gelten ebenfalls 47 nicht nur für direkte Anlieger, sondern auch für weiter entfernte Nachbarn, die betroffen sein können. Ein unmittelbares räumliches Betroffen-Sein kann auch durch Schatten- wurf von Hochhäusern oder Windkraftanlagen vorliegen. Die Nachbargemeinde: Die Bauleitpläne von benachbarten Gemeinden müssen aufei- nander abgestimmt werden, man spricht dabei vom interkommunalen Abstimmungs- gebot. Es muss betrachtet werden, ob eine Planung auch überörtliche Auswirkungen hat. Dies kann in Konsequenz auch zu Abstimmungsbedarf nicht nur mit angrenzenden, sondern auch mit weiter entfernten Gemeinden führen. Beispielsweise könnte ein neues Einkaufszentrum in ländlicher Gegend auch Kaufkraft von den angrenzenden Gemeinden abziehen. Weitere Beteiligte: Der Entwurfsverfasser ist u. a. verantwortlich für die Vollständigkeit und Brauchbarkeit des Bauentwurfs. Zeichnungen und Berechnung müssen geliefert werden und den öffentlichen Vorschriften entsprechen. Zusammen mit der Bauherr- schaft muss der Entwurfsverfasser den Bauantrag unterschreiben. Sollte dieser in einem Fachgebiet nicht die erforderliche Sachkenntnis haben, ist er verpflichtet, eine entsprechend geeignete Person hinzuzuziehen. Der Bauleiter ist die Person, die die Bau- herrschaft mit der Überwachung des Bauvorhabens beauftragt hat. Er ist dafür verant- wortlich, dass dieses den öffentlich-rechtlichen Anforderungen entspricht. Der Gesetz- geber fordert daher „das fachliche, durch Aus- und Fortbildung erworbene und aktualisierte Wissen der bauleitenden Person“ (§ 59 Rn. 24 HBO; s. Hornmann 2019). Neben den Beteiligten im Rahmen des Baurechts gibt es weitere übergeordnete Instanzen, die rechtlich relevant sind. Zum Planungssystem in Deutschland zählen die Gemeinde (Stadtentwicklungsprogramm, Bauleitplanung), die Region (regionaler Raumordnungs- plan), das Land (Landesentwicklungsplan), die Bundesrepublik (Leitbilder der Raumord- nung) und auch die Europäische Union mit Empfehlungen und dem europäischen Raum- entwicklungskonzept EUREK (Spitzer 1995). 48 Abbildung 22: Planungssystem in Deutschland Quelle: Sandra Cramm 2021 in Anlehnung an Spitzer 1995. Zu den Leitbildern der Raumordnung ist auch das Prinzip der Nachhaltigkeit zu zählen, das durch drei wesentliche Punkte ausgestaltet wird: ökonomische Stabilität, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung. Diese können nur unter Beachtung der physischen und psychischen Befindlichkeiten der Menschen, der Erhaltung und Weiterent- wicklung des kulturellen Erbes sowie der Anforderungen zukünftiger Generationen umge- setzt werden (Beckmann 2019). 49 Abbildung 23: Trias bzw. Quintupel der Nachhaltigkeit Quelle: Beckmann 2019. Die Ziele des europäischen Raumentwicklungskonzepts sind darüber hinaus, die beste- henden regionalen Entwicklungsunterschiede und die gegenläufigen räumlichen Wirkun- gen der unterschiedlichen Gemeinschaftspolitik durch eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung einzudämmen. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt innerhalb der EU soll dadurch gestärkt werden. Gemeinsame Ziele und Leitbilder der Mitgliedsstaaten sind: polyzentrische Raumentwicklung und eine neue Beziehung zwischen Stadt und Land, gleichwertiger Zugang zu Infrastruktur und Wissen sowie ein umsichtiger Umgang mit Natur und dem Kulturerbe (Euro-Informationen GbR 2021). Bauleitpläne: Flächennutzungsplan und Bebauungsplan Bauleitpläne stellen eines der wichtigsten Regelinstrumente im öffentlichen Baurecht dar. Aus der „Planungshoheit der Gemeinde“ nach § 1 Abs. 3 S. 1 BauGB ergibt sich, dass die Gemeinde entsprechende Pläne in Eigenverantwortung aufstellt. Die Bauleitpläne beste- hen aus Zeichnungen und einem Textteil, sie sind außerdem zu begründen. Die Ziele, Zwe- cke und wesentlichen Auswirkungen müssen dargelegt werden. Darüber hinaus müssen Belange des Umweltschutzes ermittelt, bewertet und berücksichtigt werden. Der Umwelt- bericht ist ein gesonderter Teil der Begründung, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung (Wirth/Schneeweiß 2019). 50 Flächennutzungsplan Der Flächennutzungsplan stellt nach § 1 Abs. 2 BauGB den sogenannten vorbereitenden Bauplan dar, dient als Planungsinstrument und kann als erste Stufe der Bauleitplanung angesehen werden. Aus dem Flächennutzungsplan sind entsprechend dem Entwicklungs- gebot nach § 8 Abs. 2 BauGB die Bebauungspläne zu entwickeln. Er legt zunächst in gro- ben Zügen die geplante Nutzung des Gemeindegebietes für einen Zeitraum von ca. 10 bis 15 Jahren fest, welche im Verlauf durch den Bebauungsplan verfeinert wird. Beispiele dafür, was ein Flächennutzungsplan (nach § 5 Abs. 2 bis 4 BauGB) darstellen kann, sind (Wirth/Schneeweiß 2019): Bauflächen: Wohnbauflächen, gemischte und gewerbliche Bauflächen oder Sonder- bauflächen, Baugebiete: Kleinsiedlungsgebiete, Wohngebiete, Dorfgebiete oder Industriegebiete, Kleinsiedlungsgebiete Flächen für überörtlichen Verkehr und für örtliche Hauptverkehrszüge, Gebiete für Wohngebäude mit Nutzgärten oder land- Flächen für Abfallentsorgung oder Landwirtschaft. wirtschaftliche Nebener- werbsstellen mit z. B. Der § 5 BauGB wird durch die Baunutzungsverordnung (BauNVO) und die Planzeichenver- Kleintierhaltung ordnung (PlanzV) ergänzt. Die BauNVO legt die bauliche Nutzung von Grundstücken fest und definiert bestimmte Gebietsarten. In einem Flächennutzungsplan können nach § 1 Abs. 1 BauNVO folgende Bauflächen dargestellt werden (Wirth/Schneeweiß 2019): Wohnbauflächen (W), gemischte Bauflächen (M), gewerbliche Bauflächen (G) oder Sonderbauflächen (S). Die PlanzV wurde bereits 1965 eingeführt und dient der Vereinheitlichung der Darstel- lungsweise in Bebauungsplänen. Wie der Name sagt, sollen dabei bestimmte Zeichen in Plänen einheitlich verwendet werden. 51 Abbildung 24: Planzeichen am Beispiel des Flächennutzungsplans Berlin Quelle: Dittberner 2012. 52 Ein von der Gemeinde aufgestellter Flächennutzungsplan muss von einer höheren Verwal- tungsbehörde genehmigt werden. Die Genehmigung darf allerdings nur dann verweigert werden, wenn der Plan nicht „ordnun